Das Katzenhaus - Tina Alba - E-Book

Das Katzenhaus E-Book

Tina Alba

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Beschreibung

Beziehung im Eimer, aus der gemeinsamen Wohnung geflüchtet - es läuft für Tassilo. Er beschließt, ganz neu anzufangen, und findet eine neue Bleibe in einem verschlafenen Küsten-Nest. Dort begegnet er nicht nur dem hinreißenden Tierarzt Jonas sondern auch einer älteren Einwohnerin, die ihn offenbar mit jemandem verwechselt. Wer ist dieser Maximilian, für den ihn die alte Meta irrtümlich gehalten hat? Was hat es auf sich mit der halb verfallenen Jugendstil-Villa am Dorfrand? Warum kann Tassilo plötzlich die Gedanken seiner Katzen hören? Und warum ist er bis über beide Ohren verliebt, obwohl er Beziehungen doch abgeschworen hat?

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Für den einzig wahren schwarzen Kater

 

 

Das Katzenhaus

 

 

 

 

Tina Alba

 

 

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

Impressum:

Tina Alba c/o WirFinden.Es Naß und Hellie GbR Kirchgasse 19 65817 Eppstein

www.tina-alba.de/wordpress

Cover: Sylvia Ludwig, www.cover-fuer-dich.de und Regina Mars

Grafiken:

Old mysticpalace at nightwithstormysky: Inga Locmele/shutterstock.com

Beautifulyoung male modelleaningagainsttreeoutdoors: CURAphotography/shutterstock.com

Cats: pixabay.com

Kapitelheader und Absatztrenner: pixabay.com

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Menschen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis
I. Die Geister
1. Neuanfang
II. Die Geister
2. Zwei alte Damen
3. Der Streuner
4. Spurensuche
III. Die Geister
5. Das Haus am Ende der Straße
6. Das Katzengeheimnis
IV. Die Geister
7. Nicht mehr allein
V. Die Geister
8. Hausbesuch mit Kater
9. Maximilians Geheimnis
VI. Die Geister
10. Ahnenforschung mit Meta
11. Streunerjagd
12. Vereinigung
13. Sophie
14. Familienbande
Epilog

 

Lesefutter: Zerbrochene Spiegel und schwarze Katzen
Lesefutter: Seidenpfoten
Die Autorin
Eine kleine Bitte

I.

Die Geister

 

Eine Katze kann das Heimkommen in ein leeres Haus in ein nach Haus kommen verwandeln.

(Pam Brown)

 

Alles ist eins. Immer wieder schließen sich im Leben Kreise. Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Geburt, Tod und Wiedergeburt. Das Leben hat einen Anfang, irgendwann, aber niemals ein Ende, denn es geht immer weiter, eines folgt auf das andere. Das Leben mag vielleicht einen Augenblick innehalten, aber dann beginnt der Kreislauf von Neuem, und alles dreht sich weiter, wie sich die Erde um die Sonne dreht. Und so findet Verlorenes irgendwann immer den Weg zurück zu denen, die es vermissen.

 

Er wusste all das tief in sich. Alles war eins, und jeder Kreis schloss sich irgendwann einmal. Alle seiner Art wussten um den Kreislauf des Lebens und die Geheimnisse, die sich darin verbargen. Keines war wie das andere, auch für ihn und seine Art nicht, denen nachgesagt wurde, sie hätten mehr als nur ein Leben. Er erinnerte sich an sein Letztes, als sei es erst gestern zu Ende gegangen. Daran, dass er einen Körper besessen hatte, Hunger und Durst spüren konnte. Und Schmerz, ja, vor allem Schmerz und Leid. Er erinnerte sich noch ganz genau daran, welche Aufgabe er in jenem Leben zu erfüllen gehabt hatte.

Jetzt lebte er ein anderes Leben, frei von allem, was ihn an die Erde band. Sein Körper war fort, ebenso Hunger, Durst, Schmerz und Leid. Verlangen und Begierden waren verschwunden, doch seine Form war noch immer da, als erinnere sich die Seele, die er jetzt war, noch ganz genau an den Leib, den sie einst bewohnt hatte. Er wusste, dass er schön gewesen war, geschmeidig, kraftvoll und elegant. Er war bewundert worden, geliebt wegen seiner Schönheit, seiner Anschmiegsamkeit und seiner hingebungsvollen Treue.

Diese Treue war es, die ihn an diesen Ort zurückgebracht hatte, an dem ihn alles an sein früheres Leben erinnerte. Fast spürte er die kühlen Steintreppen unter den Pfotenballen. Wie oft hatte er hier gesessen und in den Sonnenuntergang geblickt, darauf gewartet, dass er nach Hause kam, um ihm um die Beine zu streichen und ihm damit zu sagen ich bin hier, ich warte auf dich, ich bin dein Freund für immer. Witternd hob er den Kopf und prüfte den Wind, der durch die Erinnerung seines langen, weißen Pelzes und seiner Schnurrhaare strich und nach Veränderung und Neuem duftete. Er stellte die Ohren auf. Er war zurück.

Jetzt konnte er den Weg unter seinen Pfoten fühlen, die kleinen runden Kiesel, das Moos und die Grasbüschel, die die Zeit zwischen ihnen hatte wachsen lassen. Die Tür, durch die er damals so oft in den Garten hinausgesprungen war, hing schief in den Angeln, ihr Holz zum Teil verrottet, die bunten Glasscheiben in ihren metallenen Rahmen blind von Staub und Alter. Er wusste, in diesem geliebten Haus musste es ähnlich aussehen. Spinnweben und Mäuse überall, er konnte sie riechen. In den Ecken wucherten Erinnerungen wie Schimmelpilze, gefangen in klammen Mauern. Begierig, gefunden zu werden. Er schloss die Augen, blinzelte und öffnete sie wieder. Das ganze Haus ächzte und seufzte unter der Last der Jahre, die Erinnerungen wisperten Fragen in die Nacht, die nur er hören konnte. Sie krochen unter sein Fell, ließen seine Haut kribbeln und die feinen Haare abstehen.

Nur der Geruch hatte sich nicht verändert. Der Duft nach Spätsommer und reifen Äpfeln hüllte ihn ein wie sanftes Streicheln. Die Süße von Astern und Dahlien hing in der Luft, eine Ahnung von Kastanien, die bald in ihren stacheligen Gehäusen von den Bäumen fallen würden. Er hatte Kastanien immer gemocht. Sie rollten über den Boden, wenn er sie mit den Pfoten anstieß, und dann konnte er sie jagen.

Haus und Garten hatten sich verändert, natürlich hatten sie das. Der einst so gepflegte Park wucherte wild, und am Haus nagte der Zahn der Zeit. Es gab keine Menschen mehr, die darin lebten, es pflegten, es bewahrten. Türen und Fenster waren verschlossen, zum Teil vernagelt mit Brettern, die inzwischen genauso morsch waren wie die hölzerne Veranda. Moos und Flechten wucherten über das Mauerwerk und zauberten bunte Flecken auf den ehemals weißen Putz, als hätte ein kleines Kind sie dort hingepinselt.

Er sprang auf die Terrasse, trat auf die braunen Fliesen, die im Sommer immer so wunderbar warm gewesen waren, denn sie hatten das Sonnenlicht in sich aufgesogen wie ein Schwamm das Wasser und es festgehalten, bis die ersten Sterne am Himmel erschienen. Im Sommer. Damals, als er noch da gewesen war. Jetzt lag Abendtau über den Fliesen und verlieh ihnen einen feuchten Glanz.

Er schüttelte die Erinnerungen aus dem Pelz, setzte sich und schlang den buschigen Schweif um die Pfoten. Erwartungsvoll blickte er in die Nacht hinaus, denn er wusste, er war nicht der Einzige und würde nicht lange allein bleiben. Die Präsenz der anderen ließ die Luft um ihn beben. Fast glaubte er schon, sie zu sehen, den Roten und die Gestromte mit den vielen Farben. Worte fielen ihm wieder ein. Worte, mit denen er und die anderen gemeint gewesen waren, ausgesprochen voller Liebe, mit einer sanften, tiefen Stimme und begleitet von zärtlichen Berührungen.

Winter. Er hatte ihn Winter genannt, weil sein Fell so weiß war wie frisch gefallener Schnee. Sommer war der Rote gewesen und sie, deren Fell wie gefallenes Laub bunt war, hatte er Herbst gerufen. Jedes Wort hatten sie verstanden, das er zu ihnen gesagt hatte, und sie alle hatten gewusst, dass auch er sie verstanden hatte. Denn er hatte eine Gabe besessen, über die alle Menschen verfügten, doch die nur wenige anzuwenden bereit und in der Lage waren. Sie hatten gemeinsam diese Gabe benutzt und waren Freunde geworden: Sommer, Winter und Herbst und der Mann, der den Tieren half und ihre Worte mit seinem Herzen hören konnte.

Winter richtete die lang bepinselten Ohren nach vorn, als die anderen leise wie Schatten aus dem Gebüsch schlichen und sich zu ihm gesellten, Sommer an der einen, Herbst an der anderen Seite. Ihre Gedanken berührten einander. Jeder von ihnen wusste, warum sie gekommen waren.

Er wird bald da sein. Winter konnte es fühlen in allem, was ihn umgab.

Er wird kommen, aber er wird blind sein. Er wird sich an nichts erinnern können. Mit den Zweibeinern ist es anders als mit uns. Herbst trat von einer Pfote auf die andere, dann leckte sie sich unentschlossen die Flanke.

Wir sind nicht allein. Ich habe eine von uns gefunden, die uns helfen will, den Kreis zu schließen. Sie hat bereits zugestimmt, auch wenn sie weiß, dass ihr Entschluss jemandem Schmerz bereiten wird. Dennoch, sie ist bereit dafür, denn sie ist sicher, dass dieser Schmerz sich in etwas Gutes wandeln wird. Sommer richtete sich hoch auf, spitzte die Ohren, seine goldgelben Augen funkelten im Mondlicht. Winter und Herbst folgten seinem Blick.

Aus der Dunkelheit bewegte sich eine Gestalt auf das alte Haus zu. Klein war sie, schmal und zerbrechlich, ihre zierlichen Pfoten verursachten kaum einen Laut auf den ersten gefallenen Blättern. Langsam, leicht geduckt, den schmalen Kopf vorgestreckt kam sie näher, die bebenden Schnurrhaare weit aufgefächert, die Nasenlöcher gebläht. Sie flehmte mit leicht geöffneter Schnauze, hielt inne und schüttelte sich blinzelnd. Winter ahnte, wie sehr es sie verwirren musste, Ihresgleichen zu sehen und doch keine Witterung aufnehmen zu können, keinen Atem und kein Schnurren zu hören.

Winter sah, dass sie alt war. Um die Schnauze herum schimmerten silbrige Haare in ihrem schwarzen Pelz. Sie bewegte sich, als würden ihre Gelenke schmerzen, und doch strahlte sie jene Würde aus, wie sie den Uralten unter den Katzen zu eigen war. Grün wie frische Frühlingsblätter leuchteten ihre Augen in der Dämmerung. In jungen Jahren musste sie eine Schönheit gewesen sein, zartgliedrig und geschmeidig, noch jetzt lag Anmut in jedem ihrer behutsamen Schritte, und ihr kurzes, glattes Fell schimmerte unter dem Vollmond wie Samt.

Vor der Terrasse ließ sie sich nieder, legte den Schwanz über die Pfoten und richtete die großen Ohren auf. Ich wurde gerufen. Ich bin hier, und ich bin bereit. Ich weiß, was ich zu tun habe und woran ich ihn erkenne. Ich will eure Botin sein und euch helfen, den Kreis zu schließen, auf dessen Vollendung ihr schon so lange wartet. Ich will helfen, diese alten Wunden zu heilen und Frühling zu bringen.

Winter erstarrte. Herbst und Sommer schmiegten sich an ihn. Frühling. Es hatte unter ihnen nie einen Frühling gegeben. Nie hatte er eine Katze in seinem Leben so genannt. Winter konnte sich nicht erinnern, warum im Kreis der Jahreszeiten immer eine gefehlt hatte, obwohl er sich doch sonst so viel Mühe gegeben hatte, Namen für seine tierischen Freunde zu finden, die zueinander passten und Einheit ausdrückten.

Einheit, hörte er Herbsts Stimme in seinem Inneren, aber niemals Ganzheit.

Winter zuckte mit der buschigen Schweifspitze. Langsam näherte er sich der Alten und streckte ihr nach Katzenart die Nase entgegen. Er ahnte ihre Berührung mehr, als dass er sie spürte, aber er wusste, als er das leise Knistern in der Luft zwischen ihnen wahrnahm, dass Sommer eine gute Wahl getroffen hatte. Sie verbarg es gut, aber in ihrem zarten Leib war nicht mehr viel Zeit. Sie war bereits auf dem Weg in ihr nächstes Leben und verharrte nur noch, weil sie treu und weil so viel Liebe in ihr war.

Nacheinander tauschte die Alte auch mit Sommer und Herbst die Nasenberührung, und es war, als schlössen die drei Schatten in diesem Moment mit der, die noch in der Welt der Lebenden weilte, einen Pakt. Noch einmal richtete sie ihre wissenden grünen Augen auf Winter, dann wandte sie sich ab und schritt die Kastanienallee zur Hauptstraße hinunter, so sicher im Dunkel und so leise, wie nur eine Katze es vermochte. Winter sah ihr nach, bis der aufkommende Nebel sie verschluckt hatte, dann kehrte er auf die Terrasse zurück und spähte in die Nacht. Die Alte war nicht die einzige, die in dieser Stunde den Weg zu dem alten Haus finden sollte. Der Schatten des großen weißen Katers rieb sich mit der Pfote über das Gesicht und blickte aus geweiteten Augen, grün das eine, blau das andere, in den Nebel. Es dauerte nicht lange, und eine weitere Katzengestalt schälte sich aus dem Dunkel. Herbst hob den Kopf und sog den Duft des Neuankömmlings ein. Schwer und gerundet war ihr Leib, Milchduft haftete ihr an. Winter und die anderen wussten, dass sie bald werfen würde.

Auch die zukünftige Mutter schien verwundert und doch wieder nicht, dass sie fremde Katzen sah, ohne sie zu riechen und ohne sich von ihnen bedroht zu fühlen. Sie näherte sich Winter und rieb ihre Nase an seiner. Herbst drückte ihren Schattenkopf in ihre weiche Flanke, Sommer leckte ihr geisterhaft über die Ohren. Winter drückte seine Stirn an ihre. Schmerz durchbohrte ihn, als er sah, was kommen würde und was diese Mutter schon wusste, denn sie war eine Katze und sie trug ein Junges in sich. Als sie sich abwandte, folgte Winter ihr in den Nebel, bis sie beide den Augen der anderen entschwunden waren.

Als Winter zurückkehrte, lastete Schmerz auf ihm. Das Leben konnte so grausam sein. Auch sie wird bald bei uns sein, wisperten seine Gedanken den anderen zu.

Herbst drückte sich an ihn. Und das, was sie in sich trägt?

Winter hob den Kopf, sein Blick wanderte zum vollen Mond. Jemand wird sich seiner annehmen. Und dann wird der Kreis beginnen, sich zu schließen. Die Fäden des Schicksals sind gewoben. Wir können nichts mehr tun, als zu warten und die in unsere Reihen aufzunehmen, die uns helfen, unser Werk zu vollenden. Die Zweibeiner würden sagen, dass ein Stein ins Rollen gekommen ist, den nun niemand mehr aufhalten kann.

Herbst und Sommer stimmten in Winters Schnurren ein. Gemeinsam kehrten sie der Terrasse und dem alten, wartenden Haus den Rücken und wanderten in den Park, in den Nebel. Ihre Gestalten zerflossen, wurden eins mit der Dunkelheit, aber ihre Anwesenheit schwebte noch immer wie eine helle, gute Ahnung über dem alten Haus, das still dalag und auf den Frühling wartete.

1.

Neuanfang

 

Da wohnen, wo andere Urlaub machen. Tassilo konnte es immer noch nicht so recht glauben, dass jetzt endlich alles vorbei war. Kein Nils mehr, keine Vorwürfe, kein stundenlanges Gemecker. Nie wieder das Gefühl haben zu müssen, nicht er selbst sein zu dürfen. Nie wieder ein geliebtes Hobby nur dann pflegen zu können, wenn Nils gerade nicht da war oder wenn Tassilo dafür das Haus verließ. Nie wieder angestrengt über einen Witz lachen zu müssen, den er eigentlich gar nicht komisch fand. Kein nach Hause kommen und schon an der Tür merken, dass jemand in der Wohnung war, der da nicht hingehörte. Bei der Erinnerung an Nils fasste Tassilo das Lenkrad seines altersschwachen Bullis so fest, dass seine Arme sich bis in den Nacken hinein verkrampften. Dieses verdammte Auto ist treuer und zuverlässiger, als du es je warst, Nils! Genau das hatte er seinem Ex an den Kopf geworfen, als er ihn Arm in Arm mit Franz erwischt hatte. Im Schlafzimmer. In dem Bett, das sie sich gemeinsam gekauft hatten und in dem Nils ihn noch vor drei Tagen gefragt hatte, ob er sich vorstellen könnte, dass sie für immer zusammenblieben, vielleicht sogar heiraten würden.

Nur für einen Sekundenbruchteil hatte Tassilo darüber nachgedacht, was er machen sollte – selbst abhauen oder Nils samt Franz aus der Wohnung werfen. Er hatte sich fürs Abhauen entschieden, so schnell wie noch nie die wichtigsten Sachen zusammengepackt und die Katzen in ihre Transportkörbe gesperrt. Jeder Schritt begleitet von Nils' Beteuerungen, das sei ja nur ein Unfall gewesen. Eine einmalige Sache. Während Franz in die Bettdecke gewickelt da hockte und grinste.

»Ja, ganz genau, eine einmalige Sache!« Tassilo lenkte den Bulli um eine enge Kurve, vergaß zu schalten und würgte beinahe den Motor ab. »Mist!« Kuppeln, schalten, schönen Gruß vom Getriebe. »'tschuldigung«, murmelte er und tätschelte das Lenkrad. Der alte Bus konnte ja nichts dafür, dass Nils Tassilo immer noch auf die Palme brachte. Gerüchteweise war er jetzt mit Franz zusammen. So viel zu eine einmalige Sache.

Tassilo schnaubte. Zwei Monate war es her, seit er gepackt hatte, einfach gegangen war und sich in einer Ferienwohnung eingemietet hatte, um von dort aus in Ruhe nach einer neuen Bleibe zu suchen. Er wollte weg aus Hamburg, weg von der Stadt, in der ihn alles an Nils erinnerte. Der Mist mit Franz war nur der Tropfen gewesen, den es gebraucht hatte, um das Fass zum Überlaufen zu bringen, das sie beide durch unendlich viele Kleinigkeiten schon bis an den Rand mit aufgestautem Ärger gefüllt hatten. Ich war so ein feiger Hund. Warum habe ich nicht schon viel eher was gesagt? Oder er, warum hat er die Schnauze gehalten, obwohl ihn doch angeblich so vieles an mir gestört hat? Scheiße.

War es nur ihm allein aufgefallen, dass ihre Beziehung sich immer mehr in ein Nebeneinander statt Miteinander verwandelt hatte? War das so, wenn man sich an der Uni ineinander verliebte und dann beschloss, für immer zusammenzubleiben? Hatten sie sich wirklich so verändert in diesen Jahren, in denen sie beide ihre Bachelor- und Masterarbeiten geschrieben hatten?

Tassilo hupte einen Schuljungen auf einem klapprigen Fahrrad wach und bog auf die Landstraße ein, die ihn an sein Ziel bringen würde, hin zu diesem vollkommen bescheuert spontan gemieteten Haus in Emsmarschen. Leben, wo andere Urlaub machen, damit warb das verschlafene Nest an der Nordsee. Ein Paradies. Zumindest hatte das Haus auf den Bildern so ausgesehen. Tassilo grinste. Seit er wusste, dass er das Haus beziehen konnte, war er jeden Morgen mit Flugzeugen im Bauch aufgewacht und hatte vor lauter Aufregung und Vorfreude kaum vernünftig arbeiten können. Vom Fleck weg hatte er sich in das reetgedeckte Klinkergebäude verliebt und konnte es gar nicht erwarten, es zusammen mit seinen Katzen mit Leben zu füllen. Mit so einem Haus hätte er Nils nie kommen dürfen. Kleine Räume, grüne Fensterläden, Wände aus rotem Klinker und drinnen rustikaler Moorbauern-Charme. Weiß verputzte Wände, keine durchdesignte Tapete. Holzdielen, die vermutlich knarrten. Nils bevorzugte Vinylboden. Kühle Eleganz. Tassilo liebte es warm. Er mochte Holz, flauschige Teppiche, Sofas vom Format Opas Polsterecke. Bei Nils musste auf Polstermöbeln der Name irgendeines abgehobenen Designers stehen, bevor er auch nur daran dachte, sein hübsches Hinterteil darin zu versenken. Verdammt, warum denke ich jetzt an Nils' Hintern?

Sie waren einfach zu verschieden. Punkt, aus, Ende, vorbei. Nachdem Tassilo sich verkrümelt hatte, hatte er nachgedacht, viel zu lange und sicherlich viel zu viel, als dass es noch gesund für ihn war. Schließlich hatte er sich durchgerungen, Nils anzurufen, sich entschuldigt, den Versuch gemacht, auf zivilisierte Art Schluss zu machen. Nicht einen Moment lang hatte er das Gefühl gehabt, Nils würde ihm zuhören, und schließlich waren sie einander an der Strippe um die Ohren geflogen. Tassilo wollte es nicht zugeben, aber er kaute immer noch darauf herum. Mehr als acht Jahre warf man nicht einfach weg. Aber ich habe nicht mit einem anderen Kerl in unserem Schlafzimmer rumgevögelt. Jetzt geh weg und lass mich in Ruhe. Das hier ist ein neues Leben. Mein Leben, meins ganz allein. Endlich ich sein. Mich endlich nicht mehr verbiegen müssen. Nein, ich fand deine Witze über Katzenhaare irgendwann nicht mehr lustig, und ich weiß, dass du die Katzen nur toleriert hast, weil du mich ohne sie nicht haben konntest.

 

»Im Kreisverkehr an der ersten Ausfahrt ausfahren in die Petristraße«, meldete sich die Navigationssoftware des Smartphones, das im Halter an der Windschutzscheibe klebte. »In dreihundert Metern rechts abbiegen, um der Petristraße zu folgen. Das Ziel befindet sich auf der rechten Seite.« Tassilo folgte den Anweisungen der monotonen Computerstimme. Jetzt wurde es aber auch Zeit. Er musste bestimmt schon seit gefühlt drei Stunden aufs Klo, und aus den Katzenkörben, die eingepfercht zwischen Kartons und Umzugskisten standen, erklangen sehr eindeutige Protestgeräusche. Sol sang Arien, seit sie Hamburg in den frühen Morgenstunden verlassen hatten – er hasste Autofahren wie die Pest –, und mit jeder Minute, die sie im obligatorischen Emstunnelstau verbracht hatten, hatte der große rote Kater eine weitere Strophe dazu gedichtet. Noch nie hatte Tassilo sich so darüber gefreut, irgendwo anzukommen, und der Anblick des Häuschens mit Reetdach, gepflegtem Vorgarten und blau gestrichener Parkbank vor der Tür war wie eine Erlösung. Zuhause. Endlich.

Tassilo lenkte den Bulli auf die Auffahrt, parkte vor dem geschlossenen Garagentor und stieg ächzend aus. Beinahe zeitgleich flitzte ein roter Mini um die Ecke, heizte mit halsbrecherischer Geschwindigkeit die schmale Straße hinunter und kam mit quietschenden Reifen direkt hinter Tassilos VW-Bus zum Stehen.

Tassilo grinste. Bisher hatte er mit seiner Vermieterin nur telefoniert, aber die Frau, die aus dem Mini krabbelte und sich das wirre rote Haar aus dem Gesicht wischte, konnte nur Monika Janssen sein, immerhin prangte auf der Heckscheibe des Minis der Schriftzug Janssen Immobilien, und vor der Nummer auf dem Kennzeichen zierten die Buchstaben MJ das Nummernschild.

»Hach, Gottseidank, da bin ich ja gerade noch rechtzeitig gekommen. Herr Jacobi, nehme ich an?« Sie streckte die Hand aus und lächelte. In ihrem braunen Tweedkostüm mit der orangefarbenen Bluse darunter erinnerte sie Tassilo an ein aufgeregt herumflatterndes Rotkehlchen. Ihr Lächeln wirkte ansteckend.

»Frau Janssen? Tassilo Jacobi. Ich freue mich, hier zu sein.« Er schüttelte die dargebotene Hand, die angenehm kräftig zupackte.

»Haben Sie noch Fragen zu den Verträgen? Wenn nicht, dann können Sie gleich loslegen. Ich habe für heute Nachmittag um drei den Elektriker bestellt, Internet und Telefonanschluss wurden heute Morgen freigeschaltet, Sie können also ohne Umschweife anfangen zu arbeiten. Gott, haben Sie da ein Monster in ihrem Wagen?«

Tassilo lachte. »Sorry. Das ist nur einer meiner Kater. Nach fünfeinhalb Stunden Autofahrt ist er ein bisschen unleidlich. Mit den Verträgen ist alles okay, ich habe sie unterschrieben mitgebracht wie abgesprochen … hier …«Er angelte den Umschlag mit den Unterlagen vom Beifahrersitz, und Monika Janssen tauschte sie nach einem kurzen prüfenden Blick und einem Nicken gegen ein Bündel Schlüssel. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen alles. Ich hoffe, Sie sind zufrieden. Bisher kennen Sie diesen kleinen Schatz ja nur von Bildern.«

Sie schloss die grün gestrichene Eingangstür auf und führte Tassilo in einen schmalen Flur, von dem ebenfalls grüne Türen in Gästebad, Küche und Wohnzimmer führten. Hinter dem Wohnzimmer verbarg sich ein weiterer winziger Flur, an den ein größeres Bad mit Wanne und Dusche, das Schlafzimmer und ein weiterer kleiner Raum anschlossen.

Tassilo wusste sofort, das würde sein Büro werden. Vom Wohnzimmer aus öffnete sich eine Fensterfront mit Glastür auf eine von Ligusterhecken gesäumte Terrasse, dahinter erstreckte sich ein kleiner Garten. Nur ein Blick, und Tassilo war verliebt. Wildwuchs pur, überall Blumen, ein Apfelbaum, der sich unter der Last seiner Früchte neigte. »Wunderschön«, murmelte er, »Sie haben sogar an die Katzentür gedacht! Das ist perfekt! Wirklich, perfekt! Ich glaube, wenn Sie mich hier jemals wieder raushaben wollen, dann müssen Sie sich was einfallen lassen!«

»Im Gegenteil, ich freue mich, dass hier jemand einzieht, der das Haus nicht nur als Ferienwohnung weitervermieten will. Oder dem nach ein paar Monaten Landleben die Decke auf den Kopf fällt. Sie kommen aus Hamburg. Ist das nicht ziemlich krass, dieser Wechsel? Von der Großstadt zum Dorf?«

»Ich hab's mir ausgesucht, und ich möchte im Moment gar nichts anderes. Ich freue mich schon jetzt auf die Ruhe. Wirklich, es ist wunderbar.«

»Gut. Hier, die Schlüssel. Haustür, Garage, Terrasse, Gartenschuppen, Mülltonne, Briefkasten. Alles klar?«

Tassilo nickte und ahnte jetzt schon, dass er versuchen würde, mit dem Terrassenschlüssel das Haus aufzuschließen und mit dem für die Mülltonne an seine Post zu kommen. Egal, er würde lernen.

»Dann lasse ich Sie jetzt allein, Herr Jacobi. Die Pflicht ruft. Termine über Termine. Wenn Sie noch Fragen haben oder irgendwas mit den Handwerkern nicht klappen sollte, rufen Sie mich an, okay?«

»Okay. Danke. Wiedersehen!«

»Tschüß, Herr Jacobi!« Sie winkte noch einmal, dann flatterte sie zu ihrem Mini und war ebenso schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht war.

Meine Güte, was für eine hektische Person!

Lautes Gejodel aus dem Bulli erinnerte Tassilo an seine Pflichten. »Ist ja gut, ich komm ja schon!« Er zerrte die Körbe aus dem Kofferraum, trug sie ins Schlafzimmer und ließ die Katzen hinaus – Sol, den mächtigen roten Maine Coon-Kater, der aussah, als hätte er eigentlich ein Löwe werden wollen, die kleine graue Luna mit dem kurzen Samtfell und den grünblauen Augen, und Stella, seinen Liebling mit dem halblangen Fell, die zarte, schüchterne Stella, die sich immer auf den Schrank verkrochen hatte, wenn Nils mal wieder viel zu laut in der Wohnung herumgepoltert war.

»Nie wieder, meine Kleine.« Tassilo streichelte die weichen Ohren, ließ zu, dass Sol ihm brummend um die Beine strich und kraulte Luna den buckligen Rücken. »Ihr bleibt erst mal hier. Zimmerservice kommt sofort.« Wenn ich denn den Karton mit dem Katzenfutter finde …

 

Tassilo ließ sich auf das frisch zusammengebaute Sofa fallen und schloss die Augen. Seit mehr als sechs Stunden rödelte er jetzt schon hier herum, und jetzt konnte er es nicht mehr ignorieren: Er hatte einen Bärenhunger, und wenn er noch länger wartete, würde seine Laune auf den Nullpunkt sinken. Träge öffnete er ein Auge, schielte in die Küche, in der sich halb ausgepackte Kartons stapelten. Wenigstens hatte er keine Küche kaufen und aufbauen müssen, die hatte er vom Vormieter übernommen. Jetzt noch kochen? Tassilo stöhnte stumm bei dem Gedanken daran, die verbliebenen Kartons nach seinen Vorräten zu durchsuchen und dann nur auf eine abgelaufene Dose Ravioli zu stoßen. Nein, igitt. Dunkel erinnerte er sich, dass er auf dem Weg zu seinem neuen Haus an einer Pizzeria vorbeigekommen war. Der Gedanke an Salami und Peperoni auf knusprigem Teig, dazu Tomaten, Basilikum und jede Menge Käse ließ seinen Mund wässrig werden. Scheiß auf selber kochen und gesund und alles frisch und so. Heute gibt's Pizza, das habe ich mir verdient! Er grub die Hände in Sols dichten Pelz, als der Kater zu ihm auf die Couch hopste. »Ich lasse euch jetzt allein, Bande. Habt Spaß dabei, hier überall eure Haare zu verteilen!«

Donnergrollendes Schnurren antwortete ihm, der Kater machte sich lang, grub kurz die Krallen ins Polster, dann ließ er sich fallen und rollte sich zufrieden zusammen. Tassilo strich noch einmal über den warmen roten Pelz. Sol fühlte sich ganz offensichtlich wohl in ihrem neuen Zuhause, ebenso wie seine Gefährtinnen. Stella, die sich sonst immer ängstlich verkroch, wenn etwas Neues, Unbekanntes ihrer harrte, hockte mit gespitzten Ohren vor der Terrassentür und beobachtete ein Eichhörnchen, das den Apfelbaum hinauf- und wieder hinunterturnte. Luna lag langgestreckt und halb auf dem Rücken auf einem noch geschlossenen Umzugskarton, alle Pfoten von sich gestreckt und schnarchte. Niedlich.

Tassilo konnte sich nicht entsinnen, wann er sich das letzte Mal so entspannt gefühlt hatte. Ebenso wenig erinnerte er sich daran, wann er das letzte Mal alleine essen gegangen war. Früher wäre es ihm komisch vorgekommen, ohne Nils loszuziehen, doch jetzt fühlte es sich richtig an, den Mantel überzuwerfen, das Fahrrad aus der Garage zu holen, die es sich mit dem Bulli teilte, und ins Dorf zu radeln. Früher hätte er sein Handy an den Lenker geklemmt und die Navigation angeschmissen, damit er sich nicht verfuhr, jetzt radelte er einfach drauflos. Das Dorf war klein, er würde den Italiener schon wiederfinden.

 

Die Abenddämmerung setzte ein, letzte Sonnenstrahlen färbten den Himmel golden und orangefarben, als würde der Horizont brennen. Eine laue Brise wehte, trug den Duft von Watt und Salzwasser mit sich und eine Ahnung von Äpfeln und Herbstlaub. Tassilo liebte den Herbst. Und jetzt schon liebteer dieses kleine Dorf, in dem er sicherlich auch noch der Neue sein würde, wenn er zwanzig Jahre dort gelebt hatte. Jeder Schritt, jeder Atemzug fühlte sich so sehr nach Heimkommen an, dass sich ein Gefühl von Sicherheit und Zufriedenheit in Tassilo ausbreitete. Er atmete tief die saubere Luft ein. Keine Abgase, kein Verkehrslärm. Irgendwo schlug ein Hund an, ein Schwarm schwarzer Vögel rauschte über ihn hinweg, flog Richtung Kirche und ließ sich auf den Linden nieder, die den Kirchhof säumten. So viel Ruhe. So wenig Nils. Es war Tassilo vollkommen gleichgültig, dass das glückliche Lächeln auf seinem Gesicht ihn vielleicht ein wenig dämlich wirken ließ.

 

Leuchtbuchstaben in grün, weiß und rot verkündeten den Namen des kleinen italienischen Restaurants: Pane e Vino, Brot und Wein. Für Tassilo durfte es durchaus Pasta und Vino oder Pizza und ein Bierchen sein. Inzwischen hing ihm der Magen wirklich in den Knien, und wenn er nicht bald etwas zu essen bekam, würde er zum Kannibalen werden und den Kellner beißen.

Warme Luft voller Gewürzdüfte schlug ihm entgegen, als er das Restaurant betrat. Ein Blick genügte, um zu erkennen, dass der Laden brechend voll war. In einer Ecke erspähte Tassilo ein Zweiertischchen, das noch frei war, und quetschte sich zwischen den anderen Tischen hindurch. Die übrigen Gäste hoben die Köpfe, Augenbrauen wanderten Richtung Haaransatz, leises Raunen folgte Tassilo, als er sich hinsetzte. Es störte ihn nicht. Schließlich war er der Neue. Dass jemand in das Haus Nummer 3 in der Petristraße gezogen war, hatte sich bestimmt wie ein Lauffeuer in Emsmarschen verbreitet. Also lächelte Tassilo freundlich, bestellte Pizza mit Pilzen, Peperoni, Salami und doppelt Käse, trockenen Rotwein und Wasser dazu und lehnte sich zufrieden auf seinem Stuhl zurück. Morgen würde er einen Höllenmuskelkater haben. Egal.

Er hatte gerade seine Pizza bekommen, als die Tür aufging und ein weiterer Gast sich in die Pizzeria schob. Der Mann trug Gummistiefel und abgewetzte Jeans, auf dem dunklen Haar thronte eine Schiebermütze. Auf seiner Nase ritt eine dunkel gerahmte Brille, die ihm verdammt gut stand.

»Moin, Doc«, rief eine Stimme von der Theke her. »Ist ziemlich voll heute. Das Übliche? Kannst dich an die Theke setzen.«

Doc sah sich um, grinste dann und schüttelte den Kopf. »Nicht nötig, da ist noch was frei.«

Tassilo spürte den Blick des anderen auf sich wie eine Berührung, die seinen Nacken kribbeln ließ.

Der Mann musterte ihn wie ein exotisches Insekt über den Rahmen seiner Brille, dann kam er näher und deutete auf den leeren Stuhl. »Darf ich mich vielleicht zu Ihnen setzen?« Dabei lächelte er, was dazu führte, dass sich auf seinen dreitagebartverzierten Wangen Grübchen zeigten und seine Augen funkelten. Braune Augen. Wie Schokolade.

Das Lächeln und die angenehme Stimme des Fremden ließen Tassilo nicken, noch bevor sein Verstand merkte, was sein Bauch da gerade entschieden hatte. Aber jetzt war es zu spät, der Mann murmelte einen Dank und ließ sich dann schwer auf den Stuhl fallen.

»Ich hab Sie hier noch nie gesehen. Jonas Baumann.« Er lächelte wieder.

Unverschämt, wie gut er dabei aussah. Tassilo erwiderte das Lächeln. Verdammt, was hatte er da gerade gedacht? »Tassilo Jacobi«, stellte er sich vor, »ich, äh, bin heute hergezogen.«

»Ah, dann haben Sie das niedliche Haus in der Petristraße übernommen. Sie Glückspilz.«

»Mhm«, machte Tassilo und nahm einen Bissen von seiner Pizza, um Zeit zu schinden. Er war nicht vorbereitet auf Smalltalk mit einem Emsmarschener, und vor allem war er nicht vorbereitet auf ein Lächeln, das angenehme Wärme in seinen Bauch strömen ließ. Hergottnochmal, denk an Nils. Nein, denk nicht an Nils. Das Letzte, was du jetzt willst, ist ein Kerl, und außerdem … ist der wahrscheinlich sowieso hetero. »Entschuldigung«, murmelte er, »ich bin nicht gut bei sowas.«

»Bei was?« Jonas Baumann nickte dem Kellner zu, der eine Riesenportion Spaghetti mit grünem Pesto und ein Glas Wasser vor ihm abstellte.

»Smalltalk«, murmelte Tassilo um den nächsten Pizzabissen herum. »Ich hörte, wie der Wirt Sie Doc nannte. Sind Sie der Arzt hier?« Sowas war immer gut zu wissen. Ich brauche ja schließlich irgendwann mal wieder einen Hausarzt. Bei dem Gedanken, dass Jonas Baumann seinen Herzschlag kontrollierte, schoss ihm das Blut in die Wangen. Woher zum Teufel kamen diese verrückten Gedanken? Er wollte nicht flirten. Nicht jetzt. Nicht hier. Eigentlich, so wie er sich im Moment fühlte, nie wieder. Oder?

Jonas Baumann lachte. »Der Tierarzt«, antwortete er und grinste. »Und Sie können das doch. Das mit dem Smalltalk.«

»Ich weiß ja nicht. Aber ich freue mich, Sie kennenzulernen. Das spart mir das Suchen nach dem richtigen Menschen, wenn meine vierbeinigen Freunde mal Probleme machen.«

»Was für vierbeinige Freunde?« Baumann lehnte sich vor, neugierig, während er geschickt Spaghetti mit der Gabel aufdrehte. Er hatte schlanke und doch kräftig wirkende Hände, arbeitsrau, aber doch gepflegt. Bestimmt waren sie sanft zu kleinen Tieren. Katzen zum Beispiel.

Tassilo biss sich auf die Lippe. Warum kann ich das nicht abstellen? Er konnte es nicht. Immer fielen ihm solche Dinge auf. Ja, verdammt, der Kerl sieht klasse aus. Ist es jetzt gut? Wenn ich ihn weiter so anstarre, muss er noch denken, ich will was von ihm. Und er wollte nichts von einem anderen Kerl. Aber er ist total dein Beuteschema, glaubte er Nils' gehässige Stimme in seinem Hinterkopf zu hören. Scheiße, lass das! »Katzen«, sagte er laut, »Ich habe Katzen. Einen Coonie und zwei Landstraßenmiezen.«

Ein Leuchten huschte über das Gesicht des Tierarztes. »Ich mag Katzen. Ich sehe sie mir gern an.« Er kaute seine Spaghetti und drehte den nächsten Bissen auf die Gabel. »Ich kümmere mich hier im Ort zusammen mit einem der Bauern um die Streuner. Fange sie ein, sorge dafür, dass sie kastriert werden. Ihre sind doch …?«

»Klar. Vollkommen verantwortungslos, unkastrierte Katzen draußen rumrennen zu lassen, und davon abgesehen, wer will schon freiwillig einen potenten Kater mit seinem Gestank in der Wohnung haben?«

Baumann lachte wieder und schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung!«

»Meine Bande war noch nie draußen, ich will sie hier dran gewöhnen. In Hamburg war's mir zu gefährlich mit dem Verkehr.«

»Hier passiert wenig. Ich will nicht sagen, dass nichts passieren würde, denn das wäre eine Lüge, aber das Risiko ist wirklich sehr gering.«

»Klingt gut. Ich hänge an meinen Katzen.« Ohne dass er darüber nachdachte, schlüpften die nächsten Worte aus seinem Mund: »Diese Streunersache … könnten Sie dabei Hilfe gebrauchen? Ich bin selbständig und viel zuhause, und wie Sie ja schon festgestellt haben, bin ich hier der Neue und kenne außer Ihnen noch keinen Menschen hier. Also, falls Sie noch ein Paar Hände oder Augen gebrauchen können … denken Sie darüber nach!« Okay, was war das jetzt, Tassilo? Hast du nicht schon genug zu tun? Idiot.

»Gerne. Darf ich fragen, was Sie machen?«

»Ich schreibe. In Hamburg habe ich für eine Tageszeitung geschrieben und eine Kolumne gemacht. Den Kater der Woche. Lebensweisheiten aus der Sicht eines Katers. War ein Spaßprojekt, ich mache das von hier aus weiter. Aber meine Hauptaufgabe ist die Arbeit für einen Verlag. Ich schreibe Katzengeschichten. Und lektoriere. Und nebenbei bin ich Blogger und mache Videos.«

»Und davon kann man leben?«

»Geht so.« Tassilo grinste. »Auf jeden Fall macht es Spaß, und es ist genau das, was ich immer machen wollte.«

Baumann nickte. »Ich wollte auch immer Tierarzt sein. Auch wenn der Job manchmal wirklich stressig ist.« Er streckte sich, gähnte und schob den leeren Teller von sich, kippte den Rest seines Mineralwassers hinunter und stand auf. »Und darum werde ich jetzt auch abhauen, bevor ich hier im Sitzen einschlafe. Hat mich gefreut! Und ich werde mich wegen der Streuner melden, wenn Ihnen das wirklich ernst ist.«

»Ist es.« Tassilo kramte seine Brieftasche hervor und fischte eine Visitenkarte heraus. Er hatte sie drucken lassen, gleich nachdem er die Zusage für das Haus bekommen hatte. »Hier, meine Adresse und meine Nummer.«

»Danke! Schönen Abend noch! Willkommen in Emsmarschen.« Der Tierarzt lächelte, drehte sich um und bezahlte, dann ging er, und Tassilo blieb allein zurück mit seinem leeren Teller und dem halb vollen Weinglas. Hatte er sich geirrt, oder hatte Jonas Baumann ihm zugeblinzelt? Egal, ein netter Typ war der Tierarzt auf jeden Fall. Es war gut, Freunde zu haben. Und Jonas Baumann hatte durchaus das Potential, ein Freund zu werden. Einfach nur ein Freund. Weil es manchmal auch guttat, mit einem Menschen zu reden und nicht nur mit einem Kater oder zwei kapriziösen Katzenmädchen.

 

Kater und kapriziöse Katzenmädchen erwarteten Tassilo aufgereiht auf der Couch. Sol hatte sich auf einem Sitzplatz breitgemacht, der für zwei Erwachsene gereicht hätte, und auf dem Kissen daneben lagen Stella und Luna eng aneinandergeschmiegt und schliefen. Tassilo hielt den Atem an und verharrte ganz ruhig. Noch nie hatten Luna und Stella so nahe beieinander gelegen, geschweige denn gekuschelt. Er lächelte, strich über Sols breiten Schädel und schlich in die Küche. Irgendwo war doch … tatsächlich, gleich in der ersten Kiste, die er öffnete, fand sich ein Sortiment verschiedener Weinflaschen, dazu sorgfältig in Geschirrtücher eingewickelte Gläser. Perfekt. Er wählte einen trockenen Merlot, zog die Flasche auf und wanderte mit Wein, Glas und einer aus einem weiteren Karton gefischten Tüte Erdnüsse ins Wohnzimmer zurück. Vorsichtig, um die Tiere nicht zu stören, ließ er sich neben den zusammengekringelten Katzen nieder, streckte die Beine aus und atmete tief den Duft des Weins ein. Vanille, Pfeifentabak, ein Hauch von Beeren. Sein Lieblingswein. Er nahm einen Schluck und rollte ihn genießerisch im Mund herum, bevor er schluckte. Es fühlte sich wirklich wie Urlaub an. Die warme Willkommensumarmung des Hauses, Pizza essen gehen, einfach so, dazu noch mit einem netten Typen ins Gespräch kommen. Ein Traum. Nur, dass es keiner war.

Zufrieden lehnte Tassilo sich in die weichen Polster zurück. Er würde bleiben. Er war angekommen. Hier zu sein, fühlte sich richtig an. Genüsslich leerte er zwischen Umzugskartons und schlafenden Katzen ein Glas und noch eins, knabberte Erdnüsse und las ein paar Seiten in dem Roman, den er gerade am Wickel hatte und in weiser Voraussicht nicht in einem Umzugskarton versenkt hatte.

Kurz schielte er zu dem zusammengeklappten Rechner. Nein, die E-Mails konnten warten, schließlich wussten Redaktion und Verlag, dass er mitten im Umzug steckte. Zudem war er so hundemüde nach der langen Fahrerei und dem stundenlangen Packen, Räumen und Möbel aufbauen, dass ihm nach wenigen Seiten schon die Augen zufielen. Tassilo gähnte, räkelte sich genüsslich und streckte sich kurzerhand auf der Couch aus, den Arm um Sol gelegt, Luna und Stella vor dem Bauch. Mehrstimmiges Schnurren begleitete Tassilo, als er langsam in den Schlaf glitt.

 

Katzen. Überall Katzen. Sie streiften durch den Garten, belagerten im Haus die Möbel, wanderten durch die Korridore, und er musste aufpassen, dass er nicht über sie stolperte, wenn sie ihm plötzlich zwischen die Füße rannten. Es störte ihn nicht. Er wollte es gar nicht anders haben. Ihre Gesellschaft war ihm lieber als die anderer Menschen. Menschen forderten, keiner schien von sich aus etwas geben zu wollen. Bei Menschen ging es immer nur um Geld, Ansehen oder das, was andere von einem dachten. Er schnaubte. Nichts war ihm gleichgültiger, als was andere über ihn dachten, aber mit dieser Einstellung hatte er sich mehr Feinde als Freunde gemacht. Auch das war ihm gleich. Er brauchte niemanden. Keine Freunde zu haben, niemanden an sich heranzulassen, das bedeutete auch, dass niemand ihn mehr verletzen konnte. Und das war gut so.

Er beugte sich nieder und hob den kleinen grauen Kater mit dem zotteligen Fell auf, der ihm um die Beine strich und mit den Pfoten an seine Knöchel klopfte. »Komm hier, Minks, du kleine Nervensäge. Mein kleiner Wiederauferstandener. Da hast du wohl eins deiner neun Leben verbraucht.« Er strich über den weichen Pelz, die pinseligen Luchsohren. Wieder ein gerettetes Leben. Mochten die anderen im Dorf sich doch die Mäuler zerreißen. Er rettete Leben, und das war gut und nötig in Zeiten wie diesen. Es gab genug Menschen, die sich um Menschen kümmerten, jetzt, da die Wunden des Krieges langsam heilten, aber nicht genug, die für jene sorgten, die ebenso unter den langen Jahren des Kämpfens gelitten hatten. Der Krieg mochte vorbei sein, aber noch immer erinnerte so vieles an diese schrecklichen Jahre. Wer sich nicht um andere Menschen kümmerte, sorgte sich nur um sich selbst und das eigene zerbrechliche Leben. Er kümmerte sich um die, für die sich niemand interessierte. Die Tiere.

II.

Die Geister

 

Winter richtete sich auf und flehmte. Im Hauch des Windes lag der Duft von Neuanfang und Veränderung. Der geisterhafte weiße Kater schnurrte zufrieden. Er ist gekommen. Bald wird er erwachen, und dann schließt sich der Kreis.

Herbst schmiegte sich schnurrend an seine Seite. Dann werden Wunden heilen.

Und eine Seele wird Frieden finden. Sommer spitzte die Ohren. Und so beginnt es.

2.

---ENDE DER LESEPROBE---