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Sascha Raubal

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Beschreibung

Der Sieg über den Tyrannen schmeckt schal, denn er hat die Abmachung gebrochen und ist entkommen. Bald schon macht er erneut von sich reden, und wieder müssen die Menschen des Waldlandes unter seiner Brutalität leiden. Gleichzeit zieht aus dem Süden ein Heer aus herrschertreuen Kriegern gegen Tasik-Hutan. So müssen Mikail und Loris sich erneut trennen. Loris hilft Puschpika, Haidar und den anderen, die Hauptstadt zu befestigen, unter den ständigen Hetztiraden des Oberlehrers Kiril. Tödliche Anschläge erschweren die Arbeit zusätzlich. Mikail versucht derweil, die Dörfer im Norden und Westen gegen die Angriffe Tirus zu schützen. Er bietet sich selbst als Köder an … und läuft in eine mörderische Falle.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 292

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Sascha Raubal

Die Abartigen 9 – Donnerechsen

In dieser Serie bereits erschienen:

Band 1 – Karawane nach Cood

Band 2 – Der Prozess

Band 3 – Die Freien

Band 4 – Kampf um Or

Band 5 – Flüchtlinge

Band 6 – Neuland

Band 7 – Die Stimme Gottes

Band 8 – Waldland in Flammen

Inhaltswarnung:

Es wird wieder gekämpft. Wer die vorherigen Bände gelesen hat, wird damit jedoch keine Probleme haben.

Sascha Raubal

DIE ABARTIGEN

BAND 9

DONNERECHSEN

Fantasy

Die Abartigen 9 – Donnerechsen

1. Auflage 2024

© 2024 Sascha Raubal

ISBN: 978-3-384-32561-7

Covergestaltung und Innenteilillustrationen:

Markus Gerwinski (http://www.markus.gerwinski.de)

Druck und Distribution im Auftrag :

tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

Bibliografische Information der Deutschen

Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Danke

Der Autor

Todesklippen

Leseprobe Band 10

1

»Das ist echt irre mit diesen Religionen!« Loris stürmte in Mikails Zimmer und wedelte mit dem Buch, das er seit dem frühen Morgen las. Nachdem sie das Versteck der Bücher entdeckt hatten, die von den Ahnen stammten und vom gestürzten Herrscher gefunden worden waren, vergrub er sich jeden Tag eine Weile in die eigenartigen Gebilde mit den vielen Seiten aus dem glatten, dünnen und scheinbar unzerstörbaren Material. Die Sprache mutete fremd an, war aber durchaus noch verständlich. Wenigstens die Buchstaben waren denen, die man in den Städten verwendete, beinahe gleich.

»Die haben in der ersten Welt echt ihr ganzes Leben nach diesen seltsamen Gestalten ausgerichtet«, fuhr er fort, während er, den Blick auf die Seiten geheftet, auf Mikails Bett zusteuerte.

»Loris?«

»Das musst du dir mal vorstellen. Viele Tausende Mal mehr Menschen, als hier überhaupt leben, und alle tun, was irgendeine erfundene …«

»Loris!«

»Ja?« Er blickte auf und sah den Freund fragend an.

»Ich bin nicht alleine.«

»Hm?« Ah, neben Mikail lag noch jemand. Die Decke bis zum Hals hochgezogen, das von Natur aus dunkle Gesicht noch etwas dunkler als sonst, schaute ihn eine sichtlich verärgerte Puschpika an.

»Oh, guten Morgen!« Dann dämmerte es ihm. Hier im Waldland hatten die Leute ja große Probleme mit Nacktheit, von Spaß am Sex ganz zu schweigen.

»Ups.« Loris wandte sich ab. »Entschuldige, Puschpika, hab gar nicht dran gedacht.«

»Würdest du dann bitte …«

»Ähm … ja, natürlich. Wir sehen uns dann beim Frühstück?«

»Ja.« In Mikails Stimme lag eine Mischung aus Ärger und Amüsement.

Loris beeilte sich, den Raum zu verlassen und die Türen hinter sich zu schließen. Verstehen würde er das nie, was die hier für ein Tamtam um nackte Haut machten. Aber gut, respektieren musste er es wohl.

Auf dem Weg zum Besprechungsraum, in dem die Führungsgruppe der Rebellen auch ihre Mahlzeiten einnahm, schweiften seine Gedanken vom Lesestoff ab und zu seiner Heimatstadt Or hin. Wie es wohl Mitena ging? Verlief die Schwangerschaft gut? Hielt sie ihn längst für tot? Oder glaubte sie noch an seine Rückkehr?

Fast ein halbes Jahr war nun schon vergangen, seit er als vermeintlicher Mörder geflohen war. Dieser verfluchte Kuttenträger Sandor! Erst hatte er die Nervensäge Donald umgebracht und den Mord Loris in die Schuhe geschoben, dann auch noch versucht, diesen in seiner Zelle abzustechen. Nur durch eine nächtliche Flucht war Loris mit dem Leben davongekommen, das er auf seinem langen Weg durch die Wildnis noch ein paarmal beinahe verloren hätte.

Nach all den Strapazen, unter denen er schließlich sein Ziel Kuvunja erreicht hatte, konnte ihm natürlich nichts Dümmeres passieren, als dem nächsten Lehrer, wie sich diese Verrückten in den grauen Kapuzenmänteln nannten, in die Fänge zu laufen. Wieder saß er in der Zelle, wieder floh er, nur um mit seinen beiden Freunden und Fluchthelfern Damir und Dunja hier im Waldland zu landen, im Kerker des wahnsinnigen Herrschers, der sich der Erhabene nannte. Ausgerechnet hier auf seinen alten Freund Mikail zu stoßen, war sicher das Letzte, womit er gerechnet hätte. Der und seine Verbündeten hatten die drei Gefangenen befreit, und gemeinsam hatten sie es geschafft, den Erhabenen von seinem goldenen Thron zu stürzen. Dunja jedoch hatte diesen Triumph nicht mehr miterlebt, sie war an den Folgen der Folter gestorben. Loris tat sich immer noch schwer zu glauben, dass das alles wirklich geschehen war.

Nun gut, Tiru, der ehemalige Erhabene, war entkommen. Und sicher würde er sich nicht einfach so geschlagen geben, nachdem man ihm seine Jahrhunderte währende Herrschaft genommen hatte. Aber damit sollten sich nun bitte die Menschen des Waldlandes herumschlagen. Er selbst wollte so schnell wie möglich nach Hause, zu seiner Mitena, und ihr wenigstens noch in den letzten Wochen der Schwangerschaft beistehen.

Seit vierzehn Tagen saß er nun schon hier fest. So lang war es her, dass Tiru sie hinters Licht geführt hatte und mit einem großen Teil seines Heeres in den Norden entkommen war. Nun wartete Loris auf Nachricht, wie es in der Heimat stand. Am liebsten wäre er sofort aufgebrochen. Doch sicher war es sinnvoller, erst die neuesten Informationen abzuwarten.

Er betrat den Besprechungsraum. Bereits vor der Tür hatte er das laute Organ Jekarinas gehört, an das er sich inzwischen gewöhnt hatte. Seit die Riesin und der Freie Tabo Loris und seine Freunde aus dem Kerker befreit hatten, war sie ihm zu einer echten Freundin geworden. Trotz ihrer furchteinflößenden Erscheinung, mit drei Metern Größe und voller Muskeln, war sie eine herzensgute Frau. Sie liebte den Kampf gegen Tiger, Bären und Berglöwen, verabscheute es aber zutiefst, Menschen töten zu müssen. Ihnen allen, die sie nicht aus dem Waldland stammten, machte es schwer zu schaffen, genau das getan zu haben. Außer Damir, der nach dem Tod seiner Zwillingsschwester Dunja nicht mehr derselbe war. Aus dem freundlichen, manchmal etwas abgehobenen Tüftler war ein eiskalter Rächer geworden, der ohne eine Gefühlsregung über Leichen ging, um sein Ziel zu erreichen: Tiru musste für Dunjas Tod bezahlen. Damir saß dementsprechend auch ein Stück von Jekarina entfernt. Die beiden kamen gar nicht miteinander aus. Auch Loris hatte jedes Mal ein ungutes Gefühl, wenn er sich in der Nähe des einstigen Freundes aufhielt.

»Morgen!«, schmetterte ihm ein gutgelaunter Kossula, der ehemalige Leibgardist, entgegen. »Na? Schon wieder die Nase in den Büchern?«

Loris wedelte mit dem Band, den er immer noch in der Hand hielt. »Klar.« Er pflanzte sich auf das nächstbeste freie Sitzkissen – Stühle waren hier nicht üblich. »Aber erst mal das Wichtigste: Haben wir inzwischen Nachricht von Tabo und Mette?«

Haidar, der frühere Truppführer mit dem roten Bart und der Vollglatze, schüttelte den Kopf. »Nein, was erwartest du? Sie sind beide Schnelle, aber fliegen können sie nicht. So eine Veränderung wäre mal praktisch, aber alle Gefiederten, die ich in meinem Leben kennengelernt habe, waren einfach zu schwer, um vom Boden wegzukommen.«

Gefiederte? Loris hatte ja schon Menschen mit Fell oder Hörnern auf dem Kopf gesehen, mit Raubtiergebissen oder bunten Streifen auf der Haut, aber mit Federn? Er würde wohl noch lange brauchen, bis er sich an die Vielfalt gewöhnt hatte, die die Natur täglich schuf. Und all diese Menschen lebten hier wie bei den Freien ganz normal in der Gesellschaft. Nun ja, je nachdem, ob ihre Veränderung nützlich oder hinderlich war, hatte Tiru sie in Gesegnete und Gestrafte eingeteilt, doch das hatte nun hoffentlich ein Ende.

»Sie sind ja erst seit fünf Tagen weg«, fuhr Haidar fort. »Das ist für die beiden genug Zeit, um den Felsbruch zu erreichen, der in euer Land führt. Aber sie müssen Tabos Volk informieren, bis zu deiner Heimatstadt gelangen und dort rauskriegen, wie es mit der Mordanklage gegen dich steht. Das dauert ein Vielfaches dieser Zeit.«

»Ja, natürlich«, gab Loris zu, »du hast ja recht. Ich kann’s halt nur nicht erwarten.«

»Sie werden deiner Frau auf jeden Fall Bescheid geben, dass du noch lebst«, fügte Jekarina tröstend hinzu. Bei den Freien sagte man nicht Gefährten, man sprach von Mann und Frau, wenn zwei Menschen fest zusammenlebten. Oder auch mal von Mann und Mann, Frau und Frau, je nach dem. Auch Mikail hatte das übernommen, Puschpika war für ihn seine Ehefrau – das eher abwertende Weib kam ihm nicht über die Lippen.

»Das ist mir das Wichtigste, ja. Nur möchte ich so gerne bei ihr sein, wenn das Kind kommt. Und das kann ich nur, wenn …«

»… sie dich nicht mehr für einen Mörder halten. Wissen wir.« Jekarina nickte verständnisvoll. »Deinem Mädel wird’s sicher ähnlich gehen, die wird sich auch nach dir sehnen. Aber noch viel wichtiger ist doch, dass alle gesund sind. Schlimmstenfalls verpasst du die Geburt und schließt eben bei deiner Rückkehr Frau und Kind in die Arme, ist doch auch was Schönes.«

Da hatte sie natürlich recht. Seufzend griff Loris nach etwas Obst und Brot.

»Und was lernst du aus diesen Dingern da?«, fragte Kossula und deutete auf das Buch.

»Ach, das ist echt unfassbar, was für einen Unsinn die Ahnen in der ersten Welt geglaubt haben«, antwortete Loris. »Kein Wunder, dass sich Tiru daraus seine eigene Version zusammengebastelt hat. Wenn man das liest, kommt man aus dem Staunen nicht mehr raus.«

»Zum Beispiel?«

»Die einen glaubten, dass in jedem Baum und Strauch, sogar in Steinen und Bächen, irgendwelche seltsamen, unsichtbaren Wesen leben, die anderen hatten eine ganze Großfamilie von Göttern, die zwar unsterblich und wahnsinnig mächtig waren, dabei aber denselben Unsinn angestellt haben wie Menschen auch. Bei manchen hatten diese Götter Tiergestalt oder zumindest die Köpfe von Tieren.« Er nahm sich die Zeit, sein Stück Brot in eine Schale mit leckerer, scharfer Tunke zu stippen und den Bissen zu genießen, bevor er fortfuhr.

»Dann gab’s da noch die, die aus all den Göttern ihrer Vorfahren nur einen übrig behalten haben. Das waren wohl die Schwierigsten, weil sie allen anderen aufzwingen wollten, ebenfalls nur noch an den einen zu glauben. Und zwar an ihre ganz persönliche Version. Da hat man sich schon mal wegen Kleinigkeiten gegenseitig die Köpfe eingeschlagen. Völlig irre.«

»Also stimmt das wirklich, dass Tiru die Idee aus den alten Büchern hatte?«, fragte Lien, Haidars rechte Hand, zaghaft. »Alles, woran wir immer geglaubt haben, war eine große Lüge?« Man sah der jungen Frau an, dass diese Vorstellung ihr wehtat.

»Ist ziemlich offensichtlich, ja.« Loris machte ein wenig Platz für eine Dienerin, die ihm Saft einschenkte. Seltsamerweise waren die Menschen, die man ihr Leben lang dazu gezwungen hatte, Tiru und einige andere hohe Tiere zu bedienen, nicht etwa froh gewesen, von dieser Pflicht entbunden zu werden. Sie hatten sich freiwillig erboten, nun dieselbe Arbeit für die Anführer des Freiheitskampfes zu erledigen.

Er bedankte sich bei der Frau und fuhr fort. »Man findet die Einzelteile des Glaubens, den Tiru hier eingeführt hat, in den verschiedenen Religionen der ersten Welt. Er hat sich eine bunte Mischung zusammengestellt aus den Dingen, die ihm am besten in den Kram passten.«

»Und was, wenn die Altvorderen wirklich vom Weg abgekommen waren?«, warf Farik ein. Der frühere Gardist tat sich ebenfalls schwer, seinen alten Glauben einfach abzustreifen, so wie die meisten, die damit aufgewachsen waren. »Was, wenn sie aus einem ursprünglich richtigen Glauben alle möglichen Irrlehren entwickelt haben, ihn verfälscht haben, wie es Tiru gelehrt hat?« Seine wie auch Liens Reaktion machten Loris mal wieder deutlich, wie vorsichtig er doch eigentlich mit dem Thema umgehen sollte. Was für ihn absurd und lächerlich klang, war für diese Menschen bislang eine unumstößliche Wahrheit gewesen. Er zog ihnen nun ein Stück weit den Boden unter den Füßen weg.

»Ach komm!« Kossula, noch nie besonders feinfühlig, machte eine wegwerfende Geste. »Ich habe selbst mit angehört, wie Tiru Mikail erzählt hat, dass er sich diesen Glauben ganz nach seinem Geschmack zusammengestellt hat. Außerdem, wie erklärst du dir die Einteilung in Gesegnete, Unwürdige und Gestrafte? Das gab es in der ersten Welt gar nicht, oder?« Er sah Loris fragend an.

»Nein, das gab es nicht«, bestätigte der. »Manche Menschen wurden mit Missbildungen geboren, konnten nicht gehen, waren blind oder so etwas, und es gab sogar Leute mit zusätzlichen Fingern oder einem Fell. Aber das ist nicht mit den Veränderungen zu vergleichen, die in unserer Welt ständig auftreten. Und so etwas wie deine Kraft und Schnelligkeit oder Liens überragendes Gehör, also Menschen, die ihr als Gesegnete bezeichnet, gab es dort gar nicht. Diesen Teil hat Tiru sich komplett aus den Fingern gesogen. Nur das mit der Wiedergeburt und der Belohnung oder Strafe im nächsten Leben, das hat er sich bei den Religionen abgeschaut. Aber bei anderen als denen mit dem einen Gott.«

Bei seinen letzten Sätzen waren Mikail und Puschpika eingetreten und nahmen gerade auf ihren gewohnten Kissen Platz, die man immer für sie frei ließ.

»Morgen allerseits!« Puschpika warf Loris einen säuerlichen Blick zu, bevor sie den Rest der Gruppe freundlich anlächelte. »Ihr bekommt wohl mal wieder eine Lehrstunde in Ahnenkunde?«

Haidar grinste. »Ist ganz interessant. Die Altvorderen haben wohl wirklich an alles geglaubt, was man ihnen erzählt hat, was?« Er schien sich bereits an den Gedanken gewöhnt zu haben.

»Wir doch auch«, kommentierte Lien leise.

»Mach dir nichts draus«, versuchte Loris sie zu trösten. »Man hat es euch ja auch mit aller Gewalt in die Köpfe geprügelt, kaum dass ihr laufen konntet. Die Ahnen haben sich da viel mehr blamiert. Da haben sich erwachsene Menschen den größten Unsinn vormachen lassen und begeistert dran geglaubt.«

Fragende Blicke ließen ihn lachen. »Ernsthaft! Da gab es welche, die haben jeden Tag drauf gewartet, dass irgendwelche Wesen aus anderen Welten bei ihnen landen und sie mitnehmen. Und ich meine keine Menschen, damals konnte man noch keine fremden Planeten wie den unseren erreichen. Man glaubte an Wesen, die überhaupt nicht aussahen wie wir und viel intelligenter waren. Wieder andere haben aus dem Essen eine Religion gemacht.«

»Das wär was für mich«, warf Jekarina lachend ein und biss von einem großen Stück kaltem Braten ab.

»Eher weniger«, erwiderte Loris schmunzelnd. »Die haben nämlich kein Fleisch gegessen, keine Eier, nicht mal Milch haben sie getrunken. Nichts, was von einem Tier stammt. Sogar Honig war verboten.«

Nun machte Jekarina große Augen. »Ehrlich? Na gut, nix für mich. Ahnen! Wie kommt man denn auf sowas?«

»Frag mich was Leichteres. Auf jeden Fall nicht, weil denen das von irgendeinem Gott verboten worden wäre. Die haben sich das ganz alleine ausgedacht. Der Autor des Buches nennt es eine Wohlstandserscheinung. Was immer das bedeuten mag. Und es gab noch mehr solche eigenartigen Bewegungen. Manche nannten sich die Erwachten, aber die versteh ich selbst nicht ganz.«

»Was ist das nun wieder für ’ne Truppe?«, fragte Mikail.

»Tja, das ist eben seltsam. Wir haben doch in der Schule gelernt, dass es in der ersten Welt die Unsitte gab, Menschen nach ihrer Hautfarbe zu beurteilen. Dunkle Haut war schlecht und dumm, helle Haut war gut und schlau.«

»Völlig bescheuert, ja. Und?«

»Diese Erwachten haben das dann irgendwie umgedreht. Angeblich wollten sie, dass alle Menschen gleich behandelt werden, was ja eigentlich selbstverständlich ist. Aber dabei haben sie es dermaßen übertrieben, dass es genau ins Gegenteil umgeschwenkt ist. Plötzlich waren die mit der dunklen Haut die besseren Menschen und die mit der hellen alle ganz böse.«

»Tolle Logik«, bemerkte der bisher schweigsame Damir.

»Ja, völlig verquer. Trotzdem hatten sie wohl eine Weile ziemlich viel Einfluss. Bis es selbst Menschen mit dunkler Haut zu blöd wurde und sie den Haufen zurechtgestutzt haben. Sagt der, der dieses Buch geschrieben hat.«

»Und das war eine Religion?«

»Sowas Ähnliches. Zumindest haben sie das genauso verbissen vertreten wie eben andere ihren Glauben an Gott. Wer abweichender Meinung war, wurde als ganz böse angesehen und mit allen Mitteln bekämpft. Hat aber nur ein paar Jahre gehalten, wenn ich das richtig verstanden habe.«

»Sachen gibt’s …« Mikail schüttelte verständnislos den Kopf.

»Na, das haben unsere Ahnen zum Glück hinter sich gelassen.« Jekarina nahm sich noch ein Stück Braten. »Kein Fleisch, wo kommen wir denn da hin?«

»Und dann haben sie selbst wieder ganz ähnlichen Unsinn eingeführt.« Loris zuckte die Schultern. »Hier Tiru mit seinem selbstgebauten Gott, bei uns der Wahnsinn, Menschen in Gesunde und Abartige zu trennen.«

»Anscheinend sind wir nicht gerade die schlaueste Tierart, was?« Damir erhob sich. »Wie wir miteinander umgehen, das macht kein Viech mit seinesgleichen.« Damit verließ er den Raum.

»Dass das ausgerechnet von ihm kommt …«, brummelte Jekarina, wischte sich die Finger ab und entfaltete ihre Beine, die ebenso so lang waren wie die ganze Puschpika. »Ich geh mal nachsehen, was die Bauarbeiten in der Stadt machen.« Sie stand auf. Zu ihrem Glück waren die Räume im Palast alle sehr hoch, sodass sie aufrecht stehen konnte.

»Da komm ich mit.« Tonio, ehemals Giftmischer des Herrschers und nun wieder als Kräuterkundiger tätig, wie man hier die Ärzte nannte, rappelte sich ebenfalls auf. Er hatte dem ganzen Gespräch schweigend gelauscht. »Bei der Gelegenheit kann ich gleich nach den Verwundeten sehen.« Noch waren längst nicht alle, die bei der Belagerung des Palastes verletzt worden waren, ganz über den Berg, doch Tonio und seine Kollegen setzten all ihr Können ein. Loris war sicher, selbst seine Mutter Mona könnte von diesen Leuten noch manches lernen – und umgekehrt.

»Ist euch was aufgefallen?«, fragte Mikail schmunzelnd, als die beiden den Raum verlassen hatten.

»Nee, was?«, fragte Loris verwirrt.

»Tonio findet immer wieder einen Grund, in Jekarinas Nähe zu sein.«

Kossula fiel glatt das Essen aus dem Mund. »Du meinst doch nicht im Ernst …«

»Ich denke, doch.«

Der muskelbepackte Leibgardist lachte schallend. »Der kleine, schmächtige Tonio und die Riesin? Die muss ihn ja hochheben wie ein Kleinkind, wenn er sie küssen will.«

»Na und?« Puschpika grinste. »Das müsste sie sogar mit dir machen, oder?«

Kossula verstummte. »Ja … aber …«

»Eifersüchtig?«, neckte Farik ihn. »Machst du dir etwa selbst Hoffnungen?«

»Bist du wahnsinnig? Gott bewahre! Das Weib kriegt doch kein Mann unter Kontrolle!«

»Tja nun«, gab Puschpika lakonisch zurück. »Nicht jeder Mann hat’s nötig, sein Weib zu kontrollieren.«

Kossula schaute erst verwirrt, dann eingeschnappt. Wortlos erhob er sich und verließ den Besprechungsraum.

»Jetzt ist er beleidigt, scheint’s.« Lien schüttelte den Kopf. »Die Männer hier werden noch viel lernen müssen.«

Da konnte Loris nur zustimmen, fürchtete aber, es werde Generationen brauchen, bis Frauen hier so selbstverständlich dieselben Rechte bekamen wie in seiner Heimat.

»Und? Was steht heute an?«, fragte er Mikail.

»Dasselbe wie gestern und die nächsten Wochen«, lautete die Antwort. »Die Stadt auf Tirus Rückkehr vorbereiten.«

Momentan wusste niemand, wohin der gestürzte Herrscher gegangen war. Solange er sich irgendwo im Waldland herumtrieb, nutzten sie hier in Tasik-Hutan die Zeit, um die Hauptstadt auf einen erneuten Angriff vorzubereiten. Das letzte Mal hatte er sich ohne Gegenwehr in der Stadt festsetzen, den von Rebellen besetzten Palast belagern und seine Gegner von jeder Versorgung abschneiden können. Das durfte nicht noch einmal passieren.

Wenig später fand Loris sich bei den Handwerkern ein, die die neuen Verteidigungswaffen bauten. Wie erwartet traf er Damir dort an. Die beiden waren übereingekommen, den Kämpfern des Waldlandes nicht alles zu verraten, was sie über den Waffenbau wussten. Tirus Truppen waren ja nicht besser ausgerüstet als die zu den Rebellen übergelaufenen Wächter und Gardisten, daher reichte es völlig, den Verteidigern einige Vorteile zu verschaffen. Sollte diese Technik je in Tirus Hände fallen, wäre er den Städten, aus denen Loris und Damir stammten, immer noch unterlegen.

»Wie sieht’s aus?«, fragte Loris den Uhrmacher aus Kuvunja.

»Geht voran«, lautete die knappe Antwort. Damir besah sich die im Bau befindlichen Steinwerfer, rüttelte hier und da an den Verbindungen und wechselte einige Worte mit den Handwerkern, war aber offenbar nicht an einem Gespräch interessiert.

Loris gab sich damit zufrieden. Wochenlang hatte die Aussicht auf Rache für Dunjas Tod ihren Bruder angetrieben, doch nachdem Tiru mit einem geradezu billigen Trick entkommen war, hatte sein Enthusiasmus merklich nachgelassen. Er arbeitete durchaus mit, aber ohne die Aussicht, Goldi, wie er Tiru aufgrund von dessen vollständig aus Gold bestehendem Gebiss nannte, den Hals umzudrehen, wirkte er eher müde und antriebslos.

Loris wanderte weiter zu der Gruppe, die Speerschleudern herstellte. Sie waren hauptsächlich für den Einsatz gegen Tiger und Gendos gedacht. Da diese längst nicht so schwer gepanzert waren wie die Donnerechsen, die Or angegriffen hatten, reichten einfache, kupferne Speerspitzen völlig aus. Man würde bei Bedarf die Geschosse noch mit dem Gift einstreichen, das die Waldleute für die Jagd verwendeten, das war genug. Für die Wurfarme nutzten sie, wie auch für die Steinwerfer, verdrillte Seile. Zwar konnte diese Technik so unter Umständen Tiru in die Hände fallen, wenn dieser die Stadt zurückeroberte, aber Loris war sicher, dass seine Konstrukte weit schwächer waren als das, was Amad baute. Immerhin konnte man sie noch mit einem großen Geißfuß spannen und brauchte keinen Flaschenzug und Kurbeln dafür. Außerdem hatte Mikail ganz richtig angemerkt, dass ein Starker, also ein Veränderter wie er mit der Kraft mehrerer normaler Männer, durchaus in der Lage war, einen Speer mit ähnlicher Wucht zu werfen. Und Starke hatte Tiru reichlich. Die Rebellen dagegen mussten auch Menschen mit ganz gewöhnlichen Muskeln einsetzen, da boten die Schleudern einen großen Vorteil. Die einfachere Bauart und die vielen Arbeiter sorgten dafür, dass jeden Tag mehrere der Waffen fertig wurden. So ein Tempo hätte er sich damals in Or auch gewünscht.

»Das sieht wirklich gut aus«, lobte er seine Jungs. Handwerk erlernten in diesem Land nur die Jungen, Mädchen wurden möglichst dumm gehalten und hatten sich vollständig auf Haushalt und Feldarbeit zu konzentrieren. Nennenswerte Bildung, und sei es nur lesen, schreiben und rechnen, erhielten allerdings auch die gewöhnlichen Jungen nicht, sondern ausschließlich die Lehrer, also die Kuttenträger, die Tirus Glauben im Volk verbreiteten. Die restliche Bevölkerung konnte davon bisher nur träumen. Ein Umstand, den die Aufständischen schleunigst ändern wollten.

Nach einer kurzen Überprüfung der gerade im Bau befindlichen Waffen wanderte Loris hinüber zu den Schießständen, wo Männer und auch Frauen an den bereits fertigen Exemplaren übten. Man schoss nicht, wie Tirus Glaubenswächter früher, auf menschenähnliche Ziele, sondern auf runde Scheiben, wie er es von daheim gewöhnt war. Menschen bewusst die Hemmungen abzugewöhnen, andere zu töten, hielt er ebenso wie Mikail und Jekarina für unerträglich.

Tschock! Ein Speer schlug ins Zentrum einer Zielscheibe ein. Die Frau, die ihn auf gut fünfzig Meter Entfernung so genau platziert hatte, reckte jubelnd die Faust in die Luft. Ihre männlichen Kollegen reagierten sehr unterschiedlich. Manche zollten ihr die verdiente Anerkennung, andere waren unübersehbar wenig begeistert davon, dass eine Frau, die doch laut den Lehren Tirus dümmer und nutzloser als jeder Mann war, so einen Erfolg vorweisen konnte. Loris seufzte. Da war noch viel zu tun. Er ging schnurstracks auf die Schützin zu und lobte sie für den guten Schuss.

»Das kriegen die anderen aber doch auch hin, oder?«, fragte er in die Runde und schaute die Schützen an den übrigen vier Schleudern aufmunternd an. Diese schickten ihre Speere auf die Reise, und tatsächlich waren die Ergebnisse ganz ordentlich. Loris war zufrieden, überließ die Leute ihren Übungen und machte sich auf den Weg in die Stadt.

»Na? Wie geht’s voran?«, rief er in die beinahe drei Meter tiefe Grube hinab, die mitten in einer der großen Hauptstraßen klaffte. Links und rechts davon war weniger als ein Meter Platz zu den angrenzenden Gebäuden.

»Schau halt hin!«, kam die freche Antwort. Ken sah grinsend zu ihm hinauf. Der Gendoreiter hatte Loris und seine Freunde schon auf der Flucht aus dem Kerker begleitet und den ganzen Kampf gegen Tiru mit durchgestanden. Nun baute er mit seinen Leuten Fallen, um die großen, massigen Tiere mit den drei Hörnern am Kopf, die er selbst nur zu gut kannte, effektiv aufzuhalten. Noch gefährlicher waren allerdings die Tiger, riesige Katzen mit schwarzer, ledriger Haut, die von Reitern gelenkt wurden und alles zerfetzten, was ihnen in die Klauen und die mächtigen Reißzähne geriet.

Loris tat, wie ihm geheißen. Die Wände der rechteckigen Grube waren glatt verschalt, aus dem festgestampften Boden ragten meterlange Spieße mit kupfernen Spitzen senkrecht auf. Kaum ein halber Meter Abstand war zwischen den mörderischen Stöcken, das konnte bestenfalls ein Mensch mit viel Glück überleben, aber sicher kein Tiger oder gar eines der tonnenschweren, dickhäutigen Gendos. Ken und die Seinen waren eben dabei, die letzten Spieße zu befestigen.

»Und die Abdeckung?«

Ken wies mit dem Daumen ungefähr in Richtung einer Seitengasse, ohne nochmals von der Arbeit aufzusehen. Nun gut. Loris schob sich vorsichtig am Rand der tödlichen Grube entlang, bis er nach etwa drei Metern die Gasse erreichte. Dort fand er eine ganze Menge Balken vor, Schilfmatten und große Tücher, auf denen eine Schlammschicht in der Sonne trocknete.

»Tomas«, begrüßte er einen etwa vierzigjährigen Mann mit blonden Haaren, der eben einige Arbeiter anwies, einen etwa sechs Meter langen Balken über zwei Böcke zu legen. »Was macht die Abdeckung?«

»Ist bald fertig«, antwortete der Angesprochene. »Wir wollen gerade die Tragfähigkeit der Balken testen.«

Eine junge Frau mit stämmiger Figur trat vorsichtig auf den kaum mehr als handbreiten Balken, der nun in etwa einem halben Meter Höhe über dem Boden schwebte. Schon jetzt bog er sich leicht durch. Schritt für Schritt wagte sie sich von den Auflagen weg und zur Mitte hin, bis das Holz leise knackte.

»Genug!«, rief Tomas ihr zu. »Jetzt noch mal von vorne, aber in vollem Lauf drüber.«

Sie hüpfte hinab, ging zurück zum Anfang des Balkens und nahm noch ein paar Meter Anlauf. Dann erlebte Loris mal wieder die unglaubliche Geschwindigkeit, die die sogenannten Schnellen an den Tag legen konnten. Kein Pferd in vollem Galopp hätte mithalten können, als die Frau losraste, auf den Balken hüpfte und kaum mehr als einen Lidschlag später am anderen Ende wieder hinabsprang. Beinahe wäre sie bis zur Grube gerannt und womöglich hineingestürzt, so viel Schwung hatte sie.

»Sehr schön«, kommentierte Tomas und nickte zufrieden. »Unsere Melder werden auf jeden Fall rüberkommen, solange sie sich genau auf den Balken halten. Ein Gendo oder ein ganzer Trupp dagegen …«

Ja, ein ganzer Trupp. Das war das, was Loris so gar nicht schmecken wollte. Die Gruben waren zwar vor allem für die Tiere gedacht, die Tiru im Kampf einsetzte, konnten aber auch für Menschen zur Todesfalle werden. Das Töten wurde hier als schrecklich normal empfunden. Und Damir, der sich die Gruben ausgedacht hatte, hatte diese Denkweise leider voll und ganz übernommen.

»Was ist mit der Brücke?«, fragte Loris.

»Die liegt schon da hinten bereit«, antwortete Tomas und deutete ein Stück die Gasse hinunter. »Gendos hält die auch nicht aus, aber Menschen können problemlos drüberlaufen. Selbst einen Eselskarren trägt sie.«

Gut. Solange die Stadt nicht angegriffen wurde, konnten die Bewohner also auch die Hauptstraßen sicher nutzen. Sollte Tiru auftauchen, würde man die Brücken entfernen und nur die wie die restliche Straße aussehenden Abdeckungen liegen lassen, die jeden, der sich daraufwagte, in den Tod rissen.

Loris verabschiedete sich und steuerte die nächste Grubenbaustelle an. Doch weit kam er nicht, da wurde er von der Seite angerufen. Er sah sich nach der Stimme um. »Priti? Was gibt’s?«

Die ehemalige Glaubenswächterin mit den ausnehmend guten Ohren wirkte etwas außer Atem. Sie schnaufte ein paarmal kräftig durch, bevor sie antwortete.

»Sie wollen dich im Palast sehen, im Besprechungsraum. Es gibt Neuigkeiten.«

»Keine guten, wenn ich dein Gesicht so sehe.«

»Kann man so sagen, ja. Komm mit!«

2

Kaum betrat Loris als Letzter den Raum, bedeutete Mikail den Anwesenden, ruhig zu sein. »Setz dich.« Er wies auf das freie Kissen, wartete, bis Loris Platz genommen hatte, und wandte sich dann an den Boten, der in einer Ecke stand. »So, nun bitte noch mal für alle.«

Der junge Mann trat vor und schaute etwas unsicher in die Runde. Vor allem Jekarina schien ihn mächtig zu beeindrucken, obwohl man hier doch den Umgang mit Veränderten gewöhnt war. Schließlich holte er tief Luft und wurde seine Nachricht los: »Tiru ist wieder aufgetaucht.«

Ein Raunen ging durch die Versammlung. Der Bote wartete einen Moment, bis Ruhe einkehrte, und fuhr dann fort.

»Er hat vor drei Tagen mit seinen Truppen ein größeres Dorf nördlich des Echsengebietes niedergebrannt. Soweit wir wissen, hat er zuerst von den Bewohnern verlangt, ihm alle Vorräte auszuhändigen. Außerdem sollten sie alle Gesegneten und sogar die kräftigen Männer unter den Unwürdigen in sein Heer schicken. Als man sich weigerte, weil man die geforderten Vorräte ja ohne starke Arbeiter auch nicht hätte ersetzen können, haben Tirus Wächter sich alles mit Gewalt genommen, den Dorfobersten und einige weitere umgebracht und dann die Hütten in Brand gesteckt. Die meisten Bewohner, die er nicht als Kämpfer brauchen konnte, hat er davongejagt. Sie sollen überall verbreiten, was geschieht, wenn man sich seinem Willen widersetzt.«

Mikail hatte einen Klumpen im Magen. Dieser Wahnsinnige ließ nun also endgültig die Maske fallen, terrorisierte sein eigenes Volk auch dort, wo man ihm bislang noch einigermaßen treu gewesen war. Sein Angriff auf den Westen des Landes, den er schon seit Jahrzehnten aufgrund irgendeiner alten Geschichte unterdrückt hatte, sollte immerhin die treffen, die sich gegen ihn hatten auflehnen wollen. Auch wenn ein Massenmord an Tausenden weit über alles noch ansatzweise Nachvollziehbare hinausgegangen wäre. Im Norden jedoch war man Mikails Informationen zufolge bislang nie als rebellisch aufgefallen. Trotzdem strafte er die Menschen dort nun also derart grausam dafür, dass sie einfach nur überleben wollten.

Rund um ihn redeten alle wild durcheinander. Jekarina forderte vehement, man müsse den Leuten dort so schnell wie möglich helfen. Kossula hielt – nicht zu Unrecht – dagegen, dass sie nach der Heimkehr vieler Kämpfer in den Westen nicht einmal genug Bewaffnete für so etwas hatten. Schon gar nicht, wenn sie in der Lage sein wollten, die Stadt zu verteidigen.

»Dann willst du die Menschen da draußen im Stich lassen und hier auf deinem dicken Hintern sitzen bleiben oder was?« Jekarinas von Natur aus dröhnendes Organ schmerzte nun, in all ihrer Wut, gewaltig in den Ohren.

Mikail sprang auf und hob die Arme. »Bitte, Freunde, seid leise!« Er sah die Riesin direkt an, gab ihr zu verstehen, dass besonders sie gemeint war. Das Stimmengewirr ließ nach und verstummte schließlich.

»Wir haben nur diese eine Meldung«, begann Mikail. »Jetzt sofort mit allem, was wir haben, loszurennen, wäre idiotisch. Entschuldige, Jekarina, aber wir können die Stadt nicht ungeschützt lassen. Es ist sehr gut möglich, dass Tiru genau damit rechnet. Er lockt uns von Tasik-Hutan weg, umgeht uns und nimmt die Stadt und den Palast ein, ehe wir wieder da sind. Dann wäre alles umsonst gewesen, wir würden alles wieder verlieren, wofür wir gekämpft haben.«

Das Gesicht seiner großen Freundin spiegelte deutlich den Kampf wieder, den sie mit sich selbst ausfocht. Schließlich schnaubte sie und nickte ergeben. »Na schön. Was dann? Wir können die Leute doch nicht einfach diesem Monster überlassen.«

»Und, wenn ich das sagen darf«, meldete sich Tonio zu Wort, »wenn wir Tiru nicht stoppen, presst er so viele Kämpfer in sein Heer, dass er uns zehn zu eins oder noch mehr überlegen ist. Er wird sicher auch die ihm treuen Truppen der Provinzoberen einsammeln. Mit jedem Tag, den er ungestört weitermachen kann, wächst seine Schlagkraft. Bislang wussten wir nicht einmal, wo er abgeblieben war. Seine Spuren hat er ja so gut verwischt, dass selbst unsere Nasen ihn nicht aufspüren konnten. Weiß Gott, wie er das angestellt hat. Nun beendet er das Versteckspiel und macht sich damit angreifbar. Zumindest im Moment noch. Aber wie gesagt: Er wird mit jedem Tag stärker.«

Das war die andere Seite, da hatte der ehemalige Blutmeister recht.

 Mikail ließ sich mit hängenden Schultern auf sein Kissen zurücksinken und sah in die Runde. »Dann stecken wir in der Klemme. Bleiben wir hier, wächst Tirus Heer so lange, bis wir nicht mehr gegen ihn ankommen. Versuchen wir ihn aufzuhalten, müssen wir die Hauptstadt beinahe wehrlos zurücklassen. Dabei dürfen wir auch Kiril und die anderen Lehrer nicht vergessen, die hiergeblieben sind und uns jeden Tag Ärger machen.«

Die allerdings ließen sich selbst von den anwesenden Kriegern nicht beeindrucken. Sie verließen sich voll und ganz darauf, dass niemand es wagen würde, sie als Männer Gottes auch nur festzusetzen. So verspritzten sie beinahe ungehindert ihr Gift unter der Bevölkerung, stachelten immer mehr Menschen gegen die Verräter auf, die den von Gott eingesetzten Herrscher davongejagt hatten. Früher oder später musste dafür eine Lösung her, aber wie die aussehen sollte, war Mikail völlig unklar. Im Westen hatte man die Kuttenträger kurzerhand umgebracht, da sie sich dort durch ihr eigenes Verhalten den Hass der Bevölkerung zugezogen hatten. Hier jedoch besaßen sie viel zu viel Ansehen unter den Bürgern, an handfeste Maßnahmen war nicht zu denken.

»Dann brauchen wir mehr Krieger«, stellte Kossula nüchtern fest. »Je brutaler Tiru vorgeht, desto mehr Dörfler sollten einsehen, dass sie erst dann Frieden finden, wenn sie ihn los sind. Im Westen weiß man das schon. Die Leute sind heimgekehrt, weil sie ihre Familien nicht noch länger alleine lassen konnten. Erfahren sie, dass Tiru zurück ist, werden sie wieder zu den Waffen greifen. Und aus dem Norden dürften wir auch Unterstützung bekommen, denke ich.«

»Vorausgesetzt, Tiru hat bis dahin nicht alle in sein Heer gezwungen«, warf Farik ein. »Es scheint, als sei er schnurstracks nach Norden marschiert. So ein großes Heer in gerade einmal elf Tagen bis hinter das Echsengebiet zu bringen, und das, ohne dass wir ihn verfolgen konnten, das ist schon eine reife Leistung. Er ist ein Verbrecher, aber denkt dran, er hat damals alle Kriegsherren besiegt. Der Mann versteht was von Taktik. Seine lange Zeit als unangefochtener Herrscher hat ihn arrogant werden lassen, das hat uns beim letzten Mal genutzt. Gerade hat er uns bewiesen, dass er es immer noch drauf hat. Von nun an wird er uns nicht mehr unterschätzen. Euch muss klar sein, wir haben es mit einem gefährlichen Gegner zu tun, der vor nichts zurückschreckt, keiner Grausamkeit und keiner List.«

Das befürchtete Mikail allerdings auch. Er wechselte einen Blick mit Loris. Es tat gut, den alten Freund wieder an seiner Seite zu haben. Der Streit damals, als man Mikail ein zweites, endgültiges Mal aus Or verwiesen hatte, war längst vergessen. Sie hatten sich ausgesprochen, beinahe noch einmal gestritten, weil jeder die Schuld unbedingt bei sich sehen wollte, doch nun war das alte Band wieder da, stärker als je zuvor.

Warte ab, schienen Loris’ Augen zu sagen. Überstürze nichts.

»Wir sollten nichts übers Knie brechen«, entschied Mikail. »Ich sag’s nochmal: Wir haben genau diese eine Meldung. Selbst, wenn wir jetzt sofort zu dem überfallenen Dorf aufbrechen, werden wir Tiru dort nicht mehr vorfinden. Versuchen wir doch erst einmal herauszufinden, ob er sich nun in eine bestimmte Richtung bewegt. Dann haben wir vielleicht die Chance, ihn abzufangen.«

»Und bis dahin?«, fragte Haidar.

»Befestigen wir die Stadt, so gut es geht«, übernahm Loris die Antwort. »Und zwar mit allem, was wir einsetzen können. Je besser wir Tasik-Hutan absichern, je mehr starke Waffen wir haben, desto mehr muss auch Tiru aufbieten. Das verschafft uns hoffentlich zumindest Zeit. Und es erhöht unsere Überlebenschancen.«

Das sowieso. Mikail lächelte Loris an. Das Zweiergespann funktionierte wieder.

Zwei Tage später hatte sich die Lage ein Stück weit geändert. Drei weitere Boten waren eingetroffen, zwei von ihnen Schnelle, der andere beritten. Das Meldesystem, das Haidar direkt nach dem Abzug Tirus aufgebaut hatte, funktionierte.