Schatten, Gift & Zauberküsse - Tina Alba - E-Book

Schatten, Gift & Zauberküsse E-Book

Tina Alba

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Beschreibung

Als sein Vater im Sterben liegt, kehrt Jorin Alcasa in seine Heimatstadt zurück. Endlich will er sich mit seinen Eltern aussöhnen. Aber alles geht schief: Kaum angekommen wird er überfallen und ausgeraubt. Im heimatlichen Gut muss er überdies erfahren, dass nicht nur sein Vater, sondern auch seine Mutter gestorben ist und seine angeheiratete Base sich als die Gutsherrin aufspielt, während sein Vetter zu krank und verwirrt ist, um ihn zu erkennen. Jorin ist verzweifelt. Wie soll er ohne Siegelring oder Papiere beweisen, dass er der Alcasa-Erbe ist? Verzweifelt wendet er sich an den Schattenpanther - einen Mann, der dafür berühmt ist, jedes Verbrechen aufklären zu können. Von ihm erhofft Jorin sich Hilfe - und findet so viel mehr.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Schatten, Gift und Zauberküsse

 

 

Tina Alba

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

Impressum:

Kristina Siers, Außer dem Beckhofstor 5, 26721 Emden

www.tina-alba.de

 

Cover: Sylvia Ludwig

 

Grafiken:

Orchidee auf schwarzem Hintergrund: Olgsera/shutterstock.com

 

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Menschen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14

 

Danksagung
Lesefutter: Tanja Rast: Ränkespiel
Lesefutter: Kaye Alden: Der Feuervogel
Die Autorin
Eine kleine Bitte

Kapitel 1

 

Nichts hat sich verändert.

Das war das Erste, was Jorin durch den Kopf schoss, als er Adro langsam über die schmale Landzunge lenkte, die die Flussinsel mit der Stadt Tol-Bacuma mit dem umliegenden Festland verband.

Dieselben Gerüche, dieselben Geräusche. Fisch- und Räucherduft vom Hafen, in dem auch die Räuchereien lagen, der charakteristische Mief enger Gassen und billiger Hafenkaschemmen. Gebrüll drang von den Schiffen zu ihm herüber. Nie konnte es schnell genug gehen, wenn die Handelsschiffe be- oder entladen werden mussten, und falls einmal lebende Fracht dabei war, gab es immer besonderes Durcheinander. Das alles fühlte sich für Jorin so vertraut an, dass es wehtat. All die Zeit, die er fort gewesen war, hatte er sich eingeredet, dass ihm seine Heimat, dass ihm diese Stadt nicht gefehlt hätte.

Er hatte sich gründlich geirrt. Mit jeder Faser seines Herzens hatte er Tol-Bacuma und sein Elternhaus vermisst. Den lärmenden Hafen, die Gasthäuser, den Gutshof, auf dem er groß geworden war. Das Haus, in dem sie sich so schrecklich gestritten hatten, seine Eltern und er, dass er sich wutschnaubend davongemacht hatte. Voller Schmerz, weil sein Vater nicht einsehen wollte, dass Jorin nicht heiraten würde. Er hatte es seinem Vater zu erklären versucht, schon vor diesem unsäglichen Brautschau-Ball, den der alte Baron für ihn hatte ausrichten lassen. Damals. Als so plötzlich alles anders geworden war. Und das alles nur, weil sein Vater nicht hatte erlauben wollen, dass er einen Mann zum Lebensgefährten nahm. Er wäre, die Götter wussten das, nicht der Einzige gewesen. Aber nein, Vater hatte auf einer Frau bestanden. Auf leibliche Kinder, keine angenommenen, wie Jorin es ihm immer wieder vorgeschlagen hatte. Dieser verbohrte alte Knochen.

Damals. Wie weit weg das klang. Dabei war es kaum mehr als drei Jahre her. Damals lag auf der anderen Seite des Flusses, nur einen kurzen, flotten Ritt von der Stadt entfernt, in der Gestalt des weitläufigen Landhauses der Familie Alcasa mit der angrenzenden Pferdezucht seines Vaters. Der Gedanke an seinen Alten Herrn versetzte Jorin einen Stich und sorgte dafür, dass sein Magen sich zusammenkrampfte. Unbewusst musste er am Zügel gezerrt haben, denn Adro warf den schwarzen Kopf auf und schnaubte unwillig. Jorin klopfte ihm den Hals. »Tut mir leid, mein Schöner.« Er strich über den glänzenden Mähnenkamm.

Fast kam es ihm vor wie gestern, dass er mit Nurio im Gartenpavillon geknutscht hatte wie ein verliebter kleiner Backfisch. Ausgerechnet mit Nurio – dem Busenfreund seiner für ihn erwählten Braut. Was für ein Skandal! Der alte Baron war außer sich gewesen, hatte getobt, und Jorin erinnerte sich dunkel daran, was er seinem Vater an den Kopf geworfen hatte. Wie sehr sie einander gegenseitig beleidigt und verletzt hatten.

Er war gegangen, noch in derselben Nacht, hatte von einer Zukunft voller Reisen und Abenteuer geträumt. Mit Nurio – doch der hatte wohl im letzten Augenblick kalte Füße bekommen oder seine Nachricht nicht gefunden, jedenfalls war er weder am folgenden Tag nachgekommen, noch war er ihm später gefolgt, obwohl Jorin vorsichtig eine Spur von Krumen gelegt hatte, die Nurio hätte finden können, so er gewollt hätte. Jorin hatte gehadert. Doch er war nicht zurückgekehrt. Hatte sein Leben mit kleineren und größeren Abenteuern gefüllt, hatte gelebt und geliebt, immer wieder. Er war weiter und weiter gereist. Bis jetzt. Bis dieser Brief ihn erreicht hatte und er sich eingestehen musste, dass er nicht wirklich gereist, sondern immer nur weggelaufen war. Vor seiner Vergangenheit, vor seinem Vater und am allermeisten vor sich selbst.

Und nun war er hier. Wieder in Tol-Bacuma, weil er es nicht fertiggebracht hatte, gleich zu seinem Elternhaus zu reiten. Zu sehr fürchtete er, dass seine Eltern, vor allem sein Vater, ihm immer noch grollten. Welche Worte würden diesen Streit ungeschehen machen? Würde sein Vater ihm vergeben können? Jetzt?

So kurz vor seinem Tod?

Jorin kniff die Lippen zusammen. Ich habe Mist gebaut. Hätte ich nicht Hals über Kopf alle Brücken hinter mir abgerissen, hätte es vielleicht doch Frieden geben können. Ich hätte diese Frau heiraten und weiterhin eine Affäre mit Nurio haben können. Oder mit einem anderen. Und meiner Braut hätte ich dasselbe zugestehen können, einen Geliebten. Ein Kompromiss, den wir hätten schließen können, sobald der ersehnte Erbe da gewesen wäre. Verdammt noch mal, fast jeder und jede in unseren Kreisen wildert in fremdem Gebiet. Welcher Adelige, und wenn es auch nur ein kleiner Pferdebaron ist wie ich, heiratet schon aus Liebe? So ein Unsinn. Das ist doch nie etwas anderes als Kalkül gewesen. Ehen schließt man strategisch, das hat Vater immer gesagt. Wer Liebe will, der hat eine Affäre. Auch das genau seine Worte. Wahrscheinlich hätte er gegen eine Liebschaft überhaupt nichts einzuwenden gehabt, solange wir alle nur diskret genug gewesen wären.

»Scheiße.« Jorin zügelte Adro, als ihm eine Kutsche auf der schmalen Straße entgegengerumpelt kam. Unwillkürlich tastete er nach dem Pergamentbündel in seiner Brusttasche. Der Brief seiner Mutter hatte ihn völlig überraschend am entferntesten Ende der Provinz in dem kleinen Küstennest erreicht, in dem er seit einem halben Jahr gelebt hatte, unschlüssig, ob er nun noch auf den nördlichen Kontinent übersetzen sollte oder nicht. Kurz bevor er sich entschieden hatte, tatsächlich ein Schiff nach Norden zu besteigen.

Jorin lenkte Adro an den Straßenrand. Dem Datum nach war dieser Brief mehr als zwei Monate unterwegs gewesen, und der Bote, der ihn überbrachte, schien mehr als froh, dass er Jorin endlich gefunden hatte. Jorin schluckte hart. Beinahe hätte er den Brief ungeöffnet ins Meer geworfen und das verdammte Schiff bestiegen, das ihn vielleicht für immer aus Anciria fortgebracht hätte. Beinahe wäre er mitgesegelt, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Und jetzt stand er doch hier, vor den Toren der Hauptstadt Tol-Bacuma. Weil es bereits dämmerte und er nicht wusste, was er sagen sollte, wenn er seiner Mutter gegenübertrat. Seinen Vater, dessen war er beinahe sicher, würde er nach dem, was Lamica Alcasa ihm geschrieben hatte, wohl gar nicht mehr lebend antreffen, wenn er diese Nacht noch wartete. Und dennoch ritt er weiter in die Stadt hinein.

Jorin wusste nicht, was er darüber denken, was er fühlen sollte. Er spürte nur bleierne Müdigkeit und diese Leere, die ihm auf dem Rückweg in seine Heimat mehr und mehr bewusst geworden war. Dazu die nagenden Gewissensbisse und die Erkenntnis, dass eine Versöhnung mit dem alten Baron sehr wahrscheinlich nicht mehr möglich war. Zugleich fragte Jorin sich, ob sein Vater Ilian ihn dieses Mal angehört und zumindest versucht hätte, ihn zu verstehen. Es wäre das erste Mal gewesen. Bittere Galle stieg Jorin in den Mund. Er würgte und schluckte.

Als er sich am Stadttor von Adros Rücken gleiten ließ, zitterten seine Beine, und er musste sich einen Augenblick am Sattel festhalten. Jorin atmete auf, als die Wachen, die gelangweilt auf ihre Speere gestützt herumlungerten, ihn gemeinsam mit einer Gruppe weiterer Passanten einfach durchwinkten, ohne ihn eines näheren Blickes zu würdigen. Für sie war er nur ein Reisender unter vielen, der bei der Suche nach einem Nachtquartier sicherlich leise verzweifeln würde. Es war Spätsommer, kurz vor dem Erntemarkt, und Tol-Bacuma platzte aus allen Nähten.

Auf dem hinter dem Tor liegenden halbrunden Platz blieb Jorin stehen und suchte nach Orientierungspunkten. Geradeaus ging es weiter in die inneren Ringe der Stadt, die Straße links führte in das Hafenviertel mit seinen Kaschemmen und den Anlegern für die langen Flussschiffe und Fischerboote, von denen immer noch Lärm zu ihm herüberwehte. Rechts vom äußeren Ring lagen die Armenviertel, in denen um diese Stunde jeder auch nur etwas wohlhabender aussehende Reisende Gefahr laufen musste, überfallen zu werden. Jorin atmete noch einmal tief durch, dann lenkte er seinen Schritt zu den inneren Stadtringen.

Mehrere Brücken über die zahllosen Kanäle der Stadt führten ihn zunächst in das Viertel der Handwerker und dann zum zentralen Markt- und Tempelplatz. Dort, daran erinnerte sich Jorin gut, gab es Gasthäuser, in denen die Betten nicht von sechsbeinigen Mitbewohnern verseucht und die Preise dennoch bezahlbar waren. Zumindest war es vor drei Jahren noch so gewesen. Jorin atmete noch einmal tief den seltsam vertrauten Stadtmief ein, dann machte er sich auf den Weg. Er hatte Tol-Bacuma mit ihren verwinkelten Gassen, dem Gewirr von Kanälen und Brücken, dem bunt gekleideten Volk und den unzähligen Händlern und Gauklern wirklich vermisst, das spürte er, als ihm nach und nach all die Bilder wieder in den Sinn kamen. Erinnerungen. Als er noch ein Junge gewesen war, hatte sein Vater ihn oft mitgenommen, wenn der berühmte Pferdemarkt stattfand und die besten Tiere aus der Alcasa-Zucht ihre Besitzer wechselten.

Jorin hielt inne. Wo waren sie damals immer untergekommen? Wie hieß das Gasthaus gleich noch? Er überquerte den Marktplatz und sah sich um und musste gegen seinen Willen grinsen, als er das Schild sah.

Schnurrhaar und Katzenpfote.

Wer auch immer darauf gekommen war, dem Haus diesen kuriosen Namen zu geben, er hatte ihm allem Anschein nach ein neues Schild gegönnt. Über dem Namenszug aus verschlungenen Buchstaben putzte eine schwarze Katze ihre Pfote. Durch ein geöffnetes Fenster drangen Lautenspiel und Gelächter, das Klirren von Gläsern und ein wunderbarer Duft nach dickem Eintopf und frisch gebratenem Fleisch.

Jorin zögerte. Würde ihn dort noch jemand erkennen können? Die Wirtsleute, die Bediensteten? Jorin war vierzehn gewesen, als er das letzte Mal mit seinem Vater auf den Pferdemarkt gekommen war. Wenige Monate danach war er in die Provinz Vinisa geschickt worden, in der sein Onkel Enaro ein Weingut betrieb. Nachdem Jorin dort hauptsächlich Unfug mit seinem Vetter Civo angestellt hatte, anstatt die Geschäfte des Weinhandels zu erlernen, hatten die Väter sie kurzerhand getrennt, und Civo war auf das Gestüt der Alcasa gekommen, um zu lernen.

Jorin musste lachen, als er an all die verrückten Dinge dachte, die er damals mit Civo angestellt hatte. Ob der immer noch so klein und rundlich war, mit diesem Ansatz zum Bauch, den er schon als Fünfzehnjähriger gehabt hatte? Jorin schloss einen Moment die Augen und sah Civos gutmütiges rundes Gesicht vor sich, die rotbraunen Haare und die grünen Augen, in denen immer ein noch nicht vollständig ausgeheckter Streich zu schimmern schien.

Jorin seufzte. Seine Vergangenheit holte ihn ein, und die Erinnerungen machte ihn sentimental und auf eine seltsame Weise traurig. Die Welt, seine eigene kleine Welt war damals noch in Ordnung gewesen, unberührt von bittersüßer Liebe und der Ahnung nahen Todes. Entschlossen schritt er auf das Schnurrhaar und Katzenpfote zu und betrat den Innenhof des Gebäudes durch einen Torbogen.

Sofort eilte ihm ein Junge entgegen. »Guten Abend, Domiano. Wollt Ihr das Pferd unterstellen?«

Jorin schnallte sein Gepäck vom Sattel los, reichte dem Jungen die Zügel und drückte ihm eine Silbermünze in die Hand. »Sieht so aus, nicht wahr?« Er löste die Packtaschen vom Sattel und warf sie sich über die Schulter. »Reib ihn gut ab und gib ihm eine große Ration Futter, er hat viel getan heute. Und pass auf, wenn du ihm den Sattel abnimmst, manchmal lässt sein Benehmen ein wenig zu wünschen übrig.«

»Ja, Domiano. Wie lange werdet Ihr bleiben?«

»Nur eine Nacht.« Und vielleicht bin ich morgen Abend schon wieder da.

Der Junge nickte, dann führte er Adro in den Stall. Jorin wartete, bis das schwarze Hinterteil mit dem träge schwingenden Schweif hinter der Stalltür verschwunden war, dann betrat er die Gaststube.

Warme, leicht verrauchte Luft, die den Duft von Eintopf, Braten, gebackenem Käse und Wein mit sich trug, schlug ihm entgegen und erinnerte ihn daran, was er noch vermisst hatte: Panina, dieser herrlich lockere Hefeteigfladen, belegt mit allem, was die Küche hergab und im Ofen mit einer dicken Schicht geriebenen Käses überbacken. Herrlich. Göttlich. Jorin spürte, dass ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Ein reichhaltiges Essen und ein guter Becher Wein, das würde ihn ablenken und gut schlafen lassen, sodass er gleich am frühen Morgen würde aufbrechen können, um sich den Geistern seiner Vergangenheit zu stellen. Und dem Zorn seiner Eltern. Er schluckte. Vielleicht doch lieber zwei Becher Wein? Oder etwas Stärkeres?

Auf dem Weg zum Tresen wurde er daran erinnert, woher das Gasthaus seinen Namen hatte. Mehr als einmal stolperte er beinahe über eine zwischen und vor seinen Füßen entlanghuschende Katze, rabenschwarz und schlank, nur eine Pfote leuchtete weiß wie in Mehl getaucht. Diese Katze kannte er noch nicht. In seiner Jugend hatte ein dicker, fauler Grautiger über Gaststube und Küche geherrscht.

Eine junge Frau sah ihm mit einem Lachen entgegen. Dunkle Augen blitzten ihn aus einem schwarzen Gesicht an, unter ihrer Haube wanden sich ungezähmte Locken hervor.

»Wunderschönen guten Abend, Reisender. Lasst mich raten. Ein Zimmer, ein Bad und eine Panina. Und Wein?« Ihre Stimme trug ein Lachen in sich, das ansteckend wirkte.

Jorin grinste. »In genau dieser Reihenfolge, wenn es beliebt, Donnina.«

Sie nickte, kramte unter dem Tresen herum und reichte ihm einen Schlüssel. »Die Treppe hinauf und dann die dritte Tür auf der linken Seite ist noch frei. Sollte eine Katze davor liegen, schiebt sie einfach beiseite. Ich hoffe, Ihr mögt Katzen, sie sind überall hier, und es werden von Mond zu Mond mehr. Wenn Ihr noch etwas braucht, fragt einfach nach mir, ich bin Catya.«

»Wenn nicht, hätte ich mir ein anderes Gasthaus gesucht! Habt Dank, Donnina Catya.«

 

Einige Zeit später, nach einem heißen Bad, einer großen Portion Panina und mehreren Bechern schweren Rotweins saß Jorin in seinem Zimmer auf dem mit schlichtem weißen Leinen bezogenen Bett, von dem er zuvor sanft einen kleinen roten Kater verscheucht hatte, und überflog wieder und wieder den Brief seiner Mutter.

 

»Jorin,

ich weiß nicht, ob diese Zeilen dich noch rechtzeitig erreichen. Ich kann mir ja noch nicht einmal sicher sein, dass du sie überhaupt bekommst. Und falls doch, wie kann ich gewiss sein, dass du sie auch wirklich liest und nicht ungeöffnet ins Feuer oder auf den nächsten Misthaufen wirfst? Dennoch, ich muss es versuchen.

Ich muss dich bitten, nach Hause zu kommen. Dein Vater ist sehr krank. Wir sind uns nicht sicher, ob er den Sommer überleben wird. Aber es ist sein sehnlichster Wunsch, dich noch einmal zu sehen und dir zu sagen, wie leid seine Worte ihm inzwischen tun. Er grämt sich, mein Sohn. Er grämt sich darüber, dass er dich aus dem Haus getrieben hat, das doch dein Zuhause sein sollte, deine Zuflucht, der Ort, an dem auch du eines Tages dein Leben beenden sollst. Jorin, bitte, komm nach Hause. Wir warten auf dich. Was geschehen ist, ist von unserer Seite vergeben. Nicht vergessen, aber vergeben. Du bist uns wertvoll, trotz allem, Junge. Wir vermissen dich. Wir wollen, dass du wiederkommst. Wir sind doch nur noch so eine kleine Familie. Komm nach Hause, Jorin, vergib deinem Vater und lass ihn in Frieden durch das letzte Tor schreiten. Es würde ihm so viel bedeuten. Er liebt dich. Trotz allem. Und ich liebe dich auch. Wir vermissen dich schrecklich. Jede Nacht bete ich, dass du noch am Leben bist und dass du wieder zurückkommst. Ich habe dich lieb, mein Sohn.

Deine Mutter

Lamica«

 

Jorin hatte die Worte inzwischen so oft gelesen, dass er sie beinahe auswendig sprechen konnte, ebenso wie das zweite Pergament – offensichtlich eine Kurzfassung des Testaments seines Vaters. Jorin würde das Gut der Familie erben, den Titel, das Gestüt, den Apfelgarten. Ich habe dich auch lieb, Mutter. Voller Selbstironie blickte er auf seinen rechten Mittelfinger, an dem der Siegelring seiner Familie steckte. Er hatte ihn nie abgenommen, obwohl er sich an die tausend Mal gefragt hatte, warum er diesen Ring noch trug, wenn ihm seine Familie doch so gleichgültig war. Sie sind mir nicht gleichgültig. Ganz gleich, was war, sie waren immer meine Eltern, und ich … ich war ein dummer verliebter Junge. Oder ein dummer Junge, der glaubte, verliebt zu sein nach nur einer Nacht voller heißer Küsse und Händen unter den Kleidern. In einem Gartenpavillon.

Es dauerte eine Weile, bis er dem bohrenden, nagenden Gefühl in seinem Inneren einen Namen gegeben hatte. Angst. Er hatte Angst, nach Hause zu kommen und seiner Mutter gegenüberzutreten. Nicht, weil er an ihrer Liebe und ihrer Vergebung zweifelte. Sondern weil er damals so überstürzt abgereist war, ohne ein Wort, ohne einen Hinweis, wohin er gehen würde. Der Bote musste sich die Sohlen mehrerer Stiefelpaare durchgelaufen haben, um ihn zu finden, denn die Spur, die er für Nurio gelegt hatte, war nach drei Jahren gewiss kalt wie der Schnee im Norden. Vielleicht hatte seine Mutter sogar einen Magier angeheuert. Einfache Lokalisierungszauber kosteten nicht die Welt und waren meist zuverlässig, solange man dem Magier einen persönlichen Gegenstand der gesuchten Person geben konnte. Und die gab es auf Gut Alcasa ja nun wirklich genug.

Jorin seufzte, rollte den Brief zusammen und steckte ihn in seine Tasche zurück. Grübeln half nichts. Morgen, spätestens am Mittag, würde er auf dem Gestüt sein und beginnen, an den Mauern zu kratzen, die er zwischen sich und seinen Eltern aufgebaut hatte. Morgen. Sobald er geschlafen hatte. Vielleicht waren vier Becher Wein doch ein bisschen viel gewesen.

Er zog seine Stiefel aus, legte seine Kleider ab, trank die Hälfte aus der Wasserkaraffe auf dem Beistelltischchen und schob aus alter Gewohnheit sein Messer zwischen Bettgestell und Matratze. Dann kroch er in das schmale, aber saubere Bett. Hatte er noch vor einigen Momenten nicht daran geglaubt, überhaupt ausruhen zu können, belehrte ihn seine Müdigkeit eines Besseren. Er lag noch nicht ganz, als er bereits schlief.

 

Ein eisenharter Griff umklammerte ihn und nahm ihm den Atem.

Jorin wehrte sich, strampelte, kämpfte. Seine Beine verfingen sich in der Decke. Ein Arm drückte ihm die Kehle zu, und ein fauliger Geruch stieg ihm in die Nase. Jorin würgte. Was für ein widerlicher Traum! Verdammt, wach auf!

Die Erkenntnis, dass er wach war, nicht träumte, traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Da war jemand in seinem Zimmer, und dieser Jemand hielt ihn fest, umklammerte ihn und versuchte, ihm einen stinkenden Lappen auf Mund und Nase zu drücken, während ein weiterer Eindringling an seiner Hand herumzerrte und versuchte, ihm den Siegelring vom Finger zu reißen!

Jorin ballte die Hand zur Faust, doch die Finger des Fremden waren stark. Mit einem Knurren versuchte Jorin, sich aufzurichten und die Hand loszuwerden, die auf seinen Mund drückte. Er konnte kaum atmen, jedes Mal, wenn er es versuchte, füllte dieser süßliche Gestank Mund und Nase und benebelte seine Sinne.

Mühsam bekam er seinen Arm frei, doch zugleich bemerkte er, wie ein Gelenk seines Ringfingers schmerzhaft knackte und der Siegelring rau über seine Haut schabte. Jorin keuchte vor Schmerz. Ein weiterer Schwall widerlichen Gestanks drang in seine Nase.

Er hustete, krallte nach der Hand, die sein Gesicht umklammerte, er zerrte daran und hörte ein dumpfes Keuchen, als seine Nägel über etwas Weiches schrammten. Einen winzigen Moment lang löste sich der Griff. Jorin nutzte die Gelegenheit und biss zu. Etwas knirschte unter seinen Zähnen. Leder, es schmeckte widerlich.

Irgendwie bekam er die Beine von der Bettdecke frei, trat nach seinem Gegner, mit der freien Hand tastete er nach dem Messer, das er zwischen Bettkante und Matratze geschoben hatte, bevor er sich hingelegt hatte. Er erwischte den Griff, rutschte ab, als der andere ihn fluchend wieder packte und an ihm zerrte.

Schleifende Geräusche drangen an Jorins Ohren, ein Rascheln, im Dunkeln bewegte sich ein Schatten. Schritte erklangen, Jorin konnte nicht sagen, ob im Zimmer oder auf dem Korridor, doch der Mann, der ihn festhielt, schien aufzuhorchen und fluchte.

»Raus hier!«, brüllte der Kerl seinem unsichtbaren Gefährten zu, Jorin hörte, wie das Fenster aufgestoßen wurde und der Laden an die Hauswand schlug. Jemand zwängte sich hindurch, ein dumpfer Aufprall und sich rasch entfernende Schritte sagten Jorin, dass einer seiner Angreifer über die Straße flüchtete.

Doch der andere war immer noch da, klebte an ihm wie Pech, und der Mistkerl drückte ihm noch immer diesen widerlichen Lappen auf das Gesicht! Jorin konnte die Augen kaum offenhalten. Das stinkende Zeug benebelte ihn immer mehr, sein Gegner drückte fester zu, immer fester, der Griff um seinen Hals verengte sich. Luft, er brauchte Luft, er musste atmen!

Jorin versuchte noch einmal, sich zu wehren, schlug um sich, etwas klirrte. Er spürte, dass seine Hand, die mit dem Messer ziellos durch die Luft schnitt, etwas traf. Wieder fluchte der andere, der Griff lockerte sich, dann krachte etwas hart gegen Jorins Schläfe. Lichtblitze explodierten vor seinen Augen. Es wurde Nacht um ihn.

 

***

 

Socar starrte auf das Durcheinander und konnte nicht verhindern, dass ein hässlich zischendes Wort seinen Mund verließ. Über herumliegendes Zeug hinweg hastete er ans Fenster und spähte hinaus. Ein Schatten verschwand gerade um die Straßenecke, sich entfernende Schritte tappten auf dem Pflaster, dann nichts als Stille, die nur von flachen, hastigen Atemzügen unterbrochen wurde.

»Verdammt.«

Socar wandte sich dem Inneren des Zimmers zu. Mondlicht strömte durch das offene Fenster in den kleinen Raum und offenbarte einen zu Bruch gegangenen Becher und die Scherben einer Karaffe, einen stinkenden Lumpen, der in irgendetwas getränkt war, und einen bewusstlos halb auf dem Bett, halb auf dem Boden liegenden jungen Mann mit Blut an der Schläfe, das in sein aschblondes Haar sickerte. Die nackte, glatte Brust hob und senkte sich schnell, der Fremde atmete, lebte. Wenigstens keine Leiche. Socar grub die Zähne in die Unterlippe. Rasch verschaffte er sich einen Überblick – durchwühltes Gepäck, der stinkende Lappen auf dem Boden. Elendes Diebesgesindel!

Socar beugte sich über den jungen Mann, zog ihn auf das Bett zurück und schob ihm das Kissen unter den Kopf. Die blutige Wunde an seiner Schläfe schwoll an, aber außer einer Beule würde der Fremde dort wohl nichts zurückbehalten. Ein geübter Griff an die Halsseite des Fremden ließ Socar einen zwar schnellen, aber regelmäßigen Puls spüren. Ein Heiler, beschloss er, war hier nicht notwendig. Er hob den Lappen vom Boden auf, schnüffelte daran und verzog angewidert das Gesicht, als er den Geruch erkannte. Acaura-Öl. Er beeilte sich, den fettigen Stoff aus dem Fenster zu hängen, dann kehrte er zu dem Bewusstlosen zurück.

Der Mann hatte Glück gehabt. Noch einige tiefe Atemzüge mehr vom Dampf des Öls, und er würde nie wieder aufwachen. Verdammt, wer überfällt und vergiftet meine Gäste? Socar hatte diesen Mann noch nie gesehen, er musste erst heute angekommen sein. Hübsch war er, das musste er zugeben, mit dem fein geschnittenen Gesicht und dem Dreitagebart auf schmalen Wangen. Socar zögerte kurz, dann strich er eine aschblonde Strähne aus der Stirn. Feine Schweißperlen bedeckten sonnengebräunte Haut, auch die wie gemeißelt wirkende nackte Brust. Socar breitete die Decke wieder über ihn und untersuchte dann behutsam die rechte Hand des Fremden. Schrammen überzogen den geschwollenen Mittelfinger – da hatte einer der Diebe mit Gewalt einen Ring entwendet. Socar runzelte die Stirn. Ein weiteres Schmuckstück funkelte an der linken Hand des Fremden, Silber, ein Smaragd – warum hatte die Diebe den nicht auch mitgehen lassen? Socar zog eine Augenbraue hoch. Mit einem prüfenden Blick vergewisserte er sich, dass sein Gast weiterhin regelmäßig atmete, dann sah er sich die durchwühlten Satteltaschen näher an.

Praktische, aber ganz sicher nicht billige Reisekleider, eine gut gefüllte Börse, eine Ledermappe mit Pergament und Schreibzeug, die ihren Inhalt über den halben Fußboden verteilt hatte. Leere Pergamentbögen und ein paar Krümel Siegelwachs lagen herum, ein Kohlestift, ein Federkiel, eine kleine irdene Flasche, die vermutlich Tinte enthielt. Auch die über einem Stuhl hängenden weiteren Kleider des Fremden waren gut gearbeitet und aus hochwertigen Stoffen genäht, am Gürtel hingen eine leere Dolchscheide und ein elegantes Rapier. Nein, das war ganz sicher kein armer Schlucker. Warum bei allen Schatten haben die das Geld nicht mitgenommen? Oder den zweiten Ring? Sogar diese hübsche Schreibmappe würde einen Käufer finden.

Hatten die Einbrecher Papiere gesucht? Wichtige Papiere vielleicht?

Das konnte erklären, warum das Geld noch da war, der Smaragdring, das gut geschmiedete Rapier. Es war den Dieben nicht ausschließlich um Wertsachen gegangen. Aber worum dann?

Socar beugte sich noch einmal über den Bewusstlosen. Er kannte viele einflussreiche Menschen in Tol-Bacuma. Adlige und Kaufleute, sein Mentor hatte ihm Tore und Türen in die besten Kreise geöffnet, die bis zum Hof der Großfürstin reichten. Er kannte viele Gesichter – aber dieses hatte er tatsächlich noch nie gesehen.

»Das wird ein interessantes Erwachen, mein Freund«, murmelte er. Er angelte den inzwischen gut gelüfteten Lappen vom Fenstergriff, schloss das Fenster, sammelte die Scherben des Weinkelches sorgsam auf, dann verließ er das Zimmer auf leisen Sohlen. Als er die Tür hinter sich schloss, konnte er erkennen, wie die Diebe hineingekommen waren. Anscheinend hatte der Gast sein Zimmer abgeschlossen, doch das hatte die beiden Mistkerle nicht aufhalten können, obgleich sie allem Anschein nach nicht die Geschicktesten ihres Fachs gewesen waren. Mit einem Lächeln hob Socar einen abgebrochenen Dietrich vom Boden auf und schob ihn in die Innentasche seines Überrocks. Er trug die Fundstücke in sein eigenes Zimmer, das am Ende des Korridors hinter einer Tapetentür verborgen lag.

Als Socar den Raum betrat, huschte etwas aus den Schatten des dunklen Zimmers auf ihn zu und strich ihm um die Beine. Socar beugte sich hinunter und strich über den Rücken der geschmeidigen nachtschwarzen Katze mit der schneeweißen Pfote. Donnergrollendes Schnurren antwortete ihm.

»Hallo Norn, meine Freundin. Hast du schon auf mich gewartet?«

Socar streichelte noch einmal den samtigen Rücken, dann holte er eine ballonförmige Glasflasche mit einer weiten Öffnung aus einem Regal, stopfte den ölgetränkten Lappen hinein und verkorkte die Flasche fest. Den halben Dietrich legte er in eine Schatulle, holte aus einer anderen Schachtel zwei kleine Phiolen und kehrte leise in das Zimmer des überfallenen Gastes zurück. Norn folgte ihm wie selbstverständlich.

Der Fremde war noch immer bewusstlos, als Socar zurückkehrte. Er beugte sich noch einmal über ihn, kontrollierte Puls und Atem, dann öffnete er eine der Phiolen, die er mitgebracht hatte, und stellte sie auf das Schränkchen neben dem Bett. Ein würziger Duft, in dem sich Orange, Zimt und Nelken mischten, vertrieb auch den letzten Rest vom Gestank des Acaura-Öls. Zufrieden ließ Socar sich auf dem einzigen Stuhl des Zimmers nieder, legte die Füße auf die Kleidertruhe, wartete, bis Norn auf seinen Schoß gesprungen war, und lehnte sich zurück. Aus halbgeschlossenen Augen beobachtete er den Fremden und wartete darauf, dass er aufwachte. Was auch immer die Diebe bei dem jungen Mann gesucht hatten, Socar wollte es herausfinden, bevor Stadtbüttel, oder schlimmer noch, die Gehilfen der großfürstlichen Richter anfingen, im Schnurrhaar und Katzenpfote herumzuschnüffeln.

 

***

 

Jorin wollte nicht aufwachen. In seinem Kopf probte eine Horde von Holzfällern mit Äxten den Aufstand, und ganz sicher war in der Nacht irgendetwas Widerliches in seine Nase gekrochen und dort verstorben. Vermutlich taugte der Pelz auf seiner Zunge dazu, Zöpfe zu flechten. Götter, ist das ekelhaft! Ein diffuser Schmerz klebte an seiner rechten Hand. Es fühlte sich beinahe an, als hätte jemand versucht, ihm den Ringfinger zu brechen. Jorin fühlte sich so elend, das er ein dumpfes Aufstöhnen nicht zurückhalten konnte, als er versuchte, die Augen zu öffnen. Die Lider zu heben, war Schwerstarbeit. Jorin schloss sie sogleich wieder fest, denn das ins Zimmer fallende Sonnenlicht brannte wie Feuer.

»Oh, verdammt.«

Er versuchte, sich die Decke über die Ohren zu ziehen, was ihm nicht gelang, weil seine geschwollenen Finger ihm den Dienst verweigerten.

»Verdammt.« Jorin wusste, dass er sich wiederholte, aber es war ihm gleich, schließlich war ja außer ihm niemand im Raum. Er war allein mit seinem abartigen Kater und beschloss, für einen Moment in Selbstmitleid zu versinken, bevor er sich aufraffte, um seiner Mutter unter die Augen zu treten. Prompt wurde ihm übel.

»Guten Morgen.«

Jorin riss die Augen auf, fuhr hoch und sank mit einem Stöhnen wieder aufs Bett zurück. Er blinzelte. Verschwommen nahm er eine Gestalt wahr, die sich vor dem Fenster erhob und auf ihn zutrat. Er erkannte einen hochgewachsenen, schlanken Kerl in schwarzen Kleidern, ein schmales, blasses Gesicht. Was soll an diesem Morgen bitte gut sein? Und warum sitzt dieser fremde Mensch in meinem Zimmer? »Was zum Henker macht Ihr hier? Wer seid Ihr eigentlich? Und bei allen Göttern, zieht den Vorhang zu! Die Sonne blendet!«

Spöttisches Lachen antwortete ihm, doch der Mann drehte sich tatsächlich zum Fenster und schloss den Vorhang, der das helle Morgenlicht dämpfte.

Jorin richtete sich auf und rieb sich die Augen. In seinem Kopf dröhnten Schmiedehämmer, und noch immer hing dieser widerliche Modergeruch in seiner Nase. Von dem Pelz auf seiner Zunge ganz zu schweigen. Verdammt, wie viel habe ich getrunken?

»Ihr könnt mich Socar nennen.«

Wasser plätscherte, dann drückte Socar Jorin einen Becher in die Hand. »Hier, trinkt etwas, dann wird es Euch besser gehen. Erinnert Ihr Euch an letzte Nacht? Daran, dass Ihr Besuch hattet?«

Jorin stürzte den Inhalt des Bechers hinunter – klares, kühles Wasser, das den fauligen Geschmack vertrieb – und starrte den Kerl an. »Ihr wart das?« Das Tuch auf Mund und Nase, der bestialische Gestank, das Reißen und Zerren an seiner Hand! Sein Blick wanderte zu dem malträtierten Finger, und Jorin spürte, dass er blass wurde. Hätte er nicht auf dem Bett gesessen, er wäre in die Knie gesunken. »Wo ist mein Ring?« Der Siegelring. Mein Familienring. Er ist weg …

Socar lächelte, kühl, seine seltsam dunkelviolett schimmernden Augen blieben unberührt vom Heben seiner Mundwinkel. »Wenn ich Euch überfallen hätte, dann wärt Ihr jetzt nicht mehr am Leben«, sagte er mit einer Stimme wie Samt und Seide, die Jorin leises Schaudern über den Rücken jagte. »Zumindest hättet Ihr dann auch Euren anderen Ring nicht mehr, und ich denke, auch nicht dieses hübsche kleine Rapier.« Socar schüttelte den Kopf. »Ich habe Euch nicht überfallen, ich habe Eure Angreifer verjagt. Zumindest habe sie daran gehindert, Euch das Tuch mit dem Acaura-Öl so lange auf Euer hübsches Gesicht zu drücken, bis Euch für immer die Lichter ausgehen. Ich an Eurer Stelle würde mein Gepäck durchsuchen und nachsehen, was außer Eurem Siegelring noch fehlt.«

Was fehlt? Acaura-Öl? Bis mir die Lichter ausgehen? Jorin starrte den Fremden – Socar – an, der sich erhoben hatte, nun an der Wand lehnte und ihn mit seltsam abwartend wirkender Neugier anblickte. Die schwarze Katze mit der weißen Pfote, die Jorin bisher nicht bemerkt hatte, strich ihm schnurrend um die Beine.

Acaura, davon hatte er gehört – das stinkende Öl betäubte und konnte tödlich sein, war aber schwierig zu beschaffen, selten und teuer. Und hochgradig verboten. Jorin schauderte erneut. Er stellte mit bebender Hand den Becher beiseite und schlang die Arme um den Oberkörper. »Ich glaube, ich sollte Danke sagen. Und ich heiße Jorin. Jorin Alcasa. Wie habt Ihr bemerkt, dass hier etwas nicht stimmt?«

Socar hob eine Braue, nickte dann.

Hatte er ihn erkannt? Sagte ihm der Name Alcasa etwas? Jorin beobachtete Socar einen Moment lang scharf, doch dessen blasses, auffallend ebenmäßiges Gesicht mit hohen Wangenknochen zeigte keine Regung.

»Ich wohne hier. Ich hörte Lärm, als ich zu meinem Zimmer ging, und wurde aufmerksam. Und ich handelte. Nun, was ist mit Euren Sachen?«

Jorin starrte seine Taschen an, deren Inhalt in wüsten Durcheinander auf dem Boden lag. Socars Katze untersuchte mit zitternden Schnurrhaaren eines seiner Hemden und rollte sich schließlich darauf zusammen. Jorin seufzte stumm, schwang die Beine aus dem Bett und ließ den Blick über seine verstreuten Habseligkeiten schweifen. »Mein Siegelring. Und an diesem Waffengürtel da sollte nicht nur ein Rapier hängen, sondern auch ein Dolch.«

Socar schüttelte den Kopf. »Bedaure, kein Dolch. Seht nach, ob Ihr sonst noch etwas vermisst. Ich habe die beiden vielleicht daran gehindert, Euch umzubringen, aber leider nicht daran, Euch zu bestehlen.«

Jorin atmete tief durch. Er sah seine Taschen an, dann Socar. »Warum bei allen Göttern habt Ihr nicht die Stadtwache gerufen, wenn Ihr Zeuge eines Beinahe-Mordes wurdet?« Jorin zog seine Ledermappe zu sich heran und spähte hinein.

Sie war leer. Sein Vorrat an Pergament lag zwischen seiner Kleidung herum, ebenso Kohlestift, Tintenflacon und Federkiele. Der Brief seiner Mutter mit der Kurzfassung von seines Vaters letztem Willen – verschwunden. »Scheiße«, entfuhr es ihm, und Socar hob eine fein gezeichnete schwarze Braue.

»Ich habe meine eigene Art und Weise, wie ich … in meinem Gasthaus mit Einbrüchen und Angriffen auf meine Gäste umgehe.«

»In … das Haus gehört Euch?« Jorin ließ die leere Ledermappe sinken.

»Ich sagte doch, ich wohne hier.« Wieder lag dieses seltsame Lächeln auf Socars Gesicht. »Etwas fehlt«, vermutete er, »etwas, das Euch wichtig ist.«

Jorin konnte nur nicken. Jetzt, da er gerade drauf und dran gewesen war, sich mit seiner Familie zu versöhnen, überfiel ihn jemand und stahl ihm alles, was ihm von dieser Familie außer dem Namen geblieben war? Mutters Brief, Vaters Siegelring, das kurz gefasste Testament. Warum? Jorin begriff nur langsam, dass es den Dieben wirklich nicht um Werte gegangen war. Sondern um etwas anderes. Er konnte den wahren Grund nur ahnen. Warum sollte ihm jemand gerade die Dinge wegnehmen, mit denen er beweisen konnte, dass er wirklich er selbst, Jorin Alcasa, Baron Ilians Erbe, war?

»Und was?«

Jorin sah auf. »Private Post.« Er atmete tief durch. »Nichts von wirklich hohem materiellem Wert, außer meinem Siegelring und dem Dolch.«

Socar hob erneut eine Braue.

Jorin fühlte sich prüfend gemustert. Er runzelte die Stirn. »Ärgerlich ist wirklich nur der Verlust des Siegelringes. Er ist zwar nicht besonders wertvoll, aber ich hänge mit sentimentalen Erinnerungen daran.«

Socar musterte ihn noch immer. »Es geht mich nichts an, aber Eurer Reaktion auf den Verlust der Post entnehme ich, dass Euch die Sache nicht so gleichgültig ist, wie Ihr mich glauben machen wollt.«

»Ist aber so«, murmelte Jorin und vermied es, Socar anzusehen. Die ganze Sache ging ihn nichts an!

Socar hob die Schultern. »Wenn Ihr wollt, meldet den Diebstahl des Rings den Bütteln. Ich glaube allerdings nicht, dass das viel bringen wird. Kleine Diebereien geschehen in dieser Stadt tagtäglich. Wenn die Stadtwache hinter jeder herrennen wollte, dann hätte sie bald keine Zeit mehr für wirklich schwerwiegende Dinge. Mord oder etwas in der Art.«

Jorin nickte. Oder versuchten Mord … »Ich kenne diese Stadt. Scheint sich nicht viel geändert zu haben in der Zeit, in der ich weg war. Danke auf jeden Fall für die Hilfe, Socar. Ich werde wohl lernen müssen, den Verlust des Rings zu verschmerzen.« Vater wird mir die Ohren lang ziehen, sofern er noch am Leben ist, sobald ich auf Gut Alcasa ankomme. Verdammte Scheiße.

»Falls Ihr es Euch noch anders überlegen wollt, dann habt Ihr hier jemanden, der zumindest einen Teil des Überfalls auf Euch mitbekommen hat. Es waren zwei. Und sie haben versucht, Euch mit Acaura zu vergiften. Zumindest davon war ich Zeuge und würde das auch vor einem Gericht aussagen.« Socar pfiff leise, und die schwarze Katze ließ von Jorins Kleidung ab und kehrte zu ihm zurück, strich ihm um die Beine und ließ sich schnurrend von ihm hochheben. »Dann werde ich Euch jetzt wohl besser allein lassen. Ich wünsche Euch alles Gute, Jorin.« Er trat zur Tür und blieb dort noch einmal stehen. »Falls Ihr Hilfe wünscht – solche, die zuverlässiger und schneller Verbrechen aufzuklären vermag, als die Stadtbüttel – dann kommt hierher zurück und fragt nach dem Schattenpanter. Er kennt sich aus auf der Straße und weiß, wo sich solches Volk, wie es Euch überfallen hat, herumtreiben könnte. Ich kenne ihn und würde ihm Eure Nachricht überbringen. Wie gesagt – falls Ihr ihn treffen wollt.« Damit und mit einem Lächeln und einem Augenzwinkern, das Jorin für einen Moment lang den Atem anhalten ließ, war er verschwunden. Leise wie eine Katze.

Jorin starrte die geschlossene Tür an. »Schattenpanther«, wiederholte er und musste unwillkürlich an Socars Katze denken. Rabenschwarz und lautlos. Er hatte von Leuten gehört, die sich hinter klingenden Namen versteckten. Manche von ihnen galten als Heldinnen und Helden der Straße, geheimnisvolle Helfende, die Armen gaben, was sie Reichen nahmen, die Verbrechen aufklärten, vor denen selbst das Hohe Gericht der Großfürstin kapitulierte. Und so einer sollte im Schnurrhaar und Katzenpfote verkehren?

Jorin seufzte und stützte die Stirn in die Hände. Er fühlte sich, als sei eine ganze Armee über ihn hinweggetrampelt, Fußvolk und Reiterei gemeinsam. Was war hier los? Wer hatte ihn überfallen, fast mit diesem ekelhaften Acaura-Zeug vergiftet und ihm den Siegelring gestohlen? Er blickte auf seinen Finger, der blau und grün schillerte und so geschwollen war, dass er ihn kaum biegen konnte. Das mittlere Gelenk schmerzte wie nach einer Folter. Was für eine Freude würde es werden, die Zügel zu halten. Gut, dass Adro ein so zuverlässiges Pferd war.

»Ich muss nach Hause«, murmelte er in seine Tasche. »Irgendetwas stimmt hier nicht.«

Er biss die Zähne zusammen, raffte sich auf, ignorierte das dumpfe Bohren in seinem Schädel und packte seine verbliebenen Sachen zusammen.

In der Gaststube verzehrte er ein einfaches Frühstück, das aus kaum mehr als schwarzem Tee und trockenem Weißbrot bestand – ihm war immer noch dezent schlecht, und Brot und Tee waren das Einzige, was er herunterzubringen glaubte, ohne dass sich ihm gleich der Magen umdrehte. Socar war nirgends zu sehen, nur Catya wuselte hinter der Theke herum, nickte ihm freundlich zu, brachte ihm mehr Tee und ließ ihn ansonsten in Ruhe. Jorin schob die Gedanken an den seltsamen Gasthausbesitzer beiseite, schaffte es, sein Frühstück zu beenden und die Zeche zu zahlen.

Wenig später saß er auf Adros Rücken, die Zügel in der unverletzten Hand, und ritt durch die Stadt dem Südtor zu. Das Land, das sich hinter der Landbrücke erstreckte, die Tol-Bacuma mit dem Ufer verband, gehörte bereits zum Alcasa-Besitz. Das Land seines Vaters. Sein Land. Alcasa, das nach Apfelbäumen und Pferden duftete.

Kapitel 2

 

Wer hat mich überfallen? Wer hat meinen Siegelring und Mutters Brief genommen? Und Vaters Testament? Haben sie mich wirklich umbringen wollen, wie Socar vermutet hat? Oder doch nur betäuben? Socar. Ja, ich weiß, dass die Büttel in Tol-Bacuma Besseres zu tun haben, als jedem kleinen Dieb hinterherzurennen. Jorin zuckte im Sattel zusammen. Wer war er ohne den Siegelring vor einem Fremden? Seine Eltern würden ihn erkennen, aber ein flüchtiger Bekannter? Sicher nicht. Alles, was darauf hindeutet, wer ich bin, ist weg. Jorin spürte schon wieder Übelkeit in sich aufsteigen.

Daran änderte auch der seltsam vertraute Weg zum Gut seiner Familie nichts, auf dem er jeden Baum und jeden Stein wiedererkannte. Er erinnerte sich an jedes Gatter auf dem Weg, glaubte, schon von fern den Duft der Apfelwiesen zu riechen und das friedliche Grasen und Schnobern der Pferde auf ihrer Koppel zu hören. Für ihn hatte es immer nur das Gestüt und das Landhaus vor den Toren Tol-Bacumas gegeben. Sein Zuhause. Bei dem Gedanken, es bald zu betreten, zog sich Jorins Magen noch ein wenig mehr zusammen.

Jorin ließ Adro zügig ausschreiten. Solange der Morgen kühl und der Wallach frisch war, ließ er ihn immer wieder eine kurze Strecke galoppieren. Er versuchte, den Ritt trotz allem zu genießen, ein wenig Freiheit noch, bevor …

Er zügelte sein Pferd und schaute einen Augenblick von einer Hügelkette aus auf die Ländereien seiner Familie. Die Pferdekoppeln schimmerten grün, das Gras wirkte dicht und saftig. Auf den Koppeln zogen gemächlich die Pferde in kleinen Gruppen herum, Rappen und Schimmel, hin und wieder ein Fuchs, dessen rotbraunes Fell in der Sonne glänzte. Jorin lächelte. Adro war ein gutes Tier, aber er war kein Alcasa-Pferd. Und dann die Apfelbäume. Jorin merkte, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Die Früchte der Alcasa-Obstwiesen waren die besten, die er kannte. Er musste an den Kuchen denken, den Lianne, die Köchin, immer gebacken hatte, als er noch ein Kind gewesen war. Auch seine Mutter hatte den Kuchen immer geliebt.

Seine Mutter! Sie wartete sicher schon händeringend auf ihn. Sollten alle Dämonen der Unterwelt Siegelring und Brief holen. Um den Dolch war es schade, vor allem, weil er ein Geschenk aus den Tagen war, in denen Jorin sich noch gut mit seinem Vater verstanden hatte. Doch seine Mutter würde ihn auch ohne Brief und Siegelring erkennen, und ein Dolch war nicht unersetzlich. Viel wichtiger war es, dass Jorin zurückkehrte und endlich Frieden schloss.

Entschlossen schnalzte er mit der Zunge und lenkte Adro die Hügel hinunter auf die Straße, die direkt auf die Freitreppe zum Eingang des Haupthauses führte. Hier bin ich geboren, hier bin ich aufgewachsen, hier habe ich mit Civo all den Blödsinn gemacht, den kleine Jungs eben machen. Hier habe ich Nurio kennengelernt. Jorin hatte sich vom Fleck weg in ihn verliebt. Nur wegen geheimer Küsse im Pavillon. Er schüttelte den Kopf, versuchte, die Erinnerungen abzuschütteln. Keine Ablenkung mehr. Er musste zu seiner Mutter.

Sein Blick wanderte das Haus entlang zum Turm. Und wieder verkrampfte sich sein Magen, füllte sich mit wuchernder, stacheliger Kälte. Über dem Familienbanner, das auf der Turmspitze wehte, prangte ein breiter schwarzer Streifen.

Vater ist tot.

Er war zu spät gekommen.

Vielleicht hätte ich ihn noch sprechen können, wenn ich schneller gewesen wäre.

---ENDE DER LESEPROBE---