Flüchtlinge - Sascha Raubal - E-Book

Flüchtlinge E-Book

Sascha Raubal

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Beschreibung

Hoffnungsvoll reist Mikail mit seinen neuen Freunden, der Riesin Jekarina und dem schnellen Jäger Markus, zum Großen Rat der Freien. Sie sollen ihn entgegen aller Tradition in das Nomadenvolk aufnehmen. Von Anfang an schon hat er einen schlechten Stand, doch als eine Gruppe Jäger angegriffen wird, wächst das Misstrauen dem früheren Städter gegenüber noch mehr. Zusammen mit Jekarina und Markus' Bruder Tabo sucht er nach den Angreifern und stößt auf eine Gruppe Menschen, dem Tode nah und voller Angst. Sie erzählen Schreckliches von dem Land, aus dem sie kommen. Loris hingegen könnte es prächtig gehen. Nach seiner Amtszeit als Dürrekommandant hat er sich auch beim Wiederaufbau einen guten Namen gemacht, und mit MItena steht die Familienplanung an. Wäre da nur nicht dieser Fremde, der allerlei krudes Zeug erzählt und sich mit jedem anlegt, sei es der arrogante Donald oder die oberste Ratsfrau persönlich. Auch Loris gerät mit ihm aneinander – und findet sich bald darauf als Mörder in der Zelle wieder.

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Seitenzahl: 289

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Sascha Raubal

Die Abartigen 5 – Flüchtlinge

In dieser Serie bereits erschienen:

Band 1 – Karawane nach Cood

Band 2 – Der Prozess

Band 3 – Die Freien

Band 4 – Kampf um Or

Inhaltswarnung:

In diesem Buch wird gelebt und gestorben – mit allem, was dazugehört.

Und wer bei der Lektüre nur an eine spezielle Religion denkt … irrt.

Sascha Raubal

DIE ABARTIGEN

BAND 5 FLÜCHTLINGE

Fantasy

Die Abartigen 5 – Flüchtlinge

1. Auflage 2023

© 2023 Sascha Raubal

ISBN: 978-3-384-00059-0

Covergestaltung und Innenteilillustrationen:

Markus Gerwinski (http://www.markus.gerwinski.de)

Druck und Distribution im Auftrag : tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

Bibliografische Information der Deutschen

Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Cover

Halbe Titelseite

Titelblatt

Urheberrechte

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Danke

Die Kurt-Reihe

Der Autor

Die Abartigen

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Kapitel 1

Kapitel 20

Die Abartigen

Cover

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»Ich sage euch, ihr lebt in Sünde!«, rief der Mann, der mitten auf dem Ladeplatz auf einer kleinen Kiste stand, den Umstehenden zu.

»Die Stadt heißt Or, nicht Sünde«, erscholl eine Stimme. Einige lachten. Auch Loris konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Noch nahmen diesen eigenartigen Fremden, der sich Lehrer nannte, nur wenige ernst. Die Menschen in Or waren bodenständig, praktisch veranlagt. Mit dem, was dieser Kerl da faselte, konnten sie nichts anfangen. Er war vor kurzem mit einer Karawane aus Sawan eingetroffen, zusammen mit zwei anderen, die inzwischen nach Cood weitergereist waren, und schwang seitdem jeden Tag an einem anderen Ort in der Stadt seine seltsamen Reden, auf einer kleinen Kiste stehend. So nun auch hier, und das schon am frühen Morgen.

Abgesehen vom Inhalt amüsierten sich die Leute über die Sprechweise des Mannes: langsam, gedehnt, manchmal etwas undeutlich. So sprach niemand, dem Loris jemals begegnet war, nicht mal der dämliche Donald. Natürlich hatten sich in den Städten leicht unterschiedliche Dialekte entwickelt, an denen man oft erkennen konnte, woher jemand stammte. Auch seine Gefährtin Mitena klang ein wenig nach ihrer Heimat Cood. Doch durch den regen Austausch zwischen den Städten hielten sich die Unterschiede in sehr engen Grenzen, viele nahmen sie gar nicht wahr. Dieser komische Kauz mit seiner grauen Kutte dagegen hörte sich einfach nur – witzig an.

Lia konnte allerdings ganz und gar nicht über ihn lachen. Loris’ Schwester stand neben ihm und schüttelte wütend den Kopf. »Lehrer nennt der sich? Verzapft den ganzen Tag nur Unsinn und maßt sich an, Lehrer sein zu wollen. Man sollte ihn schleunigst aus der Stadt schmeißen, den Schwachkopf.«

»Hört die Worte Gottes!«, rief das Objekt ihrer Wut eben lautstark.

»Gott? Ich dachte, du heißt Sandor«, plärrte dieselbe Stimme wie vorhin. Da hatte aber eine wirklich Spaß daran, den Kerl zu reizen.

Nun war die Geduld des Fremden am Ende. Er richtete den stechenden Blick seiner grauen Augen – irgendwie war alles an ihm grau: Haare, Augen, Kutte und sogar die Haut – auf die Frau, die ihm so frech dazwischengeblökt hatte, streckte den Arm aus und wies mit anklagendem Finger auf sie.

»Ja, mach dich nur lustig über mich! Lache nur über das Wort Gottes des Allmächtigen! Aber glaube nicht, dass du seiner Gerechtigkeit entgehen wirst. Nimm seine Botschaft an, oder ertrage die Strafe für deine Unverschämtheiten!«

»Sagt wer?«, forderte ihn nun ein Mann heraus, der direkt neben der wenig beeindruckten Frau stand. So drohend, wie er dreinschaute, war er möglicherweise ihr Gefährte.

»Die Stimme Gottes«, war die Antwort, in bedeutungsschwangerem Ton ausgesprochen. »Denn sie ist der Quell aller Weisheit.«

»Dann schick den Kerl gerne mal bei mir vorbei«, entgegnete der Mann ungerührt und zeigte die Fäuste. »Mal sehen, ob dieser Gott, oder wie der heißt, sich an mein Mädel rantraut, wenn ich ihm die Visage poliere.«

Er nahm besagtes Mädel – eine Frau von geschätzt vierzig Jahren – am Arm und ging mit ihr davon, dicht an Loris und Lia vorbei.

»Gott. Was ist denn das für ein Name?«, murmelte der Mann im Vorübergehen. »Der soll sich nur blicken lassen.« Seine Gefährtin lachte, dann verschwanden sie in einer Gasse.

Auch Loris zog seine Schwester weg. »Komm, lassen wir den Trottel doch schwafeln. Wer soll den Schwachsinn schon glauben?«

Lia schnaubte. »Das sagst du so. Ich hab schon von mindestens zwei Leuten gehört, die meinten, es könnte ja doch was dran sein. Dass so eine Gestalt, die über allem steht und alles im Griff hat, doch eigentlich nicht unglaubwürdiger ist als unsichtbare kleine Wesen, die unsere Kinder verunstalten. Und ihnen gefällt die Vorstellung, etwas tun zu können.«

»Tun? Was wollen sie denn tun?«

»Na, der Kerl behauptet doch, dass es von einem selbst abhängt, ob man als gesunder Mensch oder als Abar…«, sie unterbrach sich, »… als Veränderter geboren wird. Zumindest im nächsten Leben.«

Noch immer rutschte ihnen beiden das Wort abartig nur allzu leicht heraus. Trotz allem, was geschehen war. Mikail, Loris’ bester Freund, den Lia geliebt hatte, war ein so veränderter Mensch gewesen. War es immer noch, ein Ausgestoßener jetzt, irgendwo da draußen in der Wildnis. Wo entgegen der allgemeinen Lehre wohl doch einige von denen überlebten, die man in den Städten nicht duldete. Meist wurden sie schon als Säuglinge ausgesetzt oder im Kindesalter, doch manche - wie Mikail – verbargen ihre Andersartigkeit bis ins Erwachsenenalter. Bis sie eines Tages eben doch aufflogen.

»So ein Schwachsinn!« Loris schüttelte verständnislos den Kopf. »Nächstes Leben. Wer’s diesmal nicht auf die Reihe bringt, darf’s eben wieder versuchen? Wie soll das gehen? Tot ist tot.«

»Sagst du. Der Kerl da behauptet aber was anderes, und manche möchten’s halt gern glauben.« Sie zuckte die Schultern. »Ich kann das sogar irgendwie verstehen. Überleg mal, wenn jemand sein ganzes Leben ein Arschloch war, dabei aber gut gelebt hat, dann wird er im nächsten Leben für sein mieses Benehmen büßen müssen. Und wer immer lieb und hilfsbereit und ehrlich war, aber nie viel erreicht hat, wird dafür beim nächsten Mal belohnt. Ist schon irgendwie eine schöne Vorstellung, oder?«

»Na ja, aber nur, weil die Vorstellung so schön ist, wird’s halt nicht wahr«, hielt Loris trocken dagegen. »Es gibt ja nun absolut nichts, was dafürspricht, dass da irgendwas dran sein könnte.«

»Ist das bei der Sache mit den winzigen Lebewesen, die unsere Gene durcheinanderbringen, anders?«

Er sah sie erstaunt an. »Natürlich! Die Ahnen selbst haben das doch noch herausgefunden, mit ihren Wundermaschinen.«

»Und das wird seitdem von Generation zu Generation in der Schule weitergegeben. Haben wir Belege dafür? Diese Biester sind so winzig, dass wir sie nicht sehen können. Die Gene sind noch winziger. Wir glauben es, aber handfeste Beweise können wir nicht beibringen, oder?«

Jetzt verstand er gar nichts mehr. »Lia! Du bist Lehrerin! Glaubst du etwa selbst nicht an das, was du lehrst?«

Sie knuffte ihn in die Seite. »Idiot! Ich will dir doch nur erklären, warum einige Leute auf die Geschichten dieses Sandor hereinfallen.«

»Aber wir sind hier doch nur gesunde Menschen, was wollen sie denn dann besser machen?«, fragte Loris verständnislos.

»Sie wollen dafür sorgen, dass sie auch das nächste Mal gesund geboren werden.«

Loris hatte den Eindruck, Knoten im Hirn zu bekommen. Das klang dermaßen unsinnig! Doch inzwischen hatten sie das Ratsgebäude erreicht, und er musste seinen Kopf wirklich für handfestere Probleme freihalten.

»Ach, lassen wir das.« Er gab seiner Schwester einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Wünsch mir lieber Glück, damit ich den Rat davon überzeuge, dass wir etwas an unserer Dürrestrategie ändern müssen.«

Sie klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. »Das schaffst du schon. Nach dem, was du in den letzten Monaten geleistet hast, hat dein Wort ganz schön Gewicht bei ihnen.«

Bei weitem nicht genug, dachte Loris missmutig und eilte hinein.

»Das ist doch lächerlich.« Ratsmann Cheuk schüttelte energisch den Kopf. »Du willst allen Ernstes das Viehzeug, das uns alle acht Jahre belagert und in die Stadt einzudringen versucht, noch extra anlocken? Künstliche Wasserstellen für diese Bestien schaffen? Damit noch immer mehr von denen kommen?« Er wandte sich an die anderen Ratsmitglieder. »Wollen wir uns diesen Unsinn wirklich noch weiter anhören?«

Dura, der für die Handwerker im Rat saß, machte eine abwiegelnde Handbewegung. »Ich würde das nicht so leichtfertig abtun. Erinnert euch doch bitte kurz daran, wie oft Loris sich mit seinen Ideen gegen unseren Widerstand durchsetzen musste. Und wir alle wissen: Im Nachhinein können wir nur den Ahnen danken, dass wir auf ihn gehört haben. Seine Befestigungen der Mauern, die neuen Waffen, all das haben viele von uns als Unsinn abgetan. Doch er hat damit unzählige Leben gerettet. Ohne ihn wäre es viel, viel schlimmer gekommen. Auch in den Monaten nach der Dürre, beim Wiederaufbau, hat sich sein heller Kopf immer wieder als wertvoll erwiesen. Ich finde, wir sollten ihm durchaus noch weiter zuhören.«

Die oberste Ratsfrau Dafina nickte zustimmend. »Der Ansicht bin ich ebenfalls. Dieser junge Mann hat wirklich Großartiges geleistet, als Dürrekommandant und auch danach. Wir schulden ihm zumindest, ihn aussprechen zu lassen.« Sie wandte sich mit aufmunterndem Lächeln an Loris. »Bitte erkläre uns, was du mit diesen eigenartigen Pumpen vorhast, die du eben angesprochen hast.«

Loris schenkte ihr einen dankbaren Blick. Es war beruhigend, sie auf seiner Seite zu haben. Als ältestes und geachtetstes Ratsmitglied hatte sie ihm schon mehrfach beigestanden.

»Bevor ich zu den technischen Ausführungen komme«, setzte er dann seine von Cheuk so unfreundlich unterbrochene Rede fort, »möchte ich noch einmal ausdrücklich betonen: Ich will nicht etwa zusätzliche Tiere zur Stadt locken. Sie riechen sowieso in weitem Umkreis unser Wasser, deshalb sammeln sie sich ja zu jeder Dürre vor den Mauern, wenn der Durst sie in den Wahnsinn treibt. Mein Plan ist ganz im Gegenteil, sie von der Stadt wegzulocken. Nicht weit, aber doch in ausreichenden Abstand zu Or, damit sie uns eben nicht mehr gefährlich werden.«

Er wies erneut auf die Karte, die er zur Veranschaulichung gezeichnet hatte. »Ihr seht, alle von mir angedachten neuen Speicher liegen am Rande des Umlands, gerade noch innerhalb der Grenzen, in denen wir uns von der Stadt entfernen. Fünf in der Ebene, drei in den Bergen, dort, wo sich unserer Erfahrung nach die meisten Tiere der Stadt nähern. Wenn wir ihnen dort für die Zeit der Dürre gerade so viel Wasser anbieten, dass sie über die Runden kommen, gibt es für sie keinen Grund, sich an den Mauern den Schädel einzurennen. Oder diese eben umzureißen und Massaker unter der Bevölkerung anzurichten.«

So, wie es in der vor weniger als drei Monaten zu Ende gegangenen Dürre der Fall gewesen war. Bis dahin hatten die Stadtmauern von Or allen Versuchen der wilden Tiere standgehalten, sich am Wasser und der Nahrung innerhalb der Stadt zu vergreifen – mal von Vogelschwärmen abgesehen. Doch dann waren nicht nur neuartige, besonders große, starke und sehr schwer zu tötende Wölfe aufgetaucht, sondern auch geradezu monströse Echsen. Diese bis zu acht Meter langen Bestien waren nicht nur in der Lage, die aus Sandstein gebaute Große Mauer zu erklimmen, die Or zur Ebene hin schützte. Mit stahlharten Klauen und enormer Kraft konnten sie die kleineren Mauern zu den Gebirgstälern glatt niederreißen und damit sowohl sich als auch weiteren Raubtieren Eintritt verschaffen.

Loris zerriss es immer noch das Herz, wenn er an die vielen Toten dachte, die sich am Ende des Kampfes auf dem Platz vor dem Krankenhaus getürmt hatten. Eine einzige dieser Echsen, ein Rudel Wölfe und einige weitere Bestien hatten Dutzende getötet, Hunderte verletzt. Uschindi, eine gute Freundin und Mitglied seines Dürrerates, Jitu, der junge Mann, der sich selbst geopfert hatte, um das geschuppte Monstrum aufzuhalten, so viele, deren Namen Loris erst hinterher erfahren hatte.

»Ich weiß, wir konnten uns Generationen lang auf unsere Mauern verlassen, doch letztlich haben wir mit der Taktik, die Tiere auszusperren und vom Wasser fernzuhalten, selbst für die Angriffe gesorgt. Alles Wasser für uns, unser Vieh, ja sogar die Blumen! Und die Tiere der Wildnis darben. Geben wir ihnen etwas ab, gerade genug, damit sie überleben können. Und zwar leicht erreichbar, ohne gegen unsere Mauern und Waffen anrennen zu müssen. Dann werden sie uns in Frieden lassen.«

»Du hast doch den Arsch offen«, erscholl es da aus den Zuschauerrängen.

Loris zuckte beim Klang dieser Stimme zusammen wie unter einem Schlag. Den Kerl brauchte er jetzt gerade noch.

Auch Dafina, Loris’ Mutter Mona und einige weitere Ratsmitglieder schauten drein, als hätten sie eben einen großen Schluck Essig getrunken.

»Donald«, begrüßte die oberste Ratsfrau den Sägewerksbesitzer eisig. »Hast du außer Beleidigungen auch noch Anderes beizutragen?«

Der große, rotblonde Mann, dessen tumbes Gesicht so viel Intelligenz vermuten ließ, wie er zu bieten hatte, kam die Stufen zwischen den Zuschauerrängen hinabgestapft.

»Beleidigungen?« Er musterte die Anwesenden mit seinem üblichen, arroganten Blick. »Das hat mit nichts mit Beleidigung zu tun, wenn ich die Dinge beim Namen nenne. Dieser Irre«, er wedelte in Richtung Loris, »will also allen Ernstes das Viehzeug auch noch hätscheln, das mir meinen Sohn genommen hat? Statt sie mit Speeren zu spicken, bis keine dieser Bestien mehr übrig ist, will er sie mit Wasser versorgen?«

Er warf einen kurzen Blick auf die Karte und die Schemazeichnungen, die Loris ebenfalls mitgebracht und für den Rat aufgehängt hatte, las die Maße der geplanten Bauwerke ab und grinste spöttisch.

»Das ist dein Ernst?«, fragte er Loris abfällig. »Jedes einzelne dieser Becken, das du ausheben willst, fasst mehr als tausend Kubikmeter. Unterirdisch, im Boden der Ebene. Ist dir klar, welchen Aufwand das bedeutet?«

»Der Boden besteht aus Sandstein, ebenso wie die Berge um uns herum«, gab Loris zurück. »Der ist leicht zu bearbeiten, das wissen wir doch alle. Und wir haben acht Jahre Zeit bis zur nächsten großen Dürre.«

»Ganz recht«, antwortete Donald. »Leicht zu bearbeiten. Man kann aus diesem Sandstein wunderbare, große Blöcke schneiden, mit denen wir unsere Mauern um einige Meter erhöhen. Am besten holen wir das Material direkt aus dem Boden vor der Mauer, das gibt noch einen schönen Graben. Und dann will ich mal sehen, wie eines dieser Drecksviecher noch hinaufkommen will. Vor allem, wenn wir reichlich hübsche Speerschleudern darauf stehen haben. Das ist der richtige Weg, mit dem Viehzeug umzugehen.«

Verdammt! So simpel diese Idee war, Donald war sicher nicht alleine darauf gekommen. Aber er hatte einige reichere Unternehmer auf seiner Seite, längst nicht alle geistig minderbemittelt, sondern einfach nur zu sehr auf den eigenen, kurzfristigen Vorteil bedacht.

»Das wird das Problem aber nicht dauerhaft lösen«, widersprach Loris. »Die Tiere sind in einem ständigen Wettlauf miteinander, werden immer stärker, größer, gefährlicher. Und wir sind Teil dieses Wettlaufes. Wir bauen immer höhere Mauern, immer wirksamere Waffen. Bis die Tiere wieder nachziehen. Warum dieser Irrsinn? Warum nicht den Kampf beenden, indem wir den Tieren das zugestehen, worauf doch sie ein Anrecht haben? Etwas Wasser, das wir entbehren können. Wasser, das wir in den Regenzeiten sammeln und ihnen dann zur Verfügung stellen, wenn sie es dringend brauchen. Geben wir ihnen nicht länger einen Grund, uns anzugreifen, und wir haben dauerhaft unsere Ruhe.«

»Anrecht?« Donald lief dunkelrot an. »Anrecht? Dieses Viehzeug hat überhaupt kein Anrecht auf irgendwas. Die haben mir meinen Sohn genommen! Sie haben unsere Mitbürger abgeschlachtet. Und du willst sie dafür noch belohnen?« Inzwischen brüllte er wie von Sinnen. »Wage es, und ich schlage dir persönlich den Schädel ein!«

»Es reicht«, schnitt ihm Dafinas Stimme wie eine Messerklinge das Wort ab. »Drohungen werden in diesem Saal nicht geduldet. Du hast deine Meinung deutlich zum Ausdruck gebracht, aber nun verlässt du sofort das Gebäude.«

Donald fuhr herum, schien einen Moment kurz davor zu sein, sich auf sie zu stürzen. Doch nun erhoben sich noch weitere Ratsmitglieder, stellten sich Dafina demonstrativ zur Seite, blickten ihn herausfordernd an.

Mit einem wütenden Schnauben wandte sich Donald einem der Ausgänge zu, warf im Vorübergehen noch einige der Ständer um, an denen Loris seine Zeichnungen aufgehängt hatte, und rauschte hinaus. Für einen Moment glaubte Loris, eine graue Kapuze dort oben zu sehen, dann jedoch forderte Dafina mit einem Räuspern seine Aufmerksamkeit ein.

»Loris«, begann sie, »ich denke, für heute lassen wir es gut sein. Wir kennen nun deine Grundidee und müssen uns erst einmal Gedanken darüber machen. Die technischen Einzelheiten kannst du uns ein andermal präsentieren. Wir wissen ja um dein Talent in diesen Dingen.«

Loris wünschte sich zum wohl hundertsten Male, damals die Echse nicht getötet zu haben, bevor sie Donald den hohlen Kopf von den Schultern beißen konnte, nickte aber schicksalsergeben und begann, seine Pläne zusammenzurollen. Heute würde er nichts mehr erreichen.

»Das war ja mal wieder ein typischer Donald-Auftritt«, erscholl es hinter ihm, als er gerade den Platz vor dem Ratsgebäude überquerte. Loris blieb stehen und wandte sich um. Amad, der Armbruster, gesellte sich zu ihm.

»Hör mir auf!«, ächzte er. »Dieser Schwachkopf raubt mir den letzten Nerv. Ist ja nicht so, dass sein dämlicher Sohn für den ganzen Schlamassel verantwortlich gewesen wäre. Wer hat denn das Biest noch extra zum Angriff gereizt, das ihm dann den Schädel runtergebissen hat?«

»Wenn’s nur er gewesen wäre!« Amad legte ihm den Arm um die Schultern. »Stattdessen hat Kay, dieses Arschloch, auch noch alle anderen Toten auf dem Gewissen mit seiner Scheißaktion. Aber das wird sein hirnloser Vater nie und nimmer eingestehen.«

»Worauf du einen lassen kannst.« Loris kickte missmutig ein Steinchen davon. »Wolltest du nur zuschauen, wie der mich aus der Fassung bringt, oder hast du Neuigkeiten?«

Amad grinste. »Beides. Gasi, Kristobal und ich haben draußen ein paar Versuche angestellt, und das Ergebnis sieht gar nicht mal schlecht aus.«

Oh, das waren doch mal gute Nachrichten. »Kann ich mir das anschauen?«

»Deshalb bin ich hergekommen«, gab Amad zurück. »Wir haben uns extra was für dich aufgehoben. Kannst du jetzt gleich?«

Loris warf einen Blick zur Sonnenuhr am Turm. »Hmm … eigentlich wollte ich heim, Mitena kocht ein Rezept von der Küste. Und du weißt ja …«

Amad lachte »Ja, ich weiß. Du willst nicht wieder Knatsch mit ihr riskieren, weil du vor lauter Arbeit ständig weg bist. Marina hat sicher auch nix dagegen, wenn ich daheim esse. Dann verschieben wir’s auf Nachmittag. Um drei am Versuchsplatz?«

»Ich bin da.«

»Also? Was habt ihr für mich?« Loris sah erwartungsvoll in die Runde. Neben Amad standen Kristobal, der große, muskelbepackte Schmied, und Gasi, seines Zeichens Pulvermeister im Bergwerk. Die Gruppe traf sich in einem kleinen Tal, das beinahe am Rande des Umlands lag, in dem sich die Bewohner der Stadt relativ gefahrlos aufhalten konnten. Wer die Grenze überschritt, befand sich in der Wildnis, die von gefährlichen Tieren nur so wimmelte. Dort überlebte man nur in gut geschützten Karawanen – oder als Mensch mit ganz außergewöhnlichen Kräften wie Mikail und dessen eigenartige Freunde. Der Abstand zur Stadt war nötig, um nicht allzu viele neugierige Fragen zu provozieren, wenn es mal wieder so richtig krachte.

»Du wirst staunen!«, antwortete Gasi mit leuchtenden Augen. Seit seine Knalleimer so wertvolle Dienste bei der Verteidigung der Stadt geleistet hatten, platzte der dürre Kerl mit dem aschblonden Wuschelkopf – von einigen auch Staubwedel genannt – vor Stolz. Und dass Loris ihn bei seiner neuesten verrückten Idee mit einbezogen hatte, machte ihn geradezu glücklich.

Gasi wies mit großer Geste auf ein kleines Gestell aus massiven Brettern, das ein stählernes Rohr beherbergte.

»Wir hatten erst geplant, etwas viel Größeres und Dickeres zu nehmen, uns aber dann für dieses Rohr entschieden. Ein Zentimeter Wandstärke, drei Zentimeter Innendurchmesser und einen knappen Meter lang.«

Interessiert lauschte Loris den Ausführungen der drei. Was in welcher Reihenfolge in das Rohr kam und warum, der Grund für die Form des Geschosses und so weiter.

»Hier hinten«, schloss Kristobal den Vortrag ab, »stehen unsere Zielscheiben. Wir haben ein Stück Echsenkragen und dahinter etwas Haut aufgespannt. Immerhin haben wir jetzt genug von dem Zeug für jede Menge Schusstests.«

Ja, da hatte er recht. Mehr als ein halbes Dutzend dieser Monster hatten sie in der Dürre erlegt, die meisten vor der Mauer. Ein einziges, das durchbrach und weiteren Tieren den Weg öffnete, hatte dann für das Massaker gesorgt. Wäre nicht Mikail mit seinen neuen Freunden aufgetaucht, auch Lia wäre von einem Wolf zerfleischt worden. Statt ihrer hatte es ein Mädchen erwischt, das sich mutig dazwischengeworfen hatte. Eine der sogenannten Abartigen, die es offenbar irgendwie schafften, in der mörderischen Wildnis zu überleben.

Die Stadt hatten Mikail und seine sehr eigenartigen Begleiter nicht gerettet, das hatten die Bewohner schon selbst geschafft – unter Loris’ Führung. Doch Lia verdankte ihr Leben dem Opfer dieses Mädchens, das Mikail offenbar sehr nahegestanden hatte.

Loris seufzte. Noch immer schmerzte die Erinnerung an den Streit, in dem Mikail und er auseinandergegangen waren. Am liebsten wollte er dessen harte Worte dem Verlust zuschreiben, den er erlitten hatte. Doch auch Loris hatte seinen Anteil daran gehabt, dass es so furchtbar gelaufen war. Auch er hatte seinem besten Freund seit Kindertagen Schlimmes an den Kopf geworfen. Wie gerne hätte er diese Worte ungesagt gemacht, um Verzeihung gebeten, die Freundschaft gerettet. Doch sie würden sich wohl nie wieder über den Weg laufen.

»Loris?« Amad wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht herum. »Träumst du?«

Loris schüttelte sich kurz. »Entschuldigt«, bat er, »Ich war in Gedanken.« Er erinnerte sich, worum es zuletzt gegangen war. »Sind das dann nur diese beiden Schichten? Kragen und Haut?«

»Dahinter kommt der übliche Strohballen, und dann ein Sandhaufen, direkt vor der Felswand«, klärte Kristobal ihn auf. »Und jetzt schau zu. Gasi?«

Der dürre Pulvermeister nickte, ging in die Hocke und schaute an dem Rohr entlang. Er rutschte das Gestell etwas auf dem Boden herum, korrigierte die Neigung des Rohres und sah dann zufrieden auf. »Fertig. Her mit dem Docht.«

Amad entzündete einen Docht, der an einem langen Stab befestigt war. »Wir wollen bei den ersten Versuchen lieber nicht zu nah rangehen. Könnte ja sein, dass das Rohr irgendwann mürbe wird und uns um die Ohren fliegt.«

Ob dann die knapp zwei Meter Abstand reichen würden, wagte Loris zu bezweifeln, aber auch gefühlte Sicherheit war was wert.

Gasi hielt die Flamme an das kleine Stück Zündschnur, das am ansonsten verschlossenen hinteren Ende aus dem Rohr herausragte. Es krachte gewaltig. Ahnenscheiße, Loris hatte vergessen, sich die Ohren zuzuhalten!

Das Gestell war ein Stück nach hinten gehüpft, eine dicke Rauchwolke waberte vor dem Rohr herum, und hinter dem Ziel rieselten kleine Strohstückchen zu Boden.

Loris lief, gefolgt von den anderen, die beinahe hundert Meter zur Zielscheibe. Er besah sich das Ergebnis und war mehr als beeindruckt.

»Phantastisch, was ihr da gebaut habt!«, lobte er die drei. »Damit erlegen wir so ein verdammtes Echsenvieh mit dem ersten Schuss. Egal, wo wir es treffen.«

»Das will ich doch stark hoffen«, gab Amad lachend zurück. »Natürlich müssen wir noch vieles verbessern, aber es eilt ja nicht. Seit die Dürre zu Ende ist, scheinen die Biester das Interesse an Or verloren zu haben.«

Loris nickte. »Ja, unser Glück. Aber eine Frage hab ich dann doch noch. Das Ding verschießt ein einzelnes Geschoss, das selbst die Echsenpanzerung knackt. Die guten, alten Knalleimer dagegen haben eine ganze Ladung Kleinteile herausgejagt, die gleich mehrere Wölfe erlegt haben. Habt ihr da auch was?«

Amad grinste breit. »Na, was denkst du denn?«

2

»Wolnosch.« Jekarina wies mit großer Geste auf eine riesige Ansammlung von Zelten, die vor ihnen in der Ebene lag. »Die einzige ständige Siedlung der Freien.«

Mikail war beeindruckt. Von hier oben, auf dem Kamm eines der letzten Hügel nördlich des großen Gebirges stehend, sah das Lager geradezu gigantisch aus. Das waren nicht nur um die hundert Zelte wie bei einem der üblichen Clanlager, hier ging die Zahl der runden Behausungen aus Filz und Fellen in die Tausende.

»Das müssen mindestens so viele Einwohner sein wie in Or«, schätzte er.

»Ja, momentan ist ganz schön was los.« Jekarina klopfte ihm auf den Rücken. »Da finde ich bestimmt jede Menge Partner zum Ringen.« In den letzten Monaten hatte sie Mikail immer wieder dazu überredet, mit ihr oder auch Markus zu ringen. Beide stellten auf ihre eigene Weise schwierige Gegner dar, die Riesin aufgrund ihrer enormen Reichweite, Markus, weil er so unglaublich schnell war. Aber mit der Zeit hatte Mikail gelernt, mit beidem umzugehen, und nun gewann er sogar schon ab und zu.

»Na komm«, fuhr sie fort, »gehen wir weiter. Ich freue mich schon seit Wochen auf einen ordentlichen Krug Bier.«

»Da schließe ich mich an.« Markus grinste von einem Ohr zum anderen. »Endlich mal wieder ein schönes Bierchen. Das bekommen wir nur hier.«

Aha. Na, das gönnte Mikail seinen Freunden. Er ließ den Blick über die riesige Zeltstadt schweifen, während sie den Hang hinab darauf zugingen. Nanu? Das da hinten sah aber nicht nach Zelten aus.

»Sind das etwa richtige Häuser?«, fragte er erstaunt. Die Freien führten ihr nomadisches Leben normalerweise nur mit Zelten und Wagen. Feste Gebäude kannten sie nicht … dachte er zumindest bisher.

»Sind es, ja«, bestätigte Markus. »Es gibt einen ganzen Clan von mehreren hundert Menschen, die dauerhaft hier wohnen und nicht umherziehen wie wir. In erster Linie diejenigen, die in den hiesigen Werkstätten, Brauereien und so weiter arbeiten. Natürlich helfen auch wir mit, solange wir uns hier aufhalten, aber ein paar Fachleute sind ständig vor Ort, die haben das Ganze unter ihrer Aufsicht. Was du da siehst, sind zum Teil genau diese Werkstätten, zum Teil aber auch Wohnhäuser des Wolnosch-Clans. Nicht zu vergessen das Gebäude des Großen Rates, die Bibliothek und die Akademie.«

Mikail war baff. Nun reiste er schon einige Monate mit den Freien, doch immer noch hielten sie Überraschungen für ihn bereit.

Ehe er weitere Fragen dazu stellen konnte, erblickte er einen Reiter, der offensichtlich auf die drei Neuankömmlinge zuhielt. »Will der was von uns?«

»Schätze schon«, gab Jekarina zurück. »Immerhin wurde unser Kommen ja bereits angekündigt. Vielleicht will der Rat uns sofort sehen.«

Der Reiter näherte sich in leichtem Galopp, winkte nun zu ihnen herüber, was endgültig Mikails Frage beantwortete.

»Jekarina, nehme ich an?«, rief er ihnen schon von Weitem entgegen.

Die Riesin lachte und hob den Arm zum Gruß. »Wie der mich bloß erkannt hat?«

Mikail musste schmunzeln. Ja, allzu viele Menschen von beinahe drei Metern liefen wohl selbst bei den Freien nicht herum, auch wenn sie zu einem großen Teil aus Veränderten bestanden. Von Fell und Echsenhaut über Nachtsicht, extrem gute Ohren und herausragende Kraft oder Schnelligkeit bis hin zu Riesenwuchs war alles vertreten. Natürlich auch vieles, was eher hinderlich war, zusätzliche oder fehlende Gliedmaßen, Verwachsungen und so weiter. Doch hier fand jeder seinen Platz, durfte jeder die ihm eigenen Fähigkeiten einbringen und wurde respektiert. Außer … er war in einer der Städte aufgewachsen. So wie Mikail.

Der Fremde war heran und zügelte sein Pferd. »Jekarina?«, fragte er erneut.

»Ebendiese«, gab sie zurück. »Man erwartet uns schon sehnsüchtig, was?«

»Neugierig trifft es eher«, antwortete der junge Mann, dessen Haut bunte Muster aufwies. »Wer von euch ist der Städter?«

Mikail hob die Hand. Tja … er war der Städter, das hatte sich immer noch nicht geändert. Aber vielleicht würde sein Besuch hier etwas bewirken.

»Ich soll euch direkt zum Großen Rat bringen, man möchte sich den Bewerber näher ansehen«, erklärte der Reiter, stieg ab und stellte sich als Naoki vor.

Unter der Führung des Boten strebten sie der Siedlung zu.

»Du heißt Mikail, nicht wahr?« Naoki sah ihn offen und freundlich an, ohne seine Neugier zu verbergen. »Nach allem, was man hört, hast du eine ganze Menge für den Clan getan, der dich aufgenommen hat.«

Mikail winkte ab. »Unsinn. Man hat mir Gastfreundschaft gewährt, Unterkunft, Nahrung und Schutz. Dafür muss ich mich doch einbringen. Ich bin Connor und allen anderen mehr als dankbar, erst recht, wo durch meine Schuld …« Er verstummte, sah traurig zu Boden.

»Was war deine Schuld?«, fragte Naoki nach.

»Gar nichts!«, mischte sich Jekarina ein. »Er gibt sich die Schuld am Tod eines jungen Mädchens. Ich hab ihm schon hundertmal gesagt, dass das völliger Schwachsinn ist. Wenn irgendwer schuld daran ist, dann ich. Ich hätte auf sie aufpassen müssen.«

»Wir«, setzte Markus hinzu. »Wir alle waren mitverantwortlich. Mikail konnte nun wirklich nichts dafür, dass sie sich einfach davongemacht hat, weil wir nicht aufmerksam genug waren.«

Ja, ja, und sie konnten es noch weitere hundertmal sagen, das änderte nichts daran, wie er sich fühlte. Nur weil er unbedingt nach Or hatte gehen müssen, um mal wieder den Helden zu spielen, war Joti gestorben. Die liebe, hübsche, kluge und mutige Joti, deren Liebe er nicht erwidert hatte, weil sein Herz noch an Lia gehangen hatte. Seine Jugendliebe, die sich dann doch von ihm abgewandt hatte. Für nichts und wieder nichts hatte Joti ihr Leben geopfert. Nein, rief er sich zur Ordnung. Um Lia das Leben zu retten. Das war weit mehr als nichts, ganz egal, was danach geschehen war.

»Können wir diese fruchtlose Diskussion bitte lassen?«, bat er bitter.

»Ist wohl besser so, ja«, grummelte Jekarina. »Dem Rat werde auf jeden Fall ich berichten, wie das Ganze gelaufen ist, dass das klar ist. Wenn sie es überhaupt hören wollen.«

Wenig später hielten sie auf einer breiten Straße auf die Mitte der Zeltstadt zu, wo die festen Gebäude standen. Mikail kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Offenbar gab es genau festgelegte Plätze für die Zelte, dazwischen Gassen und ganze Straßen, aber auch Pferche für einen Teil der Tiere und sogar Toilettenhäuschen. Die beste Näherung an so etwas hatte er bislang im Berglager gesehen, wo man kleine Verschläge direkt über einem schmalen Wasserlauf errichtet hatte, der alles sofort vom Plateau spülte. Hier existierte sogar eine richtige Kanalisation.

»Wir kommen zum Zentrum«, erklärte Naoki, der bereits einige Fragen Mikails freudig und stolz beantwortet hatte. »Dort siehst du die Wohnhäuser des Wolnosch-Clans. Sie liegen in mehreren Ringen um den großen Marktplatz herum. Dazwischen gibt es Gasthäuser, Badehäuser, Geschäfte und einiges mehr. Fast wie in einer eurer Städte, nehme ich an.«

Mikail erwiderte Naokis fragenden Blick mit einem Nicken.

»Ja, und dann«, fuhr ihr Führer fort, »haben wir eben noch die wirklich großen Bauten, die aus Stein errichtet sind. Du siehst ja, die normalen Häuser sind alle aus Holz. Aber die Ratshalle, die Bibliothek und die Akademie, die haben unsere Vorfahren schon vor Hunderten von Jahren richtig solide aus Stein gebaut. Damals lebten noch ein paar der ursprünglichen Vertriebenen, die diese Bauweise in den Städten erlernt hatten. Heute sind wir froh, dass unsere Baumeister die immer öfter nötigen Reparaturen erledigen können.« Er lachte.

»Eine Akademie? Was ist das?«

Nun sah der junge Mann mit der bunten Haut ihn überrascht an. »Gibt es denn das bei euch nicht?«

Mikail war überfragt. »Zumindest sagt mir der Ausdruck nichts. Vielleicht nennen wir es nur anders?«

Eben wollte Naoki zu einer Erklärung ansetzen, da rief jemand seinen Namen. Ein alter Mann mit langem Bart und kleinen Hörnern an beiden Kopfseiten winkte sie zu sich heran. »Da seid ihr ja endlich«, begrüßte er die Gruppe.

»Darf ich vorstellen: Sorusch, Mitglied des Großen Rates«, erklärte Naoki. »Entschuldige, aber schneller ging es nicht«, wandte er sich dann an den alten Mann. »Glaube nicht, ich habe getrödelt!«

»Schon gut, schon gut«, winkte der Mann ab. »Ist ja nicht so, dass wir uns in der Zwischenzeit gelangweilt hätten.«

Naoki lachte. »Stimmt, ihr habt ständig was zum Quatschen.«

Damit verabschiedete er sich und zog mit seinem Pferd davon.

»Der Bengel«, murmelte Sorusch und schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Mein Enkel«, erklärte er dann und winkte Mikail und seine Begleiter herein. »Kommt, wir sind schon gespannt, alles zu erfahren.«

»Das ist ein wirklich außergewöhnlicher Antrag, den Connor und sein Clan da stellen.« Die kleine, rundliche Frau namens Pavla, allem Anschein nach die oberste Ratsfrau hier, sah Mikail nachdenklich an.