Karawane nach Cood - Sascha Raubal - E-Book

Karawane nach Cood E-Book

Sascha Raubal

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Beschreibung

Vor Tausenden von Jahren flohen die Ahnen aus der ersten Welt, denn diese war vergiftet von Müll, Krieg und Hass. Die Reise durch den Raum gelang, das Leben, das sie vorausgesandt hatten, hatte den Planeten in Besitz genommen – doch sie fanden nicht das Paradies vor, das sie sich erhofft hatten. Die Natur wandte sich gegen sie, zwang sie, sich in fünf große Städte zurückzuziehen, geschützt von starken Mauern. Eine dieser Städte ist Or. Am Rande eines großen Gebirgszuges gelegen, lebt Or vom Eisen, das man mit den anderen Städten handelt. Große Karawanen transportieren die Güter zwischen den Städten hin und her. Hier in Or wachsen die beiden Helden der Serie auf: Loris, Sohn des Eisenunternehmers Yusef und der angesehenen Ärztin und Stadträtin Mona, und Mikail, Bauernsohn und glücklich in Loris' Schwester Lia verliebt. Beste Freunde seit der Schulzeit, können sie sich blind aufeinander verlassen. Alles könnte so schön sein … wäre da nicht Mikails Geheimnis, das er nicht einmal Loris und der geliebten Lia offenbaren kann. Doch es kommt der Tag, an dem er sich entscheiden muss: Sein Geheimnis – oder das Leben unzähliger Menschen. Mit diesem band beginnt die Reise von Mikail und Loris, zwei unbeschwerten jungen Männern und besten Freunden seit der Kindheit. Vorurteile und Ausgrenzung reißen sie auseinander, und über zwölf Bände hinweg müssen sie lernen, dass auch in ihrer Welt wie schon in der unsrigen die schrecklichste aller Bestien auf zwei Beinen geht.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 288

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Sascha Raubal

DIE ABARTIGEN

BAND 1

Karawane nach Cood

Fantasy

Inhaltswarnung:

In diesem Buch wird gelebt und gestorben – mit allem, was dazugehört.

Die Abartigen 1 – Karawane nach Cood

2. leicht überarbeitete und korrigierte Auflage 2024

© 2024 Sascha Raubal

ISBN: 978-3-384-29880-5

Covergestaltung und Innenteilillustrationen:

Markus Gerwinski (http://www.markus.gerwinski.de)

Druck und Distribution im Auftrag :

tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

Bibliografische Information der Deutschen

Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Mikail

Kapitel 2: Loris

Kapitel 3: Mikail

Kapitel 4: Loris

Kapitel 5: Mikail

Kapitel 6: Loris

Kapitel 7: Mikail

Kapitel 8: Loris

Kapitel 9: Mikail

Kapitel 10: Loris

Danke

Der Autor

Ausblick Band 2

Leseprobe Band 2

1

Zum zweiten Male ertönten die Hörner, unheilverkündend schallten sie von den Gipfeln des Sandsteingebirges bis weit über das Umland hinaus. Der tiefe Klang verriet Mikail, dass es sich um einen Säugling handeln musste. Armer kleiner Wurm. Was das Kind wohl hatte? Schnell zwang er sich, an etwas anderes zu denken. Lia! Er sollte sie heute unbedingt von der Schule abholen. Ja, sie würde sich freuen.

Mikail schnappte sich den nächsten Sack Korn und warf ihn auf den oberen Boden. Vater würde toben, wenn er das sah, doch der übertrieb es einfach mit der Ängstlichkeit. Vorsichtshalber wandte er sich um und warf einen Blick aus dem Scheunentor. Niemand in Sicht. Gut. Die restlichen vier Säcke folgten, dann kletterte er selbst hinauf und stapelte alles ordentlich.

Gerade wollte er wieder hinabsteigen, da trat Toivo ein. Seine von Natur aus dunkle und von der Sonne noch mehr gebräunte Haut war wie fast immer bedeckt von Schweiß und Staub.

»Schon fertig?« Vater zog misstrauisch die Brauen hoch.

»Hab mich beeilt«, antwortete Mikail und ging zur Leiter. »Ich will nachher Lia abholen.«

Toivo schnaubte verärgert. »Als wenn das so eilig wäre. Du hast es mal wieder im Schnellverfahren erledigt.« Er packte seinen Sohn an den Schultern, als dieser den Erdboden erreichte, und schüttelte ihn. »Kerl, verdammt, du hast das Horn gehört. Hast du immer noch nicht begriffen, welchem Risiko du dich aussetzt? Und uns gleich dazu?«

Mikail verzog das Gesicht. »Es war niemand da, ich hab aufgepasst.«

»Aufgepasst!« Vater schüttelte verzweifelt den Kopf. »Weil du ganz sicher jeden hörst, der plötzlich hereinplatzt. Was, wenn dein Freund Loris aufgekreuzt wäre?«

»Was dann?« Mikail machte sich los. »Er ist mein Freund, er würde dichthalten, das weißt du.«

»Ja, er ist dein Freund. Und er ist ein guter Kerl, keine Frage. Aber du kennst seine Eltern. Rutscht ihm einmal etwas heraus, dann ist das das Ende.« Er schwieg eine kurze Weile und sah Mikail eindringlich in die Augen. »Gerade, weil du so auf Lia aus bist.«

»Was höre ich da?«, tönte eine wohlbekannte Stimme herein. »Der Kerl ist auf Lia aus? Mein Schwesterherz? Sehr eigenartig, dafür hält er sich aber ganz schön zurück. Vielleicht sollte ich ihm mal kräftig in den Arsch treten, damit er endlich in die Pötte kommt.«

Mit einem breiten Grinsen trat Loris um die Ecke. Toivo ließ seinen Sohn los und zwang ein erfreutes Lächeln auf sein Gesicht. »Gut, dann brauche ich es nicht zu erledigen.« Er verließ die Scheune, klopfte Mikails bestem Freund im Vorbeigehen auf die Schulter und warf nur noch einen mahnenden Blick zurück, bevor er ganz draußen war.

Loris baute sich vor Mikail auf und starrte ihm herausfordernd in die Augen. Sie waren beinahe gleich groß, Mikail hatte etwa zwei Fingerbreit mehr zu bieten. Wie üblich trug der Sohn des Eisenunternehmers gute, neue Kleidung und hatte das lange schwarze Haar in einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden. Mikails Hemd und Hose dagegen waren trotz des derben Stoffes durch die Arbeit auf dem Hof immer recht schnell ruiniert, und seine braunen Locken sahen meist wie ein explodiertes Vogelnest aus.

»Du bist also hinter meiner kleinen Schwester her, ja?« Loris hob die Fäuste und boxte Mikail in die Schulter. »Dann wird’s aber Zeit, dass du das in die Tat umsetzt, du Depp. Stattdessen bringst du sie auch noch dazu, alle anderen davonzujagen. Ihr und eure bescheuerte Idee. Du bist neunzehn, sie siebzehn, was soll der Unsinn?«

Mikail streckte ihm die Zunge raus und lachte. »Lass das mal unsere Sache sein, ja? Wir haben uns das so vorgenommen, und du mischst dich nicht ein. Was willst du eigentlich hier? Nix zu tun oder was?«

Loris zuckte die Schultern. »Nö, nicht viel. Das heißt, wenn es nach meinem alten Herrn ginge, müsste ich ständig im Geschäft mithelfen. Aber …«

»Aber du bist ’ne faule Sau und hast nicht die geringste Lust dazu, schon klar.«

»Das war jetzt aber unschön formuliert«, moserte Loris und lachte. »Faul war ich ja nun noch nie. Ich hab nur … Besseres zu tun.«

»Wie zum Beispiel hier rumzuhängen, zu lauschen und blöde Sprüche zu machen.«

Loris kicherte. »Jaja, lauschen. Da hab ich ja ein gar furchtbares Geheimnis erfahren. Du bist hinter Lia her. Als wenn ich das nicht wüsste.«

Innerlich atmete Mikail auf. Wenn das alles war, was Loris gehört hatte … Er vertraute seinem Freund wirklich, doch Vater hatte recht: Allzu schnell rutschte ein falsches Wort heraus. Außerdem wollte er Loris nicht unnötig in die Zwickmühle bringen.

»Allerdings«, fuhr dieser mit erhobenem Zeigefinger fort, »habe ich auch noch eine Botschaft zu überbringen. Von meiner lieben Frau Mutter.«

»Au weh.«

»Genau.«

»Was will sie denn?«

»Keine Ahnung. Klang aber nicht besorgniserregend. Eher sogar, als ob sie gute Nachrichten für uns hat. Wir sollen uns heute Nachmittag bei ihr einfinden. Um drei.«

Unwillkürlich dachte Mikail wieder an den Klang der Hörner. Um drei würden sie zum letzten Mal ertönen. Er schluckte. »Gut, um drei bin ich bei euch.«

»Prima, dann sehen wir uns spätestens da.« Loris klopfte ihm auf den Oberarm und wandte sich zum Gehen. »Ach ja … du weißt, wann Lia heute Schluss macht?«

»Hau ab!« Mikail schnappte sich eine Handvoll Stroh vom Boden und warf es grinsend hinter Loris her.

Natürlich wusste er sehr genau, wann die Schule aus war. Bis dahin war aber noch einiges zu tun. Die Dürre rückte immer näher, und noch waren nicht alle Felder abgeerntet. Den letzten Sack Gerste hatte er gerade eingelagert, doch die anderen Getreidesorten wurden teilweise eben erst reif. Neben etwas Viehzucht bauten seine Eltern hauptsächlich Getreide an, das in Ors trockenem Klima guten Ertrag abwarf.

Er hatte schon genug Zeit verquasselt, nun musste er schleunigst zurück aufs Feld und seinem Bruder helfen. Dann war gerade noch Zeit für ein paar Bissen zu Mittag, und wenn er schnell war, erwischte er Lia noch an der Schule.

Als er aus der Scheune lief, rannte er fast in Alex, den Gockel hinein. »Du blödes Vieh!«, schimpfte er lachend. »Irgendwann rennt dich wirklich noch mal jemand über den Haufen.« Alex sah ihn nur scheel von der Seite an. Der Hahn reichte Mikail bis zur Hüfte, die übliche Rasse, die hier von Bauern gehalten wurde, bei denen genug Platz war. Das gab schöne große Eier und ordentlich Fleisch. In der Stadt hielten sich auch einige Leute Hühner, eher zum Spaß, die waren dann aber nicht einmal halb so groß. »So ein dicker Brocken, und dann ein Erbsenhirn«, lästerte Mikail grinsend und kurvte um den stolzen Gockel herum. »Geh, kümmer dich um deine Mädels, sonst kommst du demnächst in die Suppe!«

Auf dem Weg am Haus vorbei rief Mutter ihn aus dem Küchenfenster.

»Mikail, sei so lieb, und gehe Vater bei den Rindern zur Hand, ja?«

»Ich sollte eigentlich Tomasch helfen.«

»Der schafft den Rest auch noch alleine.« Pilar winkte ab. »Ist nicht mehr viel, und er weiß schon Bescheid. Aber Vater braucht ein paar starke Hände bei dem Bullen. Der will mal wieder nicht so, wie er soll.«

Ach, der nun wieder. So ein störrisches Mistvieh aber auch. Wenn er nicht so fleißig Nachwuchs produziert hätte, wäre er schon längst geschlachtet worden. Aber so ein großer, stattlicher Stier sorgte auch für große Nachkommen mit viel Fleisch und einer guten Milchleistung. Dafür nahm Vater die Scherereien in Kauf. Vor allem, da meist Mikail derjenige war, der das Biest zur Raison bringen musste.

Er schlug also den Weg zum Stall ein und hörte seinen Vater schon von weitem fluchen. Ja, das klang nach einem der üblichen Trotzanfälle des Bullen.

»Björn, du dämliches Drecksvieh, komm jetzt da raus!«

Als Mikail den Stall betrat, musste er unwillkürlich schmunzeln. Björn der Bulle stand in einem der kleinen Abteile, in denen die trächtigen Kühe kurz vor der Geburt gehalten wurden. Ein dicker Strick lag um seinen Hals, an dem Vater mit vor Zorn und Anstrengung hochrotem Kopf zerrte wie ein Wahnsinniger. Björn sah ihn nur aus seinen großen Augen an und rührte sich keinen Fingerbreit. Zum Glück waren diese gezüchteten Rinder nicht aggressiv, im Gegensatz zu den wildlebenden Arten. Bei zwei Metern Risthöhe hätte der Stier seinen Besitzer mit einem einzigen Tritt zermalmen oder ihn mit den beachtlichen Seitenhörnern aufspießen können. Nur die Stirnhörner, bei wilden Rindern tödliche Waffen, waren bei Hausrindern wie Björn zu zwei lächerlichen Höckerchen zurückgebildet. Statt bösartig zu werden, stand der Bulle einfach nur vor der Kuh und bewegte sich nicht. Er wollte das trächtige Weibchen beschützen; eigentlich ein feiner Zug von ihm, hier jedoch vollkommen unnötig. Im Gegenteil, sollte irgendetwas bei der Geburt schiefgehen, könnte man nicht einmal eingreifen.

»Na, spinnt er mal wieder?« Mikail trat schmunzelnd zu seinem Vater. Der atmete ächzend aus, ließ den Strick locker und reichte ihn an Mikail weiter.

»Das Übliche. Björn und seine Vatergefühle. Man sollte den Viechern das unbedingt abzüchten.«

»Dann werden sie am Ende wieder gefährlich.«

Toivo winkte schwer schnaufend ab. »Jaja, kann sein. Na los, hol das blöde Vieh da raus. Trixi wirft bald, dann müssen wir zu ihr kommen.«

»Ist recht.« Mikail wickelte sich das Seil um den Unterarm und stemmte sich gegen den Boden. »Na, dann komm mal, du unterbelichteter Fleischberg. Raus jetzt!« Er zog, und Björn sah ihn wie immer erstaunt an, bevor er dem Zug nachgab und widerwillig den ersten Schritt machte. Der lernte es auch nie, dass er gegen Mikail nicht ankam.

»Soll ich ihn raus auf die Weide bringen oder in sein Abteil?«

Vater stand in der Stalltür und sah nach draußen. Er passte auf, dass niemand kam. »Ins Abteil, etwas Strafe muss sein.«

Hörnerklang schwebte durch die Luft herein. Wieder eine Stunde um. Für einen Moment ließ Mikail nach, und Björn gewann ein Stück Boden zurück.

»Mist!« Mikail konzentrierte sich wieder auf seine Aufgabe. Meter um Meter zog er das störrische Rindvieh in den Mittelgang hinein. Dort endlich gab es den Widerstand auf und ließ sich nun brav zu seinem eigenen Platz führen.

»Na also, du Sturschädel.« Mikail klopfte dem Bullen auf die Flanke, schloss die Tür des Abteils und trat neben Toivo. »Hätte Trixi nicht schon längst werfen sollen?«

»Längst?« Vater sah ihn verwundert an. »Gestern hatten wir damit gerechnet, aber ein paar Tage Spielraum sind ja immer drin.« Er wischte sich zum wiederholten Male den Schweiß von der Stirn. »Danke dir, mein Junge. Jetzt komm, Mutter hat sicher schon das Essen fertig. Und du willst doch rechtzeitig wegkommen, oder?« Ein wissendes Lächeln umspielte seine Lippen.

Mikail nickte nur schweigend und grinste. Seine Liebe zu Lia war nun wirklich kein Geheimnis, und seine Eltern mochten Loris’ Schwester auch sehr gerne. So gönnten sie es ihrem Sohn, seine Flamme ab und an von der Schule abzuholen und nach Hause zu geleiten.

Wenig später saß die ganze Familie um den Esstisch versammelt. Pilar hatte Graupensuppe gekocht und ein paar schöne Stücke Bauchspeck hineingetan. Das größte bekam wie immer Mikail. Tomasch, kaum kleiner aber ein ganzes Stück breiter, hatte seine Proteste dagegen schon lange aufgegeben. Sein drei Jahre jüngerer Bruder brauchte einfach wesentlich mehr Energie.

»Hallo allerseits!« Als Letzte gesellte sich Tomaschs Gefährtin Yuki zu ihnen, ihre Tochter auf dem Arm. Die Kleine war gerade zwei Monate alt und hatte noch keinen Namen erhalten. Das Namensfest würde erst stattfinden, wenn sie ein halbes Lebensjahr vollendet hatte.

»Entschuldigt die Verspätung, sie hatte noch so einen Hunger.« Lächelnd setzte sich Yuki neben ihren Gefährten. Ihre rundlichen Formen ähnelten denen Pilars, was diese gerne als Bestätigung dafür ansah, dass Söhne sich ihre Gefährtinnen oft nach der Ähnlichkeit mit der Mutter aussuchten. Nun ja, Lia wäre ein recht guter Gegenbeweis gewesen.

Tomasch strahlte seine Liebste an und strich dem Kind zärtlich über den Kopf. Noch wohnten die beiden auf dem Hof von Toivo und Pilar, doch da alles danach aussah, dass sie dauerhaft zusammenbleiben würden, sah Tomasch sich bereits nach einer eigenen Behausung um. Einen ganzen Hof wollte er nicht führen, denn im Gegensatz zu Pilar hatte Yuki keinerlei Ambitionen, ihr Leben als Bäuerin zu verbringen. Sie ging lieber weiter ihrer Töpferei nach. Toivo war das nur recht, so würde ihm Tomaschs Arbeitskraft auf dem Hof erhalten bleiben.

Mikail ließ sich nur kurz von seiner Suppe ablenken, um einen Blick auf das Kind zu werfen, dann säbelte er den nächsten großen Bissen vom Bauchspeck ab. Er musste sich ranhalten, sonst verpasste er Lia noch.

Dann fiel ihm ein, was Loris gesagt hatte. »Ach so«, nuschelte er mit vollem Mund. »Ich soll übrigens heute um drei bei Loris sein, oder besser bei seiner Mutter. Die will irgendwas mit uns beiden besprechen.«

Pilar ließ den Löffel klappernd fallen. »Was?«

Mikail rollte nur die Augen und schluckte hinunter. »Sie will was mit uns besprechen. Loris meint, es klang nach einer guten Neuigkeit. Aber er hat wohl auch noch keine Ahnung, worum es genau geht.«

Seine Mutter hatte sich schon wieder gefangen und ignorierte die verwunderten Blicke Yukis. »Ach so. Entschuldige, für einen Moment dachte ich, ihr beiden hättet wieder was ausgefressen, so wie früher. Aber ihr seid ja nun schon groß.«

»Ja, Mutter, das sind wir.« Mikail beeilte sich, mit dem Essen fertig zu werden, verließ den Tisch und steuerte die Schule an. Die Kleinen würden gleich nach Hause entlassen werden.

»Und woher kamen die Ahnen?«

Lia saß auf dem Tisch ganz vorne und sah aufmerksam in die Klasse. Ein blonder Junge hob die Hand.

»Ja, Urik?«

»Von weiter her als wir uns vorstellen können. Aus einem Land, in dem man nicht mehr leben konnte, weil alles so schmutzig war.«

Mikail lehnte sich wie so oft von außen in den Fensterrahmen und lauschte Lias Unterricht. Einige der Kinder lächelten ihm zu, manche kicherten. Lia warf nur einen kurzen Blick in seine Richtung und fuhr fort.

»Ja, so in etwa. Das Land der Ahnen war schmutzig und giftig geworden, und so zogen sie aus, um eine neue Heimat zu suchen. Ein Land, in dem noch nichts anderes lebte und das sie für sich beanspruchen konnten.«

Lia fuhr fort, den Kindern die Geschichte der Ahnen zu erzählen. Dafür hatte sie ein ganz besonderes Talent, und so hingen nicht nur die Kinder gebannt an ihren Lippen, sondern auch Mikail. Wobei ihn diese Lippen mindestens ebenso faszinierten wie das, was sie berichteten. Von der vergifteten alten Heimat, von Menschen, die sich gegenseitig umbrachten für Land, Nahrung und Wasser, von dem Hass, den sie einander entgegenbrachten, wenn sie nur ein wenig unterschiedlich aussahen.

»Die waren wirklich so doof?«, fragte ein kleines Mädchen von vielleicht sieben Jahren dazwischen. »Bloß, weil der eine dunklere Haut hatte als der andere? Das sind doch nur Farben! Das ist ja so, als würde ich meine Freundin hauen, nur, weil ihre Haare schwarz sind und meine rot.«

Lia nickte. »Ja, Jena, so doof waren die wirklich. Du hast ganz recht, das sind nur Farben. Augen, Haare oder Haut, eigentlich ist da kein Unterschied. Auch davor sind die Ahnen geflohen. Und hier haben sie all diesen Unsinn hinter sich gelassen, hier zählen solche Kleinigkeiten nicht, seit vielen, vielen Generationen.«

Just in diesem Moment erschollen die Hörner zum vierten Male. Drei langgezogene Töne versetzten Mikail einen Stich im Herzen. Hier zählen solche Kleinigkeiten nicht, wiederholte er Lias Satz in Gedanken. Ihn fröstelte. Anderes zählte dafür umso mehr.

Lia drinnen klatschte in die Hände. »Fein, Kinder, Schluss für heute. Morgen geht’s um den großen Fehler der Ahnen. Aber jetzt ab nach Hause, eure Eltern warten sicher schon mit dem Essen.«

Lachende und kreischende Kinder stürmten einen Augenblick später aus der Schule, gefolgt von einer strahlenden Lehrerin.

»Na, du musst mich aber auch ständig in Verlegenheit bringen, was?« Lia umarmte Mikail und küsste ihn flüchtig auf die Wange. »Die Kinder fragen schon dauernd, ob wir Gefährten sind.«

Mikail grinste. »Na und? Sollen sie doch! Sobald ich zwanzig bin …«

»Jaja, schon recht.« Sie knuffte ihn in die Seite. »Vorausgesetzt, ich spiele mit.«

Er setzte eine zutiefst entsetzte Miene auf. »Das will ich doch hoffen! Ich halte mich doch nicht die ganze Zeit zurück, um dann …«

Au weh. Böser Fehler. Lias Blick enthielt mehr als nur ein Quäntchen echten Ärger. So wunderschön ihre grünen Augen auch leuchten konnten, ebenso konnten sie wütende Blitze abschießen. »Ach, darum geht’s? Na, wenn das so ist, tob dich nur aus. Man muss immer auf seine Prioritäten achten, nicht?«

Mikail schaute bedröppelt drein. »Ach komm, du weißt doch, dass ich nur Spaß mache. War doch meine Idee genauso wie deine. Meine Priorität bist du und sonst nichts.«

Lia zog eine Augenbraue hoch. Vor ein paar Jahren hatte sie lange vor dem Spiegel gestanden, bis sie sich diesen tadelnden Blick beigebracht hatte, und Mikail hatte sie dafür ausgelacht. Jetzt, das musste er zugeben, wirkte es ziemlich gut.

»So?« Sie ließ ihn noch einige Atemzüge lang zappeln. »Das will ich dir aber auch geraten haben.« Erneut knuffte sie ihn. »Du verbringst eindeutig zu viel Zeit mit meinem Bruder. Der setzt dir nur Flausen in den Kopf.«

»Was kann ich dafür, dass ihn der Lehrer damals ausgerechnet neben mich gesetzt hat?«, verteidigte er sich.

»Stimmt«, gab sie ihm recht. »Er war der Flegel, der durch deinen guten Einfluss ein paar Manieren lernen sollte.« Sie seufzte. »Hat nur leider nicht funktioniert.«

»Das will ich überhört haben!«

Mikail stöhnte und drehte sich um. »Wenn man vom Esel spricht …«

»… dann schreit er«, vollendete Lia und grinste ihren Bruder an. »Hast wohl mal wieder gelauscht, was?«

»Ich?« Loris sah so unschuldig aus wie ein neugeborenes Lämmchen. »Würde ich doch nie tun!«

Einen Augenblick später hatte er sich zwischen Mikail und Lia gedrängt und jedem einen Arm um die Schultern gelegt. »Was ihr nur von mir denkt, ts ts ts.«

Loris drückte seiner Schwester einen Kuss auf die Stirn. »Aber nun lauf mal lieber schnell heim, sonst verpasst du das Essen. Vater hat gekocht, das musst du ausnutzen.«

Aus eigener Erfahrung wusste Mikail, dass Yusef ein weitaus besserer Koch war als die Mutter beiden. Als Ärztin wurde Mona bewundert, als Ratsmitglied geachtet, als Köchin gefürchtet.

»Ich hab übrigens schon gegessen, lecker Eintopf, schön scharf. Und du, mein Bester?« Loris sah Mikail fragend an.

»Graupensuppe, auch lecker, danke der Nachfrage.«

»Na fein.« Loris klatschte in die Hände. »Da ihr ja sonst heute bestimmt nichts vorhabt, schlage ich vor, du, lieb Schwesterherz, stürmst den Eintopf, und wir zwei Hübschen schauen uns noch ein bisschen in der Stadt um, bis wir antreten müssen.«

»Antreten«? Lia sah ihn fragend an.

»Mutter will in zwei Stunden etwas mit uns besprechen. Keine Ahnung, was.«

»Na dann …« Lia wandte sich in Richtung ihres Elternhauses. »… sehen wir uns um drei.« Leichtfüßig lief sie davon.

Mikail blickte ihr hinterher. Ihr hellbraunes Haar flatterte in dem leichten Wind, der aus den Bergen herabkam. Am liebsten hätte er Loris in den Hintern getreten dafür, dass er aufgekreuzt war und das Treffen mit Lia damit so schnell beendet hatte. Aber … ein kleines bisschen Strafe musste schon sein. »Man merkt, dass ihr von verschiedenen Erzeugern seid.«

»Echt? Woran?«

»Die vielen Unterschiede. Sie sieht so gut aus, ist intelligent, liebenswürdig …« Weiter kam Mikail nicht, dann musste er sich schleunigst in Sicherheit bringen.

2

Eine Weile später saßen sie auf der inneren Mauer und ließen den Blick über die weiteren drei Halbringe schweifen, die die Südseite von Or umschlossen. Im Laufe der Jahrhunderte war die Stadt gewachsen und hatte immer neue, längere Stadtmauern erfordert. Auch ein großer Teil der Felder, Weiden und Stallungen lag innerhalb der Mauern, um Vieh und Ernte vor den Tieren der Wildnis zu schützen.

Der hiesige Sandstein war zum Glück leicht abzubauen, und so hatte man die älteren Mauern als zusätzlichen Schutz in Dürrezeiten stehen lassen. Da das Gelände zur Ebene hin sanft abfiel, konnte man von hier aus über alle weiteren Mauern hinwegsehen. Der erste Ring war inzwischen ziemlich dicht bebaut, beinahe wie die Innenstadt. Im zweiten gab es schon größere Lücken, Gemüsegärten und Felder, die bereits großenteils abgeerntet waren, und langsam vertrocknende Weiden. Der dritte Ring enthielt hauptsächlich Bauernhöfe und deren landwirtschaftliche Flächen, zwischen denen die typischen rotbraunen Häuser verstreut lagen. Allmählich stieß die Erweiterung der Stadt in die Ebene an ihre Grenzen, man siedelte nun schon in die Täler hinein, die aus den Bergen zur Stadt führten.

Auf den übrigen Seiten umfassten Felswände die Stadt, zerteilt von einigen schmalen Tälern und Schluchten, die unter anderem zu den Erzlagerstätten führten. Auch diese wurden abgeriegelt, wenn die Dürre begann.

Or lebte vom Eisen. In kilometerbreiten Baumplantagen weit vor den Mauern, Stadtwald genannt, wuchs das Holz für die Kohle, um das Erz zu verhütten. Noch schwelten die Meiler draußen in der Ebene, die Kohle karrte man zu den Hütten, nahe den Erzminen. Das fertige Roheisen wurde dann nach Or transportiert um wiederum außerhalb der Stadt weiter veredelt zu werden. Stahl und hochwertige Werkzeuge waren in den anderen Städten heiß begehrt. Der Rauch sowohl der Kohlemeiler als auch der Stahlwerke und Schmieden waberte durch die Mittagshitze, wenige Kilometer entfernt, sodass er die Stadt nur bei sehr ungünstigen Wetterlagen erreichte. Ein paar Wochen noch, dann wurden die Arbeiten eingestellt, die Menschen in die Sicherheit von Ors Mauern gebracht. Während der Dürre war es außerhalb der Stadt zu gefährlich. Loris’ Vater Yusef und die drei anderen Eisenunternehmer begannen schon mit den Vorbereitungen dafür.

Mikail hockte wie immer einen Meter vom Rand der Mauer entfernt, genau in der Mitte. Mit der Höhe hatte er es nicht so, vorsichtig ausgedrückt. Loris hatte schon lange aufgehört, ihn damit aufzuziehen, ließ aber selbst ganz locker die Beine über den Rand baumeln. Die innere Mauer war gerade einmal drei Meter hoch, nicht mehr als der obere Boden in Toivos Scheune, und auf den musste Mikail doch auch immer wieder klettern. Aber nun ja, Höhenangst war eben nicht logisch.

Vorhin hatte Mikail sich doch allen Ernstes über Gewissensbisse beklagt, weil sie hier faul in der Sonne saßen. Das war so typisch für ihn. Er hätte bestimmt daheim auf dem Hof noch einiges helfen können. Stattdessen saß er hier mit seinem Freund und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Als braver Sohn hatte er sich vorgenommen, das später am Tag noch nachzuholen. Ach herrje! Es war jetzt schon klar, dass der Kerl einmal den Hof übernehmen würde, vermutlich mit seinem Bruder zusammen.

Solche Ambitionen hatte Loris nicht. Ins Eisengeschäft seines Vaters einzusteigen war ebenso wenig sein Traum wie den Beruf der Mutter zu ergreifen. Sich den ganzen Tag mit Kranken herumzuschlagen, ach nein, zu deprimierend. Und schon gar nicht mochte er die Arbeiten verrichten, die sein Vater ihm ständig zuwies. Von der Pike auf lernen, das sollte er bereits seit Jahren. Na danke.

Was er wirklich machen wollte, wusste er selbst noch nicht genau. Schlecht, wenn man zwanzig war und damit eigentlich langsam auf eigenen Beinen stehen sollte. Aber noch ließen ihm seine Eltern dieses Verhalten großzügig durchgehen. Noch.

»Man merkt, dass die Dürre näherkommt«, meldete sich Mikail nach einer längeren Zeit gemeinsamen Schweigens.

Loris brummelte nur dazu. Natürlich merkte man es. Es regnete kaum noch, die Temperaturen stiegen. Wie zu jeder Trockenzeit. Nur, dass diese sehr früh kam und besonders hart werden würde.

»Die zweite Dürre, die wir so richtig bewusst mitbekommen, was?«

Wieder brummelte Loris, bequemte sich dann aber doch zu einer Antwort. »Stimmt. Bei der letzten war ich zwölf und du elf. Weißt du noch, wie wir die Spatzen gejagt haben?«

Mikail lachte auf. »Ach ja, das war ein Spaß. Wir haben auch einige erwischt.«

»Da waren wir mächtig stolz drauf, erinnerst du dich? Und das mit unseren simplen Wurfhölzern. Diesmal dürfen wir richtige Jagdringe benutzen, das wird viel interessanter.«

Wenn sie überhaupt noch dafür eingesetzt wurden. Eigentlich war die Spatzenjagd vor allem Aufgabe der Jugendlichen. Die Biester wurden während der Dürre zu einer gewaltigen Plage, gegen Ende griffen sie in großen Scharen sogar Haustiere an, verletzten die größeren und pickten kleinere wie Kaninchen und Hühner ganz tot. Bis dahin versuchten sie, an jeden ungesicherten Nahrungsvorrat zu gelangen, fraßen, was sie stibitzen konnten. Noch schlimmer war es, wenn sie an Wasserspeicher herankamen und diese mit ihrem Kot verdreckten. Diese großen Becken waren in die flacheren Bergausläufer oberhalb der Stadt geschlagen worden, auf dem Landweg eigentlich nur aus der Stadt zu erreichen und momentan noch bis zum Rand gefüllt. Während der Dürre wurden alle Kinder ab zehn und die Jugendlichen bewaffnet – je nach Alter mit Wurfhölzern oder scharf geschliffenen Metallringen – und bekamen die Aufgabe, Wasser und Nahrung gegen die verfressenen Vögel zu verteidigen. Meist reichte es, einige der Tiere zu erlegen. Die anderen Biester stürzten sich dann gierig auf ihre toten Artgenossen. Zumindest, solange sie vor allem hungrig waren. In den Durstwochen war ihnen Wasser wichtiger als Futter.

»Geschmeckt haben die Viecher aber beschissen.«

Loris prustete los. »Hab ich dir doch gleich gesagt! Aber nein, du Dösel musstest ja unbedingt einen grillen.«

Mikail lachte mit. »Klar! Wieso hätte ich dir glauben sollen? Das musste ich schon selbst probieren.«

Zwei lange Hornstöße schallten aus den Bergen herüber. Mikails Lachen erstarb. Er schwieg eine Weile verbissen, dann fragte er: »Weißt du, wessen Kind es ist?«

Loris überlegte einen Moment. »Ich glaube, die Mutter heißt Ailen. Eine Bäckerin.«

»Und …«

»Schlangenaugen«, beantwortete Loris die unausgesprochene Frage. So hatte er es von Mona aufgeschnappt, als sie es heute beim Essen kurz erwähnte.

»Scheiße.«

Ja, das war nie schön. Loris hatte selbst zwei Geschwister verloren.

»Komm«, sagte er zu seinem Freund und stand auf. »Sie werden es bald rausbringen, das muss ich mir nicht ansehen.«

Mikail erhob sich ebenfalls und warf unnötigerweise einen Blick auf die große Sonnenuhr am Stadtturm. Die Hörner erklangen immer zu denselben Uhrzeiten, es war also ganz sicher zwei Uhr nachmittags. »Was machen wir bis dahin?«

»Wir gehen einfach jetzt schon zu mir und trinken noch was, bis Mutter Zeit für uns hat.«

»Passt.«

Sie zogen los in Richtung Innenstadt, wo vor allem Kaufleute und andere angesehene Persönlichkeiten lebten. Als einer der wichtigsten Männer im Eisengeschäft hatte Yusef dort ein geräumiges Haus, in dem auch Monas Praxis lag.

Ein Schwarm Spatzen zog über ihre Köpfe hinweg, in schillernden Grün- und Blautönen. Beinahe eine Armlänge Spannweite. Waren die Viecher seit der letzten Dürre schon wieder größer geworden?

»Ah, da seid ihr ja schon.« Mona betrat den Raum in ihrer Arbeitskleidung und musterte die beiden jungen Männer, die mit Bechern voll kalten Kräutertees in ihrer Küche saßen. Lia war zu Mikails Leidwesen zu einer Freundin gegangen, als die zwei gerade eingetroffen waren.

Mikail nickte ihr freundlich zu. »Hallo Mona. Loris sagte, du wolltest mich sprechen?«

»Allerdings, ja.« Sie blickte sich kurz um. »Yusef ist noch nicht da. Na schön. Lasst mir kurz Zeit, mich umzuziehen. Die letzte Patientin könnte etwas Ansteckendes haben, ich möchte diese Kleider sofort in die Seifenlauge stecken.« Schon verschwand sie durch eine andere Tür.

»Vater soll auch dabei sein?« Loris sah Mikail an. »Das wusste ich gar nicht. Dann scheint es was Größeres zu sein.«

»Das ist es«, erscholl Yusefs tiefe Stimme. Schwitzend betrat er den Raum. Er selbst fand sich stattlich, die meisten anderen bezeichneten ihn vorsichtig als wohlbeleibt, und der Weg von den Lagerhallen hierher war bei den herrschenden Temperaturen ein kleiner Gewaltmarsch für ihn. Selbst in seiner weiten, ärmellosen Galaba, die er aufgrund der Wärme trug, trieb es ihm noch den Schweiß auf die Stirn. Dabei war dieses beinahe bodenlange, kleidartige Hemd viel luftiger als Hemd und Hose, wie die meisten Männer und auch viele Frauen sie trugen.

»Mikail, schön, dich zu sehen.« Yusef klopfte dem Freund seines Sohnes gütig auf die Schulter und wandte sich Loris zu. »Wo ist deine Mutter?«

»Zieht sich grad noch um und versenkt ihren Kittel in der Lauge.«

»Ah.« Yusef griff sich den Tonkrug mit dem kalten Kräutertee, füllte einen Becher und trank ihn in einem Zug leer. Er goss nach und setzte sich zu den beiden Jüngeren an den Tisch.

»Um was geht es denn?«, fragte Loris seinen Vater. Die Neugier wurde langsam unerträglich.

»Warte auf deine Mutter, Junge. Sie möchte es Euch eröffnen. Nur so viel: Es wird spannend.« Yusef zwinkerte ihm verschwörerisch zu.

In diesem Moment betrat seine Gefährtin, mit der er seit über zwanzig Jahren zusammenlebte, die Küche. Statt des schlichten, praktischen und vor allem auskochbaren Kittels trug sie nun die feinen Kleider eines angesehenen und recht begüterten Ratsmitgliedes. Mit ihrer schlanken, hoch aufgeschossenen Figur sah sie ausgesprochen gut aus – ein ziemlicher Gegensatz zu Yusef.

»Spannend, nun ja«, kommentierte sie missbilligend. Hatte Yusef ganz gerne mal einen kleinen Schalk im Nacken sitzen, war Mona beinahe immer ernst und setzte oft genug eine säuerliche Miene auf. Die zeigte sie auch jetzt, doch nur für einen kurzen Augenblick. Dann erkannte Loris doch tatsächlich so etwas wie Aufregung in den Augen seiner Mutter. Und … Stolz?

Mona setzte sich neben ihren Gefährten und unterzog Loris und Mikail einer zweiten, eindringlicheren Musterung. Was bei den Ahnen ging da vor?

»Nun also«, begann sie, »ich habe tatsächlich aufregende Neuigkeiten für euch. Ihr wisst, die nächste große Dürre zieht herauf. Doch bis dahin sind es noch einige Wochen. Wir erleben gerade erst den Beginn der Trockenzeit. Bis sich ernsthafte Auswirkungen zeigen, dauert es noch eine Weile.«

Das alles waren Binsenweisheiten, die jedes Kind in der Schule lernte. Große Dürren gab es regelmäßig alle acht Jahre, wenn die jährliche Trockenzeit mit einer besonders aktiven und heißen Sonne zusammentraf. Wozu erzählte Mutter das?

»Da wir gemessen an den letzten Dürren zwar etwa gleich viele Vorräte haben, die Bevölkerung jedoch um etwa hundert Menschen angewachsen ist, hat der Rat beschlossen, dass die jährliche Karawane nach Cood diesmal etwas größer ausfallen soll. Mittels Tauben wurde bereits ausgehandelt, dass dort eine stattliche Menge Fisch bereitstehen wird, auch Salz benötigen wir mehr als sonst. Die Karawane aus Sawan, die heute Nachmittag eintrifft, wird mehrere Tonnen Salz mitnehmen, sodass unsere Vorräte nicht mehr ganz ausreichen werden. Ihr wisst, sie brauchen es zum Pökeln des Fleisches und für das eingelegte Gemüse.

Und weil nun also die Karawane um fünf Wagen aufgestockt wird, darunter auch ein weiterer deines Vaters, Loris, werden auch einige Leute mehr benötigt.«

Loris traute seinen Ohren nicht. Sollte das etwa heißen …

»Ich darf mit?« Bislang hatte Vater das Ansinnen seines Sohnes abgeschmettert, auf eine Karawane mitzugehen, obwohl diese Bewährungsprobe eigentlich für alle jungen Männer üblich war, die das zwanzigste Lebensjahr vollendet hatten. Yusefs Ansicht nach sollte der Junge erst mal daheim das Arbeiten lernen, bevor man ihn einer Karawane mitgab. Woher nur dieser Sinneswandel?

»So sieht’s aus«, bestätigte Yusef. »Deine Mutter hat mich überzeugt, dass wir dir diese Möglichkeit geben sollten, dich zur Abwechslung mal als nützlich zu erweisen. Ich hoffe, du machst uns keine Schande.«

Am liebsten wäre Loris aufgesprungen und vor Freude durch die Küche gehüpft. Endlich gab es mal ein wenig Abenteuer in seinem Leben! Er packte Mikail am Arm und strahlte ihn freudig an. »Klasse, oder?«

Der lächelte vorsichtig zurück. »Ja, ganz klasse. Aber …« Ein verunsicherter Blick zu Loris’ Eltern.

»Warum wir dich heute dabeihaben wollten?«

»Ja. Ich bin noch neunzehn und werde erst kurz nach der Dürre zwanzig, also darf ich noch nicht mit auf die Karawane.«

Mona lächelte schmallippig. »Nun ja. Das ist eine allgemeine Regel, aber kein geschriebenes Gesetz. Immerhin, Mikail, bist du von euch beiden der weitaus Vernünftigere. Was machen die paar Monate schon aus? Wir haben das im Rat durchgesprochen und sind uns einig, dass du längst reif genug für diese Aufgabe bist. Ob nun kurz vor oder kurz nach der Dürre, was macht das für einen Unterschied? Du wirst doch sicher Verwendung für das Geld haben, das du als Fahrer verdienst, nicht? Außerdem, ich will ganz ehrlich zu dir sein, erhoffen wir uns, dass du ein wenig auf unseren Tunichtgut aufpasst und ihn von den größten Dummheiten abhältst.«

Ach, das durfte doch wohl nicht wahr sein! Mikail sollte den Aufpasser spielen? Loris unterdrückte mühsam ein Grinsen. Als wenn ihn sein Freund jemals von etwas abgehalten hätte, wenn er es wirklich wollte. Aber Hauptsache, der Kerl war mit von der Partie. Gemeinsam ins Abenteuer, die Stadt an der Küste sehen, das Meer, was gab es Besseres?

»Sag mal, freust du dich denn gar nicht?«

»Doch doch«, gab Mikail wenig überzeugend zurück. »Ich fürchte nur, ich werde meinen Eltern ziemlich auf dem Hof fehlen.«

Sie saßen wieder auf der inneren Mauer und blickten gen Westen, wo zwischen Wäldern und Gebirge eine Staubwolke stand. Dort zog die Karawane aus Sawan heran.

»Ach komm!« Loris knuffte ihn in die Rippen. »Die werden schon mal eine Weile ohne dich auskommen. Bis wir abfahren, sind es noch zehn Tage hin, dann habt ihr die Ernte großenteils eingelagert. Und wir sind ja rechtzeitig vor Beginn der harten Zeit wieder da. Sie haben schließlich noch Tomasch.«

Er schnappte sich seinen Freund, nahm ihn in den Schwitzkasten und rubbelte ihm mit den Knöcheln über den Kopf. »Stell dich nicht so an! Das wird ein riesen Abenteuer!«

»Ja, klar, eigentlich finde ich es ja auch ganz prima. Nur, was halt meine Eltern dazu sagen werden …«

»Nachdem Mutter sich im Rat dafür eingesetzt hat, dass du mitkommen kannst? Ich glaube nicht, dass sie uns jetzt noch einen Strich durch die Rechnung machen. Vor allem, da Mutter persönlich mit ihnen spricht. Und zwar genau in diesem Moment.« Loris grinste seinen Freund breit an. »Du weißt, wie überzeugend sie ist. Selbst Vater kuscht vor ihr.«

Mikail gab sich offenbar geschlagen und lächelte unsicher. »Ja, da hast du wohl recht.« Er wies in Richtung der Staubwolke. »Schau, jetzt kann man schon die vordersten Wagen erkennen.«