Todesklippen - Sascha Raubal - E-Book

Todesklippen E-Book

Sascha Raubal

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Beschreibung

Tiru hat seine Gegner ein weiteres Mal getäuscht, und noch weiß niemand, wo er ist und was er vorhat. Als sich das ändert, sind die Nachrichten katastrophal: Der entthronte Herrscher versucht nicht etwa weiterhin, sich sein verlorenes Reich zurückzuholen, sondern macht sich stattdessen mit Tausenden Kriegern auf, neue Landstriche zu erobern. Das können die Rebellen unmöglich zulassen! Doch dem Heer zu folgen scheint unmöglich. Die Route, die Tiru genommen hat, ist blockiert. Ihre einzige Chance ist der Weg übers Meer. Ein Weg, den bisher noch niemand lebend zurückgelegt hat, denn dort draußen herrschen starke Strömungen und tödliche Klippen.

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Seitenzahl: 286

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Sascha Raubal

Die Abartigen 10 – Todesklippen

In dieser Serie bereits erschienen:

Band 1 – Karawane nach Cood

Band 2 – Der Prozess

Band 3 – Die Freien

Band 4 – Kampf um Or

Band 5 – Flüchtlinge

Band 6 – Neuland

Band 7 – Die Stimme Gottes

Band 8 – Waldland in Flammen

Band 9 – Donnerechsen

Inhaltswarnung:

Tirus Grausamkeiten sind ja inzwischen bekannt. Ich möchte mich aber bei allen, die Ahnung von Booten und vom Segeln haben, für etwaige aufgerollte Fußnägel entschuldigen.

Sascha Raubal

DIE ABARTIGEN

BAND 10

TODESKLIPPEN

Fantasy

Die Abartigen 10 – Todesklippen

1. Auflage 2024

© 2024 Sascha Raubal

ISBN: 978-3-384-42651-2

Covergestaltung und Innenteilillustrationen:

Markus Gerwinski (http://www.markus.gerwinski.de)

Druck und Distribution im Auftrag :

tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

Bibliografische Information der Deutschen

Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Danke

Der Autor

Invasion

Leseprobe Band 11

1

Selbst fünf Tage nach dem unverhofft ausgebliebenen Kampf gegen das Heer aus dem Süden herrschte noch eine Mischung aus Verwirrung, Unglauben und Erleichterung in Tasik-Hutan. Späher meldeten, dass das Heer inzwischen den Großen See hinter sich gelassen hatte und weiter nach Norden marschierte. Auf dem Weg hatten die Krieger einige Dörfer geplündert und, als sie herausbekamen, dass man dort die rebellische Hauptstadt unterstützt hatte, teils grausam bestraft. Dutzende Tote und mehrere niedergebrannte Siedlungen zeugten von der Rache der Herrschertreuen. Da Lien die Unterstützung durch die Fischerdörfer organisiert hatte, war sie bereits mit Nahrung, Kräuterkundigen und Bauleuten losgezogen, um so schnell wie möglich Hilfe zu bringen.

Die Stadtbevölkerung, auf der einen Seite froh, verschont worden zu sein, murrte andererseits darüber, dass man sich den ganzen Aufwand mit der Befestigung der Stadt hätte sparen können. Mikail konnte nur den Kopf schütteln über so viel Engstirnigkeit. Wenn er in Tasik-Hutan unterwegs war, musste er sich ebenso oft Jubel wie Kritik anhören. Manche machten alleine seine Rückkehr dafür verantwortlich, dass der Feind den Angriff abgeblasen hatte und weiterzog, andere gaben ihm die Schuld für all den unnötigen Aufwand und die Schäden, die die Brandstifter angerichtet hatten. Er hörte sich alles geduldig an und versuchte nach Kräften, Zuversicht zu versprühen. Den Großteil seiner Zeit allerdings verbrachte er mit Puschpika, die ihn kaum noch aus den Augen lassen wollte.

Dilsad erkundete jeden Tag die Stadt oder den Palast. Puschpika, die inzwischen wusste, mit wem sie es zu tun hatte, baute so etwas wie eine vorsichtige Freundschaft zu der Fremden auf. Sie zeigte ihr die Gemächer Tirus und seiner Eheweiber, in denen sie selbst vor gar nicht allzu langer Zeit gelebt hatte, berichtete ihr vom Alltag als Eheweib. Anfangs war sie Dilsad noch mit ein wenig Eifersucht begegnet, immerhin hatte die einige Tage alleine mit Mikail verbracht, doch Dilsad hatte sehr schnell gemerkt, was los war.

»Du kannst froh sein mit deinem Mikail«, hatte sie Puschpika beim gemeinsamen Essen erklärt. »Kaum, dass er sich halbwegs bewegen konnte, wollte er nur noch zurück zu dir. Ich habe nicht viel Ahnung von Liebe, schließlich lebe ich schon seit Ewigkeiten alleine, aber dass es für ihn nichts Wichtigeres als dich gibt, das wusste ich am ersten Tag.«

Danach war das Eis gebrochen, und die beiden Frauen verstanden sich jeden Tag ein bisschen besser. Kossula dagegen konnte sein Misstrauen der so plötzlich aus dem Nichts aufgetauchten Echsenreiterin gegenüber nicht ablegen, und auch das Volk beäugte sie und vor allem ihr Reittier mit Furcht. Dekaren streifte durch die Wälder um die Hauptstadt, hielt sich von allen Dörfern fern und verschonte bei der Jagd auch das Vieh der Menschen. Trotzdem kamen immer wieder Leute in den Palast, die – vorsichtig gesagt – um Aufklärung baten, wie lange diese Donnerechse noch hierbleiben solle. Man habe Angst um die Kinder. Dass das Tier eher einen Schutz vor feindlichen Angriffen darstellte, war nach dem Abzug des Heeres ein schwaches Argument.

Also blieb Mikail nichts übrig, als nach einer Lösung dieses Dilemmas zu suchen. Er bat Dilsad zu sich in seine und Puschpikas Gemächer.

»Dilsad, ich fürchte, wir müssen eine Entscheidung treffen«, sprach er das Thema direkt an. »Du weißt, ich stehe tief in deiner Schuld. Du hast mein Leben gerettet, mich gesundgepflegt und dann sogar hierhergebracht und bist damit das Risiko eingegangen, dass dein und Dekarens Geheimnis ans Licht kommt. Dafür werde ich dir immer dankbar sein.«

Er stockte und wusste nicht so recht, wie er weitermachen sollte.

»Aber die Leute haben Angst vor uns«, nahm Dilsad ihm die Entscheidung ab. »Das merke ich doch selbst. Und ein paar von euren Freunden sind misstrauisch, allen voran Kossula. Was ich durchaus verstehen kann. Zu deiner Beruhigung: Ich will nicht mehr lange bleiben. Mein Plan war sowieso, morgen aufzubrechen und mit Dekaren heimzukehren.«

Nun war Mikail doch etwas überrumpelt. »Ich wollte dich eigentlich nicht verscheuchen.«

Dilsad lachte. »Keine Sorge, ich fühle mich nicht vertrieben. Ich denke nur, dass ihr hier alles gut im Griff habt und ich nicht gebraucht werde.«

Sie wandte sich an Puschpika. »Du hast mir so viel gezeigt in den letzten Tagen, dafür muss ich dir danken. Nun weiß ich, wo und wie meine Mutter damals gelebt hat. Sie hat nie viel von ihrer Zeit im Palast erzählt, wollte wohl auch nicht daran denken. Nur von ihrer Zeit mit Vater – du weißt schon, der mich angenommen hat – sprach sie gerne.«

Mit warmem Lächeln sah sie von Puschpika zu Mikail und zurück. »Ich freue mich, dass es hier nun auch Liebe gibt und nicht nur Gehorsam und Unterwerfung. Ihr tut diesem Land gut. Wenn Mikail hierbleibt und ihr gemeinsam etwas Neues, Besseres aufbaut, dann kann ich mir für mein Volk nichts weiter wünschen.«

»Du willst wirklich wieder zurück ins Sumpfland und nur unter Echsen leben?«, fragte Puschpika. »So ganz ohne menschliche Gesellschaft?«

»Das hat Dekaren auch schon gefragt«, gab Dilsad zu. »Er hat sowieso nicht verstanden, warum ich Mikail nicht dabehalten wollte.« Sie grinste. »Wisst ihr, bei den Echsen ist das ein bisschen was anderes mit den Beziehungen. Sie genießen durchaus die Gesellschaft der anderen, im Gegensatz zu ihren Vorfahren, vor allem den Baumleguanen. Aber eine dauerhafte Bindung kennen sie nicht, und Liebe in dem Sinne, wie wir sie anstreben, auch nicht. Dekaren weiß allerdings, dass es so etwas bei Menschen gibt, und natürlich kennt er den Drang, sich zu paaren. Als ich Mikail gepflegt habe, erschien es ihm nur logisch, den dann auch dazubehalten. Als Gesellschaft und für die Paarung. Es war für ihn unbegreiflich, dass ich so einen kräftigen, gesunden jungen Mann einfach gehen lasse und sogar noch zu einer anderen Frau bringe, statt ihn selbst zu behalten.«

Puschpika sah sie mit großen Augen an, während Mikail das Gefühl hatte, im Gesicht ein ganz dunkles Rot anzunehmen. »Zur Paarung«, brachte er mühsam hervor.

Dilsad bedachte ihn mit einem gekränkten Blick. »Ich weiß, ich bin eine alte Frau. Aber so hässlich bin ich doch wohl auch wieder nicht.«

Oh je. So hatte er es doch gar nicht gemeint! »Das«, setzte er an, brach ab, suchte nach einem anderen Anfang. »Du hast das falsch verstanden«, versuchte er es erneut. »Du bist natürlich eine sehr gutaussehende Frau, aber …« Großartig. Nun schaute Puschpika beleidigt. »Also … ich …« Oh Ahnen, wie kam er jetzt aus dieser Nummer wieder raus? Hilflos sah er von einer zur anderen.

Dilsad platzte als erstes mit ihrem Gelächter heraus, dann auch Puschpika. Was war denn nun wieder los?

»Köstlich«, giggerte Dilsad wie die junge Frau Anfang zwanzig, nach der sie aussah. »Du solltest dein Gesicht sehen.«

Puschpika nickte und schnappte nach Luft. »So verlegen wie ein kleiner Junge, den man dabei erwischt hat, dass er die hübsche Nachbarin anstarrt.«

»Was?« Mikail schaute nur noch verwirrter zwischen den beiden hin und her.

Die kicherten und glucksten noch eine Weile weiter und ließen ihn derweil schmoren, bis seine Liebste nach Luft schnappte und endlich wieder etwas sagte. »Ach, das war so herrlich. Ich habe Dilsad gleich gesagt, dass du so reagieren würdest.«

»Du wusstest das?«

»Sie hat’s mir gestern schon verraten«, gab Puschpika zu. »Ich habe ihr erzählt, wie ihr es in deiner Heimat mit dem Sex haltet und dass du da anders bist. Da hat sie mir berichtet, was Dekaren dazu gemeint hatte. Unglaublich, dass man in den Städten eine Moral hat wie ein Haufen große Eidechsen.«

Mikail suchte verzweifelt nach einer passenden Antwort auf das gemeine Spiel der beiden, gab sich aber schließlich einfach geschlagen und grinste verlegen.

»Können wir vielleicht zurück zum Thema kommen?«, bat er dann. »Ich meinte wirklich nicht, dass du verschwinden sollst, Dilsad. Ich hatte eher daran gedacht, ob wir nicht den anderen erzählen, wer du bist. Und auch, dass Dekaren mehr ist als nur eine dressierte Donnerechse. Dann würden sie dir sicher mehr vertrauen.«

»Oder erst recht nicht«, antwortete sie ernst. »Tiru ist durch sein langes Leben und die Macht, die er angehäuft hat, wahnsinnig geworden. Ich werde ebenso lange leben und könnte damit eine Gefahr darstellen. Was, wenn ich den Platz meines Erzeugers einnehme und seine Schreckensherrschaft fortführe? Mit den Donnerechsen im Rücken wäre ich praktisch unbesiegbar.«

»Und was, wenn sie es herausfinden, nachdem du wieder gegangen bist? Dann haben wir es ihnen verschwiegen, was sie erst recht misstrauisch macht. Wenn du nichts Böses planst, warum hast du dich dann nicht offenbart? So können sie genauso gut denken.«

Sie legte den Kopf schief. »Hmm … Da magst du recht haben. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Tonio sofort den richtigen Verdacht hatte, er hat nur bisher noch nichts gesagt. Vielleicht wartet er darauf, dass ich selbst enthülle, wer ich bin.« Sie sah Puschpika an. »Was meinst du? Das Geheimnis bewahren oder aufdecken?«

Der Entschluss war bis zum Abendessen gefallen. Wie üblich versammelten sich alle im Besprechungsraum, Loris erzählte ein paar neue Erkenntnisse, die er aus den alten Schriften der Ahnen gewonnen hatte, und man rätselte wie jeden Tag, was Tiru wohl vorhatte.

»Ich bleibe dabei«, sagte Haidar zwischen zwei Bissen, »dass er jetzt alle Kräfte sammelt, die er bekommen kann, um uns dann mit einer erdrückenden Übermacht zu vernichten.«

»Aber warum lässt er das Heer aus dem Süden dann so auffällig dicht an uns vorüberziehen?«, widersprach Farik. »Er hätte die Truppen doch in weitem Abstand an Tasik-Hutan vorbeiführen können. So wissen wir, dass er seine Leute sammelt. Das ist doch taktisch unklug.«

»Damit wollte er uns nur zum Deppen machen«, beharrte Damir auf dem, was er bereits die ganze Zeit behauptete. »Wir sollten uns in die Hosen pinkeln, panisch alles für die Verteidigung vorbereiten – wie wir es ja auch getan haben – und dann als Idioten dastehen, wenn die einfach wieder gehen.«

»Das alleine reicht nicht«, stellte Puschpika fest. »Ich gebe dir recht, er wollte uns hereinlegen. Aber ich hab’s schon ein paarmal gesagt: Er hat zwei Täuschungen durchgezogen. Erstens der angebliche Überfall auf den Westen, der Mikail, Kossula und die anderen dorthin gelockt hat, zweitens das Heer aus dem Süden, das uns hier festhielt. Angenommen, Mikail hätte nach Unterstützung geschickt. Wir hätten niemanden entbehren können, weil wir selbst mit einem Angriff rechneten. Umgekehrt konnte kein Kämpfer aus dem Westen uns zu Hilfe kommen, weil alle angeblich dort gebraucht wurden. Er hat unsere Kräfte zersplittert, während er seine sammelte.«

»Aber diesen Vorteil hat er doch aufgegeben«, warf Mikail ein, »indem er nun doch alles irgendwo oben im Norden konzentriert. Wir könnten jetzt also auch unsere Leute wieder vereinen und ihm entgegentreten.«

»Nur, dass unsere vereinten Kräfte kaum mehr sind als das, was er frisch aus dem Süden bekommen hat« Kossula schaute missmutig drein. »Sein Heer wird mindestens doppelt, eher dreifach so groß sein wie alles, was wir aufbieten können. Von Bewaffnung und Ausbildung mal ganz zu schweigen.«

»Aber bislang hat immer noch niemand diese riesige Truppenansammlung entdeckt?«, fragte Dilsad.

»Keine Spur«, antwortete Haidar. »Wir haben Späher bis zum Echsengebiet ausgeschickt, die haben nichts gefunden. Diejenigen, die weiter nach Norden sollten … was ist?« Er sah zu Kossula, der ziemlich deutlich mit dem Kopf schüttelte.

»Du redest zu viel«, sagte der frühere Leibgardist mit einem unverhohlenen Seitenblick auf Dilsad.

Diese sah kurz zu Mikail und nickte. Na schön. Dann also raus mit der Wahrheit.

»Kossula traut Dilsad nicht über den Weg«, sagte er laut und sah diesem in die Augen. »Und ich schätze, das können wir dir auch nicht verdenken. Die Umstände ihres Auftauchens, ihre Vergangenheit, die komplett im Dunkeln liegt, die Echse, alles sehr eigenartig.«

Nun hatte er die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Anwesenden.

»Wir, Dilsad, Puschpika und ich, haben uns heute Nachmittag über dieses Problem unterhalten. Auch in der Stadt und im Umland gibt es Vorbehalte und vor allem Angst vor Dekaren. Dilsad glaubte, es sei das Beste, sie kehrt mit der Echse dahin zurück, wo sie herkommt. Ich dagegen war der Ansicht, dass es euer Misstrauen – ja, ich weiß, nicht nur Kossula macht sich so seine Gedanken – dass es also eure Bedenken nur noch verstärken könnte, wenn sie einfach still und leise wieder verschwindet. Wir sind übereingekommen, euch über alles zu informieren. Danach möchte sie trotzdem heimkehren, aber dann wisst ihr wenigstens, wer sie ist und warum wir ihr trauen können, und seid beruhigt.«

Also erzählte er zuerst einmal, dass Dilsad Tirus Tochter war, die vor etwa hundert Jahren mit ihrer Mutter vor dessen Mörderbanden geflohen war und sich schließlich tief im Westen versteckt hatte. Alle waren überrascht, nur Tonio lächelte still in sich hinein. Er hatte wohl tatsächlich von Anfang an den richtigen Riecher gehabt.

»Deshalb bist du mir gleich so bekannt vorgekommen«, rief Kossula erstaunt aus. »Natürlich! Die Ähnlichkeit ist unverkennbar. Du bist also der Grund, warum Tiru den Westen hasst.«

Dilsad schaute geknickt. »Ja, der bin ich wohl. Ich kann gar nicht sagen, wie leid es mir tut, was die Menschen dort all die Jahre aushalten mussten. Als ich von Tirus Rache erfuhr, überlegte ich sogar, mich zu stellen, damit das aufhört. Aber Freunde rieten mir davon ab. Das vermeintliche Verbrechen war bereits begangen. Er hätte mich sicher sofort umgebracht, das hätte jedoch nichts mehr daran geändert, dass er dem ganzen Westen zutiefst misstraute und jeden dort als Verräter ansah. Er hätte trotzdem weitergemacht.«

Kossula musterte sie eine Weile schweigend. »Ich schätze«, gab er schließlich zu, »da hast du recht. Die Sache hatte sich schon so hochgeschaukelt, dein Opfer hätte nichts gebracht. Es wäre allerdings nicht verkehrt gewesen, wenn du mit deiner Echse zu Hilfe gekommen wärst, als er da drüben die ganze Bevölkerung auslöschen wollte.«

»Davon wusste ich nichts«, hielt Dilsad dagegen. »Ich war vor einem halben Jahr das letzte Mal in einem Dorf, und da habe ich auch nur ein paar Sachen getauscht und bin wieder verschwunden. Von einem Aufstand hat Uffe mir nichts erzählt.« Sie zuckte die Schultern. »Außerdem hätte Dekaren kaum dabei mitgemacht.«

»Was soll das denn jetzt heißen?«

»Das ist noch so etwas, das wir euch mitteilen wollten.«

Diesmal übernahm Dilsad die Erklärung. Sie schilderte die grausamen Versuche Tirus, Menschen mit gepanzerter Haut und Echsen mit menschlicher Intelligenz zu züchten, wie er diese als Fehlschlag abgebrochen und sie die Echsen befreit hatte, von denen eben doch einige intelligent waren.

»Wir leben seitdem zurückgezogen in einem weit entfernten, unzugänglichen Gebiet, während sich die dummen Donnerechsen nördlich von hier angesiedelt haben«, schloss sie. »Tiru hat nie erfahren, dass seine wahnsinnigen Ideen funktioniert haben.«

Offene Münder starrten sie an.

»Stimmt das?«, fragte Jekarina Mikail nach einer Weile. »Können die wirklich denken?«

»Die können sogar reden«, antwortete er. »Aber nicht in unserer Sprache, sie erzeugen ganz andere Laute. Sie verstehen, was wir sagen, und Dilsad versteht die Sprache der Echsen.«

»Was nicht so schwer ist, wie es sich anhört«, erklärte diese. »Denn das Sprechen haben sie ja von mir gelernt. Ich habe ständig mit den Tieren geredet, vor allem mit den ganz jungen. Sie haben versucht, mir nachzuplappern, aber das ist ihnen körperlich nicht möglich. Also haben sie eben das gesagt, was meinen Worten am nächsten kam.«

Mikail lachte laut auf, als er begriff. »Dekaren. Dickerchen.«

Dilsad nickte schmunzelnd. »Ganz genau.«

»Wie viele von den Viechern leben da?«, fragte Kossula.

»Einige Hundert.«

»Und da sollen wir beruhigt sein?« Kossula schaute Mikail an, als habe er einen Idioten vor sich. »Eine Nachfahrin Tirus, die über Hunderte intelligenter Donnerechsen gebietet, und wir sollen uns keine Sorgen machen?«

Oh verflucht. Mikail sah ganz ähnliche Gedanken auch in den Gesichtern von Farik und Haidar. So war das nicht geplant gewesen.

Ehe er jedoch etwas sagen konnte, stand Dilsad auf. »Schon gut. Ich dachte mir, dass es so laufen würde, aber wir wollten es zumindest versuchen. Also, nur um das klarzustellen: Ich bin nicht Tiru. Ich habe nicht das geringste Interesse daran, hier irgendeine Art von Macht zu übernehmen. Und ich gebiete auch nicht über diese Echsen. Sie sind meine Freunde, ich lebe bei ihnen, aber sie nehmen keine Befehle von mir entgegen. Sie wollen nichts anderes, als dort in ihrer Heimat in Ruhe zu leben. Ihr wisst es wahrscheinlich nicht, aber das Land geht noch sehr weit, es gibt dort genug Platz für noch viel mehr von ihnen. Sie werden also auch nicht zu euch kommen und euch euer Land streitig machen.«

Sie wandte sich zur Tür. »Ich werde jetzt zu Dekaren gehen und mit ihm zusammen nach Hause zurückkehren. Ihr werdet nichts mehr von mir hören oder sehen und braucht keine Angst vor mir zu haben.«

Einen Lidschlag später stand Kossula in der Tür. Mikail hatte schon fast vergessen, wie schnell sich der Mann bewegen konnte. »Du gehst nirgends hin.«

2

Ahnen! Das sah gar nicht gut aus. Loris hatte Mikails und Dilsads Enthüllungen mit wachsender Faszination zugehört, war aber von Kossulas Reaktion vollkommen überrascht worden. Diese Frau hatte Mikail das Leben gerettet und war bereit gewesen, ihr eigenes Leben zu riskieren, indem sie mit der Echse mitten in die feindlichen Truppen stürmte. Gut, das war dann nicht nötig geworden, aber hatte sie damit nicht bewiesen, auf welcher Seite sie stand?

»Es reicht!«, donnerte Jekarina, dass es durch Mark und Bein ging. »Wenn du dieser Frau auch nur ein Haar krümmst, bereust du es für den Rest deiner beschissenen Existenz, ist das klar?« Sie erhob sich und starrte Kossula herausfordernd an.

»Du glaubst, du wirst mit mir fertig?«, fragte der. »Du vergisst, wen du vor dir hast, Weib. Ich bin stärker als du und wesentlich schneller dazu.«

»Das war dieser Drecksack Ramsan auch«, entgegnete sie gefährlich ruhig. »Hat’s ihm was genutzt?«

Alles sah danach aus, als gingen diese beiden Giganten, die Riesin und der Muskelmann, jeden Moment aufeinander los. Verdammt! Waren sie nicht Verbündete? Freunde sogar? Was sollte das?

»Hört auf mit dem Unsinn!« Tonios leise, unaufdringliche Stimme brach den Bann.

»Wenn wir uns jetzt zerstreiten«, fuhr der Kräuterkundige fort, »besiegt Tiru uns, ohne überhaupt anwesend zu sein. Setzt euch wieder hin. Alle, bitte.« Er sah Dilsad an, die der Aufforderung tatsächlich als Erste folgte. Jekarina nickte ihm zu und sank zurück auf ihren Platz an seiner Seite, und schließlich gab auch Kossula wutschnaubend nach.

»Ich verstehe durchaus Kossulas Bedenken«, erklärte Tonio. »Angenommen, Dilsad gebietet wirklich über die Echsen. Oder sagen wir, sie sind so gut befreundet, dass diese ihr helfen. Dann könnte sie problemlos die Macht an sich reißen und mittels der Donnerechsen auch verteidigen. Es gibt kein wirksames Blut Gottes mehr. Sie weiß, dass ich es hergestellt habe, es wäre ihr also ein Leichtes, mich zu töten und damit die einzige Waffe gegen die Tiere endgültig zu beseitigen. Bitte, lass mich ausreden.« Er hob die Hand und brachte Dilsad zum Schweigen, die dazu etwas sagen wollte.

»Folgen wir also Kossulas Gedanken. Wir können Dilsad einsperren, zum Beispiel im Kerker. Da kommt dieser – wie heißt er? Dekaren, danke – nicht an sie heran. Aber denkt einmal kurz daran, warum ihr Kiril tot sehen wolltet. Solange der Oberlehrer im Kerker saß, bestand die Gefahr, dass seine Gefolgsleute ihn zu befreien trachteten. Durch einen direkten Angriff auf den Kerker oder durch einen Bürgerkrieg, mit dem sie uns nötigen, ihn freizulassen. Das war doch – abgesehen von Rache – der Grund, aus dem wir ihn hingerichtet haben, nicht wahr? Dekaren könnte ebenso versuchen, uns zu Dilsads Freilassung zu zwingen, indem er die Stadt verwüstet. Dieses Tier halten wir nicht auf, gebt euch da keinen Illusionen hin. Es ist so stark wie alle Donnerechsen, die wir kennen. Dazu noch seine Intelligenz, dagegen kommen wir nicht an.«

Er sah in die Runde. »Wir könnten also vorgehen wie bei Kiril. Sollen wir eine Frau hinrichten, die kein Verbrechen begangen hat? Nur weil sie uns vielleicht gefährlich werden könnte? Obwohl sie sich bisher als Verbündete erwiesen hat? Das könnt ihr nicht ernsthaft in Betracht ziehen.«

Er wartete keine Antwort ab, sondern fuhr weiter fort. »Aber nehmen wir an, wir ermorden sie tatsächlich. Wer sagt uns, dass Dekaren dann einfach nur enttäuscht abzieht? Nachdem wir ohne jeden Grund seine gute Freundin umgebracht haben, die ihn aufgezogen hat. Ich könnte mir vorstellen, dass er dann ausgesprochen unleidlich wird, was für uns womöglich ein Ende zwischen seinen Zähnen bedeutet. Und nicht nur er würde sich rächen. Sie sind in zwei Tagen vom Westen hierhergekommen. Das heißt, es wäre ein Leichtes für ihn, binnen kurzer Zeit Hunderte Donnerechsen nach Tasik-Hutan zu holen. Sie wären nicht nur in der Lage, die Stadt zu verwüsten und Tausende Bewohner zu töten, sondern sogar das ganze Land zu bestrafen.«

Er sah Kossula direkt in die Augen. »Bisher haben wir nur deinen durchaus nachvollziehbaren Gedanken, dass Dilsad und die Echsen uns theoretisch gefährlich werden könnten. Das will ich auch gar nicht bestreiten. Wenn wir jedoch so handeln, wie du es vorschlägst, sie gefangen setzen oder gar Schlimmeres, dann haben wir selbst uns Hunderte Donnerechsen zum Feind gemacht. Findest du das klug?«

Kossula starrte Tonio eine ganze Weile mit steinerner Miene an, dann ließ er den Kopf hängen. »Also müssen wir uns darauf verlassen, was Dilsad sagt.«

»Sie hat sich bisher als gute Verbündete erwiesen, ja sogar als Freundin«, sagte Tonio sanft. »Ich fände es sehr schade, wenn wir selbst sie aus übertriebenem Misstrauen zu unserer Feindin machen.«

Loris merkte, dass er die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. Nun ließ er sie erleichtert entweichen. Das war ja gerade noch mal gutgegangen.

»Ich möchte noch eine Kleinigkeit hinzufügen«, meldete sich Puschpika. »Angenommen, Dilsad hätte tatsächlich irgendwelche Pläne, wie Kossula sie ihr unterstellt. Dann hätte sie die auch umsetzen können, ohne Mikail heimzubringen. Er hatte ihr erzählt, wer er ist, welche Bedeutung er für die Rebellen hat. Sie hätte ihn einfach töten oder an seinen Verletzungen sterben lassen können und sich die Situation zu Nutze machen. Wir wären vollkommen überrascht gewesen, wenn plötzlich ein Heer von Donnerechsen über uns herfällt. Stattdessen hat sie … nun, das wisst ihr selbst.«

Sie wandte sich direkt an ihre neue Freundin. »Ich weiß, du wolltest sowieso wieder heim ins Sumpfland. Aber bitte geh nicht in dem Glauben, hier will dich keiner haben. Kossula ist grundsätzlich misstrauisch, ich kenne ihn gar nicht anders. Er meint es nicht böse … na ja, nicht so richtig. Er ist um unser aller Sicherheit besorgt, das ist alles. Du musst aber wissen, dass du hier Freunde hast, ja?«

Dilsad lächelte sie an. »Ich weiß. Und ich verstehe die Sorgen deiner Freunde. Sie haben nur mein Wort, dass ich keine Gefahr darstelle.«

Sie wandte sich an alle. »Und dieses Wort gilt. Meine Echsenfreunde und ich wollen nur in Ruhe und Frieden leben. Solange wir das können, werden wir für niemanden zur Bedrohung. Sie haben gar kein Interesse an Macht. In diesem Punkt sind sie wesentlich intelligenter als wir Menschen.« Sie erhob sich erneut. »Und nun sollte ich mich wirklich auf den Weg machen, es wird bald dunkel.«

»Was nur ein Grund ist, deinen Aufbruch bis morgen früh zu verschieben«, warf Mikail ein. »Sei so gut und bleib noch diese Nacht, ja?«

Dilsad zögerte. »Na schön, gerne. Aber ich denke, in eurer Besprechung bin ich nicht willkommen. Vielleicht gehe ich besser in meinen Raum.«

»Ein kluger Kopf mit hundert Jahren Erfahrung?«, widersprach Loris. »Ich denke, den können wir schon brauchen. Und bevor jemand meckert: Es ist nun wirklich nicht so, als besprächen wir hier große Geheimnisse, also habt euch nicht so.«

Er erntete einen unmutigen Blick von Kossula, aber keinen Widerspruch.

»Also?«, machte Loris gleich weiter, »Wo waren wir? Wir wissen, dass Tiru irgendwo im Norden sein muss und das Heer aus dem Süden auch dorthin zieht. Ach ja, es ging gerade um die Kundschafter nördlich des Echsengebietes.«

Haidar überlegte wohl noch einen Moment, ob er tatsächlich sprechen sollte, entschied sich dann aber dafür. »Ja, die Späher. Von den meisten haben wir noch keine Nachricht. Einer, der westlich am Echsengebiet vorbei ist, hat gemeldet, dass er von Tiru und seinem Heer keine Spur gefunden hat. Drei weitere sind noch nicht zurück.«

»Ist da oben was Besonderes?«, fragte Dilsad.

»Nun, der Felssturz natürlich«, antwortete Haidar. »Wir glauben aber nicht, dass der für Tiru momentan von Interesse ist.«

»Warum nicht?«

»Er hat hier mehrere gewaltige Niederlagen erlitten und seine Hauptstadt verloren. Warum sollte er in dieser Situation, wenn Tasik-Hutan und der Westen unter unserer Kontrolle sind, das Land verlassen? Er würde uns ja damit freie Hand geben, auch die übrigen Provinzen in die Finger zu bekommen. Erst recht, wenn er zusätzlich alle verfügbaren Kämpfer aus dem Süden abzieht.«

Dilsad nickte bedächtig. »Stimmt. Sehr vernünftig wäre das nicht.« Dann sah sie Haidar fragend an. »Aber haltet ihr Tiru wirklich für vernünftig?«

Kossula lachte leise auf. »Nein, sicher nicht. Deshalb haben wir natürlich auch Späher zum Felsbruch geschickt, die melden sollen, wenn sich da was tut.«

»Und die sind schon zurück?«

»Nein. Also tut sich wohl nichts. Sonst wären sie ja gekommen und hätten Bescheid gegeben.«

»Vorausgesetzt, sie können noch.«

Schweigen breitete sich aus. Loris hatte das ekelhafte Gefühl, Dilsad könnte recht haben. Was, wenn die Späher am Felsrutsch erwischt worden waren?

»So verrückt wird er doch nicht sein!«, flüsterte Mikail. Es klang nicht so, als glaube er wirklich daran.

»Ach, warum eigentlich nicht?«, fragte Kossula. »Dann wären wir den los, das hätte doch was für sich.«

»Und meine Heimat?« Loris wurde auf einen Schlag sauer. »Hast du schon vergessen, was der vorhat? Der will sich sämtliche Städte unterwerfen. Und sobald er von den Freien erfährt, sind die ihres Lebens ebenfalls nicht mehr sicher.«

»Aber wir haben Ruhe.«

»Nicht für lange«, widersprach Puschpika. »Er träfe dort oben auf völlig unvorbereitete Opfer. Anders kann man sie nicht nennen. Tausende Krieger gegen lauter unbewaffnete, friedliche Menschen. Was glaubst du, wie lang er braucht, die in seine Gewalt zu bekommen? Ein Jahr? Zwei? Bestenfalls drei. Dann hat er weitere Kämpfer, mit denen er zurückkommt und sich sein Land wiederholt. Am Ende beherrscht er die ganze Welt. Großartige Aussichten.«

»So gesehen …« Kossula schaute geknickt drein. Dann hellte sich seine Miene wieder auf. »Aber das ist ja nur blankes Herumspinnen. Wir haben keinerlei Hinweise darauf, dass er das vorhaben könnte. Und er ist zwar wahnsinnig, aber das?«

Es klopfte. Ein Diener öffnete die Tür. »Eine Frau in sehr schlechtem Zustand ist eben in den Tempel gekommen. Sie verlangt dringend nach Haidar. Außerdem braucht sie wohl einen Kräuterkundigen. Sie ist im Raum der Verkündigung.«

»Weißt du ihren Namen?«, fragte Haidar, während er sich von seinem Platz erhob.

»Mette, sagte sie.«

Die Kleider des Dieners flatterten im Luftzug, als Haidar an ihm vorbeizischte. Kossula folgte einen winzigen Moment später, der Rest lief gemeinsam hinterher.

Als sie endlich im Thronraum ankamen, hielt Haidar schon Mettes Kopf auf dem Schoß. Man hatte die junge Frau auf einige Decken gelegt. Sie sah furchtbar aus, schmutzig, abgemagert, völlig verkratzt. Blutige Krusten zeigten größere Wunden an, die aber sicher nicht ganz frisch waren. Kossula stand nur hilflos daneben.

»Mette, Mädchen! Was ist denn mit dir passiert?« Jekarina eilte mit langen Schritten zu der jungen Frau und ging neben ihr auf die Knie. »Wie schlimm ist es?«

Mette versuchte sich an einem schwachen Lächeln. »Geht schon. Jetzt bin ich ja hier.«

Tonio warf nur einen Blick auf Mette und befahl sofort, sie in das provisorische Krankenhaus zu bringen, das man eigentlich für den Kampf mit dem südlichen Heer eingerichtet hatte. »Dort habe ich alles, was ich brauche«, erklärte er. Kossula hob sie so vorsichtig wie möglich auf und trug sie davon.

»Ich gehe schnell meine Tasche holen«, sagte Dilsad, »und komme nach. Sie sollen sie schon mal waschen.«

Loris lief wie alle anderen einfach Kossula hinterher, und bald darauf standen alle um das Krankenbett herum, auf das man Mette gelegt hatte.

»Würdet ihr uns bitte alleine lassen?«, fragte Tonio. »Ich muss sie entkleiden, da brauchen wir keine Zuschauer.«

»Sofort«, stimmte Mikail zu. »Aber dürfen wir erst einmal erfahren, was passiert ist?«

»Später.«

»Nein«, widersprach Mette schwach. »Jetzt. Es ist wichtig. Tiru hat den Felssturz besetzt. Er baut etwas, um seine Krieger und sogar die Gendos und Tiger die Wand hinaufzubringen. Er hat an die zweitausend Mann und erwartet noch mal mindestens tausend Kämpfer aus dem Süden.«

Sie sahen einander an. »Also doch«, flüsterte Mikail.

3

Eine gute Stunde nach Mettes überraschendem Auftauchen trafen endlich Jekarina, Dilsad und Tonio im Besprechungsraum ein, wo Mikail und die anderen bereits ungeduldig warteten.

»Sie ist vollkommen erschöpft und ausgezehrt«, berichtete der Kräuterkundige, »hat zwei Pfeilwunden, die aber zum Glück nicht tief sind, und eine Menge Kratzer, Schürf- und Platzwunden, weil sie durch dichtes Unterholz gerannt ist. Das ist für normale Menschen schon eine Plage, für Schnelle ist es noch mal härter. Außerdem hat man sie geschlagen.«

»Wir haben ihre Wunden behandelt«, setzte Dilsad den Bericht fort, »und ihr ordentlich zu essen und zu trinken gegeben. Jetzt schläft sie.«

»Das Zeug stinkt bestialisch«, merkte Jekarina an und sah zu Mikail. »Und das hat sie dir auch verpasst?«

»Ja ja, ich hab auch gestunken«, antwortete er abwesend. »Aber es hilft tatsächlich ganz großartig. Was hat sie denn sonst noch erzählt?«

»Dass sie nicht weiß, wo Tabo steckt.« Jekarina ließ sich ächzend auf ein Kissen nieder. »Sie wurden gefangen genommen, als sie den Felsrutsch hoch wollten. Wochenlang hat man sie in einen Käfig gesperrt, zusammen mit den Spähern, die uns hätten informieren sollen. Vor acht oder neun Tagen gelang ihnen die Flucht. Sie weiß, dass mindestens ein Späher tot ist. Tabo wollte versuchen, die Wand hochzukommen und einen Clan Freie zu finden. Ob ihm das gelungen ist – keine Ahnung.« Jekarina ließ den Kopf hängen. »Wahrscheinlich haben sie den Jungen umgebracht.«

In Mikail zog sich alles zusammen. Tabo war ein guter Freund gewesen. Nein! Nein, er war es immer noch. »Er wird es geschafft haben«, versuchte er, Jekarina Mut zu machen. Sie hob kurz den Kopf, zeigte ein missratenes Lächeln und sah dann wieder vor sich auf den Boden. Tonio setzte sich neben sie und hielt ihr die Hand. Mikail spürte, wie Puschpika ihn auf dieselbe Weise zu trösten trachtete.

»Dann will dieser Wahnsinnige also tatsächlich die Städte erobern«, folgerte Damir. Er klatschte in die Hände. »Wir sollten los, ihm die Suppe versalzen.«

»Witzbold.« Kossula schüttelte tadelnd den Kopf. »Wie willst du das denn anstellen? Wenn es stimmt, was Mette sagt, hat er den einzigen Weg nach oben fest in der Hand.«

»Das sollten wir doch erst mal nachprüfen«, hielt Damir dagegen. »Sie ist vor ein paar Tagen da weg. Womöglich hat er inzwischen alles nach oben geschafft und ist auf dem Weg nach Kuvunja oder Sawan. Dann können wir hinterher.«

Mikail schwirrte der Kopf. Tiru auf dem Weg in die Städte. Die Freien ebenfalls in Gefahr. Tabo vielleicht tot. Das war ihm gerade alles zu viel.

»Wir müssen das morgen genauer besprechen«, entschied er daher. »Lasst Mette sich erst einmal gründlich ausschlafen und etwas gesund werden, dann kann sie uns sicher noch einiges erzählen. Und wir sollten für heute auch alle ins Bett gehen. Dilsad?« Er sah zu seiner neuen Freundin hinüber. »Würdest du vielleicht doch noch ein wenig länger bleiben? Ich wäre dir sehr dankbar.«

Dilsad nickte.

»Dann gute Nacht allesamt.«

Er war froh, einfach nur ins Bett fallen zu können und Puschpika an sich zu drücken. Was für eine Nachricht!

Am nächsten Morgen hatte sich nichts an der Lage geändert. Mette schlief noch, war nur zweimal nachts kurz aufgewacht, um etwas zu trinken. Beim gemeinsamen Frühstück herrschte anfangs unangenehmes Schweigen.

»Wir müssen auf jeden Fall rausfinden, was genau los ist«, ergriff Haidar schließlich das Wort. »Wenn alle meine Späher zusammen mit Mette gefangen waren und auch mit ihr ausgebrochen sind, dann frage ich mich, warum nur sie hier angekommen ist. Was ist mit den anderen passiert? Es müssten zwei oder drei gewesen sein.«

»Einer ist tot, das wusste sie«, wiederholte Jekarina die Information vom Vorabend. »Und ja, es waren drei, das hat sie gesagt. Sie sind alle zusammen ausgebrochen, der eine ist mit ihr Richtung Tasik-Hutan – den hat’s erwischt –, die anderen beiden wollten Tabo helfen, die Wand hochzukommen.«

»Dann sind sie entweder auch tot oder mit ihm oben auf der Suche nach einem Clan«, folgerte Mikail. »Wenn wenigstens einer von ihnen durchkommt, kann der die Freien warnen.«

»Einer von ihnen, ja.« Jekarina schaute deprimiert drein. »Ist es egoistisch, wenn ich hoffe, dass es Tabo ist?«

»Nein«, antwortete Tonio. »Menschlich.«

»Aber wie sieht’s denn jetzt am Felsrutsch aus?« Damir interessierte sich offenbar herzlich wenig für das Schicksal Tabos oder der Späher.

»Sie sagte, dass der größte Teil des Heeres bei ihrer Flucht noch unten war«, gab Dilsad Mettes Bericht wieder. »Tiru hat wohl sehr große Konstruktionen da hingestellt, um zuerst einmal Pferde, Gendos und Tiger nach oben zu bringen. Aber wenn ich sie richtig verstanden habe, waren sie damit soweit fertig und kurz davor, die Truppen ebenfalls hochzuschaffen.«

»Wie lange wird das dauern, bei Tausenden Kämpfern?«, fragte Loris.

»Können wir gar nicht sagen. Mette hat sowieso schon viel mehr geredet, als gut für sie war. Tonio hat ihr sehr schnell was zum Schlafen gegeben, damit sie sich endlich ausruht. Wir werden warten müssen, bis es ihr etwas besser geht.«

»Wir?« Puschpika sah sie fragend an. »Das heißt, du bleibst noch?«

»Wenn ich darf, ja. Das ist eine neue Entwicklung, und ich möchte wissen, was vor sich geht. Vielleicht kann ich euch noch eine Hilfe sein.«

»Das könntest du auch, wenn Tiru hierbleibt und uns wieder angreift«, warf Haidar ein.