Waldland in Flammen - Sascha Raubal - E-Book

Waldland in Flammen E-Book

Sascha Raubal

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Beschreibung

So schnell können geschmiedete Pläne sich in Luft auflösen. Eigentlich hatte Mikail doch nur mit Kossula, Puschpika und einigen anderen aus dem Land des größenwahnsinnigen Erhabenen fliehen wollen. Doch nun hat der plötzlich Loris und dessen Begleiter in der Hand. Im Kerker erleiden sie Schreckliches, und Mikail sucht verzweifelt nach einem Weg, seine Verbündeten zur Befreiung der Gefangenen zu überreden. Doch denen ist ihr eigenes Leben wichtiger als das irgendwelcher Fremder. Erst als ein monströser Plan des Erhabenen ans Licht kommt, hat Mikail die rettende Idee. Das einzig Dumme daran: Der neue Plan führt Loris und dessen Begleiter direkt in einen Krieg … und Mikail selbst womöglich unters Henkersbeil.

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EPUB
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Seitenzahl: 410

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Sascha Raubal

DIE ABARTIGEN

BAND 8

Waldland in Flammen

Fantasy

In dieser Serie bereits erschienen:

Band 1 – Karawane nach Cood

Band 2 – Der Prozess

Band 3 – Die Freien

Band 4 – Kampf um Or

Band 5 – Flüchtlinge

Band 6 – Neuland

Band 7 – Die Stimme Gottes

Inhaltswarnung:

In diesem Band kommt einiges an Grausamkeit vor, Krieg, Folter, tödliche Gewalt auch gegen Kinder und Schwangere, sexualisierte Gewalt. Ich gehe nicht in Details, denn Splatter mag ich nicht, aber man weiß, was geschieht.

Die Abartigen 8 – Waldland in Flammen

1. Auflage 2024

© 2024 Sascha Raubal

ISBN: 978-3-384-22258-9

Covergestaltung und Innenteilillustrationen:

Markus Gerwinski (http://www.markus.gerwinski.de)

Druck und Distribution im Auftrag :

tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

Bibliografische Information der Deutschen

Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Mikail

Kapitel 2: Loris

Kapitel 3: Mikail

Kapitel 4: Loris

Kapitel 5: Mikail

Kapitel 6: Loris

Kapitel 7: Mikail

Kapitel 8: Loris

Kapitel 9: Mikail

Kapitel 10: Loris

Kapitel 11: Mikail

Kapitel 12: Loris

Kapitel 13: Mikail

Kapitel 14: Loris

Kapitel 15: Mikail

Kapitel 16: Loris

Kapitel 17: Mikail

Kapitel 18: Loris

Kapitel 19: Mikail

Kapitel 20: Loris

Kapitel 21: Mikail

Kapitel 22: Loris

Kapitel 23: Mikail

Kapitel 24: Loris

Kapitel 25: Mikail

Kapitel 26: Loris

Kapitel 27: Mikail

Danke

Der Autor

Ankündigung Band 9

Leseprobe Band 9

1

»Nein.« Kossula schüttelte energisch den Kopf. »Freund hin oder her, wenn wir die drei aus dem Kerker holen, ist der ganze Fluchtplan im Eimer. Wir schleppen schon genug unnützen Ballast mit uns, weil du darauf bestehst. Aber ich werde ganz sicher nicht alle in helle Aufregung versetzen, indem ich den drei Idioten, die sich zu uns runtergewagt haben, zur Flucht verhelfe.«

»Er kann uns nützen!«, wandte Mikail drängend ein, zwang sich, trotz seiner Erregung zu flüstern.

»Wobei? Wir wollen aus diesem Land fliehen. Was soll uns da dein alter Freund nutzen?«

»Nicht bei der Flucht selbst, aber Tiru will die Städte erobern. Er kann dabei helfen, sie gegen die Truppen des Erhabenen zu verteidigen. Der Junge ist ein Genie in solchen Sachen, er hat Or sogar gegen die Donnerechsen gehalten. Wir brauchen einen so klugen Kopf.«

»Na und?« Der Leibgardist des Herrschers zuckte die Schultern. »Die Städte interessieren mich nicht. Als Gesegneter kann ich da eh nicht unterkommen.«

Mikail schnaubte frustriert. Das durfte doch nicht wahr sein! Loris saß im Kerker des Erhabenen, und der Einzige, der die nötigen Verbindungen hatte, ihn da rauszuholen, weigerte sich stur.

Er zwang sich, ruhig zu bleiben. »Na schön. Hast du dann Neuigkeiten über meine beiden Freunde, die mit mir die Wand runtergekommen sind?«

»Sie sollen morgen eintreffen, das weißt du doch.«

»Ja, ist ja gut.«

»Der Erhabene hat dir nichts davon gesagt?«

»Nein. Vielleicht will er es vor mir geheim halten.«

»Durchaus möglich. Er liebt solche Spielchen.«

»Wenn sie da sind … kannst du ihnen eine Nachricht von mir überbringen?«

»Natürlich. Wenn nicht persönlich, dann über jemand anderen.«

»Sehr gut.«

»Wie lautet die Botschaft?«

»Erst mal nur, dass ich hier bin und sie sich bereithalten sollen, schnell zu verschwinden.«

»Das hatten wir ja sowieso schon besprochen, dass wir die beiden mitnehmen. Wie beweise ich ihnen, dass die Nachricht von dir ist? Sie kennen mich nicht, ich brauche etwas, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Oder derjenige, den ich zu ihnen schicke.«

»Da hast du recht.« Mikail dachte einen Moment nach. Was könnte er Kossula als Beleg mitgeben, dass die Botschaft von ihm selbst kam? Ah, ja, darauf würde niemand kommen.

»Gut«, sagte er, »sag ihnen Folgendes …« Er nannte ihm vier einfache Worte.

Kossula starrte ihn an, als sei er verrückt. »Meinst du das ernst?«

»Todernst.«

»Na schön, wenn du das sagst.« Kossula schnaubte, erhob sich von Mikails Bettrand und strebte dem Ausgang zu. »Ich werde es ausrichten – oder jemand schicken. Du hörst von mir.« Damit verschwand er so lautlos, wie er mitten in der Nacht gekommen war.

Mikail fluchte leise vor sich hin. Kossula war nur auf den eigenen Vorteil bedacht. Es interessierte ihn nicht, dass Mikails bester Freund dem Erhabenen und dessen grausamen Handlangern ausgeliefert war. Nur seine eigene Flucht aus dem Land Gottes zählte für ihn. So wertvoll der Leibgardist als Verbündeter war, menschlich ließ er doch sehr zu wünschen übrig.

Ob Loris den Wink verstanden hatte, den Mikail ihm heute im Beisein Tirus gegeben hatte? Er konnte es nur hoffen. Loris musste einfach wissen, dass er ihn nicht im Stich lassen würde – auch wenn er selbst im Moment noch keine Ahnung hatte, wie er das bewerkstelligen sollte.

Aber es gab keine Alternative! Nie und nimmer ließe er seinen Freund im Kerker des Erhabenen verrotten. Und der Schlüssel zu Loris’ Befreiung waren Jekarina und Tabo, die morgen eintreffen sollten. Im Westen hatte man sie also aufgegriffen. Da waren sie weiter herumgekommen als er, lag doch der Felssturz, über den sie alle in dieses Land gekommen waren, im Nordosten.

Was sie wohl erlebt hatten? Sie hatten sich wochenlang im Waldland aufgehalten und sicher viel mehr herausgefunden als er. Aber das spielte keine Rolle mehr. Tiru war fest entschlossen, das Land jenseits der Großen Wand unter seine Kontrolle zu bringen. Bisher wusste er nur von den Städten, doch es war unvermeidlich, dass er auch irgendwann von den Freien erfuhr. Beide Völker durften auf keinen Fall unter die Herrschaft dieses größenwahnsinnigen Irren geraten. Sie mussten so schnell wie möglich hier weg und das verhindern. Aber dabei konnte er Loris doch nicht im Stich lassen!

Mikail fand kaum Schlaf in dieser Nacht. Die Sorge um seinen besten Freund machte ihn wahnsinnig.

Am folgenden Morgen brachte ihm Puschpika das Frühstück. Nach wie vor hatte der Erhabene sein bildhübsches Eheweib mit der markanten Nase Mikail als Dienerin zugeteilt. Eine von vielen Methoden, mit denen der gewissenlose Herrscher seinen sogenannten Berater an sich zu binden suchte. Stehe mir treu bei der Eroberung der Städte zur Seite, und sie gehört dir, lautete das Versprechen. Mikail ließ Tiru in dem Glauben, sein halbwegs williger Gefolgsmann zu sein, ohne dabei allzu unglaubwürdig zu sein. Begeisterung zu heucheln wäre dumm gewesen, dass aber er, der das Töten verabscheute, dafür sorgen wollte, die unvermeidliche Eroberung der Städte so unblutig wie möglich zu halten, das nahm der Herrscher ihm ab. Der Mann mit dem Goldgebiss brauchte dieses Gefühl, alles und jeden kontrollieren und manipulieren zu können, für sein übergroßes Ego.

Dass Puschpika selbst ihren Herrn und Meister abgrundtief hasste, wusste der nicht. Und erst recht nicht, dass sie und Mikail sich längst verbündet hatten, um gemeinsam zu fliehen. Kossula und viele andere waren erst später zu dieser Gruppe gestoßen.

»Du scheinst nicht gut geschlafen zu haben«, bemerkte Puschpika, während sie ihm das Essen servierte.

»Wie denn auch?«, gab er müde zurück. Wie üblich sprachen sie nur mit gedämpfter Stimme – eine Gewohnheit, die sie sich von Anfang an zugelegt hatten. Der Inhalt ihrer Gespräche war lebensgefährlich. »Ich muss Loris irgendwie aus dem Kerker bekommen und habe nicht den Schimmer einer Ahnung, wie ich das anstellen soll. Kossula ist auf jeden Fall keine Hilfe.«

Sie sah ihn verwundert an. »Diesen Städter, der gestern mit zwei anderen gebracht wurde? Warum? Ich habe gehört, du hättest ihm fast ins Gesicht gespuckt.«

Ach ja, sie hatten sich ja seitdem nicht gesehen. Mikail erklärte ihr, dass Loris sein bester Freund war und er die Schau am Vortag nur abgezogen hatte, um Tiru zu täuschen. »Mit Loris hat er ein weiteres Druckmittel gegen mich in der Hand, aber das weiß er noch nicht. Wenn er merkt, dass sein neuer Gefangener mir wichtig ist, wird er das gnadenlos einsetzen. Ich kann jetzt nicht fliehen. Nicht ohne meinen Freund. Blöderweise wird Tiru sofort mich verdächtigen, wenn irgendjemand Loris befreit. Wenn wir nicht gleich alle zusammen abhauen, habe ich ein riesiges Problem. Ich kann dann nur, so gut es geht, von mir ablenken und hoffen, dass er nicht sicher genug ist, um mich sofort als Schuldigen einzusperren. Aber Loris im Stich lassen, das geht auch nicht, egal, wie groß das Risiko ist.«

»Geht es nur um ihn oder auch um seine Begleiter?«

»Wenn wir ihn rausholen, dann natürlich auch die anderen beiden«, erklärte er ohne zu zögern. »Ich kenne Loris. Er würde sie auf keinen Fall im Stich lassen, da bin ich sicher.« Als er ihr zweifelndes Gesicht sah, setzte er hinzu: »Du bestehst ja auch darauf, dass wir Megumi mitnehmen und vor dem Großen Opfer retten. Obwohl ihr zwei nicht wirklich eng befreundet seid.«

Sie nickte einsichtig. »Du hast recht. Aber wie willst du sie aus dem Kerker befreien, ohne unsere ganze Flucht zu gefährden?«

»Das ist auch Kossulas Sorge«, gab er zu. »Es muss irgendwie so ablaufen, dass er mich möglichst nicht mit der Sache in Verbindung bringen kann.«

»Obwohl er weiß, dass du diesen Mann kennst.« Sie war zu recht skeptisch, das musste Mikail zugeben.

»Deshalb hab ich ja so getan, als sei mir Loris nichts wert. Ich hab zugelassen, dass man ihn wegsperrt und was weiß ich mit ihm anstellt, um den Verdacht schon im Voraus so weit wie möglich von mir abzulenken.«

Puschpika wiegte den Kopf. »Da brauchst du aber noch viel mehr. Noch nie ist jemand aus dem Kerker entkommen. Wenn nun ausgerechnet dein Freund, der hier niemanden kennt, befreit wird, wen soll er denn sonst verdächtigen außer dir?«

Ja, verdammte Scheiße, da hatte sie natürlich recht. Das bisschen Schauspiel würde nicht reichen, Tiru zu verwirren.

»Was dann?«

»Könnten deine beiden gesegneten Freunde einen Grund haben, ihn zu befreien?«

»Hmm … nein. Laut unserer Geschichte können weder Tabo noch Jekarina Loris oder einen seiner Begleiter kennen. Beide waren angeblich nie in Or oder Kuvunja.«

»Schade.« Sie rieb sich nachdenklich ihre große Nase. Mikail fiel wieder einmal auf, dass gerade dieser vermeintliche Makel es war, der aus einem sonst womöglich nur langweilig hübschen ein interessantes Gesicht machte. »Dann wäre es das Beste, wir holen sie erst raus, wenn wir alle fliehen. Ist ein gewisses zusätzliches Risiko, aber Tumult wird es dann sowieso geben.«

»Das ist zu spät. Wir brauchen noch zwei Wochen, bis alles vorbereitet ist. In der Zeit wird Tiru sie seinen Leibgardisten ausliefern, und du selbst hast mir erzählt, dass einige von ihnen Spaß daran haben, Menschen zu quälen.«

»Nicht nur die. Auch die Wächter, die für Folterungen eingeteilt werden, sind danach ausgesucht, dass sie es entweder genießen oder es ihnen zumindest vollkommen egal ist, was sie anderen antun. Aber er wird die drei nicht sofort foltern lassen. Anfangs wird er ihnen Gelegenheit geben, freiwillig alles zu verraten, was sie wissen. Tiru ist wahnsinnig, aber nicht grausam aus Spaß. Er glaubt allen Ernstes, all die Gewalt sei eben nötig, um den Frieden zu erhalten. Es bereitet ihm kein Vergnügen, aber auch keine Gewissensbisse.«

»Glaubst du, er wird ihnen so lange Zeit geben, bis wir vorbereitet sind?«

»Zwei Wochen?« Sie legte den Kopf schief. »Nein, das sicher nicht. Aber ein paar Tage womöglich.«

Ein paar Tage. »Na schön. Das gibt mir zumindest Zeit, gründlich nachzudenken. Es muss eine Lösung geben. Ich kann sie nicht der Folter überlassen.«

»Dann wirst du Kossula überzeugen müssen. Er hat die nötigen Kontakte zu Gardisten und Wächtern.«

Ja, das war leider nicht zu leugnen. Obwohl Puschpika eines der sechs Eheweiber des Erhabenen war, besaß sie keinerlei Einfluss. Die Frauen waren nicht mehr als Dienerinnen, an denen Tiru ab und zu auch seine Lust befriedigte. Hielten sie das drei Jahre durch, ohne schwanger zu werden, gab er sie verdienten Wächtern oder Gardisten als Belohnung für deren treue Dienste. Trugen sie jedoch sein Kind, war das ihr Todesurteil. Sie und das Ungeborene starben beim sogenannten Großen Opfer, das nach außen hin zeigen sollte, wie ergeben der Erhabene Gott gegenüber war, wenn er ihm sogar seine eigenen Kinder opferte. In Wahrheit entledigte er sich damit der Nachkommen, die womöglich seine extreme Langlebigkeit geerbt hatten und ihm so irgendwann einmal gefährlich werden konnten. Megumi, eines seiner anderen Weiber, war in genau dieser Situation. Einige Monate noch, und der Erhabene persönlich würde ihr den Bauch aufschlitzen. Deshalb wollte Puschpika sie auch unbedingt auf der Flucht mitnehmen.

»Kannst du deine Kontakte anhalten, schneller die benötigten Vorräte bereitzustellen? Jeder Tag, den wir früher hier wegkommen, hilft uns.«

»Ich kann’s versuchen«, gab sie zögerlich zurück. »Aber du weißt, die Diener und Köche riskieren jetzt schon ihr Leben, indem sie Nahrungsmittel auf die Seite schaffen. Sie bestehlen den Erhabenen und damit Gott, das ist ein todeswürdiges Verbrechen.«

Ja, das stimmte auch wieder. Einige dieser Menschen wollten nicht einmal selbst flüchten, weil sie Angst um ihre Angehörigen hatten, an denen Tiru sich rächen würde. Trotzdem unterstützten sie auf Bitten Puschpikas hin die Fluchtpläne anderer.

Mikail seufzte tief. »Ahnenverdammter Sauscheiß, ehrlich! Wieso muss dieser Holzkopf denn auch hier auftauchen? Der sollte schön gemütlich in Or sitzen und sich von Mitena oder was weiß ich wem verwöhnen lassen.«

Als Puschpika ihn verwirrt ansah, erklärte Mikail ihr, dass Mitena die Frau war, mit der Loris sich schon auf der schicksalhaften Karawane so besonders gut verstanden hatte. »Es sah damals alles danach aus, dass aus den beiden was wird. Ich konnte das nicht mehr mitverfolgen, bin ja aus der Stadt geworfen worden, aber ist auch egal. Die Mädels hatten schon immer viel für ihn übrig. Der Junge gehört ins Badehaus, links und rechts ein hübsches Ding, und nicht hierher in den Kerker. Ich möchte zu gerne wissen, wie er auf die Irrsinnsidee gekommen ist, diese verdammte Wand runterzuklettern.«

»Tja, die Idee hatten ja noch andere, nicht?«, erwiderte sie grinsend.

Mikail lachte leise. »Auch wieder wahr.«

Eine Weile schwiegen sie. Mikail kaute recht lustlos auf einem Stück Hirsefladen herum, den er zuvor in eine scharfe Sauce getunkt hatte, und musterte Puschpika, die ein wenig Obst naschte und nachdenklich aus dem Fenster sah. Verdammt, das Mädel war aber auch hübsch! Tiefschwarze, lange Haare mit einem leichten bläulichen Schimmer, ebenso schwarze Augen, samtige, haselnussbraune Haut und eine zierliche Figur, der man die Energie nicht ansah, die in der Achtzehnjährigen steckte. Anders als die meisten jungen Frauen, die man an den Erhabenen zwangsverheiratete, ergab sie sich nicht einfach in ihr Schicksal oder sah es gar als Ehre an. Sie hatte sich gefügt, um ihr Leben zu schützen, doch als Tirus Handlanger ihren Vater und einige Freunde in ihrem Heimatdorf ermordeten, weil diese Mikail nicht an die Glaubenswächter ausgeliefert hatten, war Schluss damit gewesen. Erst hatte sie Mikail dafür die Schuld gegeben und sogar versucht, ihn umzubringen, doch schnell hatte sie eingesehen, dass er nicht gewusst hatte, in welches Unglück er die hilfsbereiten Menschen ungewollt gestürzt hatte. Nun war sie eifrig dabei, die Flucht möglichst vieler zu organisieren, die die Gewaltherrschaft der selbsternannten Stimme Gottes nicht mehr ertrugen. Sie riskierte ihr Leben, um anderen zu helfen. Doch Tiru hielt sie immer noch für ein unselbständiges Mädchen, das er verschachern konnte, wie es ihm beliebte. Bei all seinem Misstrauen machte ihn der Größenwahn doch blind dafür, dass er nicht alles und jeden so in der Hand hatte, wie er sich das vorstellte.

»Was schaust du mich so an?«, riss Puschpikas Stimme Mikail aus den Gedanken.

Er zuckte verlegen die Schultern. »Ich dachte nur grad dran, dass der ach so Erhabene mit seinen viereinhalb Jahrhunderten Lebenserfahrung dich vollkommen unterschätzt. Er glaubt immer noch, mich mit dir ködern zu können, während du längst mit mir zusammen gegen ihn arbeitest.«

»Tja«, gab sie grinsend zurück, »über dreihundert dieser Jahre hatte er alles fest im Griff. Ich glaube, er kann sich einfach nicht mehr vorstellen, dass er irgendjemanden nicht kontrollieren kann.«

Die Tür öffnete sich, und ein bestenfalls fünfzehnjähriges Mädchen trat ein, das seit zwei Tagen zu Mikails ständig wechselnder Dienerschaft gehörte. Hier griff dann wieder das ewige Misstrauen. Tiru hatte wirklich eine schwer nachvollziehbare Art zu denken.

»Der Erhabene wünscht dich zu sehen«, verkündete das Mädchen. Hinter ihr erschien ein Gardist, der Mikail zu seinem Herrn geleiten sollte.

»Du kannst das wegräumen«, erklärte er daraufhin Puschpika in seinem üblichen, freundlichen Befehlston, den er der Dienerschaft gegenüber generell an den Tag legte. Dass sie sich längst angefreundet hatten, durfte nicht nach außen dringen. Er erhob sich und folgte dem Gardisten.

»Mikail!«, wurde er freudig begrüßt. Der Erhabene saß auf seinem Thron, einer goldüberzogenen Monstrosität, aus deren Rückenlehne ein ebenso goldener Strahlenkranz ragte, und wandte sich noch einmal kurz an einen Lehrer, der neben ihm stand und mit dem er sich bei Mikails Eintreffen unterhalten hatte. Der Mann trug zwar die übliche graue Kutte, am Rand der momentan zurückgeschlagenen Kapuze leuchtete jedoch eine Goldborte.

»Ich habe deine Meinung zur Kenntnis genommen, mein guter Kiril. Vertraue auf Gott und seine unendliche Weisheit. Er wird mich und uns alle auf den rechten Weg führen.«

Kiril? Den Namen hatte Mikail schon mal gehört. Er war der Oberlehrer, sozusagen der oberste der Kuttenträger, der dem Erhabenen die täglichen Routinepflichten des Religionsführers abnahm. Daher wohl der Goldschmuck am grauen Gewand.

»Selbstverständlich vertraue ich auf die Weisheit des Herrn«, antwortete Kiril in einem Tonfall, der seine Worte Lügen strafte. »Ihr werdet wie immer wissen, was zu tun ist, Erhabener.« Mit einem eisigen Seitenblick zu Mikail ging er ein Stück rückwärts, verbeugte sich dabei mehrfach und verließ dann gemessenen Schrittes den Raum der Verkündigung. Tiru sah ihm mit gerunzelter Stirn hinterher.

»Er ist nicht gerade begeistert«, erklärte er Mikail, »dass ich einen Gottlosen als Gast behandle und sogar zu meinem Berater mache. Man könnte beinahe glauben, er zweifelt an mir.«

Mikail verbiss sich die sarkastische Bemerkung, die ihm auf der Zunge lag, und trat zum Thron. An den Seiten des Erhabenen standen wie üblich Leibgardisten. Einer war Kossula, der andere ein grober Klotz, den Mikail in den vergangenen Wochen schon mehrfach gesehen hatte, dessen Namen er aber nicht kannte. Beide starrten routiniert unbeteiligt in die Gegend. Mikail war sich allerdings sicher, dass Kossula sehr genau zuhörte bei allem, was besprochen wurde. Jede Information konnte wichtig sein. Sollte Kiril irgendetwas Interessantes gesagt haben, würde auch Mikail das hoffentlich bald erfahren.

»Und was hält er von der Idee, das Land oberhalb der Wand zu erobern?«, fragte er trotzdem offen neugierig.

»Oh, die unterstützt er natürlich vollkommen. Das Land der Gottlosen aus seiner Sündhaftigkeit zu befreien, den Mord an den von Gott Berührten zu beenden und alle Menschen der Liebe des Herrn zuzuführen, sind selbstverständlich Ziele, die jeder Gläubige nur befürworten kann.«

Man merkte an seiner Art zu reden, dass noch weitere Personen anwesend waren, vor denen er seine alte Rolle als Stimme Gottes spielte. Draußen im Garten, in Sicherheit vor allen, die ihn belauschen konnten, hätte er bestimmt ganz anders gesprochen.

»Aber die Gedankengänge des Oberlehrers sind für dich gar nicht relevant«, beendete Tiru das Thema unmissverständlich. »Ich habe dich rufen lassen, weil ich noch einige Fragen bezüglich unserer neuen Gäste habe.«

In diesem Fall war das Wort Gäste blanker Hohn, aber Mikail sparte sich jeden Hinweis darauf. Er musste jetzt sehr genau aufpassen, was er sagte.

»Du meinst Loris und diese anderen beiden.«

»Natürlich. Was kannst du mir über sie noch alles sagen?«

»Über die anderen zwei gar nichts. Die Frau meine ich schon mal gesehen zu haben, als ich kurz in Kuvunja war, um Vorräte zu kaufen. Wer sie ist und warum sie jetzt mit Loris hier ist, keine Ahnung. Den Mann kenne ich überhaupt nicht.«

»Aber Loris kennst du schon lange.«

»Ja. Wie ich gestern bereits sagte, waren wir zusammen in der Schule. Er ist nur gut zwei Monate älter als ich. Sein Vater hat zwei Eisenbergwerke und die dazugehörigen Stahlwerke.«

»Wie ist er so?«

»Faul und verwöhnt. Hat noch nie was von ehrlicher Arbeit gehalten.« Mikail musste nicht einmal lügen, Loris war früher tatsächlich jeglicher Anstrengung aus dem Weg gegangen. Dass er später sogar Dürrekommandant geworden war, sollte Tiru allerdings besser nicht erfahren.

»Und das ist alles?«

»Ach, bei den Mädchen war er umso fleißiger. Er ist ständig allem hinterhergestiegen, was nicht bei drei auf dem Baum war.« Nun ja, das war auch nur leicht übertrieben.

»Du erwähntest einmal, dass man in Or einen Weg gefunden hat, die Donnerechsen zu töten. Glaubst du, er könnte wissen, wie sie das gemacht haben?«

Oha, das war ein Punkt, in dem Mikail lügen musste, dass sich die Balken bogen. Wenn Tiru herausfand, dass Loris ein wichtiges Amt bekleidet hatte, würde er ihn sofort in die Mangel nehmen und nicht eher Ruhe geben, bis er alles aus ihm herausgepresst hatte. Er runzelte die Stirn, dachte unverhohlen angestrengt nach. »Ich schätze nicht«, antwortete er schließlich zögerlich. »So, wie ich seinen Vater kenne, hat der seinen Einfluss genutzt, um Loris von der Mauer und allen gefährlichen Bereichen fernzuhalten. Wahrscheinlich hat der Kerl gemütlich daheim gesessen und sich mit einem Mädchen vergnügt, während andere die Stadt verteidigten. Wie gesagt, Anstrengung war nicht seins. Und Gefahr schon gar nicht. Ich möchte wirklich wissen, wie ausgerechnet er zum Felsrutsch gekommen ist.«

»Das werde ich ihn fragen, keine Sorge.« Tiru schwieg einen unangenehmen Moment lang, den Blick starr auf Mikail gerichtet. »Sein Vater ist also reich. Hat er auch Einfluss?«

»Ist das nicht immer so? Natürlich hat er Einfluss, ich sagte ja gerade, dass er Loris vermutlich von jeder Gefahr ferngehalten hat.«

»Ach ja, richtig. Könnte Loris über seinen Vater an Informationen gelangt sein, die uns nützen?«

Mikail zuckte die Schultern. »Im Prinzip ja, aber er hat sich eigentlich nie dafür interessiert. Sein Vater war auch nie im Rat.«

»Du meinst diesen Stadtrat.«

Mikail nickte.

»Tja nun. Das klingt nicht sehr vielversprechend. Aber wir werden sehen. Vielleicht hat er ja doch etwas Interessantes zu bieten. Oder die anderen beiden.«

»Wie gesagt, über die weiß ich nichts. Wolltest du sonst noch etwas mit mir besprechen?«

»Ja. Die zwei Gesegneten, die mit dir in unser Land gekommen sind …«

»Hat man sie endlich gefunden?«

»Nein, und das verwundert mich nun doch allmählich.«

Damit war endgültig klar, dass Tiru ihm absichtlich verschwieg, dass man Jekarina und Tabo heute nach Tasik-Hutan brachte. Gut, denn wenn er nichts von ihnen wusste, konnte er sie auch nicht zu irgendetwas anstiften.

»Sind sie so stark«, fuhr der Erhabene fort, »dass sie eine derart lange Zeit in einem unbekannten Land überleben können, ohne entdeckt zu werden? Oder dürfen wir davon ausgehen, dass sie längst irgendwo vermodern, und die Suche aufgeben?«

»Oh, die beiden solltest du nicht unterschätzen«, erklärte Mikail und verkniff sich mühsam einen schnellen Blick auf Kossula. Der würde schon wissen, was er mit den Informationen anfing.

»Jekarina ist nicht nur groß, sondern auch verdammt stark. Ich habe erlebt, wie sie ganz alleine einen Berglöwen besiegt hat. Diese Raubkatzen sind von Größe und Gefährlichkeit her ungefähr mit euren Tigern vergleichbar. Und einmal mussten wir zu dritt gegen mehrere Weißbären antreten. Riesige Viecher, aber sie hatte ihren Spaß. Jekarina und ihre Axt sind ein mörderisches Gespann. Sie ist nicht gerade die Klügste, muss man wohl sagen, aber im Kampf hat sie auch mich ins Schwitzen gebracht.«

»Ihr habt miteinander gekämpft? Ich dachte, ihr seid Freunde.«

»Reisegefährten trifft es eher. Es war kein ernsthafter Kampf, aber sie misst gern ihre Kräfte. Wenn gerade kein Raubtier als Gegner verfügbar war, mussten Tabo und ich herhalten. Er ist sehr schnell, wie Haidar, und auch er hat Spaß am Kämpfen. Wir sind mehrfach zu zweit gegen sie angetreten, aber oft hat sie uns beide besiegt.«

»Klingt, als könne auch sie mit Mohanlal fertigwerden. Sollten wir sie doch noch finden, werde ich die beiden gegeneinander antreten lassen. Was meinst du?«

Mikail schaute ihn unschuldig an. »Kommt ganz drauf an.«

»Worauf?«

»Ob du Mohanlal noch brauchst.«

2

»Das stinkt«, maulte Damir zum wiederholten Male. Solche kleinen Beschwerden waren allerdings so ziemlich das Einzige, was er überhaupt von sich gab. Ansonsten saß er still in seiner Ecke und litt vor sich hin.

»Ich kann nichts dran ändern«, giftete Loris zurück, hob den Hintern vom Eimer und zog sich die Hose wieder hoch. Nicht einmal etwas zum Abwischen gab es hier. Anfangs hatten sie das Stroh genutzt, bis ein Wächter ihnen höhnisch erklärte, dass sie kein neues bekommen würden. Sie mussten also auf dem blanken Stein schlafen, wenn sie das bisschen Polstermaterial verschwendeten.

»Wir dürfen uns wahrscheinlich schon dafür bedanken, dass man die Scheiße überhaupt einmal am Tag wegschafft.« Dunja klang müde. Kein Wunder, die letzte Nacht war grausig gewesen. Sie hatten in Schichten geschlafen, damit immer einer das ganze Stroh für sich hatte, wodurch aber jeder nur wenige Stunden Schlaf bekommen hatte.

Andererseits brauchten sie sich nicht darum zu kümmern, ob Tag oder Nacht war, denn hier in ihrer Zelle, tief unter der Erde, sahen sie eh nur ein bisschen Fackelschein, der durch eine winzige Luke in der Tür hereindrang. Loris schätzte, dass sie inzwischen mindestens einen ganzen Tag in dem wenige Quadratmeter großen, stinkenden Raum saßen, den man als Kerker bezeichnete. Da wünschte er sich doch glatt die Zelle in Or zurück, in der er als vermeintlicher Mörder gesessen hatte. Bett, Tisch, Stuhl und ordentliches Essen, kein Vergleich zu dem hier. Selbst der Eimer war sofort geleert worden, wenn er Bescheid gesagt hatte. Der Fraß hier bestand aus irgendwelcher Pampe, die nach Mais und anderem schmeckte und die man ihnen in einem hölzernen Gefäß mit einem ebenfalls hölzernen Löffel durch eine Klappe hereinreichte. Aufteilen durften sie sich das Essen dann selbst.

Leises Schluchzen ertönte aus Damirs Ecke. Oh nein, nicht schon wieder.

»Es tut mir leid«, sagte Loris in die Dunkelheit.

»Was?«, fragte Damir zwischen zwei Schluchzern. »Dass du uns in dieses Drecksloch gebracht hast? Dass wir deinetwegen aus unserer Heimat fliehen mussten? Dass …«

»Damir!«, fuhr seine Zwillingsschwester scharf dazwischen. »Hör auf! Wir beide haben uns entschieden, Loris aus der Zelle zu holen. Du und ich, er konnte nichts dafür. Dass dann alles schiefgegangen ist, war auch nicht sein Fehler. Dieser Drecksack von Angus und seine bescheuerten Speichellecker sind an allem schuld, nicht Loris. Hör auf, ihn immer wieder für die Scheiße hier verantwortlich zu machen!«

»Und wessen Idee war es, diese ahnenverschissene Wand runterzuklettern?«, schrie Damir nun wütend. »Dazu hat er uns überredet!«

»Hör auf, sag ich«, plärrte nun Dunja ebenso zornig. »Das bringt uns kein Stück weiter. Wir sitzen zusammen in der Pampe, also müssen wir auch zusammenhalten, um da wieder rauszukommen.«

Eine Weile herrschte Stille, dann schnaubte Damir. »Rauskommen. Wie denn? Selbst, wenn wir diesem Irren mit den Goldzähnen alles sagen, was wir wissen, wird er uns doch nur umbringen lassen. Und sein angeblicher Freund steht daneben und schaut zu.«

Dunja und Loris waren übereingekommen, Damir nichts von dem Wink zu sagen, den Mikail Loris gegeben hatte. Der Uhrmacher war so weinerlich und in Selbstmitleid versunken, er hätte es wahrscheinlich keine fünf Minuten für sich behalten.

»Ich bin auch schwer enttäuscht von ihm«, behauptete daher Loris. Nach wie vor rechnete er damit, dass man Wächter mit extrem gutem Gehör einsetzen könnte, um sie zu bewachen. Alles, was sonst niemand hören durfte, flüsterte er so leise in Dunjas Ohr, dass nicht einmal ihr Bruder etwas mitbekam.

Ehe Damir etwas entgegnen konnte, klangen von draußen gedämpft Schritte durch die Tür. Einen Moment später ging auch schon die Essensklappe auf.

»Abendessen«, verkündete eine weibliche Stimme und hielt das übliche Gefäß mit Maispampe herein. Loris erhob sich vom Boden und schlurfte zur Tür.

Mit einem gemurmelten »Danke« nahm er das Essen entgegen.

»Aber bitte, gerne doch«, antwortete die Frau ironisch. »Wahrscheinlich nicht der delikate Schmaus, den das reiche Söhnchen sonst gewöhnt ist, was?«

Sie sprach sehr leise, was Loris eigenartig fand. Wenn sie sich über ihn lustig machen wollte, dann würde sie das doch eher laut tun, um ihre Kameraden an dem Spaß teilhaben zu lassen.

»Was soll das denn heißen?«, fragte er daher ebenso leise zurück.

»Ach, man hört so einiges. Bist wohl ein verwöhntes Bübchen, das sein ganzes Leben lang nie einen Handstreich gearbeitet hat. Und während andere ihre Heimat gegen Donnerechsen und anderes Getier verteidigen, sitzt du lieber mit einem Mädchen im Arm daheim und lässt es dir gutgehen, nicht? Schon schön, wenn man sich aus allem Unangenehmen raushalten kann.«

Das konnte nur von Mikail kommen, das war Loris sofort klar. »Mein Freund«, er spuckte dieses Wort mit so viel Abscheu aus, wie er nur aufbringen konnte, »scheint ja sehr gesprächig zu sein. Euer großer Herrscher muss ihm einiges geboten haben, um alles zu verraten, was ihm einmal wichtig war.«

»Ach«, entgegnete die Wächterin, »der Erhabene weiß schon, wie er Menschen überzeugt; werdet ihr auch noch feststellen. Und jetzt gib mir den Scheißeeimer.« Sie griff neben sich, hob etwas auf und warf es herein. Es schlug schwer und hölzern auf. Der Ersatz für den inzwischen gut gefüllten Eimer, über dessen Gestank sich Damir beschwert hatte.

Kurz darauf saßen sie wieder im Dunkeln. Dunja kam zu Loris herübergekrabbelt und brachte ihre Lippen dicht an sein Ohr. »Hatte das was zu bedeuten?«

Loris brummte bestätigend und antwortete ebenso leise. »Mikail erzählt dem Erhabenen einiges über mich, aber nicht alles stimmt. Und wenn ich das richtig sehe, wollte sie mich genau darüber informieren, damit ich dasselbe erzähle.«

»Heißt das, wir haben hier drin tatsächlich Freunde?«

»Nennen wir sie Verbündete.«

Im Stillen dankte er den Ahnen dafür, dass er den Zwillingen nie von seiner Rolle als Dürrekommandant erzählt hatte. Er hatte nur nicht angeben wollen, aber jetzt stellte sich diese Bescheidenheit als goldrichtig heraus.

Am nächsten Morgen zerrte man sie ohne Frühstück aus dem Kerker und schleifte sie in einen größeren Raum, in dessen Boden Rinnen geschlagen worden waren. Für einen Moment erinnerte es erschreckend an ein Schlachthaus, aus dem man das Blut der Tiere ableiten musste, dann jedoch entdeckte er mehrere Eimer mit Wasser an einer Wand aufgereiht, daneben Bürsten. Sie durften sich wohl waschen.

»Ausziehen!«, befahl ihnen eine Wächterin, die zusammen mit vier männlichen und einer weiteren weiblichen Kollegin zugegen war. Alle waren bewaffnet, daher hatte man den Gefangenen nicht wieder diese kupfernen Ringe um die Handgelenke gelegt. Die Stimme kam Loris bekannt vor, die Wächterin ließ aber mit keiner Regung erkennen, ob sie die vom Vorabend war.

Die feixenden Gesichter der versammelten Wächter ließen darauf schließen, dass sie nun erst einmal Klagen darüber erwarteten, dass sich ihre Gefangenen einfach vor ihnen ausziehen sollten. Loris erinnerte sich aus seiner Zeit bei Ralfs Gruppe daran, dass man in diesem Land ziemliche Probleme mit Nacktheit hatte.

Als sich alle drei jedoch ohne Murren ihrer Kleidung entledigten und nicht einmal Anstalten machten, irgendetwas verbergen zu wollen, wurden die Augen der Bewaffneten groß. Ganz besonders die Männer starrten unverhohlen auf Dunjas beachtliche Ausstattung, während die Frauen eher verschämt den Blick abwandten.

»Was ist?«, fragte Dunja gereizt. »Dürfen wir uns jetzt endlich waschen oder wollt ihr noch eine Stunde weiterglotzen?«

Ein besonders großer und muskelbepackter Wächter verzog den Mund zu einem fiesen Grinsen. »Lass mich dir helfen.« Er griff zu einem der Eimer, holte Schwung und schüttete den Inhalt in einem einzigen Schwall über Dunja. Während sie noch prustend nach Luft schnappte, drückte er ihr eine Bürste in die Hand. »Und jetzt schrubb dich ordentlich. So stinkend tretet ihr nicht vor den Erhabenen.«

Einen Moment später traf auch Loris und Damir je ein eiskalter Wasserschwall.

Bald darauf führte man sie barfuß und in frischen, wenn auch sehr einfachen Kleidern hinaus und auf das große Gebäude zu, in dem sie schon vor zwei Tagen dem Herrscher dieses Landes gegenübergestanden hatten. Ihre Haare waren noch ziemlich nass, aber immerhin fühlten sie sich wieder sauber.

»Ich dachte, der vergreift sich gleich an dir«, flüsterte Loris Dunja zu.

»Jetzt noch nicht«, kam prompt der Kommentar der Wächterin, die ihnen das Ausziehen befohlen hatte. Loris drehte sich zu ihr um. Sie ging mindestens vier Meter hinter ihnen, und die verwunderten Reaktionen der anderen Wächter zeigte ihm, dass sie keine Ahnung hatten, was ihre Kollegin meinte. Die Frau grinste breit. Aha, sie war also offenbar eine von denen mit den guten Ohren. Und Loris verstand ihre Drohung sehr gut. Knickten sie nicht bald ein, zogen die Wächter andere Saiten auf. Nur interessant, dass das Grinsen der Wächterin sehr aufgesetzt wirkte und darunter womöglich so etwas wie Mitleid schimmerte.

Sie stiegen die Stufen des großen Gebäudes hinauf, wurden erneut in die Halle mit den riesigen Säulen geführt und knieten gleich darauf wieder vor dem Mann auf dem goldenen Stuhl mit den ebenso goldenen Zähnen.

»Nun?«, fragte der. »Habt ihr darüber nachgedacht, ob ihr weiter störrisch sein wollt oder doch lieber ein paar Fragen beantwortet?«

Wie schon zuvor blieb Damir von sich aus stumm und sah nur zu Boden, während Dunja nun ganz freiwillig das Reden Loris überließ.

»Welche Fragen sollen das denn sein?«, wollte der unschuldig wissen.

»Fangen wir mit den einfachen Dingen an: Wer seid ihr?«

Loris sandte einen bösen Blick zu Mikail, der ebenfalls wieder mit von der Partie war und stumm neben dem Thron stand. Hinter ihm ein stoppelhaariger Berg von einem Mann mit dicken Muskeln, der wohl zusammen mit einem kaum kleineren das Leben des Machthabers beschützte.

»Mein ehemaliger Freund«, begann Loris und betonte das ehemalig dabei deutlich, »hat dir doch sowieso …«

Weiter kam er nicht, da schlug ihm einer seiner Wächter schon den Speer ins Kreuz. »Du sprichst den Erhabenen mit Ihr an, nicht mit Du, ist das klar?«

Loris rappelte sich mühsam vom Boden auf und verzog das Gesicht. »Autsch. Woher soll ich das wissen? Und wieso ihr? Er ist doch nur einer.«

»Tu es einfach«, schaltete sich Mikail in kühlem Tonfall ein. »Du sprichst mit ihm gleichzeitig Gott an, also sag Ihr und Euer statt Du und Dein. Klar?« Dann wandte er sich an den Herrscher. »In den Städten kennt man das nicht, man muss es ihnen schon genau erklären.«

Der Erhabene reagierte nur mit einem kurzen Blick und einem knappen Nicken, fixierte dann wieder Loris.

»Also gut. Ich hoffe, ich verspreche mich nicht manchmal«, gab Loris nach. »Der da hat … Euch doch schon gesagt, wer ich bin. Loris, Sohn des Yusef, aus Or.«

»Das sind nur Namen«, befand der Erhabene. »Mehr!«

»Ähm … ja … also, mein Vater ist ziemlich wohlhabend. Er würde sicher auch Geld zahlen, wenn er mich gesund wiederbekommt.«

Der Mann auf dem goldenen Monstrum lächelte dünn. »Sieht das hier«, er klopfte auf selbiges, »danach aus, als bräuchte ich das Geld deines Vaters?«

Natürlich nicht, aber er musste ja schließlich das verwöhnte Söhnchen spielen. »Ach so, nein, entschuldige.« Er bemerkte seinen Fehler und korrigierte sich sofort hektisch: »Entschuldigt, Erhabener.«

Außer einem starren Blick bekam er keine Reaktion.

»Also, was genau soll ich denn sagen?«

Der Herrscher seufzte. »Man muss es ihm aus der Nase ziehen. Nun gut. Dein Vater ist reich. Woher?«

»Eisen. Er hat zwei Bergwerke und macht auch den Stahl daraus. Den verkauft er dann an die anderen Städte.«

»Ist er der Einzige in Or?«

»Nein, es gibt noch Weitere. Die Berge um Or herum sind reich an Eisen, und die anderen Städte brauchen es von uns. Eigentlich lebt Or hauptsächlich davon. Von dem Geld, das Eisen und Stahl einbringen, kaufen wir Salz, Gemüse, Glas und so weiter.«

»Schön. Dann ist dein Vater also niemand Besonderes?«

»Nun ja, er ist schon einer der wohlhabendsten Männer in Or.« Loris fiel erst jetzt auf, dass dem tatsächlich so war. Er war der Sohn eines der reichsten Bürger der Stadt. Darüber hatte er früher nie nachgedacht.

»Dann hat er sicher auch großen Einfluss.«

»Ach, Politik hat ihn nie interessiert. Er macht seine Geschäfte und überlässt die Arbeit im Rat lieber …« Gerade noch fiel Loris auf, dass niemand nach seiner Mutter gefragt hatte. Das lag vermutlich daran, dass Frauen hier nichts zählten. Auch Mikail hatte offenbar nichts von der angesehenen Ärztin und Ratsfrau Mona erzählt. »… anderen«, beendete er daher den Satz.

»Na schön«, gab sich der Erhabene scheinbar zufrieden. »Kommen wir zu einem anderen Thema. Ihr habt in eurem Land diese großen Dürren, habe ich gehört.«

Loris nickte brav.

»Das bedeutet, alle Tiere der Umgebung sammeln sich dann vor den Städten, um an euer Wasser zu gelangen, richtig?«

Wieder ein Nicken.

»Ihr haltet sie mit euren großen Mauern draußen. Reichen die?«

Das war eine interessante Frage. Wusste dieser Mann von den Problemen, die Or in der letzten Dürre gehabt hatte? Aber Mikail hatte Loris nicht umsonst als völlig unwissend dargestellt, also würde er auch nur wenig preisgeben.

»Ich weiß nicht recht. Voriges Jahr haben es ein paar Tiere in die Stadt geschafft, aber man konnte sie erlegen. Soweit ich weiß.«

»Warum weißt du das nicht genauer?«

»Weil … nun ja … nicht alle sind immer zum Schutz der Stadt eingeteilt, ich habe einiges nur aus Erzählungen gehört.«

Nun schnaubte der Herrscher unwillig. »Du wirst doch wissen, ob alles wie immer abgelaufen ist oder irgendetwas Besonderes passiert ist.«

Verdammt, ja, sich allzu doof zu stellen, war ein Fehler.

»Also … ja … es waren Wölfe dabei, die man so bisher nicht kannte. Viel größer und schwerer zu töten.«

»Und?«

»Und was?«

»Stell dich nicht dumm«, fuhr ihn da Mikail an. »Du weißt genau, wovon der Erhabene redet. Die Donnerechsen! Ich habe sie vor den Mauern gesehen, und du hast garantiert auch von ihnen gehört!«

Puh! Dem zornigen Blick des Herrschers nach zu urteilen hatte Mikail mit diesem Hinweis einiges riskiert.

»Wie konntest du das sehen?«, fragte Loris hinreichend verblüfft. »Das war lange nach deiner Ausweisung.«

Mikail wollte antworten, wurde jedoch durch eine entschiedene Geste des Erhabenen daran gehindert. Er sank sichtlich in sich zusammen und schwieg.

»Also? Die Donnerechsen.«, hakte der Herrscher nach.

»Sind das diese gepanzerten Monster mit den Schuppenkragen?«

»Ebendiese.«

»Äh … ja … davon hat man mir erzählt. Sie waren wohl nicht ganz einfach zu töten.« Die Untertreibung des Jahrzehnts. Ohne die völlig neu entwickelten Speerschleudern wären sie diesen Bestien hilflos ausgeliefert gewesen.

»Und wie genau hat man sie getötet?«

»Das … weiß ich nicht«, gab er so kleinlaut wie irgend möglich zu.

Nur das Trommeln der Finger auf der Armlehne verriet, dass der Erhabene ausgesprochen schlechter Laune war. Loris erwartete nicht wirklich, dass der Mann ihm glaubte. Natürlich waren die neuen Waffen eines der wichtigsten Gesprächsthemen in ganz Or gewesen, wer hätte nicht von ihnen gehört?

Zu Loris’ großer Überraschung knallte ihm der Herrscher nun aber nicht vor den Latz, wie verarscht er sich fühlte. Stattdessen richtete er seinen eisigen Blick auf Damir.

»Nun gut. Lassen wir das für den Augenblick so stehen. Wer bist du?«

Damir hob den Kopf und sah den Mann verzagt an.

»Damir aus Kuvunja«, antwortete er leise. »Mein Vater – unser Vater«, ergänzte er mit einem Seitenblick auf Dunja, »ist tot, unsere Mutter ebenfalls. Ich bin Handwerker und Uhrmacher.«

»Was ist das?«

»Was?«

»Ein Uhrmacher.«

»Ach so. Ich stelle mechanische Uhren her, die die Zeit auch dann anzeigen, wenn keine Sonne scheint.«

Wunderbar. Damir verriet sofort, dass er etwas Besonderes konnte. Loris schlug innerlich die Hände über dem Kopf zusammen. Doch der Erhabene überraschte ihn.

»Aha. Klingt nach einem netten Spielzeug. Hat Kuvunja in der Dürre ebenfalls Bekanntschaft mit den Donnerechsen geschlossen?«

Loris flehte im Stillen die Ahnen an, Damir möge nicht begeistert von den Erfindungen eines gewissen Dürrekommandanten aus Or berichten.

»Nein.« Damir schüttelte den Kopf. »Bei uns waren sie nicht. In Sawan auch nicht.« Loris atmete innerlich auf.

»Na schön«, urteilte der Herrscher und wandte sich Dunja zu. »Dann bist du also seine Schwester. Wie heißt du?«

Sie starrte ihn nur an und schwieg verbissen.

»Dunja«, antwortete Loris an ihrer statt. Allzu aufmüpfig durften sie sich nicht geben.

»Sie kann selbst sprechen«, wurde ihm beschieden.

»Weißt du irgendetwas über die Donnerechsen?«

Immerhin ließ sie sich zu einem Kopfschütteln herab.

Nun ächzte der Herrscher genervt. »Ich sehe schon, ihr habt den Ernst der Lage immer noch nicht begriffen.« Und an die Wächter gewandt: »Bringt sie zurück, sie müssen noch nachdenken.«

Kurz darauf fanden sich Loris und Damir in ihrer alten Zelle wieder. Dunja jedoch brachte man in den gegenüberliegenden Raum. Loris sank das Herz in die Hose. Das war kein gutes Zeichen.

3

Inzwischen erschrak Mikail nicht einmal mehr, wenn Kossula sich nachts in seine Räume schlich. Er fragte sich nur, wie der Leibgardist das machte. Immer noch stand jederzeit eine Wache vor der Tür, und Mikail bezweifelte, dass sie alle bereits zu seinen Verbündeten gehörten. Es wäre wirklich schön gewesen, hätte er genau gewusst, auf wen er zählen konnte, doch Kossula weigerte sich, ihm alle Namen und Funktionen in seinem Netz zu verraten.

»Und?«, empfing er den Leibgardisten, als der sich auf leisen Sohlen hereinstahl. »Gibt’s was Neues?«

»Mengenweise«, antwortete sein Besucher leise. »Zum einen konnte ich mit deinen beiden Freunden reden, der Riesin und dem Schnellen. Sie haben sich ziemlich gefreut, als sie von dir hörten. Als ich die Parole genannt habe, sind mir bald die Ohren weggeflogen, so hat die Frau gelacht. Liv pinkelt im Stehen. Da soll noch einer drauf kommen.«

Mikail kicherte. »Sollte ich Liv je wieder begegnen, muss ich ihr das gestehen. Zum Glück hat sie viel Humor. Aber es hat funktioniert, oder?«

»Das wohl. Allerdings war sie gar nicht begeistert, dass du sie als eher dämlich und primitiv hingestellt hast. Der Junge, dieser Tabo, fand es auch seltsam, dass er angeblich so gerne kämpft. Ich habe ihnen erklärt, dass du sicher einen Grund dafür hattest und sie diese Rollen vorerst spielen sollen. Sie scheinen dir sehr zu vertrauen und sind einverstanden. Und sie haben mir ein paar interessante Sachen erzählt. Tabo konnte sich in einigen Dörfern umhören und hat erfahren, dass man im Westen sehr schlecht auf den Erhabenen zu sprechen ist. Das ist erst mal nichts Neues, war schon in meiner Jugend so.«

»Du stammst daher?«

»Richtig. Mein Dorf liegt recht weit im Westen, und dort sind so ziemlich die miesesten Provinzoberen des ganzen Landes zu finden. Ist irgendeine alte Geschichte, vor hundert Jahren oder so hat sich da jemand mal was geleistet, und seitdem hat der Erhabene einen Zorn auf diese Gegend. Man presst den Dörfern dort besonders hohe Abgaben ab, lässt ihnen keinen einzigen Gesegneten, selbst wenn er überhaupt nicht als Wächter taugt, und schon kleine Vergehen werden dort deutlich härter bestraft als sonst wo.«

»Und trotzdem bist du Leibgardist geworden?«

Kossula zuckte die Schultern. »Was hätte ich machen sollen? Man hat mich – wie jeden Gesegneten – nach Tasik-Hutan geschleppt, und mit meiner Kombination aus Kraft und Schnelligkeit war ich natürlich besonders für die Garde geeignet. Tja, und letztlich bedeutet der Posten in der Leibgarde nur, dass ich blöd rumstehe und gut aussehe, aber eigentlich keinem was tun muss. Normale Gardisten gehen immer wieder raus, auch um Strafaktionen durchzuführen, und darauf hatte ich keine Lust. Ob du’s glaubst oder nicht, wenn man nicht so krank im Kopf ist wie meine Kollegen, kann man als Leibgardist noch mit das anständigste Leben führen.«

Sieh an! Mikail sah Kossula nun in einem ganz neuen Licht.

»Aber egal«, fuhr der fort. »Wie gesagt, dass man im Westen den Erhabenen nicht liebt, ist bekannt. Allerdings hatte Tabo den Eindruck, dass die Dörfer meiner Heimat inzwischen die Schnauze gestrichen voll haben und kurz davor sind, sich aufzulehnen.«

»Haben sie denn Aussicht auf Erfolg?«

»Das ist das Traurige daran«, antwortete Kossula betrübt. »Sie werden es bitter bereuen. Und zwar schon sehr bald.«

»Wieso?«

»Weil der Truppführer der Wächter, die deine Freunde hergebracht haben, genau dasselbe dem Erhabenen berichtet hat. Der hat es sich angehört und dann sofort befohlen, Truppen aufzustellen. Tausend Wächter, Tiger, Gendos, sogar fünfzig Gardisten. Das ist die halbe Garde und ein Drittel der Wächter, die sich überhaupt in der Stadt aufhalten! Er klang ganz so, als hätte er schon länger damit gerechnet und nur noch abgewartet, bis er einen Grund bekommt, diese Strafaktion durchzuziehen.«

»Ahnenverfluchte Scheiße«, ächzte Mikail. »Was denkst du, wird er tun?«

Kossula kniff die Lippen zusammen und atmete einmal tief durch, bevor er antwortete. »Ich schätze, er wird alle Männer, die in der Lage sind, gegen ihn zu kämpfen, gefangen nehmen lassen. Dann tötet er die aufmüpfigsten von ihnen, verschleppt andere für ein paar Jahre zur Zwangsarbeit, und danach trauen die sich nichts mehr.«

Mikail war entsetzt. »Das können wir doch nicht zulassen!«

Der Leibgardist stieß ein bitteres Lachen aus. »Im Gegenteil. Was wir nicht können ist, es verhindern. Was willst du dieser Masse an Wächtern entgegensetzen? In den Dörfern leben sicher fünf- oder sechstausend Menschen, über ein großes Gebiet verteilt, aber darunter befinden sich keine Gesegneten. Dafür jede Menge Frauen, Kinder, Alte und Gestrafte. Die vielleicht zweitausend halbwegs kampffähigen Männer sind praktisch unbewaffnet. Sie haben höchstens leichte Jagdbögen und -speere, ansonsten bestenfalls hölzerne Heugabeln. Was können sie gegen Schwerter, Lanzen und die Stahlwaffen der Garde ausrichten? Genauso gut könnten die Bauern gegen eine Herde Donnerechsen antreten, da haben sie auch keine Chance.«

Mikail schnaubte. Großartige Einstellung. Dann stutzte er. Donnerechsen? »Ich kenne da ein paar Leute, die bereits gegen Donnerechsen angetreten sind und gesiegt haben …«

»Du spinnst.«

»Warst du nicht dabei, als ich Tiru davon erzählt habe? Jekarina, Tabos Bruder und ich haben zusammen mit ein paar weiteren Gesegneten gegen drei Donnerechsen gekämpft und zwei von ihnen erlegt. Die dritte ist geflohen.«

Kossula wirkte beeindruckt, aber nicht überzeugt. »Recht und schön, aber deine Freunde sind zwei Figuren. Gegen eine derartige Übermacht ist das gar nichts.«

»Aber es kommt noch besser: In eurem Kerker sitzt jemand, der weiß, wie man auch nur mit Unwürdigen diese Biester besiegen kann. Er hat eine ganze Stadt vor ihnen gerettet. Loris ist ein schlauer Kopf, ihm fällt sicher was ein. Unter Druck ist er besonders gut.«

Kossula sah ihn genervt an. »Kommst du schon wieder damit an? So hast du mich schon mal überreden wollen. Jetzt soll er also nicht die Städte, sondern meine Leute retten?«

Mikail nickte vehement. »Wie gesagt, er ist ein schlauer Kopf.«

Der Leibgardist dachte einen Moment nach und schüttelte dann den Kopf. »Selbst wenn das stimmt, werden die Truppen des Erhabenen sie trotzdem fertigmachen. Donnerechsen sind stark, aber nur dumme Tiere. Hier haben wir es mit erfahrenen Kämpfern zu tun. Nein, wenn die Dörfler so bescheuert sind, sich tatsächlich gegen den Erhabenen zu stellen, werden sie den Preis zahlen müssen. Wir können nichts daran ändern. Es wird schlimm für sie werden, aber Tiru ist nicht so verrückt, alle Männer umbringen zu lassen. Dann ist niemand mehr da, um die Familien zu ernähren, es gibt keine Abgaben mehr, die ganze Gegend ist dann nutzlos für ihn. Es wird ein-, zweihundert Tote geben, einige Hundert werden für eine Weile nach Tasik-Hutan gebracht und müssen arbeiten, aber es wird irgendwie weitergehen.«

»Du hast doch sicher noch Freunde da, Familie vielleicht auch, oder?«

»Herrgott Mikail!« Kossula zwang sich mühsam, leise zu bleiben. »Glaubst du, ich lasse meine Leute gerne im Stich? Ich habe drei Schwestern, eine davon gestraft, und einen Bruder, der sehr wahrscheinlich dumm genug ist, bei dem Aufstand mitzumachen. Vater ist zu alt dazu, wenn er überhaupt noch lebt. Er war mal stark wie ich, stärker sogar, aber das ist lange her. Wenn ich könnte, würde ich ihnen helfen, aber es ist aussichtslos, kapier das endlich! Je schneller diese Idioten sich eine blutige Nase holen und aufgeben, desto weniger Opfer wird es geben. Ich werde sicher nicht dafür sorgen, dass aus einer Strafaktion ein Krieg wird, der die halbe Bevölkerung dort auslöscht.«

Mikail schwieg. Irgendwie konnte er den Mann verstehen. In diesem Land lebten alle in der festen Überzeugung, gegen den Erhabenen sei nichts auszurichten. Man nahm alle Grausamkeiten hin, um noch Schlimmerem zu entgehen.

Nach einer Weile voll deprimierter Stille holte Kossula tief Luft. »Was deine Freunde im Kerker angeht, hast du ja gemerkt, dass ich ihnen deine Geschichte rechtzeitig weitergeben konnte. Allerdings ist Priti nicht ständig zur Wache eingeteilt. Außer ihr haben wir niemanden in der Wachtruppe.«

Priti … irgendwoher sagte der Name Mikail was, aber er kam nicht drauf. War ja auch egal. »Wie geht es ihnen?«

»Du hast sie doch heute Morgen gesehen. Noch ist ihnen nicht viel passiert, aber ich gehe davon aus, dass sich das bald ändert.«

»Will heißen?«

»Das kannst du dir sicher selbst denken.«

Mikails Magen zog sich zusammen. Folter, das hieß es. »Glaubst du, er fängt so früh damit an?«

Kossula lachte humorlos. »Er ist ziemlich geübt darin, Menschen zu brechen. Und dazu ist ihm jedes Mittel recht.«

»Das kann ich nicht zulassen.«

»Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Was du nicht kannst, ist, es verhindern.«

Kossula wandte sich zum Gehen. »Mikail, sieh es ein. Das Einzige, was wir tun können, ist, unsere Haut zu retten. Der Erhabene ist zu mächtig. Ihn zu reizen bedeutet den Tod.«

Mikail sah ihm niedergeschlagen hinterher. Er wollte das nicht akzeptieren, aber wie bei den Ahnen sollte er Loris helfen, wenn Kossula nicht mitspielte? Selten hatte er sich so hilflos gefühlt.

4

»Hm?« Loris schreckte hoch. Jemand rüttelte ihn kräftig an der Schulter.

»Wach auf!« Damir klang verzweifelt.

»Wieso? Was ist denn?«

»Hör doch!«

Er lauschte. Eine tiefe Männerstimme sagte irgendwas, eine weibliche Stimme antwortete in wütendem – nein – eher ängstlichem Tonfall.

»Das ist Dunja!« Damir krallte seine Finger regelrecht in Loris’ Schulter.

Loris schob ihn weg, sprang auf und lief auf das kleine, helle Rechteck zu, das in der Tür leuchtete. Er hielt das Ohr an die Öffnung.

»Nein!«, schimpfte seine Freundin, nun ganz klar in Panik. »Lass deine dreckigen Finger von mir!«

Etwas klatschte. »Schnauze, Weib.«