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Die brutalen Reinheitsgesetze haben die beiden Freunde auseinandergerissen. Während Mikail sich alleine in einer lebensfeindlichen Wildnis durchschlagen muss, bestreitet Loris einen Kampf der anderen Art: Mit allen Mitteln will er die Strafe für Mikails Familie so niedrig wie möglich halten. Während Mikail sich mit tödlichen Bestien anlegen muss, hat Loris es mit einem beinahe ebenso harten Gegner zu tun – der eigenen Mutter.
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Seitenzahl: 296
Veröffentlichungsjahr: 2024
Sascha Raubal
Die Abartigen 2 – Der Prozess
In dieser Serie bereits erschienen:
Band 1 – Karawane nach Cood
Inhaltswarnung:
In diesem Buch wird gelebt und gestorben – mit allem, was dazugehört.
Sascha Raubal
DIE ABARTIGEN
BAND 2
DER PROZESS
Fantasy
Die Abartigen 2 – Der Prozess
2. leicht überarbeitete und korrigierte Auflage 2024
© 2024 Sascha Raubal
ISBN: 978-3-384-39834-5
Covergestaltung und Innenteilillustrationen:
Markus Gerwinski (http://www.markus.gerwinski.de)
Für das Cover wurde ein Bild genutzt von:
Diego Delso, delso.photo, License CC-BY-SA
Druck und Distribution im Auftrag :
tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany
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Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Danke
Der Autor
Die Freien
Leseprobe Band 3
1
Mikail spürte die Blicke im Rücken, zwang sich weiterzugehen, ohne sich ein einziges Mal umzusehen. Loris, Lia, Vater und Mutter, Tomasch, so viele ließ er hinter sich. Schritt um Schritt näherte er sich dem Rand des Waldes, den er erst vor drei Tagen durchquert hatte, voller Freude heimzukommen und voller Angst vor genau dem, was dann auch geschehen war.
Nun war er also ein Ausgestoßener. Nur, weil er anders war. Sein Leben lang hatte er es verborgen, ständig ermahnt von seinen Eltern, sich nur ja nichts anmerken zu lassen. Und er hatte es geschafft, über fünfzehn Jahre lang, seit er ein kleiner Junge gewesen war.
Und nun? Alles für die Katz’. Hätten seine Eltern ihn doch nur gleich gemeldet, als ihnen klargeworden war, dass ihr Sohn abartig war! Niemand hätte ihnen einen Vorwurf gemacht, jeder hätte ihnen geglaubt, dass sie es nicht früher wussten. Tomasch war damals selbst noch ein Kind, auch ihm wäre nichts passiert.
Nun jedoch drohte ihnen die völlige Enteignung. Vater hatte das Geld für ein erstes eigenes Stück Land auf einem anderen Hof verdient, sich dann mit Mutter zusammengetan und hart gearbeitet, bis Ernte und Vieh tatsächlich eine Familie ernähren konnten. Jahrzehnte des Schuftens, dahin in wenigen Tagen. Tomasch hatte zum Glück noch keinen nennenswerten eigenen Besitz, musste aber damit rechnen, in nächster Zeit auch nichts aufbauen zu können. Oder man rechnete ein Drittel des Hofes ihm zu, dann würde vielleicht unterm Strich etwas mehr bleiben. So genau wusste Mikail das nicht. Dass Yuki unter diesen Umständen bei Tomasch blieb, zeigte, wie sehr sie ihn liebte.
Keiner von ihnen hatte ihm Vorwürfe gemacht. Sie alle hatten immer und immer wieder bestätigt, dass er richtig gehandelt hatte, als er sein Geheimnis lüftete, um Loris, Mitena und all den anderen beizustehen, Leben zu retten. Und ja, sie alle hatten sich einst freiwillig entschieden, ihn zu schützen und für ihn zu lügen. Damals, als er selbst noch zu klein war zu verstehen, was das alles bedeutete. Wären sie doch nur nicht so dumm gewesen! Das Ende vom Lied war nun, dass er eben einige Jahre später fortgejagt wurde. Möglicherweise konnte er sich ein paar Tage länger durchschlagen, bis irgendein Rudel Wölfe ihn zerfleischte, eines der wilden Rinder ihn auf die Hörner nahm oder etwas anderes seinem Leben ein Ende setzte. Als Knirps von drei Jahren hätte er wahrscheinlich schneller den Tod gefunden. Sie aber verloren nun alles.
Loris hatte versprochen, alle Möglichkeiten auszuschöpfen. Ausgerechnet er, der sonst Bücher kaum mit dem Hintern ansah, hatte die Gesetze studiert. Alleine das grenzte schon an ein Wunder. Eines, das Mikail Mut machte. Wenn er sich auf irgendjemanden verlassen konnte, dann auf Loris. Er würde alles tun, um die Strafe für Toivo, Pilar und Tomasch so gering wie möglich zu halten. Dass er den Mumm dazu hatte, selbst seiner Mutter die Stirn zu bieten, hatte er ja gerade heute bewiesen.
Ein wenig leichter wurde es Mikail bei diesem Gedanken ums Herz, als er einige Hundert Meter nach Erreichen des Waldrandes die Straße verließ. Bis zur Hochphase der Dürre waren es nur noch runde zwei Wochen, die Gefahr durch Raubtiere in Stadtnähe stieg, niemand ging jetzt mehr Holz fällen. Er musste also nicht zwangsweise wer weiß wie weit laufen, bis er sich ein Lager suchte. Bis zur Dämmerung waren es noch einige Stunden hin, doch nach dem anstrengenden Tag im Rat und dem schweren Abschied von allem, was ihm etwas bedeutete, wollte er sich einfach nur noch ausruhen und seinen Gedanken nachhängen.
Wieso war dieser verdammte Rucksack eigentlich so schwer? Selbst er mit seinen ungewöhnlichen Kräften spürte das Gewicht langsam doch sehr. Es war dumm gewesen, alles mitzunehmen, was ihm die Leute dort hingelegt hatten. Doch wen hätte er vor den Kopf stoßen sollen, indem er ausgerechnet dessen gutgemeinte Gabe liegen ließ?
Mikail ließ das Bündel Speere, die Lanzen und seinen Bogen fallen, die er in den Händen getragen hatte. Die Decke hatte er oben auf den Rucksack geschnallt, die Armbrust wie auch den Köcher mit Pfeilen an Riemen umgehängt und die Bolzen in eine Tasche seiner leichten Jacke gesteckt. Nun entledigte er sich Stück für Stück dieser Dinge. Er würde alles genau durchsehen und nur das mitnehmen, was ihm wirklich etwas nutzte.
Von wem die Decke sein mochte? Er breitete sie aus und setzte sich darauf, um dann auch seine Habseligkeiten auf ihr zu verteilen. Ah, da steckte auch sein Messer, in einer Seitentasche des Rucksacks. Braver Loris, er dachte an alles. Der Rucksack war natürlich von Loris und Lia. Es war einer der großen, robusten, die Yusefs Minenarbeiter trugen, wenn sie sich auf den Weg zur Arbeit machten. Mehrere Wochen verbrachten sie in Baracken an den Minen, dann wieder einige Wochen daheim. Vier Tage arbeiten und zwei Tage frei, das gab es in diesem Geschäft nicht. Solche Arbeitswochen kannte man nur in der Stadt.
Er öffnete die Riemen und begann, den Inhalt herauszuholen. Zwei Laib Brot, ein großer, luftgetrockneter Schinken, zwei Schläuche mit je etwa drei Litern Wasser und eine kleinere Flasche aus Kupfer. Alles wichtiger Proviant, aber eben auch schwer. Darunter kam eine weitere Decke zum Vorschein, allerdings wesentlich dünner als diejenige, die einzeln bei den Sachen gelegen hatte. Und ein Seil, sehr sinnvoll. Auch die Zunderbüchse fehlte nicht.
Mikail lachte auf. Sogar an Unterhosen hatte jemand gedacht. Es konnten nur welche von Loris sein, aber er vermutete stark, dass das Lias Idee gewesen war. Außerdem zwei Hemden, ebenfalls von Loris, und eine von dessen Hosen. Nun ja, sie beide waren beinahe gleich groß und hatten eine ähnliche Figur, die Sachen würden also passen. Nähzeug? Sicher auch Lias Einfall, aber nicht dumm. Sogar an Zahnputzzeug und ein großes Stück Seife hatte sie gedacht.
Dann allerdings stutzte er. Was, bei den Ahnen, sollte er mit Frauensachen? Unterhosen, Hemdchen, ja was denn noch? Dann erst begriff er. Lia hatte nicht einfach nur aus einem Impuls heraus gesagt, sie wolle mitkommen! Sie hatte es tatsächlich vorgehabt und sogar ihre Sachen mit in den Rucksack gepackt!
Deshalb auch die zwei Schläuche Wasser und die zwei Brote, die er alleine gar nicht würde aufessen können, bevor ihn irgendein Vieh erledigte.
Mikail vergrub das Gesicht in den Händen. Das Mädel hatte allen Ernstes fest vorgehabt, ihm in den Tod zu folgen. Ob er wollte oder nicht, er musste Mona dankbar sein, dass sie ihre Tochter so grob angefasst und daran gehindert hatte. Auch noch Lias Leben auf dem Gewissen zu haben, das hätte er nicht ertragen.
Nach einer Weile fiel ihm ein, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, was er nun mit Lias Sachen tun sollte. Zur Stadt zurückzukehren war ihm verboten. Sie einfach hier liegenlassen? Das konnte er doch nicht tun! Was dann? Er beschloss, sie vorerst wieder einzupacken und weiter mitzuschleppen. Sie waren das geringste Gewicht, nahmen lediglich etwas Platz weg.
War eigentlich sonst noch etwas in dem Rucksack? Vor lauter Schreck über Lias Pläne hatte er ganz vergessen, den Rest auszuräumen.
Ja, tatsächlich, etwas lag noch darin: ein Blatt Papier. Er nahm es und faltete es auseinander. Die Schrift war an einigen Stellen verlaufen, und ihm war klar, dass dort Tränen auf das Papier getropft sein mussten. Er atmete tief durch und begann zu lesen.
Mein geliebter Mikail,
wenn du dies hier liest, ist mein Plan nicht aufgegangen. Ich wollte mit dir gehen, egal wohin, und sei es in den Tod. Als Loris und ich heute Abend die verfluchten Reinheitsgesetze studierten und uns klar wurde, dass es für dich keinen Ausweg gibt, keine Gnade, da wusste ich, dass ich dich nicht einfach gehen lassen konnte. Wir packten diesen Rucksack und stellten ihn bereit, um ihn dir auf den Weg mitzugeben. Wenigstens diese Möglichkeit fanden wir, und ich kann nur hoffen, dass es uns gelingt, sie auch zu nutzen. Als Loris dann schon im Bett war, habe ich meine Sachen dazugetan, etwas mehr Wasser und Brot, sodass es für uns beide reicht. Wenn du aus der Stadt gejagt wirst, dann werde ich mich dir einfach anschließen. Ich werde im letzten Moment hinterherlaufen, und wir beide rennen dann, so schnell wir können. Du weißt, ich bin eine gute Läuferin.
Dies ist jetzt mein Plan, während ich Dir schreibe. Doch nun hältst du diesen Brief in den Händen. Das kann nur bedeuten, dass es nicht geklappt hat, denn ansonsten hätte ich ihn schon herausgeholt und beseitigt. Warum auch immer, ich habe versagt.
Nun also bist du alleine hier draußen in der Wildnis, und ich bin vielleicht daheim eingesperrt. Nein, ich bin sicher eingesperrt, denn ohne dich ist dies alles hier nur ein Gefängnis.
Mein Liebster, ich weiß nicht, was ich nun tun soll. Du wurdest dem Tod überlassen, und ich kann nicht einmal an deiner Seite sein. Dir alleine zu folgen wäre wohl sinnlos. Wo sollte ich dich suchen? Wer weiß, wann du diesen Brief entdeckst? Ich hoffe nur, du findest ihn noch bevor … du weißt, was ich meine.
Vergiss niemals, wie sehr ich dich liebe. Das verfluchte Gesetz hat uns auseinandergerissen, doch solange ich lebe, werde ich dich immer lieben. Mein Herz gehört dir, auf ewig.
Lia
Mikail wusste nicht, wie lange er dagesessen hatte, Lias Brief in den Händen. Einige neue nasse Flecken auf dem Papier waren inzwischen schon halb getrocknet. Irgendwann kam er zu sich, sah noch einmal auf das Schreiben und küsste es, bevor er es wieder verstaute. Er würde Lias Sachen mitnehmen, als Andenken. Nach und nach wanderte alles wieder in den Rucksack. Dessen Gewicht musste er wohl ertragen. Immerhin, mit jedem Bissen, den er aß, jedem Schluck Wasser wurde das Gepäck etwas leichter.
Aber wo konnte er dann Last einsparen? Auf das Seil wollte er auf keinen Fall verzichten, das konnte er sich einfach um die Hüften schlingen. Warme Decken brauchte man in den Nächten mit Sicherheit. Die Waffen! Sein geliebter Bogen durfte keinesfalls zurückbleiben. Aber was wollte er dann noch mit der Armbrust, die doch so viel länger zum Spannen brauchte? Und dann waren da noch die Speere und Lanzen. Je eines davon, ja, aber zwei Lanzen und ein halbes Dutzend Speere, das war doch Unsinn.
Nur, einfach wegwerfen mochte er die Sachen auch nicht. Es waren gute Waffen, vielleicht konnte er sie ja irgendwo deponieren, bis jemand sie fand? Nach der Dürre, bevor die Regenzeit so richtig einsetzte, würden Dutzende Holzfäller die an der Trockenheit gestorbenen Bäume aus dem Wald holen. Die konnten die Waffen dann wieder in die Stadt bringen.
Kurz entschlossen ersetzte er einen der Speere im Bündel durch eine Lanze und hängte alles zusammen mit Armbrust und Bolzen so in ein paar niedrige Äste, dass auch ein starker Wind es nicht herunterschütteln konnte. Seiner Ansicht nach musste jeder, der einigermaßen die Augen offenhielt, das Bündel entdecken. Er hoffte nur, dass die lieben Menschen, die ihm das alles mitgegeben hatten, dies nicht als Zurückweisung verstehen würden.
Nun wenigstens nicht mehr ganz so schwer beladen machte er sich wieder auf den Weg. Der führte ihn bisher parallel zur Stadtmauer langsam auf das Gebirge zu. Vielleicht sollte er dort Schutz suchen? Aber erst morgen. Zwar sah er hier im Wald die Sonne nicht, doch sie schien, dem schwindenden Licht nach zu urteilen, schon recht tief zu stehen. Diese Nacht würde er wohl im Wald verbringen.
Wenn er es recht überlegte, war es höchste Zeit, sich ein Lager zu suchen. Wer wusste schon, wann er etwas Passendes fand? Nun denn. Um Regen brauchte er sich keine Sorgen zu machen. Aber einigermaßen weich sollte es schon sein, oder? Er suchte den Boden nach einer größeren freien Fläche ab, auf der vielleicht ein schönes, dickes Moospolster wuchs.
Nanu? Da waren Markierungen, die ihm den Zutritt zu einem Teil des Waldes verboten. Sollte er versehentlich auf den Ort der Übergabe gestoßen sein? Dort hätte man ihn als Kind hingebracht, wenn seine Eltern ihn damals gemeldet hätten. Dort hatte man Ailens Kind dem Tod überlassen. Mit Schaudern erinnerte er sich an die Verzweiflung der Bäckerin, die sich beinahe die Felswand hinabgestürzt hätte.
Dieses Gebiet zu betreten war den Bürgern strikt untersagt, nur die Bewahrer, die die Kinder dort hinbrachten, durften sich dort aufhalten. Mikail überlegte einen Moment, auf dieses Verbot zu pfeifen – alleine schon aus Trotz – und mitten hindurch zu marschieren. Dann jedoch entsann er sich der schrecklichen Dinge, die man sich über diesen Ort erzählte, und beschloss, doch lieber außen herum zu gehen. So riesig konnte das Gebiet nicht sein.
Langsam ging er weiter durch den Wald, auf der Suche nach einem geeigneten Lagerplatz. Birken und Pappeln, Fichten und Buchen, aber auch Eichen und manch andere Baumart standen hier vermeintlich wild durcheinander, doch folgte dies alles einem ausgeklügelten System. Eine Regel der Ahnen besagte, dass gemischte Wälder immer gesünder waren als die, die nur aus einer einzigen Art bestanden. Und da alle Holzarten ihre Vorteile hatten, folgte man dieser Regel auch. Die Waldarbeiter sorgten dafür, dass alle Bäume in der benötigten Anzahl nachwuchsen.
Mikail war so vertieft in seine Suche nach einem guten Platz, dass er die Rotte Wildschweine erst bemerkte, als es beinahe zu spät war. Lautes Grunzen schreckte ihn auf, und da standen sie: vier junge Keiler, Kampfgewicht um die dreihundert Kilo, gepanzert mit Hornplatten und bewaffnet mit fast zwanzig Zentimeter langen Hauern. Mikail stand stocksteif da und starrte die Viecher an. Hätte es nicht wenigstens die Sorte mit ganz normalem Fell sein können? Nein, Hornschweinen musste er in die Quere kommen, denen seine Pfeile kaum etwas anhaben konnten. Die einzige Waffe, die diese Hornplatten verlässlich durchdringen konnte, war seine kurze Lanze. Aber er hatte nur eine davon, die andere hatte er zurückgelassen. Und auch nur einen Speer. Na klasse!
Er sah sich vorsichtig um. Wohin sollte er fliehen? Vor einem Wildschwein dieser Größe davonzulaufen war kaum vorstellbar, erst recht mitten im Wald mit seinem Unterholz, Ästen, die den Weg versperrten, und Wurzeln, über die er stolpern konnte. So ein Hornschwein brach einfach durch jedes Dickicht, ohne sich auch nur eine einzige Schramme zu holen.
Noch sahen die Schweine einigermaßen desinteressiert aus, wühlten im Boden und grunzten halbwegs zufrieden vor sich hin. Anscheinend hatten sie ihn noch nicht einmal bemerkt. Mit etwas Glück blieb das auch so.
Behutsam machte Mikail einen Schritt rückwärts, dann noch einen. Die letzten paar Meter hatte er weitgehend freie Bahn gehabt, die musste er nun erst mal zurückgehen. Je mehr Abstand er zwischen sich und die Schweine brachte, desto besser. Es war ja nicht so, dass sie unter normalen Umständen Jagd auf einen Menschen gemacht hätten. Sie waren einfach nur ziemlich übellaunige Gesellen, und wenn sie glaubten, jemand wolle ihnen an die Schwarte, dann handelten sie nach dem Motto »Angriff ist die beste Verteidigung«. Aber sie waren kurzsichtig, das wusste er. Je weiter er kam, desto schlechter konnten sie ihn erkennen. Vor allem, wenn er sich nur langsam bewegte. Er würde also einfach so lange davonschleichen, bis er außer Sicht war, und dann schauen, dass er Land gewann.
Dummerweise lag da dieser verdammte trockene Ast im Weg …
2
»Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?«
Loris hob mühsam eines seiner tonnenschweren Augenlider. »Was?«
Lia stand im Zimmer und blickte fassungslos auf die zwei Weinkrüge, die unübersehbar leer am Boden lagen. »Das da. Es ist noch nicht mal dunkel!«
Er lachte freudlos auf. »Hast du keine anderen Probleme?«
Seufzend schob sie die beiden Krüge mit dem Fuß zur Seite und setzte sich zu ihm auf den Rand seines Bettes. »Doch, aber ich kann nicht noch mehr brauchen. Seit wann trinkst du denn solche Massen?«
»Pff«, machte er. »Massen? Das sind keine zwei Liter. Der eine Krug war eh schon angefangen. Also übertreib mal nicht so.«
»Du lallst, und zwar ganz fürchterlich.«
Er schwieg dazu.
»Hast du schon jemals so viel auf einmal getrunken?«
»Nein«, antwortete Loris. »Ich hab ja auch noch nie zugeschaut, wie man meinen besten Freund in den Tod schickt.«
Diesmal blieb Lia ihm die Antwort schuldig.
»Tut mir leid.« Er streckte mühsam die Hand aus und streichelte ihr den Rücken. »Für dich ist es genauso schlimm, das weiß ich.«
Lia hatte in den letzten Stunden so viel geweint, dass ihr nun wohl keine Tränen mehr blieben. Ihr Schluchzen war schon vor einer Weile verstummt, das hatte er gehört. Sie sank einfach neben ihm auf das Bett und drückte sich mit dem Rücken an ihn. Er legte den Arm um sie, hielt sie stumm. Es war lange her, dass er seine kleine Schwester so getröstet hatte.
Eine ganze Weile lagen sie still da. Beinahe wäre Loris eingeschlafen, doch er hatte Angst vor seinen Träumen. Seit dem Überfall der Wölfe auf die Karawane verfolgten ihn Nacht für Nacht schreckliche Bilder von den Bestien mit ihren mörderischen Zähnen, von Hoang mit dem zerfleischten Gesicht, von all den Toten auf dem Scheiterhaufen. Nun würde ein weiterer Schrecken dazukommen: das Bild Mikails, wie er einsam aus der Stadt hinausging, dem Tod entgegen.
»Was glaubst du, wie lange wird er durchhalten?«, riss ihn Lias Stimme aus seinem Dämmerzustand.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er ehrlich. »Wir haben ihm Essen, Kleidung und Waffen mitgegeben, das wird ihm helfen. Aber letztlich … Lia, wir beide wissen, wie es enden wird. Niemand überlebt da draußen alleine. Selbst Jäger ziehen immer in kleinen Gruppen los, und das zu ungefährlichen Zeiten. Die Dürre steht bevor, die Tiere werden angriffslustiger, dazu die neuen Wölfe. Zwing mich nicht, darüber nachzudenken, wie lange Mikail vielleicht überleben wird. Denn dann muss ich auch daran denken, wie er sterben kann. Und das hab ich schon viel zu oft getan.«
Wieder schwiegen sie, vereint in ihrer Trauer. Er hatte seinen besten Freund verloren, sie den Mann, den sie liebte. Nichts und niemand hatte das verhindern können. Die verdammten Reinheitsgesetze waren unerbittlich. Wer anders war, abartig nannten sie es, musste gehen. Selbst, wenn er gerade erst Dutzende Leben gerettet hatte. Mikail hatte seine enorme Kraft genutzt, um die Karawane gegen die neuen, größeren und so schwer zu tötenden Wölfe zu verteidigen, hatte damit offenbart, dass er nicht so war wie andere. Zum Dank dafür war er heute Nachmittag aus seiner Heimat verjagt worden.
Loris glaubte schon, Lia sei eingeschlafen, da seufzte sie tief. »Wir haben alles getan, oder?«, fragte sie. »Alles was möglich war, meine ich. Oder haben wir was übersehen?«
Wie oft hatte er sich diese Frage heute schon gestellt? Aber die Gesetze waren eindeutig. »Es gab einfach nichts zu tun. Das haben wir gestern alles nachgelesen. Keine Gnade für Abartige, egal, was sie getan haben.« Er drückte sie fester an sich. »Weißt du, ich glaube, auch Dafina hätte ihn am liebsten nicht weggeschickt. Aber sie hatte keinen Spielraum. Nicht einen verfluchten Millimeter. Abartige werden ausgesetzt, ohne Ausnahme, ob sie nun hilflose Säuglinge sind oder Helden.«
»Und selbst, wenn es eine Möglichkeit gegeben hätte«, ergänzte sie bitter, »Unsere eigene Mutter hätte dafür gesorgt, dass Mikail trotzdem gehen muss.«
Das entsprach wahrscheinlich der Wahrheit. Doch darüber wollte sich Loris heute nicht auch noch den Kopf zerbrechen, der ihm so schon schwer genug war, vom Kummer und auch vom Alkohol. »Darüber nachzudenken ist sinnlos. Es gab keine Möglichkeit und Ende.«
Seine Schwester drehte sich zu ihm um und sah ihm entschlossen ins Gesicht. »Nein, kein Ende. Da sind noch Toivo und Pilar. Und Tomasch und Yuki. Sie brauchen immer noch Hilfe, und wir haben ihm versprochen, alles für sie zu tun, was in unserer Macht steht.«
Er nickte. »Ja, das haben wir. Und das werden wir auch tun.«
Sie legte ihre Stirn an seine. »Genau das.«
Eine Weile blieben sie so liegen, dann schob Lia seinen Arm weg, mit dem er sie festgehalten hatte, und erhob sich. »Und jetzt schlaf deinen Rausch aus, du Dummkopf. Morgen müssen wir gleich wieder in die Bibliothek und alles herausfinden, was uns weiterhelfen kann. Übrigens habe ich mit Sadio gesprochen, er vertritt mich noch ein paar Tage in der Schule. Ich kann also reichlich mitarbeiten.«
Am folgenden Morgen wurde Loris’ Tatendrang erst mal von seinem Brummschädel ausgebremst. Mühsam erhob er sich, zwängte sich in seine Kleidung und tappte in die Küche. Dort fand er den Rest der Familie bereits vor, alle drei in unangenehmes Schweigen vertieft.
Mona sah ihn nur kurz an, verzog missbilligend das Gesicht und erhob sich. »Da ist wohl ein kräftiger Weidenrindentee fällig.« Sie verschwand in Richtung ihres Behandlungsraumes, um das Schmerzmittel zu holen.
Yusef schenkte seinem Sohn einen verständnisvollen Blick, schwieg sich aber ansonsten aus. Oh je, offenbar war die Laune hier auf dem Tiefpunkt. Loris setzte sich vorsichtig an den Tisch und sah seine Schwester fragend an, die aber nur ein genervtes Schnauben ausstieß. Ja, absoluter Tiefpunkt.
Vater schob ihm gerade den Korb mit Brot hin, die Butter und den Krug Milch, da kehrte auch schon Mutter zurück. Sie warf die getrocknete Rinde in einen Becher, nahm den Topf mit heißem Wasser vom Herd und goss es dazu. »Und während das zieht …« Sie trat hinter Loris und entkorkte ein kleines Tontöpfchen, dem der frische Duft von Pfefferminze entstieg. Mona holte etwas von der Salbe mit den Fingern heraus und verteilte sie auf Stirn und Schläfen ihres Sohnes. »Glaub aber nicht, dass ich das jedes Mal für dich mache, wenn du so dumm warst, dich zu betrinken. Heute ist eine Ausnahme.« Damit verschloss sie das Salbentöpfchen auch schon wieder und setzte sich zurück an den Tisch.
»Danke« murmelte Loris nur und kümmerte sich dann um sein Frühstück. Allzu viel Appetit hatte er nicht, aber sein Magen fühlte sich so an, als sei er dankbar um etwas Futter. Zumindest ein Butterbrot und ein Becher Milch mussten schon reingehen. Immerhin hatten sie heute ja einiges vor.
»Lia hat uns schon von eurem Plan in Kenntnis gesetzt«, eröffnete schließlich Mona das Gespräch in säuerlichem Tonfall. »Denkst du nicht, diese Dinge solltet ihr dem Rat überlassen? Wir wissen, wie die Gesetze anzuwenden sind.«
Schon holte Lia Luft, um ihm die Antwort abzunehmen, doch Mona hob nur gebieterisch die Hand, und ihre Tochter schloss den Mund wieder. Wütend presste sie die Lippen zusammen.
Loris ließ sich Zeit. Sein Schädel brummte immer noch, er hatte gerade den ersten Bissen Brot im Mund, und offenbar war hier bereits ein Streit gelaufen, den er nun fortführen durfte. Grandioser Tagesbeginn.
Als Mutter begann, ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch zu trommeln, sah er ein, dass er nun wohl endlich antworten musste.
»Wir konnten schon Mikail nicht helfen. Ich habe ihm versprochen, wenigstens seiner Familie beizustehen. Das werde ich halten.«
So sehr er sich um einen ruhigen und neutralen Tonfall bemüht hatte, wusste er doch, dass diese klare und knappe Ansage Monas Zorn erregen würde.
»Du hast in den letzten Tagen schon gezeigt, wie wenig Respekt du vor unseren Gesetzen hast«, entgegnete sie nun auch giftig. »Dafina war sehr geduldig mit dir, aber glaube nicht, dass der Rest des Rates davon begeistert ist. Ausgerechnet meine Kinder stellen sich gegen den Rat und die Gesetze. Das fällt alles auch auf mich und euren Vater zurück.«
»Natürlich«, antwortete er leise. »Natürlich. Das ist es, was dir Sorgen macht. Dass es auf euch zurückfällt. Dass euer Ruf leiden könnte, weil wir Menschen verteidigen, die niemandem etwas Böses getan haben. Weil ich das Wort halte, das ich meinem besten Freund gegeben habe. Den ihr in den Tod geschickt habt, mit euren saublöden, unmenschlichen Scheißgesetzen.« Er war immer lauter geworden, hatte die letzten Worte beinahe gebrüllt. Nun sprang er auf, so wütend, dass sein Stuhl nach hinten flog, ließ alles stehen und liegen und stürmte in Richtung seines Zimmers. In der Tür drehte er sich noch einmal um. »Jeder Bürger hat das Recht, die Gesetzestexte zu studieren, und jeder Bürger hat das Recht, in einer Ratsversammlung für andere einzustehen. Muss ich ausgerechnet dir erklären, dass wir nur unsere Rechte in Anspruch nehmen?« Damit verließ er die Küche endgültig und schlug die Tür seines Zimmers hinter sich zu, dass es krachte.
Nur wenige Atemzüge später klopfte es. Loris saß auf dem Bett, den schmerzenden Kopf in die Hände gestützt, und versuchte immer noch, sich wieder zu beruhigen. Er beantwortete das Klopfen nicht, seine Eltern sollten ihn bloß in Ruhe lassen.
»Ich bin es«, erklang draußen leise Lias Stimme. Ach so.
»Komm schon rein!«
Sie schlüpfte herein, schloss die Tür wesentlich leiser hinter sich als er vorhin und setzte sich zu ihm. Den Becher mit dem Weidenrindentee stellte sie einfach auf den Boden vor ihm. »Da war ich ja direkt noch artig«, kommentierte sie schmunzelnd seinen Ausbruch.
Er lächelte gequält. »Zumindest warst du wohl nicht so laut wie ich, was?«
»Du hast noch geschlafen, da wollte ich dich nicht wecken. Aber an sich hab ich den beiden dasselbe gesagt wie du.«
»Was sie einen Scheißdreck interessiert, nehme ich an.«
»So in etwa«, bestätigte sie. »Vater hat ja noch mehr Verständnis, aber Mutter … na ja, du kennst sie.«
Oh ja, er kannte sie. Hart und unnachgiebig. Für Mona gab es nur das Gesetz, Regeln hatten befolgt zu werden, Hinterfragen nicht erlaubt. Als Ärztin lagen ihr Menschen sehr am Herzen, und sie war durchaus auch eine liebevolle Mutter, doch diese Eigenschaft von ihr konnte einen in den Wahnsinn treiben.
»Ob sie’s versteht oder nicht, ist mir egal«, brummte Loris. »Was soll sie schon machen? Will sie mich aus dem Haus werfen? Selbst wenn, ich werde mein Wort halten. Wenn ich sonst schon nichts mehr für Mikail tun kann, das ziehe ich durch.«
Lia nahm seine Hand und drückte sie fest. »Wir beide«, betonte sie.
Er nickte stumm. Ja, sie beide.
Einige Zeit saßen sie schweigend so da, dann griff Lia nach dem Becher mit Tee. »Aber jetzt schau erst mal, dass dein Kopf in Ordnung kommt. Und dann solltest du unbedingt die Zähne putzen und dich gründlich waschen. So nehme ich dich nämlich nicht mit in die Bibliothek.«
Eine Stunde später traten die Geschwister in Levents Reich ein. Der alte Mann empfing sie mit einem warmen Lächeln. »Dachte ich mir doch, dass ich euch schnell wiedersehe. Kommt mal gleich mit.« Er stellte das Buch zurück, das er gerade in Händen gehalten hatte, und winkte ihnen, ihm in einen kleinen Nebenraum zu folgen.
Dort befand sich ein Tisch direkt unter einem Fenster, daneben zwei Stühle und auf dem Tisch mehrere dicke Wälzer.
»Das hier«, Levent tippte auf eines der Bücher, »sind die Reinheitsgesetze. Ich nehme an, ihr braucht jetzt den Teil über Mitwisserschaft. Und die anderen drei Bände stammen aus dem Archiv. Sie enthalten Protokolle von Verhandlungen in den letzten fünfzig Jahren. Ich denke, auf noch ältere Texte können wir verzichten. Allerdings sind die Protokolle zeitlich und nicht thematisch geordnet, es geht auch um viele andere Themen. Ihr müsst also suchen.«
Loris konnte kaum glauben, was er da hörte. »Du hast gewusst, was wir brauchen werden?«
Levent schmunzelte. »Das war nun wirklich nicht schwer zu erraten. Mikail konntet ihr nicht helfen, aber dass ihr nun zumindest alles für seine Familie tun würdet, das war zu erwarten. Lia kenne ich lange genug, und so, wie du in den letzten Tagen für deinen Freund gekämpft hast …« Levent klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. »Das kann ich nur bewundern, mein Junge. Bist ein guter Kerl.«
Der Herr der Bücher schenkte ihnen beiden ein aufmunterndes Lächeln. »Ich wünsche euch viel Glück bei der Suche. Leider warten auf mich noch andere Aufgaben, daher kann ich euch nicht helfen.« Mit einem freundlichen Nicken wandte er sich ab und verließ den Raum.
Lia schnappte sich einen der Stühle und das Gesetzbuch. »Schaust du schon mal die ersten Protokolle durch?«
Loris pflanzte sich neben sie, schlug wahllos einen der verbliebenen drei Bände auf und seufzte. »Oh Mann! So viel zu lesen. Ich hoffe, der Kerl weiß, was ich da für seine Leute auf mich nehme.«
3
Wie viele Knochen besaß ein Mensch gleich noch mal? Irgendwann in der Schule hatte Mikail es mal gelernt, aber natürlich längst wieder vergessen. Jetzt allerdings hätte er nur durchzählen müssen, denn jeder einzelne davon tat ihm weh.
Mühsam streckte er sich ein wenig, darauf bedacht, nicht abzurutschen. Das Seil hätte ihn gehalten, aber angenehm wäre es trotzdem nicht gewesen.
Was für eine Nacht! Diese elenden Hornschweine! Ein paar Hundert Meter war er wider besseres Wissen vor ihnen davongerannt, doch sie hatten einfach zu schnell aufgeholt. Im letzten Moment hatte er den Rucksack fallengelassen, war mit einem kräftigen Satz an dieser Eiche hochgesprungen, hatte den untersten Ast zu packen bekommen und sich hochgezogen. Lanze und Speer lagen irgendwo im Wald, Bogen und Pfeile ebenso, alles hatte ihn nur beim Rennen behindert. Zum Glück hatte er das Seil nicht im Rucksack gehabt, sondern um den Leib geschlungen getragen, sodass er es auf der Flucht nicht verloren hatte. Als die vier Keiler keine Anstalten machten, ihn in Ruhe zu lassen, hatte er sich einen halbwegs bequem erscheinenden Platz im Baum gesucht und sich dort festgebunden, damit er im Schlaf nicht herunterfallen konnte.
Schlaf … nun ja. Sein Glück war gewesen, dass er in der Dunkelheit wenigstens nicht sehen konnte, wie hoch er saß. Doch alleine das Grunzen der Schweine reichte aus, ihm kalte Schauer über den Rücken zu jagen. Stunden hatte er ausgeharrt, bis sie endlich aufgegeben und sich getrollt hatten. Bis dahin hatte ihm bereits alles wehgetan, und Seil hin oder her, die Angst hinabzufallen hielt ihn weiter wach. Erst lange, nachdem Ruhe eingekehrt war, hatte die Erschöpfung gesiegt, und er war in einen unruhigen Halbschlaf gefallen, aus dem er bei jeder kleinen Bewegung wieder aufgeschreckt war. Nun war es vermutlich schon mitten am Vormittag, und er fühlte sich alles andere als ausgeruht.
Aber wenigstens die verdammten Wildschweine waren inzwischen sicher weit weggezogen. Er sah nach unten und ächzte. Ach du Scheiße! Das waren garantiert mehr als fünf Meter, eher sechs oder sieben! Alles drehte sich, ihm wurde schlecht. Die heimatliche Tenne mit ihren knapp drei Metern war wirklich das äußerste der Gefühle. Da traute er sich gerade noch hinauf. Obwohl er den Verdacht hatte, dass ebendiese Tenne für seine Höhenangst verantwortlich war. Von der war Tomasch damals gestürzt, und er hatte ihn aufgefangen. Seinen Bruder fallen zu sehen, hatte ihm wahrscheinlich diese Furcht vor Höhen eingebracht. So eine blödsinnige Angst musste doch einen Auslöser haben, oder?
Wie sollte er hier nun wieder herunterkommen? Er sah sich verzweifelt um. Irgendwie war er an diesen Ästen ja auch heraufgekommen, aber jetzt, von oben betrachtet, sah das alles ganz und gar nicht vertrauenerweckend aus. Ein falscher Griff, und er krachte auf den Waldboden. Da waren Wurzeln, die schauten aus der Erde und warteten nur darauf, dass er sich an ihnen das Genick brach.
Mikail lachte bitter auf. Ein schöner Held war er. Der große Kämpfer, der blutrünstige Monsterwölfe mit bloßen Händen in der Luft zerriss, lief erst vor ein paar Schweinen davon und saß dann bibbernd auf dem Baum, weil er sich nicht mehr heruntertraute. Was für eine traurige Figur er doch abgab.
Eine Weile suhlte er sich in Selbstmitleid, dann fing er sich wieder. Wie also nun herunterkommen? Er konnte das Seil hier oben festbinden und sich daran herablassen. Aber dann verlor er ein wichtiges Teil seiner Ausrüstung. Konnte er womöglich … Er löste vorsichtig die Knoten, klammerte sich tapfer mit einem Arm an einem dicken Ast fest und ließ den Strick durch seine Finger gleiten. Als ein Ende kurz über dem Boden war, stoppte er es und ließ die andere Seite hinabfallen. Hmm … es würde knapp werden. Aber da half alles nichts, eine bessere Lösung fiel ihm nicht ein.
Er machte an einem Ende des Seiles eine Schlinge und legte sie sich ums linke Handgelenk. Dann führte er den Rest um den Ast, auf dem er saß, und ließ ihn herunterbaumeln. Die rechte Hand fasste den Strick nahe am Ast. Immerhin, Mikails Kraft würde mit Sicherheit ausreichen, das war nicht das Problem. Wenn er nur die Hosen nicht so randvoll gehabt hätte!
Millimeterweise ließ er sich von seinem Sitz gleiten. Die Knöchel seiner Finger traten weiß hervor, so fest umklammerte er das Seil. Oh nein! Er rutschte!
Einen spitzen Schrei später baumelte er an dem Strick, die Augen fest geschlossen, die Zähne zusammengebissen. Musste er unbedingt so schaukeln? Das machte doch alles nur noch schlimmer! Vielleicht hätte er sich doch besser mit den Keilern anlegen sollen statt auf diesen verfluchten Baum zu klettern.
»Oh ihr Ahnen, was mach ich hier nur?«, stieß er hervor und zwang sich, wenigstens ein Auge zu öffnen. Nur einen Moment, dann kniff er es schnell wieder zu. Dieses schwankende Geäst war ja nicht zu ertragen!
Aber blind konnte er dann doch nicht hinabklettern. Also wieder ein Auge auf. Er hatte sich ein wenig gedreht und sah nun direkt zum Stamm hin. Ein Eichhörnchen saß da, kopfunter an den Baum gekrallt, und sah ihn neugierig an.
Mikail musste unwillkürlich grinsen. »Na du?«, sagte er zu dem Tier. »Du fragst dich bestimmt, was da für ein komischer Affe an deinem Schlafbaum hängt, was?« Affen, so hießen doch diese seltsamen Viecher, die wie kleine Menschen aussahen, oder? Letztes Jahr hatte jemand von der Karawane aus Sawan so ein Tier dabei gehabt. Der Rat hatte das nicht gerne gesehen, denn Tiere ohne praktischen Nutzen in Gefangenschaft zu halten, nur so zum Spaß, widersprach den Regeln der Ahnen, die man gerade in Or besonders hoch achtete. Aber putzig war das Tierchen schon gewesen.
Das ebenso niedliche Eichhörnchen wackelte unschlüssig mit der Nase, entschied dann wohl, dass es keine Lust auf Konversation hatte, und huschte davon. Mikail seufzte. So ein Klettermaxe müsste man sein und so sicher in luftiger Höhe.
Ach ja. Die Höhe. In der hing er ja immer noch.
Zum Glück hatte das Schaukeln inzwischen merklich nachgelassen. Er drehte sich auch nicht weiter, sodass er den Blick nun starr auf die Rinde der Eiche gerichtet halten konnte, an der er baumelte. Jetzt musste er nur noch das Seil langsam durch die Finger gleiten lassen. Also dann. Griff lockern.
Griff lockern!
Hallo? Hand?
Er blickte seine Finger an, deren Knöchel immer noch weiß hervortraten. Die hatten sich wohl entschieden, ihm nicht mehr zu gehorchen.
Verfluchter Mist! Es musste doch möglich sein, das Seil ein kleines bisschen weniger fest zu halten! Nur so viel, dass er sich selbst langsam herabließ.
Mikail konzentrierte sich. Der kleine Finger ließ etwas lockerer. Das war ein Anfang. Nun der nächste. Und noch einer.
Oh oh! Kaum hatte sich der Hanf auch nur ein paar Millimeter durch seine Handfläche bewegt, hatte er instinktiv wieder zugegriffen. Verdammt noch mal, so konnte das doch nicht weitergehen! Wenn Lia ihn so sähe! Und Loris erst. Die würden sich schlapplachen.