Die Freien - Sascha Raubal - E-Book

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Sascha Raubal

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Beschreibung

Wie die Jungfrau zum Kind ist Loris zum Amt des Dürrekommandanten gekommen und findet sich somit auch gleich in der Welt der Politik wieder. Seine Aufgabe, Or gegen die anstehende Dürre zu wappnen, wird ihm alles andere als leicht gemacht. Mikail findet derweil die Menschen, die entgegen allem, was man in den Städten lehrt, sehr gut in der Wildnis überleben. Den kleinen Garik nehmen diese auch gerne bei sich auf, doch was Mikail angeht … stellen sich ihre Gesetze als ebenso starr heraus wie die der Städter.

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Seitenzahl: 308

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Sascha Raubal

Die Abartigen 3 – Die Freien

In dieser Serie bereits erschienen:

Band 1 – Karawane nach Cood

Band 2 – Der Prozess

Inhaltswarnung:

Menschen, die sich mit Biologie und speziell Genetik auskennen, könnten während der Lektüre an aufgerollten Zehennägeln leiden. Sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt!

Sascha Raubal

DIE ABARTIGEN

BAND 3

DIE FREIEN

Fantasy

Die Abartigen 2 – Die Freien

2. leicht überarbeitete und korrigierte Auflage 2025

© 2025 Sascha Raubal

ISBN: 978-3-384-50045-8

Covergestaltung und Innenteilillustrationen:

Markus Gerwinski (http://www.markus.gerwinski.de)

Druck und Distribution im Auftrag :

tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

Bibliografische Information der Deutschen

Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Danke

Der Autor

Kampf um Or

Leseprobe Band 4

1

Es war heiß und stickig in dem Besprechungsraum, doch Loris glaubte zu frieren. Seit er sich mit den anderen hier befand, schlug ihm Eiseskälte entgegen, bestenfalls Gleichgültigkeit. Man gab ihm Auskunft, wenn er fragte, ansonsten hüllten sich die Anwesenden in Schweigen. Am liebsten hätte er alles hingeschmissen und sich wieder zu Mitena verzogen.

»Also gut.« Ächzend wischte er sich zum wohl hundertsten Male den Schweiß von der Stirn. »Ich verstehe das so, dass die Aufgabe des Dürrekommandanten darin besteht, Arbeitsgruppen zusammenzustellen, die einfach nur das tun, was schon seit Jahrzehnten bei jeder Dürre immer nach denselben Plänen abläuft.«

Jurdagil nickte, Schmuel ließ ein knappes »Genau« verlauten.

Na ganz toll. Das konnte jeder Depp. Für diese ach so große Ehre hatten seine Mutter und der Rat zugelassen, dass er als käuflich dastand. Man hatte ihn zum Dürrekommandanten gemacht, sofort nachdem er bei der Verhandlung gegen Mikails Familie eingeknickt war. Die ganze Stadt glaubte, er habe bewusst einer höheren Strafe zugestimmt, nur, um diesen angeblich so verantwortungsvollen Posten zu bekommen. Und nun stellte sich das alles als so banal heraus. Wie sollte er sich denn da beweisen, wenn er nur das abspulte, was seit Generationen immer gleich lief? So würde er seinen Ruf ganz bestimmt nicht wiederherstellen.

Drei Stunden hatte ihn nun der Dürrerat, eine Handvoll Leute, die bei der letzten Dürre die Aufsicht über verschiedene Bereiche gehabt hatten, über seine Aufgaben als Dürrekommandant informiert, ihm die Verfahrenspläne erläutert, nach denen die jeweiligen Gruppen vorgingen. Das alles kühl, distanziert, unfreundlich. Eigentlich hatte er ihnen jede einzelne Information aus der Nase ziehen müssen. Selbst Leute, die er nicht einmal kannte, behandelten ihn genau so, wie er es befürchtet hatte: als Verräter. Und er konnte es ihnen nicht verdenken.

»Na schön.« Er schob die Papiere zu einem Stapel zusammen. »Das ist hier ja alles Punkt für Punkt aufgeschrieben. Ich denke, das kann ich auch in Ruhe alleine durchgehen. Dann machen wir für heute Schluss und treffen uns morgen früh um neun wieder hier. Einverstanden?«

Allgemeines stummes Nicken. Die fünf verließen den Raum. In der Tür drehte sich Jurdagil nochmal um. »Das war’s nicht wert, was?«

Er sah sie traurig an. »Ich wusste nicht mal, dass sie mir das Amt geben wollten.«

»Na sicher.« Damit wandte sie sich ab und schloss die Tür hinter sich. Natürlich glaubte sie ihm nicht. Wer tat das schon – außer Mitena?

»Sie hassen mich«, stieß er wütend hervor, kaum, dass er Mitenas Haus betrat. Den Stapel Papiere knallte er auf den Küchentisch, holte einen Becher aus dem Regal und klappte die Falltür zum Vorratskeller auf. Blind griff er nach einer der Weinflaschen. Woraus das Zeug gemacht war, konnte ihm wurst sein.

Mitena verfolgte sein Tun mit besorgter Miene, enthielt sich aber jeglichen Kommentars. Wahrscheinlich passte ihr nicht, dass er um gerade mal ein Uhr mittags schon trank. Na und?

»Und noch dazu ist das Amt ein Witz«, fuhr er zornig fort, während er den Becher füllte. »Das kann jeder, der nicht vollkommen verblödet ist.«

Er wies auf die Pläne. »Hier steht haarklein, welche Arbeitsgruppen zu bilden sind, was deren Aufgaben sind und wie vorzugehen ist. Das machen sie schon seit Generationen so. Das ganze Tamtam, das um dieses Amt gemacht wird, ist fürn Arsch. Mutter und der Rat glauben, sie hätten mir einen Gefallen getan, mich mit Ehre überschüttet, indem sie mich zum jüngsten Dürrekommandanten der Geschichte machen. Dafür stehe ich als käuflich da. Und das alles für einen Haufen Routine.«

Der Inhalt des Bechers landete in einem Rutsch in seiner Kehle und wurde sofort wieder ersetzt. »Ich könnte kotzen, ehrlich. Du dachtest, ich kann auf dem Posten allen zeigen, was ich draufhab? Da muss man nichts draufhaben. So kann ich meine Ehre auf keinen Fall wiederherstellen.«

Er kippte auch die zweite Ladung Wein hinab und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Und die Leute, mit denen ich zusammenarbeiten soll, zeigen mir ganz offen, was sie von mir halten. Dass sie mir nicht in die Fresse spucken, ist schon alles. Kann ich ihnen ja auch nicht verdenken.« Er stützte die Ellenbogen auf den Tisch und barg das Gesicht in den Händen. »Jurdagil hat mir auf den Kopf zugesagt, was sie über mich denkt.«

Leise trat Mitena neben ihn, legte ihm den Arm um die Schultern und drückte ihn. Eine ganze Weile hielt sie ihn so, schweigend, tröstend.

»Was hat sie gesagt?«, fragte sie schließlich.

Er brauchte einen Moment, bis er sich zu einer Antwort aufraffen konnte. »Ach … am Ende hab ich recht deutlich gemacht, was ich von der Sache halte. Also, dass es nicht viel braucht, um den Dürrekommandanten zu spielen. Da meinte sie, das war’s wohl nicht wert. Ich hab ihr gesagt, dass ich nicht mal davon wusste, dass die mich auf den Posten setzen wollte. Sie hat mir kein Wort geglaubt.«

»Und die anderen?«

»Können mich auch nicht leiden.«

»Alles Leute, die dir das mit der Verhandlung vorwerfen?«

»Was sonst?«

Mitena ließ ihn los, setzte sich ihm gegenüber und sah ihn aufmerksam an. »Das vermutest du. Gut, bei Jurdagil glaube ich auch, dass es das ist. Aber wer sind die anderen denn eigentlich? Und was sind überhaupt deren Aufgaben?«

Loris dachte einen Moment nach.

»Also, da ist zum einen Imani. Sie ist für die Nahrungsmittelversorgung zuständig. Lagerhaltung, Verteilung und so weiter.«

»Weißt du, wie sie zum Prozess steht?«

»Keine Ahnung. Aber sie mag mich ganz offenbar überhaupt nicht.«

»Die Leute waren alle schon in der letzten Dürre dabei? Also, hatten sie da dieselben Aufgaben?«

»Ja, natürlich. Sie sollen mich ja einweisen.«

»Dann wäre es auch möglich, dass sie dir einfach nicht so viel zutrauen wie Taio. Oder, dass sie Taio ganz besonders mochten und sich nicht damit abfinden können, dass er nicht mehr da ist.«

»Als wenn ich da was dafür könnte! Dann sollen sie sich gefälligst bei den Wölfen beschweren und nicht mich deswegen anranzen.« Immerhin hatten diese verfluchten, unglaublich großen, starken und schwer zu tötenden Bestien den Mann, der in den letzten Dürren das Amt bekleidet hatte und eigentlich auch für dieses Jahr vorgesehen war, draußen in der Steppe zerfetzt.

»Mir wäre es auch lieber gewesen, er hätte seine Karawane selbst nach Hause gebracht. Hab mich wirklich nicht drum gerissen, das zu übernehmen.«

Nun ja, er hatte nach Taios Tod die Führung der Karawane übernommen, aber alle anderen waren nur geschockt und kopflos gewesen, was hätte er tun sollen?

Wütend schlug er mit der Faust auf den Tisch. »Ich hab einiges an Scheiße gebaut, ja. Hätte ich den verdammten Mistviechern nur ein paar Eimer Wasser hingestellt, wäre der Angriff auf die Wagen nie passiert. Mikail hätte seine Kraft nicht zeigen müssen, um uns zu retten, er wäre nicht als Abartiger verbannt worden, und seine Familie hätte nicht fast die Hälfte ihres Besitzes verloren.«

Darum allerdings hatte er sich gerissen: Mikails Familie zu verteidigen, weil sie dessen Abartigkeit so lange verschwiegen hatte. Und er war grandios gescheitert, hatte sich von seiner eigenen Mutter, die die Anklage geführt hatte, aufs Kreuz legen und erpressen lassen. Und stand nun auch noch als käuflich da.

Verzweifelt raufte er sich die Haare. »Ja, ich hab einigen Mist gebaut. Und dafür büße ich jetzt mit der großartigen Ehre, die Stadt durch die Dürre führen zu dürfen. Dabei machen wir hier genau denselben Fehler wie ich da draußen. Wir schneiden die Tiere vom Wasser ab und wundern uns, wenn sie vor Durst wahnsinnig werden und die Stadt angreifen.« Er verzog trotzig das Gesicht. »Aber bei den Ahnen, Taios Tod geht nun wirklich nicht auf meine Kappe! Das können mir diese Heinis vom Dürrerat nicht vorwerfen.«

»Das wissen sie, aber trotzdem sind sie vielleicht einfach enttäuscht. Und du bist noch jünger als Taio damals bei seinem ersten Kommando. Ist es da nicht nachvollziehbar, dass sie dir erst mal nichts zutrauen?«

Das mochte schon stimmen, aber wirklich leichter machte es die Sache auch nicht. »Ändert nichts dran, dass sie mich nicht mögen.«

Mitena schnaubte ärgerlich. »Es heißt aber auch nicht, dass diese Abneigung unabänderlich ist. Du kannst ja auch nicht erwarten, dass sie dich alle mit offenen Armen empfangen und sofort als den großen Meister anerkennen. Du musst ihnen schon beweisen, dass du was draufhast. Das ging Taio bei seiner ersten Dürre sicher nicht besser. Also, wer ist noch dabei?«

»Schmuel. Der kümmert sich um die Wasserversorgung. Das war auch schon in den letzten beiden Dürren seine Aufgabe.«

»Also noch jemand, der an Taio gewöhnt ist. Weiter.«

»Brix ist für die Kinder und Jugendlichen zuständig, die die Vogelschwärme fernhalten und Botengänge erledigen. Er ist so um die vierzig, wohl zum zweiten Mal im Dürrerat. Ich kenne ihn noch vage vom vorigen Mal, als wir die Spatzen vertreiben sollten.

Mikis ist irgendwas über fünfzig, auch schon zweimal dabei gewesen wie Schmuel. Sein Gebiet sind die Zäune und kleinen Mauern in Richtung Gebirge. Instandhaltung und Verteidigung.

Und dann eben noch Jurdagil, die letztes Mal die große Mauer beaufsichtigt hat. Bei ihr brauchen wir nicht zu diskutieren, was sie gegen mich hat.«

»Na schön.« Mitena stand auf, holte sich ebenfalls einen Becher und füllte ihn mit Wein. Im Gegensatz zu Loris nahm sie allerdings demonstrativ nur ein kleines Schlückchen, während sie nachdachte.

»Das heißt, bis auf Jurdagil kannst du eigentlich keinen wirklich einschätzen. Möglich, dass auch andere glauben, du hättest dich kaufen lassen. Genauso möglich, dass sie im Gegenteil der Ansicht sind, du hättest dich nie so sehr für Mikail und seine Familie einsetzen dürfen. Aber ebenso gut kann es sein, dass sie dich einfach nur für zu jung halten, glauben, dass der Einfluss deiner Eltern dir zu dem Posten verholfen hat, oder eben nur Taio nachtrauern. Du weißt es nicht.«

Widerstrebend nickte Loris. Sie hatte recht, er hatte keine Ahnung, was die vier gegen ihn hatten.

»Na also«, fuhr Mitena fort. »Außerdem zwingt dich doch keiner, mit denselben Leuten zu arbeiten wie Taio vor vier Jahren, richtig?«

Er schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Aber ich kann ja schlecht alle erfahrenen Mitglieder austauschen, nur weil sie mich nicht mögen.«

»Stimmt. Das wäre ein miserabler Anfang. Aber unter diesen Umständen mit ihnen zusammenzuarbeiten, wird auch nicht sehr sinnvoll sein.«

»Was soll ich dann deiner Meinung nach tun?«

»Lass sie selbst entscheiden! Geh zu jedem Einzelnen hin und frage nach, was ihm oder ihr nicht passt. Sei offen! Sag ihnen, du spürst ihre Ablehnung, willst wissen, welches Problem sie mit dir haben und stelle ihnen frei, sich aus dem Dürrerat zu verabschieden. Gib ihnen diese zwei Möglichkeiten: Entweder, ihr sprecht euch aus, schafft die Sache aus der Welt, oder sie können sich aus dem Rat zurückziehen. Aber nicht als Drohung. Sag ihnen einfach, dass du sie nicht zwingen willst, mit jemandem zu arbeiten, den sie nicht leiden können, für den Falschen halten oder was auch immer. Du wurdest nun mal vom Rat der Stadt bestimmt und konntest nicht ablehnen. Sie haben diesen Zwang nicht.«

»Und wenn sie gehen wollen? Ich brauche doch Leute für die einzelnen Bereiche.«

»Frag sie nach Vorschlägen! Und zwar gleich, wenn du sie vor die Wahl stellst, ob sie ihren Posten weiterführen oder aufgeben wollen. Damit signalisierst du, dass du etwas auf sie und ihr Urteil gibst. Die, die gehen, sollen sich nicht hinausgeworfen und verachtet fühlen. Jeder muss verstehen, dass man nur zusammenarbeiten kann, wenn man auch miteinander klarkommt. Sie entscheiden selbst, ihre Meinung zählt, dann werden sie auch nicht wütend sein. Bitte sie am besten auch noch darum, ihre Nachfolger einzuweisen. Wenn sie das tun möchten. Ansonsten muss es halt nur mit den Aufzeichnungen hier gehen.« Sie deutete auf den Stapel Papiere, der immer noch auf dem Tisch lag.

Loris grübelte. Morgen früh war die nächste Dürrerat-Versammlung angesetzt. Er wollte noch alle Pläne durchsehen. Mitenas Vorschlag folgend müsste er aber vorher jeden einzelnen aus dem Rat aufsuchen, um ein Gespräch bitten und ihn rundheraus fragen, was ihm nicht passte. Alleine bei der Vorstellung lief es ihm kalt den Rücken hinunter. Das Dumme war: Wenn er seine Aufgabe einigermaßen vernünftig erledigen wollte, musste er genau das tun. Er griff zum Becher, setzte ihn an den Mund und hielt inne.

»Ich fürchte, das muss ich heute noch durchziehen, was?«

Mitena nickte. »Wäre wohl besser.«

»Dann sollte ich den Wein erst mal stehenlassen.«

»Sehe ich auch so.«

»Krieg ich vorher noch was zu essen?«

Sie lachte. »Das wird sich machen lassen.«

2

»Na, Kleiner? Schaffst du’s noch?«

Garik sah ihn gequält an. »Das ist so heiß!« Der Kopf des Jungen war hochrot, Schweiß lief ihm in Strömen herab. Mikail konnte nur hoffen, dass das immer wieder angefeuchtete Tuch auf dem Kopf wenigstens das Schlimmste verhinderte.

»Dagegen kann ich leider nichts tun. Aber soll ich dich nicht doch lieber tragen?«

Energisch schüttelte Garik den Kopf. »Nein, ich schaff das schon.« Aus irgendeinem Grund weigerte sich der Siebenjährige stur, wieder auf Mikails Schultern zu sitzen. Gestern noch war er begeistert davon gewesen, Hoppe-Reiter zu machen, und heute, wo er es dringend nötig hatte, lehnte er ab. Seit Stunden marschierte er tapfer mit seinem Retter am Rande des Gebirges entlang, wo sie nicht nur der prallen Sonne ausgesetzt waren, sondern auch noch die Hitze abbekamen, die der Sandstein abstrahlte.

Eine der vielen kleinen Schluchten, die die Berge durchzogen, bot die Gelegenheit zu einer Rast im Schatten. Nicht, dass es recht viel kühler gewesen wäre, doch wenigstens die glühende Sonne erreichte sie hier nicht. Mikail lehnte seine Waffen an den Fels und nahm den Rucksack ab. Er setzte sich auf dem schmalen Grund des Einschnitts hin und klopfte auf den Boden neben sich. »Komm, wir essen was, trinken ausgiebig, und dann geht’s weiter.«

Das ließ sich der Bub nicht zweimal sagen. Herzhaft biss er in den Streifen Schinken, den Mikail ihm abschnitt, und lehnte sich dann kauend an die Schulter seines Retters. Erstaunlich, wie schnell das Kind Vertrauen zu dem Fremden gefasst hatte, der es gestern aus dem Wald befreit hatte.

Nur wenige Tage vor dem offiziellen Beginn der Dürre war Garik als Abartiger aufgefallen, der mit seinen unteren Augen, wie er es nannte, Wärme sehen konnte. Diese besonderen Hautpartien seitlich der Nase waren lediglich etwas dunkler als die umgebende Haut. Bemerkt hatte man seine Fähigkeit erst, als er sich diese Flecken angesichts eines großen Bestattungsfeuers mit den Händen bedeckte, da die Hitzestrahlung für ihn zu viel wurde.

Da die Dürre noch nicht offiziell begonnen hatte, in der Aussetzungen verboten waren, war das Kind in den Wald gebracht, an den sogenannten Ort der Übergabe, dort an einen Stein gebunden und der Wildnis überlassen worden. Dieses grausame Ritual fand nun schon seit Generationen statt, Abartige wurden der Natur übergeben, wie es beschönigend hieß. Ob Neugeborenes oder Erwachsener, die Reinheitsgesetze kannten keine Gnade. Doch diesmal hatte Mikail ihnen ein Schnippchen geschlagen. Er hatte die Hörner gehört, die die Aussetzung ankündigten, sich rechtzeitig im Wald versteckt und den Jungen gerettet, sobald die Bewahrer der Reinheit ihn am Stein der Übergabe festgebunden und die Lichtung verlassen hatten.

Das war gerade mal einen Tag her, in dieser Zeit hatten sie Aufregendes erlebt. Zwei gigantische Echsen hatten sie auf dem Heimweg gejagt, bis zu Mikails Höhle, und die beiden Menschen beinahe gefressen. Nur dem engen Höhleneingang und dem seltsamen Körperbau der Tiere war es zu verdanken, dass sie noch lebten.

Eines der Tiere war von seinem Artgenossen wohl mehr durch Zufall tödlich verwundet worden, doch das andere streunte immer noch irgendwo in der Gegend herum. Gut möglich, dass es noch mehr von ihnen gab. Unter diesen Umständen konnte Mikail es nicht verantworten, den Jungen bei sich in der Höhle zu behalten. Gegen die riesigen, stark gepanzerten Echsen konnte selbst er mit seiner enormen Kraft kaum etwas ausrichten. Garik brauchte besseren Schutz.

Zum Glück hatte Mikail vor kurzem entdeckt, dass es in einem wenige Kilometer entfernten Talkessel eine ganze Siedlung von Abartigen gab. Eine mehr als überraschende Erkenntnis, hieß es doch, dass jeder Abartige nach seiner Ausweisung binnen Tagen starb. Die Tiere befanden sich in einem ständigen Wettlauf zwischen Räubern und Beutetieren. Sogar Rinder und Schweine entwickelten sich zu immer gefährlicheren Gegnern, ganz zu schweigen von den Raubtieren. Ein Mensch alleine, selbst wenn er wie Mikail mehrfach so stark wie andere war, konnte hier draußen kaum länger als ein paar Tage durchhalten. So sagte man zumindest in den Städten.

Doch in der Zeltstadt, die sie nun aufsuchen wollten, lebten Hunderte Menschen mit den verschiedensten Eigenarten, teils hinderliche, teils nützliche wie bei Mikail. Diese Leute hatten ganz offenbar gemerkt, dass er hier draußen war, ganz alleine. Jemand hatte sogar in seiner Abwesenheit die Höhle besucht, doch niemand hatte sich zu erkennen gegeben. Anscheinend wollten sie nichts mit ihm zu tun haben, überließen ihn ebenso seinem Schicksal wie die Menschen in seiner Heimatstadt Or. Nun gut, er drängte sich nicht auf. Doch jetzt ging es um das Leben eines Kindes. Ihm blieb gar nichts anderes übrig, als die Siedlung aufzusuchen und zumindest für Garik um Aufnahme zu bitten.

»Ich muss gar nicht pieseln«, bemerkte der Junge, nachdem er einen großen Schluck aus der Wasserflasche genommen hatte. Mit der kupfernen Flasche kam er weit besser zurecht als mit den Schläuchen, und so hatte Mikail sie ihm überlassen.

»Klar«, gab Mikail zurück. »Wir schwitzen ja alles wieder aus.«

Der Junge überlegte einen Moment. »Dann … könnte ich vielleicht doch auf deine Schultern.«

Nanu? »Was hat denn das damit zu tun?«

»Na ja …« Garik druckste ein wenig herum. »Ich wollte nur nicht, dass das wieder passiert.«

»Was?«

»Ich hab dir doch gestern … du weißt schon … als die Echsen uns fast erwischt haben …«

Mikail brach in schallendes Gelächter aus. »Ach du liebes bisschen! Deshalb wolltest du nicht, dass ich dich trage? Weil du mir gestern vor lauter Angst ins Genick gepinkelt hast?«

Der Bub zuckte die Schultern. »Das war doch so peinlich. Mit sieben pieselt man nicht mehr ein, und dann auch noch so!«

Mikail strich ihm über den Kopf. »Da mach dir mal keine Gedanken. Du hattest furchtbare Angst, wir sind ja schließlich auch fast gefressen worden. Da ist das ganz normal, dass man einpinkelt. Deshalb musst du dich nun wirklich nicht schämen.«

Er senkte verschwörerisch die Stimme, obwohl ja weit und breit niemand sie hören konnte. »Ich verrate dir was: Ich hab auch vor Angst eingepieselt.«

»Du?«

»Ich.«

Garik sah ihn mit riesengroßen Augen an. »Ehrlich?«

»Ja. Als wir in der Höhle saßen und dieses Vieh nach uns geschnappt hat, da hab ich auch die Kontrolle verloren und mich nass gemacht. Und ich bin fast zwanzig. Deshalb musste ich heute früh doch auch meine Hose waschen, nicht nur deine.«

Jetzt scholl Gariks glockenhelles Gelächter durch die Felsspalte. Ein wunderschöner Klang in ihrer eigentlich so bedrohlichen Situation. Mikail genoss es, bis das Kind endlich atemlos aufhörte.

»Das bleibt aber unter uns, ja?«

»Mhm.«

»Versprochen?«

»Versprochen.«

»Und jetzt lässt du mich dich tragen?«

»Au ja.«

Wie am Vortag hatte Mikail Garik Speer und Lanze zu tragen gegeben, um ihn derweil an den Füßen festzuhalten. Da er nun nicht mehr von den kurzen Beinen eines erschöpften Kindes ausgebremst wurde, kamen sie wesentlich schneller voran. Garik hielt die Waffen stolz fest und übernahm außerdem die Aufgabe, die Umgebung im Auge zu behalten. Das war wichtig für den Kleinen, um sich nicht als Last zu fühlen.

Bald erreichten sie den Eingang des Tales, das zu der Siedlung führte. »Jetzt haben wir es nicht mehr weit«, versprach Mikail seinem Schützling.

»Mikail?«

»Ja?«

»Müssen wir da hin?«

»Na sicher. Was glaubst du denn, warum wir den ganzen weiten Weg gelaufen sind? Wir brauchen unbedingt Hilfe, alleine werden wir mit diesen seltsamen Echsen da draußen nicht lange überleben. Das hab ich dir doch schon erklärt.«

Beredtes Schweigen war die Antwort. Mikail suchte sich ein schattiges Plätzchen und setzte ihn ab.

»Was ist los?«

Garik schaute ihn unglücklich an. »Ich hab Angst.«

»Wovor denn?«

»Vor den vielen fremden Menschen. Daheim kenne ich alle in der Nachbarschaft, aber da bei den Abartigen keinen Einzigen. Nur dich.«

Und er würde womöglich nicht einmal bleiben können. Das hatte Mikail dem Kind vorsichtshalber nicht gesagt.

»Ach Kurzer. Ich verstehe das. Glaubst du, mir macht das nicht zu schaffen? Lauter Leute, bei denen wir einfach so reinplatzen und um Hilfe bitten. Da fühle ich mich auch nicht wohl. Aber du weißt doch: Ich alleine kann dich nicht beschützen.« Er ging in die Hocke und legte Garik die Hände auf die Schultern. »Die werden dich schon nicht auffressen.«

»Sind ja keine Echsen«, antwortete Garik und versuchte sich an einem tapferen Lächeln.

»Eben.« Mikail dachte nach. »Weißt du was? Ich kenne einen Weg, der uns über dieses Lager führt. Dann kannst du erst mal von oben kucken, wer das ist. Du wirst schon sehen, da sind viele Kinder, wie ich’s dir erzählt hab.«

»Die kenn ich doch auch alle nicht.«

Mikail seufzte. Hoffentlich geriet das Ganze nicht zur Katastrophe. Mühsam überredete er den Jungen, sich den Fremden anzuvertrauen, und dabei wusste er nicht mal, ob sie ihn aufnehmen würden.

»Na komm schon.« Er richtete sich wieder auf und streckte Garik die Hand hin. »Es ist nicht mehr weit zu der Stelle, wo wir hochklettern können. Dann schauen wir uns das alles erst mal von oben an.«

Wenig begeistert ergriff der Bub die Hand und kam mit.

Kurz darauf krabbelte Mikail wieder auf allen vieren den schmalen Pfad hinauf, den er beim letzten Besuch in diesem Tal entdeckt hatte. Der führte an einer nicht allzu steil abfallenden Wand entlang auf einen Felsrücken und weiter zu einem Plateau, von dem aus man tatsächlich gut in den Talkessel hineinsehen konnte, den die Abartigen zu ihrem Lagerplatz erkoren hatten.

»Warum gehst du denn so komisch?«, fragte Garik, der direkt hinter ihm völlig angstfrei aufrecht lief. »Ich muss ständig langsam machen. Kannst du nicht normal gehen wie ich auch?«

»Ob du’s glaubst oder nicht, ich hab Angst vor der Höhe«, gab Mikail unumwunden zu. »Sobald es auch nur so aussieht, als könnte ich irgendwo mehr als zwei, drei Meter runterfallen, krieg ich ein scheußliches Gefühl im Magen, fange an zu schwitzen, und alles dreht sich um mich.«

Das Kind lachte verhalten.

»Ja, ja, lach du nur, du gemeiner Hund!«, flachste Mikail. »Als ich noch kleiner war als du, ist mein großer Bruder von einer Leiter gefallen. Den hab ich aufgefangen, sodass ihm nichts passiert ist, aber das hat mir wohl so einen Schreck eingejagt, dass ich seitdem Höhenangst hab.«

Garik wurde sofort wieder ernst. »Tut mir leid, dass ich gelacht hab. Ich fand das nur so komisch, dass jemand mit deiner Kraft Angst vor dem bisschen Höhe hat.«

»Da bist du nicht der Einzige«, gab Mikail zu, wandte sich vorsichtig nach hinten um und grinste. »Ich find das selbst immer noch peinlich, aber ich kann halt nix dagegen tun.«

Zum Glück gelangten sie dann auch schon auf den Felsrücken, breit genug, um Mikails Höhenangst nicht zu viel Nahrung zu geben. Ständig das Tal im Blick, ob sich dort jemand zeigte, führte er seinen Schützling voran. Schließlich erreichten sie das Plateau mit dem beinahe kreisrunden Loch, das vermutlich beim Einsturz einer Höhle entstanden war und in dem das Zeltlager der Abartigen stand. Wie beim letzten Mal drangen die verschiedensten Laute aus dem gut dreihundert Meter durchmessenden Talkessel, Stimmengewirr, das Blöken, Meckern und Bellen der Tiere, Schläge von Hämmern, Alltagsgeräusche. Mikail bedeutete Garik, sich zu ducken. So schlichen sie sich nah genug an den Rand, um zumindest einen Teil des Lagers überblicken zu können.

»Ich hab immer noch Angst«, gestand Garik bald darauf, nachdem sie sich etwas vom Rand zurückgezogen hatten. Im Schatten eines kleinen Baumes saßen sie beieinander, vom Tal aus unmöglich zu sehen.

Wieder seufzte Mikail. Irgendwie verstand er den Jungen ja. »Glaub ich dir. So viele Leute, alles ganz anders als daheim in Or. Aber es hilft ja nichts. Du kannst nicht immer nur mit mir alleine in der Höhle leben. Du brauchst doch Gesellschaft.«

»Warum bist du dann in der Höhle geblieben? Du hättest doch auch schon hierher kommen können.«

Berechtigte Frage. »Weil ich sie ja auch erst vor ein paar Tagen entdeckt habe. Und außerdem wusste ich ja noch nichts von den großen Echsen. Mit Bären und ein paar Wölfen werde ich fertig, aber gegen diese Biester bin ich machtlos. Wenn ich alleine mit denen zu tun bekommen hätte, wäre ich danach wohl auch hierhergekommen.« Das stimmte womöglich sogar. Er hätte es zumindest versucht, wenn auch mit wenig Hoffnung. Wenn man von ihm wusste, sich aber nicht sehen ließ, dann war das ein ziemlich deutliches Zeichen dafür, dass er nicht willkommen war. Garik zuliebe musste er es jetzt aber trotzdem versuchen.

»So oder so, Garik, wir müssen zu den Leuten gehen und sie bitten, uns bei sich aufzunehmen. Hast du die Mauer gesehen, die den Zugang zum Tal absperrt? Das ist ein bisschen besser als mein kleiner Steinhaufen und das Holzgatter. So eine Mauer reißen selbst die Monsterechsen nicht ein. Und dann sind da ganz viele Menschen, die sich – und dich – verteidigen können. Nicht nur ich alleine.«

»Warum kann ich nicht bei dir bleiben? Die Monster kommen doch nicht in die Höhle rein mit ihren dicken Hintern.«

Genau genommen mit den seitlich so abstehenden Beinen, dass die Echse tatsächlich nicht durch den Eingang gepasst hatte.

»Weil demnächst vielleicht eines von den Viechern auftaucht, das klein genug ist, eben doch reinzukommen, aber immer noch groß genug, um uns beide mit Haut und Haaren zu fressen«, knallte Mikail ihm die ungeschminkte Wahrheit ins Gesicht.

»Ich will da trotzdem nicht hin. Das macht mir alles Angst.«

»Obwohl du gesehen hast, wie viele Kinder es da gibt? Das sind alles ganz normale Leute, die werden dich ganz bestimmt nicht auffressen. Die Echsen oder irgendwelche Wölfe schon eher.«

»Ja ja, hast du schon gesagt.« Der Junge zog einen Flunsch. »Aber so normal sind die nicht. Hast du die Riesin gesehen? Die ist ja doppelt so groß wie du. Und dann der Junge mit den vier Armen. Das ist gruslig.«

»So gruslig wie ich? Oder du?«

Jetzt sah ihn das Kind verblüfft an. »Wieso? Wir sehen doch ganz normal aus!«

»Na und? Hast du schon vergessen, warum sie dich da draußen im Wald ausgesetzt haben? Und warum sie mich aus der Stadt gejagt haben? Weil wir anders sind. Man sieht es nicht, aber es reicht, dass sie es wissen. Deshalb fürchten sie uns. Du hast gestern selbst gesagt, wie lächerlich es ist, vor einem siebenjährigen Kind Angst zu haben. Ich würde auch nie jemandem etwas tun, das wissen sie genau. Trotzdem fürchten sie uns so sehr, dass sie uns unseren Familien weggenommen und in die Wildnis geschickt haben. Nur, weil wir anders sind. Willst du jetzt bei diesen Menschen da unten denselben Fehler machen? Weil sie nicht nur anders sind, sondern man es ihnen auch ansieht?«

»Da hat dein großer Freund völlig recht«, erscholl plötzlich eine Frauenstimme. Mikail fuhr ebenso zusammen wie Garik. Während der Diskussion hatte er überhaupt nicht darauf geachtet, was um ihn herum vorging. Er war sicher gewesen, hier oben nicht entdeckt zu werden.

Die beiden wandten sich um und sahen eine große, schlanke Frau lächelnd auf sich zukommen. Mikail erkannte sie an ihrer Stimme, den tiefschwarzen Haaren und der sehr hellen Haut wieder. Sie und das junge Mädchen waren neulich, als er das alles hier entdeckt hatte, das Tal entlanggekommen.

Bis sie bei ihnen anlangte, waren Mikail und Garik auf den Beinen.

»Garik. Schön, dass du doch noch bei uns gelandet bist«, begrüßte die Fremde das Kind. »Und dein Name?«, fragte sie mit einem freundlichen Blick an Mikail gerichtet.

Er stellte sich vor. »Woher weißt du seinen Namen?«, wollte er dann irritiert von ihr wissen. »Und was soll das heißen, er ist doch noch bei euch gelandet?«

»Nun«, erklärte sie, »ich nehme an, das ist das Kind, das gestern in Or ausgesetzt wurde, oder irre ich mich?«

Verwirrt nickte Mikail.

»Und du hast ihn dann wohl losgeschnitten und mitgenommen.«

Wieder bestätigte er, während Garik nur mit offenem Mund danebenstand und die Frau angaffte. Sie war etwa Mitte dreißig, vielleicht einen oder zwei Zentimeter größer als Mikail, schlank und sah verdammt gut aus.

»Na siehst du. Als unsere Leute eintrafen, um ihn abzuholen, fanden sie nur noch das abgeschnittene Seil und ein paar Spuren, die in den Wald führten. Da du nun hier mit ihm auftauchst, nahm ich einfach an, dass dies das Kind ist, das sie verpasst haben.«

»Und woher weißt du, wie ich heiße?«, fand Garik nun endlich seine Stimme wieder.

»Tja, da muss ich wohl gestehen, dass ich gelauscht habe«, gab sie mit einem Lachen zurück. »Ich weiß, das ist unhöflich, aber eine meiner Aufgaben.«

»Wir waren aber doch ganz leise.«

»Schon. Nur …« Sie strich die langen, lockigen Haare nach hinten und entblößte auffallend große und spitze Ohren, beinahe wie die mancher Hunde. »Ich muss immer darauf hören, ob es irgendwelche ungewöhnlichen Geräusche gibt. Zum Beispiel Tiere, die sich dem Lager nähern. Oder in diesem Falle ihr zwei. Eure Unterhaltung war für mich laut genug, um sie schon von unten zu hören und dann, als ich da hinten hinaufgestiegen bin«, sie zeigte irgendwo zum Rand, wo vermutlich eine der Holztreppen stand, »habe ich auch verstanden, was ihr miteinander besprecht. Dazu musste ich mich nicht mal anstrengen.«

»Du kannst in dem ganzen Lärm da unten hören, dass wir hier oben reden?«, fragte Mikail verblüfft. Das war faszinierend. Da hätte ja selbst Taio nicht mithalten können, und der Karawanenkommandant hatte schon verdammt gute Ohren gehabt.

»Wie gesagt, es gehört zu meinen Aufgaben. Ganz besonders, nachdem diese großen Echsen aufgetaucht sind. Wir wissen noch kaum etwas über sie und können nicht einschätzen, wie gefährlich sie sind. Anscheinend habt ihr schon Bekanntschaft mit ihnen gemacht?«

»Leider«, bestätigte er. »Und ich kann dir sagen, sie sind sehr gefährlich. Deshalb bringe ich auch den Jungen hierher. Ich alleine kann ihn unmöglich beschützen.«

»Eine gute Entscheidung«, lobte die Frau. »Ach, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Laia. Freut mich.«

»Mich auch.« Mikail schüttelte die dargebotene Hand. »Das heißt, ihr seid bereit, ihn aufzunehmen?«

»Aber sicher. Eigentlich sollte er ja schon seit gestern bei uns sein.«

Das war die verblüffendste Aussage, die sie gemacht hatte: Jemand aus dem Lager war losgezogen, um Garik abzuholen, und Mikail war ihnen nur zuvorgekommen. Eben wollte er sie genauer danach fragen, da fuhr Garik dazwischen: »Uns! Ihr sollt uns aufnehmen, nicht nur mich!«

Verdammt, das war der Moment, den Mikail gerne noch hinausgezögert hätte.

3

»Ich danke dir.« Loris drückte Schmuel die Hand, schloss dessen Haustür hinter sich und machte sich auf zum letzten, schwersten Besuch. Immerhin, zumindest etwas leichter war ihm jetzt ums Herz.

Mitena hatte recht gehabt, längst nicht alle waren so abweisend zu ihm, weil der Prozess so furchtbar gelaufen war. Auf Brix traf das zu. Der hatte sich vorhin beinahe geweigert, Loris überhaupt hereinzulassen. Anscheinend waren er und Jurdagil befreundet, sodass er ihre Meinung übernommen hatte. Nachdem das klargestellt war und Loris ihm die Wahl ließ, hatte Brix sich sofort dafür entschieden, aus dem Dürrerat auszuscheiden. Leider ohne jemanden als Ersatz zu empfehlen. Den musste Loris also selbst suchen.

Mikis und Schmuel dagegen hielten ihn, den gerade einmal zwanzigjährigen Spross des reichen Eisenunternehmers Yusef und der geachteten Ärztin und Ratsfrau Mona, einfach für ungeeignet. Zu jung und unerfahren, bislang nicht gerade für Pflichtbewusstsein oder Fleiß bekannt. Man ging davon aus, dass er nur wegen seiner Eltern Dürrekommandant geworden war, ungeachtet seiner Leistungen während des Wolfsangriffs und des Unfalls im Bergwerk, bei dem er sich ebenfalls als Organisator hervorgetan hatte.

Zu Loris’ eigener Verblüffung hatte er jedoch ein gewisses diplomatisches Geschick entwickelt, den zwei Männern glaubhaft versichert, dass er sich nie um das Amt bemüht und auch die Eltern keinen Einfluss auf die Entscheidung des Rates genommen hatten. Er hatte sie darum gebeten, ihm mit ihrer Erfahrung aus den letzten beiden Dürren zur Seite zu stehen, ihnen durchaus auch ein wenig geschmeichelt, und schließlich das Eis gebrochen. Immerhin, Taio war bis jetzt ja ebenfalls der jüngste Dürrekommandant gewesen, damals vor vierundzwanzig Jahren. Und auf ihn hielten die zwei, die ungefähr im selben Alter wie Taio waren, eine ganze Menge. Am Ende hatten sie sich für einen Verbleib im Dürrerat entschieden und auch eingesehen, dass diese Gruppe nur funktionieren konnte, wenn alle zusammenarbeiteten. Schmuel hatte sich eben sogar entschuldigt für sein, wie er selbst es nannte, kindisches Verhalten.

Imani dagegen hatte nicht damit herausrücken wollen, welches Problem sie mit Loris hatte. Sie beschied ihm lediglich, dass sie ihn für den Falschen hielte, nahm sofort die Gelegenheit wahr, das Amt hinzuschmeißen, und ließ ihn wie Brix ohne geeigneten Ersatz zurück. Schmuel hatte allerdings gemutmaßt, dass sie sich selbst schon als Nachfolgerin des toten Taio gesehen habe und nun einfach aus gekränkter Eitelkeit bockte.

Nun also Jurdagil. Die Einzige, bei der er von Anfang an wusste, was ihn erwartete. Je näher er ihrem Haus kam, desto schwerer wurden seine Schritte. Sein Arm schien Tonnen zu wiegen, als er ihn hob, um an ihre Tür zu klopfen.

Es öffnete eine Frau um die vierzig mit raspelkurzen schwarzen Haaren, die Loris schon einige Male in Begleitung Jurdagils gesehen hatte. Ihrer Miene nach erkannte sie ihn sofort.

»Was willst du denn hier?«, war ihre wenig freundliche Begrüßung.

»Mit Jurdagil sprechen. Es ist wichtig.«

»Ich denke nicht, dass sie dich sehen will.«

»Das ist mir klar, aber es muss sein.«

Unentschlossen stand sie da, bis aus dem Hintergrund Jurdagils Stimme ertönte. »Nun lass ihn schon rein.«

Widerwillig ließ die Frau ihn eintreten. Wie in den meisten Häusern in Or führte auch hier die Haustür direkt in die Küche, wo die Gesuchte am Tisch saß und Gemüse schnippelte. Sie sah nicht einmal auf. »Was willst du?«

»Klarheit schaffen.«

Sie schnaubte spöttisch. »Du meinst, dich rauswinden.«

»Nenn es, wie du willst.« Loris trat hinter einen Stuhl, blieb aber stehen.

Jurdagil warf der Schwarzhaarigen einen schnellen Blick zu. »Bist du so lieb und lässt uns alleine?«

Die Angesprochene brummte leise zur Antwort und zog sich in einen anderen Raum zurück.

Einige Atemzüge lang wartete Loris drauf, dass Jurdagil ihn zum Sprechen aufforderte, doch sie ignorierte ihn vollkommen.

»Na schön«, seufzte er schließlich, »reden wir nicht lange drum herum. Ich weiß, du hältst mich für käuflich. Jeder denkt, ich hätte beim Prozess nachgegeben, um diesen verdammten Posten zu kriegen.«

Sie schwieg weiter beharrlich. Wie schon am Vormittag im Besprechungsraum ging eisige Kälte von ihr aus.

»Mir ist auch klar, dass ich jetzt sagen kann, was ich will, du wirst mir nicht glauben. Ich tu es trotzdem, einmal und dann nicht wieder. Ich wusste nicht, dass man mich zum Kommandanten machen würde. Ich wollte dieses Amt nicht, aber man kann es nicht ablehnen. Und es gab nie diesen Handel, den ihr mir vorwerft. Ich habe schlimme Fehler bei meiner Verteidigung gemacht, und hätte ich nicht den drei Prozent zugestimmt, wäre die Strafe noch viel härter ausgefallen. Ich werfe mir eine Menge vor, die Arroganz, mit der ich mich aufgedrängt habe, die Dummheit, dann so grandiosen Mist zu bauen. Aber ich habe weder Mikail noch seine Familie verraten und verkauft. Und auch meine Eltern haben mit dem Rat nichts Derartiges ausgehandelt. Glaub es oder lass es, mehr will ich dazu gar nicht sagen.«

Wenigstens hatte sie bei seiner Rede mit ihrer Arbeit innegehalten, nun jedoch machte sie ungerührt weiter, als interessiere sie das alles gar nicht. »Dazu bist du hergekommen?«, fragte sie endlich in deutlich uninteressiertem Tonfall. »Dann kannst du ja jetzt wieder gehen.«

»Vor allem bin ich hier, weil ich wissen will, wie das mit dem Dürrerat weitergehen soll«, erklärte er. »Ich habe diese großartige Ehre nun mal aufs Auge gedrückt bekommen und muss das jetzt durchziehen. Das geht nicht, wenn ich gegen die Mitglieder des Dürrerates ankämpfen muss, statt mit ihnen zusammenzuarbeiten. Also bin ich zu jedem von euch hingegangen, habe geklärt, wo das Problem liegt und gefragt, wer weiter dabei sein will und wer nicht.«