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Weiter geht das Abenteuer der beiden Jungs. Wähnte sich Loris in Kuvunja in Sicherheit, wird er bald eines Besseren belehrt. Auch hier treibt ein Handlanger des Erhabenen sein Unwesen, zieht immer mehr Menschen auf seine Seite, sogar Mitglieder des Stadtrates. Loris, immer noch wegen Mordes gesucht, muss so unauffällig wie möglich bleiben. Zum Glück findet er Arbeit und neue Freunde … doch eine unglückliche Begegnung bringt alles in Gefahr. Mikail, dessen Freunde nach wie vor verschollen sind, wird in die Hauptstadt des Waldlandes gebracht und lernt dort erst einmal die Bedeutung des Wortes "Kerker" kennen. Aber der Herrscher zeigt unverhofft Interesse an ihm – oder, besser gesagt, an Mikails Heimat. Der Tyrann, der sich selbst als die "Stimme Gottes" bezeichnet, kann überaus freundlich sein, solange er bekommt, was er will. Verärgert man ihn jedoch, endet das schnell tödlich.
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Seitenzahl: 325
Veröffentlichungsjahr: 2024
Sascha Raubal
Die Abartigen 7 – Die Stimme Gottes
In dieser Serie bereits erschienen:
Band 1 – Karawane nach Cood
Band 2 – Der Prozess
Band 3 – Die Freien
Band 4 – Kampf um Or
Band 5 – Flüchtlinge
Band 6 – Neuland
Inhaltswarnung:
Diesmal ernsthaft: In diesem Band kommt einiges an Grausamkeit vor, Krieg, tödliche Gewalt auch gegen Kinder und Schwangere, sexualisierte Gewalt. Ich gehe nicht in Details, denn Splatter mag ich nicht, aber man weiß, was geschieht.
Sascha Raubal
DIE ABARTIGEN
BAND 7
Die Stimme Gottes
Fantasy
Die Abartigen 7 – Die Stimme Gottes
1. Auflage 2024
© 2024 Sascha Raubal
ISBN: 978-3-384-14800-1
Covergestaltung und Innenteilillustrationen:
Markus Gerwinski (http://www.markus.gerwinski.de)
Druck und Distribution im Auftrag :
tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany
Bibliografische Information der Deutschen
Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Cover
Halbe Titelseite
Titelblatt
Urheberrechte
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Nachbemerkung
Danke
Der Autor
Es geht weiter!
Die Kurt-Reihe
Leseprobe Band 8
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Kapitel 1
Die Kurt-Reihe
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»Sturm zieht auf.« Haidar blickte nach Norden und strich sich nachdenklich über die Glatze. »Und der könnte heftig werden.«
Sie waren bereits seit vier Tagen unterwegs und sollten laut dem Truppführer übermorgen in Tasik-Hutan ankommen. Die Straße führte beinahe schnurgerade Richtung Süden, was auch hier im Wald einen Blick auf die Wolken ermöglichte, die sich nordwärts auftürmten. Donner grollte in der Ferne.
»Sollen wir ein Lager aufschlagen?«, fragte Lien, eine schlanke Wächterin, die mit ihren zwei Metern den gesamten Trupp überragte. Sie war Lauscherin, hatte also ein ungewöhnlich scharfes Gehör, und hatte Mikail entdeckt, als die Wächter auf der Straße unterwegs gewesen waren, von der er sich so sorgfältig ferngehalten hatte.
Haidar nickte nur, und sofort schwärmte die Hälfte seines zwanzig Mann starken Trupps aus, vermutlich, um einen geeigneten Platz dafür zu suchen.
Mikail trug nach wie vor sogenannte Handschellen, allerdings inzwischen nicht mehr hinter dem Rücken, nachdem er sich zwei Tage lang friedlich und kooperativ gezeigt hatte. Die dicken, kupfernen Ringe um die Handgelenke und die Verbindungsstange zwischen ihnen waren, das hatte er längst eingesehen, zu stabil, um sich ihrer zu entledigen.
Er schaute sich ebenfalls um. »Ist das hier im Wald gefährlich?«
Haidar lachte. »Kann man so sagen. Habt ihr bei euch keinen Wald?«
»Schon, aber ich kenne eigentlich nur den Stadtwald. In dem war ich auch nicht allzu oft. Im Gebirge sind Stürme ziemlich scheußlich, das habe ich erlebt, nachdem sie mich rausgeschmissen hatten.« Er hatte die mit Jekarina und Tabo abgesprochene Geschichte erzählt, dass er nach seinem Rauswurf durch die Berge gezogen, den Flüchtlingen begegnet und dann zum Felssturz gewandert war. Wie abgemacht, hatte er die beiden nicht erwähnt. Nach wie vor war er sich aber nicht sicher, ob Haidar ihm alles abkaufte. Der Mann war intelligent, und auch die Wächter seines Trupps schienen alle nicht dumm zu sein. Ganz im Unterschied zu denen, die Mikail und seine Freunde am Felssturz abgepasst hatten.
»Nun«, erklärte Haidar, »im Wald ist ein Sturm auch kein Spaß. Da können einem schnell mal ganze Bäume auf den Kopf fallen.«
»Was geschieht also jetzt?«
»Wir suchen uns einen Platz, um den herum keine allzu hohen oder schon morschen Bäume stehen, die uns den Schädel einschlagen können. Dann machen wir uns möglichst klein und hoffen das Beste.«
»Kann man sich nicht irgendwie schützen?«
Haidar schüttelte den Kopf. »Nicht in so kurzer Zeit, zumindest nicht vor umstürzenden Bäumen. Merkst du’s? Der Wind frischt schon auf. Unmöglich, so schnell noch ausreichend Stämme zu schlagen, um einen wirklich stabilen Schutz zu bauen. Wir werden höchstens, wenn nötig, ein oder zwei Bäume fällen, die uns nicht mehr gesund genug erscheinen, dem Wind standzuhalten, und uns etwas basteln, das zumindest Äste abfängt. Dann müssen wir auf Gott vertrauen.«
Mikail wurde es mulmig zumute. Er hatte auf seiner Reise mit Connors Clan einen Sturm in den Bergen erlebt, der war schon schlimm gewesen. Das hier klang noch eine ganze Ecke heftiger.
»Kann ich helfen?«
Haidar zog eine Augenbraue hoch. »Helfen? Du bist schon ein komischer Gefangener, weißt du das?«
»Wieso? Der Sturm wird nicht ausgerechnet um mich einen Bogen machen, oder? Es geht also auch um meine Sicherheit. Wenn ich was tun kann ...«
Der Truppführer winkte ab. »Lass mal gut sein. Wir haben Erfahrung in sowas. Solche Stürme gibt es jedes Jahr ein oder zwei. Und weiter im Norden, wenn sie gerade erst die Berge runterkommen, sind sie noch schlimmer.«
Na schön, dann eben nicht.
Lien tauchte aus dem Unterholz auf und wies hinter sich. »Hier lang.«
Sie führte Mikail, Haidar und den Rest des Trupps etwa hundert Meter in den Wald hinein zu einer kleinen Lichtung. Quer über die nur von niedrigem Buschwerk und einigen jungen Bäumen bestandene Fläche lagen die verrottenden Überreste eines einst gigantischen Waldriesen. Als er hier hineingekracht war, musste der Stamm fünf Meter oder mehr an Durchmesser gehabt haben. Er hatte bei seinem Sturz offenbar reichlich andere Bäume mitgerissen, die aber längst vergangen waren, und so diese Lichtung geschaffen.
Einige Wächter waren bereits dabei, drei Stämme zu fällen, die tatsächlich schon auf den ersten Blick nicht mehr gesund wirkten. Andere suchten nach dicken Ästen oder schlugen kleinere Bäume und errichteten eine Art schräges Dach, dessen oberes Ende auf dem Stamm des gefallenen Riesen lag.
»Da werden wir uns druntersetzen«, erklärte Haidar. »Hält keinen ganzen Baum auf, aber zumindest herumfliegende Äste.«
Inzwischen hatte der Wind schon an Kraft zugenommen. Überall um Mikail herum rauschte und knarzte es, Blätter wirbelten durch die Luft. Wenn er nach oben schaute, sah er die Wipfel der höheren Bäume sich schon kräftig biegen. Der Donner war in den wenigen Minuten bereits um einiges lauter geworden, und man sah jetzt auch die Blitze, die ihn erzeugten.
»Wie lange haben wir noch?«, fragte er Haidar. Es war nun schon merklich dunkler, die schwarze Wolkenwand des Sturmes raste unglaublich schnell heran.
»Keine Sorge, wir sind gleich soweit«, antwortete Lien an dessen Stelle. Mikail war in den Tagen, die er als Gefangener des Wächtertrupps unterwegs war, bereits aufgefallen, dass Haidar seine weiblichen Wächter ebenso gut behandelte und ernst nahm wie die Männer. Ungewöhnlich für die Waldleute, bei denen Frauen normalerweise für dumm gehalten wurden und nichts zu sagen hatten. Entsprechend gut arbeiteten hier alle zusammen. Haidar brauchte oft nur einen Wink zu geben, und schon taten alle selbständig ihre Arbeit.
Als die ersten dickeren Zweige durch die Luft sausten, war der Unterstand fertig. Zwanzig Wächter drängten sich im spärlichen Schutz der Konstruktion zusammen. Mikail kauerte in ihrer Mitte, flankiert von einem Mann und einer Frau, von denen er wusste, dass sie ebenso stark waren wie er. Beide hatten Speere und große kupferne Messer, verzichteten aber darauf, ihn direkt damit in Schach zu halten. Schon seit einiger Zeit herrschte zwischen dem Trupp und dem Gefangenen ein recht unverkrampfter Umgang. Er hatte schnell begriffen, dass er gegen diese Gruppe Wächter keine Chance gehabt hätte, und verhielt sich dementsprechend kooperativ. Immerhin wollte er ja – angeblich – in ihre Reihen aufgenommen werden.
»Mach dich auf was gefasst!«, warnte ihn Lien, die vor ihm hockte. Ihr langes, schwarzes Haar flatterte wild. »Der Wind wird noch viel stärker, und jeden Moment muss der Regen einsetzen.«
Sie hatte kaum ausgesprochen, da kam er auch schon, der sogenannte Regen. Mikail hatte eher das Gefühl, jemand schütte eine riesige Badewanne über ihm aus. In weniger als einem Atemzug war er vollkommen durchnässt.
Das Wasser war eisig kalt, große, schwere Tropfen schossen mit Wucht herab, vom Wind durch die Bäume gepeitscht. Mikail kauerte sich so klein zusammen, wie er es vermochte, deckte den Kopf mit den Armen und bibberte vor sich hin. Selbst das Atmen fiel ihm schwer. Obwohl er mitten zwischen den anderen hockte, war der Wind so stark, dass er ihm die Luft aus den Lungen zu saugen schien.
Über ihm tanzten die mit Seilen aneinander festgebundenen Äste und Stämme wie wild im Sturm, versuchten, sich loszureißen. Einige Wächter streckten die Arme nach oben und hielten die Konstruktion fest. Lieber dem Regen noch stärker ausgesetzt, als schutzlos allem ausgeliefert, was nun durch die Luft flog.
Blätter und kleine Zweige schossen durch die Lücken ihres Schutzdaches, Mikail kniff die Augen zusammen, bekam lediglich ein paar Schrammen ab. Aber das war noch der harmlose Teil. Alle paar Augenblicke knallte irgendetwas Größeres auf das Konstrukt, das sonst jemandem den Schädel eingeschlagen hätte. Blitze erhellten den Himmel, rissen die Silhouetten der Bäume aus der Düsternis. Der Donner tat in den Ohren weh.
Mikail fragte sich, wie es Luka, Anna und den Kindern ging. Über ihr Dorf war der Sturm bereits hinweggezogen, und ihre Hütte konnte diesem Wahnsinn doch unmöglich standgehalten haben. Aber irgendwie mussten sie das ja überleben. Haidar hatte gesagt, solche Stürme gebe es jedes Jahr, also hatte man sich offenbar darauf eingerichtet – wie auch immer. Er konnte nur hoffen, dass den guten Menschen, die ihm Obdach gewährt hatten, nichts geschehen war.
Verständigung war nun keine mehr möglich. Ein Mann neben Mikail sagte etwas, schien es eher zu schreien, doch das Brüllen des Sturmes übertönte alles, riss die Worte davon, bevor sie ein Ohr erreichten. Als der Wächter erkannte, dass Mikail ihn nicht hören konnte, deutete er auf seinen Mund. Was? Öffnen? Mikail sah sich um. Ja, alle um ihn herum hatten den Mund ein Stück geöffnet. Er tat es ihnen nach, und der Wächter nickte zufrieden.
Den Mund offen zu halten, kostete ihn Mühe. Ganz von selbst wollten seine Atemwege zumachen, so brutal fegte ihm die Luft durchs Gesicht. Er fragte sich, was das sollte.
Dann plötzlich wurde es gleißend hell. Mikail kniff die Augen zusammen, sah Nachbilder seiner Umgebung. Beinahe sofort folgte ein Donnerschlag, so mörderisch laut, dass er glaubte, taub zu werden.
Zwei, drei Herzschläge später krachte es wieder, doch diesmal war es kein Donner. Etwas war auf dem Schutzdach gelandet, das mit Wucht auf Mikails immer noch über den Kopf gelegte Unterarme prallte. Seine Haut am Rücken wurde aufgerissen, es brannte schrecklich.
Nach wie vor wütete der Sturm mit grausamer Gewalt. Mikail blieb nichts anderes übrig, als sich mit aller Kraft gegen das herabdrückende Dach zu stemmen, ungeachtet der Schmerzen. Ahnen! Wie lange sollte er das durchhalten?
So überraschend der Sturm gekommen war, so schnell zog er weiter. Mikail merkte, wie das Heulen und Brausen nachließ, der Regen verebbte, man sogar schon wieder andere Geräusche hören konnte. Und die klangen nicht gut.
Um ihn herum jammerten Menschen, jemand schrie seinen Schmerz in die Welt. Er öffnete die Augen und sah sich nach seinen Nebenleuten um, den beiden Wächtern mit der großen Kraft. »Los!«, sagte er »Drücken wir das Ding ...« Dann erst erkannte er, dass der Mann neben ihm sich nicht mehr selbständig aufrecht hielt. Ein Ast war von oben durch die Holzkonstruktion eingedrungen und hatte den Wächter am Halsansatz durchbohrt. Er hing schlaff an diesem Haken, die weit offenen Augen starrten ins Leere.
Schockiert wandte Mikail den Blick ab und sich der Frau an seiner anderen Seite zu. Die jedoch lag am Boden, ein großes Loch oben im Schädel und ebenso tot.
Na wunderbar. Deshalb hatte er also das Gefühl, die ganze Last alleine zu tragen: Er tat es!
Als er sich weiter umsah, entdeckte er noch mehr Tote und Verletzte. Das zurückkehrende Tageslicht enthüllte auch den Schuldigen: Ein mehrere Meter langer Baumabschnitt war – offenbar aus großer Höhe – auf den Unterstand der Gruppe gestürzt.
Soweit Mikail wusste, waren die beiden Toten neben ihm nicht die einzigen Wächter mit großer Kraft gewesen. Mindestens einen musste es noch geben, aber wo war der? Ah, da saß er auf dem Boden und hielt sich den sichtlich gebrochenen Arm. Er war also auch keine Hilfe.
Lien vor ihm hatte einige Schrammen abbekommen, war aber anscheinend weitgehend in Ordnung. Sie wandte sich zu ihm um. »Hältst du’s noch?«
Er nickte. »Aber nicht mehr lang!«, quetschte er mühsam hervor.
Lien bellte ein paar Befehle, einige Wächter durchtrennten die Seile, mit denen man das Dach am Stamm des gestürzten Waldriesen fixiert hatte, und alle, die noch dazu in der Lage waren, stemmten sich gegen die Konstruktion. Gemeinsam schafften sie es, die schwere Last langsam nach oben zu drücken. Der Baumstamm kam ins Rutschen. Glühender Schmerz durchfuhr Mikail. Es fühlte sich an, als reiße man ihm ein Stück Fleisch aus dem Rücken. Doch er durfte jetzt nicht nachlassen! Mit einem Aufschrei mobilisierte er all seine Kräfte und wuchtete das Gewirr aus Ästen und Stämmen ruckartig hoch.
Der Stamm rollte hinab, der aufgespießte Wächter zu Mikails Rechter wurde noch kurz hochgezogen, dann löste sich der Ast aus seinem Körper, und er fiel schlaff zu Boden. Lien wich eben noch einem anderen Ast aus, der nun direkt neben ihrem Kopf hereinstach, bevor sie alle in einer gemeinsamen Anstrengung die gesamte Konstruktion senkrecht stellen und von sich werfen konnten.
Mikail brach erschöpft zusammen, rang mühsam nach Atem. Sein Rücken brannte wie Feuer. Um ihn herum jammerten die Verletzten vor sich hin, während der Rest des Trupps in hektische Betriebsamkeit ausbrach, um die Verwundeten zu versorgen.
Als er wieder zu Atem gekommen war, richtete Mikail sich auf und sah sich um. Haidar lag bewusstlos da, umsorgt von zwei seiner Leute. Weitere fünf oder sechs Männer und Frauen wurden von ihren Kameraden gepflegt, teils waren sie ebenfalls nicht bei Bewusstsein, teils jammerten sie vor Schmerz. Mikails Axt lag wenige Meter von ihm entfernt. Der Mann, der sie getragen hatte, bekam eben den gebrochenen Arm geschient. Für einen Moment überlegte er, ob er es wagen sollte. Die Axt schnappen und ab in den Wald. Er wusste, dass Haidar so schnell war wie Tabo, aber momentan war der Truppführer ja nicht ansprechbar. Der Schnüffler der Gruppe war schwer verwundet. Der einzige Wächter, der es mit Mikails Kraft aufnehmen konnte, war der mit dem Armbruch. Die beiden anderen waren ja tot.
Eine gute Gelegenheit, aber da gab es ja noch die Handschellen. Mikail kam nicht an die Splinte heran, mit denen sie gesichert waren. Mit Zeit und Geschick wäre es aber sicher möglich gewesen, wenigstens einen davon herauszubekommen.
Allerdings hätte ihm dann immer noch sein Bogen gefehlt. Den hatte irgendjemand anderes in Verwahrung genommen. Und wahrscheinlich hätte man ihn früher oder später doch wieder aufgegriffen. Dann wäre es mit der Geschichte, er wolle sich den Wächtern anschließen, vorbei gewesen.
Er schüttelte den Kopf, wandte den Blick von der Axt ab und ließ sich vorsichtig auf ein dickes Moospolster zurücksinken, das seinem verletzten Rücken ein wenig Schonung bot. Als er eben die Augen schließen wollte, fing er einen Blick von Lien auf. Mit ernster Miene nickte sie ihm zu. Gute Entscheidung, schien sie ihm sagen zu wollen.
»Reife Leistung.« Haidar klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. »Ohne dich hätten wir mehr Verluste erlitten.« Noch mehr. Als seien drei Tote und fünf ernsthaft Verletzte nicht schon mehr als genug. Mikail und sein Loch im Rücken noch gar nicht mitgezählt. Ein Blitz hatte den Wipfel eines Baumes abgesprengt, und dieser war aus großer Höhe auf die Wächter herabgestürzt.
Mikail, einen kupfernen Becher warmen Tee in der Hand, verzog das Gesicht. »Mir blieb ja wohl nichts anderes übrig, schließlich saß ich mit euch zusammen unter dem verdammten Ding.«
»Es sind immer die extremen Situationen, in denen Menschen über sich hinauswachsen«, erklärte Haidar ernst.
Ach. Spätestens seit der Karawane nach Cood wusste das auch Mikail. Ein halbes Leben schien das nun schon her zu sein. Dabei war noch nicht einmal ein Jahr seit jener verhängnisvollen Nacht vergangen, die zu seiner Verbannung geführt hatte. Und letztlich auch dazu, dass er jetzt hier saß und die Zähne zusammenbeißen musste, während ein Wächter scheußlich brennende Salbe auf das Loch schmierte, das der Ast in seine Haut gerissen hatte. Ein paar Zentimeter weiter vorne, und das Ding hätte ihm ebenso die Halsschlagader zerfetzt wie dem Mann neben ihm.
Mikail hob die Arme, damit der Mann ihm den Verband anlegen konnte.
»Ich hab sämtlichen Dreck rausgeholt, der drin war«, erklärte der dabei. »Die Salbe sollte verhindern, dass sich irgendwas entzündet. Wir wollen dich doch gesund und munter vor den Erhabenen bringen.«
Mikail bedankte sich für die Behandlung und stand von dem Baumstamm auf, auf dem er gesessen hatte.
»Wann willst du denn weiterziehen?«, fragte er Haidar.
»So schnell wie möglich. Ein paar meiner Leute brauchen dringend Kräuterkundige, die sie ordentlich versorgen. Auf dem Weg liegt kein einziges Dorf mehr, wir müssen uns also beeilen.« Dafür, dass Haidar selbst einen kräftigen Schlag auf den Kopf bekommen hatte, war er verdammt flott wieder voll da.
»Das wird mit den Verletzten aber nicht einfach.«
»Ich weiß.« Haidar blickte grimmig zu denjenigen seiner Wächter hinüber, die es erwischt hatte. Knochenbrüche zumeist.
»Pferde wären hilfreich«, merkte Mikail an.
»Wären sie, haben wir aber nicht«, knurrte der Truppführer. »Nur Gardisten bekommen Pferde, einfache Wächter wie wir dürfen laufen.«
»Komische Regel.«
Haidar seufzte. »Es ist nicht an uns, die Entscheidungen des Erhabenen zu beurteilen.« Sein Tonfall verriet, dass er das durchaus tat, und sein Urteil fiel unüberhörbar negativ aus.
»Ich könnte einen oder zwei tragen. Hilft das was?«
Haidar sah ihn verwundert an. »Du meinst das ernst, oder?«
»Natürlich. Ich will doch aufgenommen werden.«
Der Truppführer schüttelte den Kopf. »Du bist schon ein komischer Vogel. Lien hat mir erzählt, dass du nicht einmal die Gelegenheit zur Flucht genutzt hast. Nicht, dass du weit gekommen wärst, es ist aber trotzdem bemerkenswert. Aber dass das klar ist: Wir müssen dich so oder so in den Kerker sperren, wenn wir die Hauptstadt erreichen.«
Mikail zuckte die Schultern. »Dann ist das so.« Und was, bei den Ahnen, war ein Kerker? Er würde es herausfinden.
Zwei Tage später erreichten sie Tasik-Hutan. Die Stadt lag an einem See und war, anders als die Städte in Mikails Heimat, nicht von Mauern umgeben. Sie lag offen da, bestand hauptsächlich aus ebenerdigen Holz- und Lehmziegelbauten, zwischen denen ein riesiges, steinernes Bauwerk hervorragte. Lien nannte es den Großen Tempel, Haidar den Palast des Erhabenen. An dessen Seiten allerdings begannen hohe Mauern, höher noch als die von Or, auf denen Bewaffnete standen. Die Brüstung hatte seltsame, mannshohe Zacken. Mikail fragte sich, wozu man in einem Land, das keine große Dürre kannte, solch ein Bollwerk brauchte.
Der Wächtertrupp marschierte direkt auf dieses gewaltige Gebäude zu. Mikail trug auf jedem Arm einen Verwundeten, der andere Wächter, der ebenfalls außergewöhnlich stark war, transportierte eine Frau. Sein gebrochener Arm war mit einer Schlinge ruhiggestellt.
Fünf Männer nahmen die Gruppe in Empfang, alle mit eisernen Waffen ausgestattet. Das waren dann wohl Gardisten. Ihre Kleidung sah auch prächtiger aus als die von Haidars Wächtern.
Der Truppführer erstattete Bericht, und schnell kamen einige Leute angelaufen, die die Verwundeten wegschafften. Dann wandte sich einer der Gardisten an Mikail. »Du bist also aus dem Land der Gottlosen?«
Er nickte nur. Schon wurde er am Arm gepackt. »Dann komm mal mit.«
Haidar und Lien blickten ihm mit wenig aufmunternden Mienen hinterher, als man ihn abführte, und tatsächlich fand er sich kurz darauf in einem winzigen, fensterlosen Raum wieder, den eine Tür aus dicken Holzbohlen sicher verschloss. Das war dann wohl dieser Kerker, von dem Haidar gesprochen hatte. Der Raum lag unterirdisch, war durch einen langen, kaum zwei Meter breiten Gang zu erreichen und roch alles andere als angenehm.
Eine ganze Weile, vermutlich Stunden, passierte gar nichts. Dann hörte Mikail Stimmen. Jemand kam, der Riegel der Tür wurde zurückgeschoben, und eine Fackel leuchtete herein und blendete ihn.
»Das ist er«, sagte jemand.
Als Mikails Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, erkannte er einen Mann von etwa dreißig, fünfunddreißig Jahren in einer Art Kleid, der ihn von oben bis unten musterte. Flankiert wurde er von zwei großen, muskelbepackten Gardisten, die lange, gerade Messer aus Stahl in den Händen hielten. Seltsam geformt waren die, zweischneidig und symmetrisch.
»Du bist also der Gesegnete aus dem Land der Gottlosen, der eines meiner Gendos getötet hat«, stellte der Fremde fest. Wenn er sprach, blitzte es in seinem Mund golden auf.
Mikail sah ihn nur stumm an und fragte sich im Stillen, warum eigentlich alle immer nur von dem Gendo redeten. Immerhin war ja auch der Reiter des Tieres zu Tode gekommen.
»Haidar hat mir berichtet, wie er dich aufgegriffen hat und was seitdem geschehen ist«, fuhr der Mann fort. »Ich hatte Befehl gegeben, alle Eindringlinge aus deinem Land festzusetzen und in den Kerker zu schaffen, statt sie gleich zu töten.« Er sah Mikail nachdenklich an. »Möglicherweise habe ich einen Fehler gemacht. Aber der lässt sich ja korrigieren.«
2
»Björn!«
»Was?« Loris verdrehte die Augen. Gert war eine Nervensäge.
»Wo bleibt das Gemüse?«
»Mehr als arbeiten kann ich nicht.«
»Dann arbeite schneller!«
»Leck mich doch!« Das kam natürlich nur ganz leise heraus. Loris konnte es sich nicht leisten, den Wirt zu verärgern, bei dem er untergekommen war. Die Geschichte, die er ihm aufgetischt hatte, war sehr simpel gewesen. Angeblich war Loris alias Björn auf einer langen Reise, um sich nacheinander alle Städte einmal anzusehen, und da er von Haus aus wenig Geld hatte, arbeitete er eben in jeder Stadt, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Loris hatte schon mal davon gehört, dass manche Leute so ihre Reisen finanzierten, und es war das Erstbeste, das ihm eingefallen war. Gert hatte freudig zugeschlagen. Loris bekam ein sogenanntes Zimmer, aus dem man wahrscheinlich vorher eine Familie unschuldiger Strohbesen hinausgeworfen hatte, und drei Mahlzeiten am Tag, außerdem ein paar Münzen. Dafür hatte er in der Küche zu helfen. Der Hinweis, dass er passabel kochen konnte, reichte Gert. Kein Wunder, musste Loris doch lediglich niedere Arbeiten übernehmen: Gemüse putzen und schnippeln, Geschirr spülen, die Küche wischen und so weiter. Kochen durfte er nicht. Schließlich schuldete Gert seinen Kunden einen gewissen Standard. Nun ja, die wären um eine etwas bessere Küche sicher nicht böse gewesen ...
Loris seufzte, schnitt die letzten paar Möhren in die Schüssel und erhob sich, um alles nach drinnen zu tragen. Da es auch hier im Hof einen Wasseranschluss gab, setzte er sich zum Waschen des Grünzeugs gerne draußen in den Schatten.
»Komme schon!«, rief er und betrat die Küche, in der Gert am Herd stand und in einem großen Topf rührte. So, wie es roch, hatte er mal wieder das Fleisch anbrennen lassen.
»Hopp hopp, her mit dem Zeug!«, kommandierte Gert. »Der Eintopf muss fertig werden. In der Gaststube sitzen schon hungrige Gäste.«
Hungrig musste man auch sein, um das zähe, halb verbrannte Fleisch herunterzuwürgen, das zwischen dem halbgaren Gemüse in einer kaum gewürzten, wässrigen Suppe schwamm. Aber dafür verlangte Gert auch relativ wenig, wie auch für die Zimmer, die leidlich sauber, aber alles andere als komfortabel waren. In Or wäre er in kürzester Zeit pleite gegangen, aber hier gab es offenbar genug Leute aus anderen Städten, die sich den großen Wasserfall einmal ansehen wollten, um damit durchzukommen.
Loris stellte die hölzerne Schüssel neben dem Wirt ab. »Schneller ging nicht.«
»Ja ja«, brummelte der nur, was so viel heißen sollte wie: »Du bist nur ein fauler Sack, ich hätte das in der Hälfte der Zeit geschafft.«
Loris war’s egal. Er erledigte seine Aufgaben und sah sich derweil nach einer besseren Möglichkeit um, an Geld zu kommen. Etwas, das mit weniger körperlicher Arbeit verbunden war.
»Bring mal drei Becher Wein an Tisch zwei!«, befahl Gert.
Wein. Nun ja, man konnte es so nennen. Loris goss das rote Zeug aus einem Krug, der schon seit dem Morgen herumstand, und trug die Becher in die Gaststube hinaus. An Tisch zwei saßen eine Frau und zwei Männer, steckten die Köpfe zusammen und diskutierten anscheinend aufgeregt.
»Was bringt es, wenn sie sich besser benehmen?«, fragte einer der drei. »Damit wirken sie nur harmloser, verbreiten aber immer noch denselben, gefährlichen Mist und gewinnen zusehends Einfluss.«
Die Frau nickte dazu. »Kannst du laut sagen. Ratsfrau Adalis scheint ihnen inzwischen auch schon auf den Leim gegangen zu sein. Dabei hatte ich sie immer für intelligent gehalten.«
Als die drei Loris bemerkten, unterbrachen sie ihre Unterhaltung und schauten betont unschuldig drein.
Loris stellte vor jeden einen Becher. »Euer Wein. Wohl bekomm’s.«
Die drei nickten freundlich, von der Frau kam sogar ein sehr sympathisches Lächeln und ein leises »Danke.«
Loris überlegte einen Moment, dann traute er sich. »Entschuldigt, wenn ich euch kurz störe, aber vielleicht könnt ihr mir weiterhelfen?«
»Kommt drauf an, wobei«, erklärte der kleinere der beiden Männer und strich sein halblanges, lockiges Haar aus dem Gesicht.
»Mich würde brennend interessieren, wer diese Uhr an eurem Turm gebaut hat.«
Der bis eben noch reservierte Gesichtsausdruck des Lockenkopfes wich einem stolzen. »Ich.«
»Ehrlich? Na, so ein Glück!« Loris freute sich tatsächlich sehr. »Darf ich fragen, wie das funktioniert?«
»Oh je«, kommentierte die Frau grinsend die Frage. »Damit ist klar, wer uns die nächsten Stunden zutexten wird.«
Sie erntete nur einen giftigen Blick ihres Tischnachbarn, der sich sofort wieder Loris zuwandte. »Natürlich, gerne. Allerdings ist das ziemlich kompliziert. Ich weiß nicht, ob du alles verstehen wirst.«
»Unser Oberschlauer mal wieder«, erklärte der zweite Mann. »Damir, halte doch nicht immer alle für dumm!«
»Wieso? Hast du’s denn kapiert?«
»Halbwegs«, lautete die beleidigte Antwort.
Loris wollte sich eben zu den Gästen setzen, da rief Gert aus der Küche. »Björn! Was dauert da so lange? Ich hab Arbeit für dich.«
Prächtig. Musste der Kerl ihm das jetzt versauen? Loris hätte so gerne erfahren, wie man eine Uhr baute, deren Zeiger im Kreis liefen und selbst bei Dunkelheit noch die Zeit anzeigten – wenn man sie anleuchtete. Ein enormer Fortschritt gegenüber der sonst üblichen Sonnenuhr. Außerdem zeigten tatsächlich gleich vier dieser Uhren in alle vier Himmelsrichtungen, während eine Sonnenuhr naturgemäß nach Süden ausgerichtet sein musste.
»Verdammt!«, schimpfte er leise. »Tut mir leid, ich muss wohl wieder los. Darf ich vielleicht nach der Arbeit bei dir vorbeischauen, und dann erklärst du’s mir? So gegen zehn, wenn dir das nicht zu spät ist?«
Damir nickte wohlwollend. »Sicher, gerne. Ich beschreibe dir den Weg.«
Zum Glück hatte Loris mit Gert ausgehandelt, dass er das Geschirr vom Abend immer erst am nächsten Morgen spülen musste, und so konnte er sich tatsächlich schon kurz nach neun davonstehlen und den Rest der Gäste Gerts Gefährtin überlassen. Sie war, im Gegensatz zu ihm, sehr liebenswürdig und entließ ihn mit einem gutmütigen Zwinkern.
Damirs Beschreibung war hervorragend, Loris fand die Werkstatt problemlos. Auf sein Klopfen hin erscholl von drinnen ein »Immer rein!«, und er folgte neugierig der Einladung.
Im Haus empfing ihn ein seltsames, klackendes Geräusch. Klick - klack - klick - klack, sehr gleichmäßig.
Damir saß an einem großen Tisch, auf dem alle möglichen Gerätschaften und Bauteile verstreut lagen, und feilte an irgendeinem Stück Metall herum. In der Ecke stand ein hoher Kasten, an dessen oberem Ende sich eine Uhr ganz ähnlich der befand, die auch an Kuvunjas Uhrenturm prangte. Von diesem Kasten kam das Klacken.
»Ah, der neugierige junge Mann aus dem Gasthaus«, begrüßte Damir ihn. »Schön, dass du zu mir gefunden hast. Setz dich!«
Loris sah sich nach einem Stuhl um. »Wo?«
»Ach. Ja.« Damir legte Werkstück und Feile ab und erhob sich. »Moment.«
Er beugte sich vor, langte zu seiner Linken unter den Tisch und zog an irgendetwas. Es schepperte, als alle möglichen Sachen auf den Boden fielen, dann hob Damir einen dreibeinigen Hocker hoch, schwenkte ihn über die Tischplatte und stellte ihn Loris hin. »Bitteschön.«
»Danke sehr.« Loris nahm Platz und unterdrückte ein Schmunzeln. Der Kerl schien ein bisschen eigenartig zu sein.
»Wie heißt du denn, mein Guter?«
»Björn.«
»Damir.«
»Ich weiß.«
»Ah. Gut. Und du bist nicht aus Kuvunja?«
»Nein, aus Cood.«
»Ah.«
Eine geradezu erquickende Unterhaltung.
»Also, du möchtest wissen, wie meine Pendeluhren funktionieren, ja?«
»Pendel?«
»Ja, Pendel. Weißt du, was das ist?«
Zwei Stunden später wusste Loris es. Und noch weit mehr. Ihm schwirrte der Kopf von all den raffinierten Konstruktionen, die Damir ihm erklärt und anhand der Standuhr in seinem Haus gezeigt hatte.
»Ich bin platt«, ächzte er irgendwann und stützte den Kopf in die Hände. »Wie kommst du nur auf all diese Dinge?«
Damir zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ich denke halt gründlich nach und probiere alles aus. Ach ... und ich hatte die Überreste einer Uhr, die noch die Ahnen mit auf diese Welt gebracht hatten. Viel war es nicht, aber ich konnte doch einiges daraus ableiten.«
Dagegen kam Loris sich mit seinen paar Ideen geradezu lächerlich vor.
»Aber bist du nicht auf deiner Reise durch Or gekommen?«, fragte Damir.
»Äh ... ja, wieso?«
»Da gibt es auch einen sehr schlauen Kopf. Hat in der letzten Dürre die ganze Stadt mit einigen tollen Einfällen gerettet, heißt es, und man sagt, neuerdings führen sogar Karawanen eine seiner Erfindungen mit, mit der sie sich vor den neuen Riesenechsen schützen. Nicht schlecht, der Mann.«
Loris musste an sich halten, nicht geschmeichelt zu lächeln. Er durfte ja auf gar keinen Fall einen Hinweis auf seine wahre Identität geben.
»Ach ja, davon hab ich gehört. Die Karawane, mit der ich von Or nach Sawan gekommen bin, hatte ein paar dieser neuartigen Speerschleudern dabei.«
»Hätte ich mir zu gerne mal angesehen, die Dinger. Aber bis hierher fahren sie ja nicht.«
»Dann reise doch selbst mal nach Or und schau dir alles vor Ort an!«
Damir sah ihn beinahe entsetzt an. »Reisen? Ich? Nein. Auf keinen Fall. Ich bleibe schön hier, in meiner kleinen Werkstatt, wo ich mich sicher fühle. Da raus in die Wildnis kriegen mich keine zehn Pferde. Ganz blöde Idee.«
»War nur ein Vorschlag.«
»Ja, schon klar. Aber ...« Damir sah ihn schief an. »Wo wir gerade bei dummen Ideen sind: Wer hat dir denn diese grässliche Haarfarbe verpasst? Die ist doch nicht natürlich.«
Oh je. Ganz schlechtes Thema. Loris sah wirklich lächerlich aus mit diesem seltsamen, schmutzigen und auch noch ungleichmäßigen Orange. Eine Tarnung hätte es werden sollen, helle statt schwarzer Haare, stattdessen machte ihn diese grausige Farbe nun erst recht auffällig.
»Ach das ...« Er schaute gequält drein. »Da hab ich nicht nur eine Wette verloren, sondern mich auch noch aufs Kreuz legen lassen.«
»Erzähl!«
»Also, na ja, auf der Karawane aus Or hab ich mit ein paar Jungs gewettet. Ging um eine Frau. Die Wette hab ich verloren. Und mein Einsatz war, mir die Haare zu bleichen und bis zu meiner Rückkehr – auf dem Heimweg komme ich ja wieder durch Or – blond rumzulaufen. Tja nun. Was mich hätte blond machen sollen, hat stattdessen ... das hier angerichtet.« Dabei zupfte er missmutig an seinen kurzgeschnittenen Haaren.
»Das Mittel haben sie dir gegeben?«
»Mhm.«
Damir lachte laut auf. »Na, da hast du dich aber schön reinlegen lassen.«
»Ich weiß«, gab Loris zerknirscht zurück.
»Weißt du denn, was drin war?«
»Honig, Alaun und Schwefel. Haben sie zumindest behauptet. Und dann den Kopf ein paar Stunden schön in die Sonne strecken, haben sie gesagt.«
»Gemeines Volk!« Damir lachte erneut. »Und jetzt? Rauswachsen lassen?«
»Ich hatte eher gehofft, es tatsächlich noch richtig blond hinzubekommen. Dann werden sie dumm schauen, wenn ich wieder durch Or komme.«
Damir nickte. »Auch ’ne Idee. Meine Schwester kennt sich mit solchen Sachen aus. Ich frag sie mal, was sie dazu sagt.«
»Oh, das wäre toll!« Womöglich käme Loris so doch noch zu seinem unauffälligen Blond.
Damir goss ihnen beiden aus einer Kanne kalten Tee ein, den sie schon den ganzen Abend tranken. Loris war froh, dass man ihn nicht zu Alkoholischem nötigte, zu groß wäre die Gefahr gewesen, in beschwipstem Zustand etwas auszuplaudern, das ihn als gesuchten Mörder auffliegen ließ. Noch schien man in Or ja zu glauben, er habe tatsächlich drei Menschen umgebracht.
»Sag mal ...« setzte er zögerlich an. »Meinst du, du könntest mir noch bei was anderem helfen?«
»Kommt drauf an, was.«
»Ich suche eine bessere Arbeit. Gert lässt mich in einer etwas zu groß geratenen Besenkammer wohnen, gibt mir was von seinem nur bedingt delikaten Essen und noch ganz wenig Geld, aber dafür darf ich jede Drecksarbeit machen. Gestern sollte ich sogar das Scheißhaus putzen. Und das sah schrecklich aus.«
Damir kicherte. »Oh ja, kenne ich. Das Scheißhaus. Da wollte ich einmal draufgehen. Als ich die Tür aufmachte, machte mein Arsch zu. Auf sowas setze ich mich nicht. Und das Essen ... tja ... man überlebt’s, mehr kann man dazu nicht sagen.«
»Und warum wart ihr dann heute dort?«
Damir zögerte einen Moment, dann senkte er die Stimme. »Weil man da meistens ungestört ist. Wenige Gäste, fast alles Auswärtige. Da kann man in Ruhe reden.«
Das klang geheimnisvoll. »Darf wohl nicht jeder hören, was ihr besprecht?«
Damir überlegte sichtlich, wie viel er preisgeben wollte.
»Hast du schon den Kerl mit der Kapuze gesehen«, fragte er schließlich, »der auf dem Ladeplatz seine Reden schwingt?«
»Der sich Lehrer schimpft und nur Unsinn verbreitet?«
Sein Gastgeber entspannte sich ein wenig. »Du hältst also nicht viel von ihm?«
»Gar nichts«, gab Loris unumwunden zu. »In Or war auch so einer, und der hat nur Streit und Ärger gebracht. Der hier bei euch wird auch nicht viel besser sein, oder?«
»Ganz sicher nicht.« Nun wirkte Damir wirklich beruhigt. »Aber das darf man kaum noch laut sagen. Er hat bereits weit über hundert Leute mit seinen seltsamen Geschichten eingefangen, und die haben überall ihre Ohren. Noch dazu ist inzwischen eine Mehrheit im Rat auf seiner Seite. Es sollen schon einige Leute mächtigen Ärger bekommen haben, die ihn allzu lautstark kritisiert haben.«
Loris nickte. »Klingt ganz nach dem, was ich in Or gehört habe. Da geht das Gerücht um, dass sie auch vor Mord nicht zurückschrecken.« Immerhin, er hatte selbst gehört, dass einige Sandor verdächtigten, in Donalds Tod verwickelt zu sein. Wie sehr das der Wahrheit entsprach, wusste aber wahrscheinlich außer Sandor selbst nur Loris ... und der Mann, der das Messer geführt hatte. Möglicherweise Itai, der nun ebenfalls tot war.
»Oha!« Damir sah alarmiert aus. »Das ist allerdings noch eine Ecke heftiger. Bei uns haben sie bis vor einem Monat ziemlich Ärger gemacht, einen Sänger niedergebrüllt, immer wieder das Badehaus gestürmt und alle Gäste vergrault und so weiter. Dann hat mal jemand von außerhalb etwas durchgegriffen, und seitdem hat es zumindest damit ein Ende. Wissen die Ahnen, wie er das geschafft hat. Dunja war dabei, aber so richtig erklären kann sie’s sich auch nicht. Doch hinter den Kulissen werden Leute eingeschüchtert, Kritiker mundtot gemacht und so weiter. Und das eben mit Unterstützung des Rates, seit sie dort fünf Mitglieder für ihren Unsinn gewonnen haben.«
»Na prächtig«, ächzte Loris. »Das klingt danach, als wenn es hier bald ziemlich ungemütlich werden könnte.«
»Das ist es schon. Und genau darüber haben Dunja, Liping und ich uns heute Mittag unterhalten. Wie gesagt, Leute aus der Stadt essen normalerweise nicht bei Gert, und erst recht keine Ratsmitglieder. Da hat man noch am ehesten die Chance, unbelauscht zu sprechen.«
Stumm schüttelte Loris den Kopf. Wenn Sandor in Or genauso erfolgreich war wie der hiesige Lehrer, dann sah er schwarz für seine Zukunft und die seiner Heimat. Sollte sein Kind in einer Stadt aufwachsen, die vom Wahnsinn regiert wurde? Bitte nicht!
»Aber zurück zu deiner Frage«, unterbrach Damir seine düsteren Gedanken. »Du suchst also Arbeit, damit du dir eine bessere Unterkunft leisten kannst.«
Loris grinste. »Also, um ganz offen zu sein suche ich vor allem eine Unterkunft und was zu Essen. Dafür zu arbeiten, nun ja, da werde ich wohl nicht drumrumkommen.«
Nun lachte Damir. »Erfrischend ehrlich. Was kannst du denn?«