Das Meer seiner Seele - Tina Alba - E-Book

Das Meer seiner Seele E-Book

Tina Alba

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Beschreibung

Besiegt, zerschlagen, verschleppt – Silian leidet fern seiner Heimat als Kriegsgeisel im fremden Land. Immer wieder flieht er ans Meer, seinen Sehnsuchts-Ort, und träumt sich in eine verzauberte Unterwasserwelt, in der er als Meermann den Ozean durchstreift. Doch da ist einer, der beharrlich immer wieder hinter Silians Träume blickt: Jarno, der ehemalige Soldat mit dem thaumaturgischen Bein. Jarno, der trotz seiner Verstümmelung immer noch lachen und hoffen kann. Ein königlicher Berater, der mit beiden Beinen auf dem Boden steht, und ein Träumer? Kann das gutgehen? Und wird Jarno Silian in die wirkliche Welt zurückholen können, ohne seine Träume zu zerstören?

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Das Meer in seiner Seele

 

 

 

 

Tina Alba

 

 

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

Impressum:

Tina Alba c/o WirFinden.Es Naß und Hellie GbR Kirchgasse 19 65817 Eppstein

www.tina-alba.de

 

Cover: Sylvia Ludwig

 

Grafiken:

young man with wet long hair: HD92/shutterstock.com

merman: nutriaaa/shutterstock.com

tsunami: lassedesignen/shutterstock.com

 

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Menschen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis
Kapitel1
Kapitel2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Epilog

 

Lesefutter: Meeresträume-Trilogie
Lesefutter: Der Schatz der Tiefe
Die Autorin
Eine kleine Bitte
Danksagung

Kapitel 1

 

Jarno

Ich kann nicht glauben, dass das alles schon mehr als einen Mond her ist.

Jarnos Blick wanderte aus dem Turmfenster über den Burggarten, den Königsstrand, die Mauern, die Stadt, den Hafen. Der Krieg war vorbei, zerbrechlicher Friede gedieh im Land, in der Hauptstadt und dem Inselreich, das vor diesem einen Mond noch der Feind gewesen war.

Zögernd erhob der Handel wieder sein Haupt. Diplomatische Beziehungen ersetzten Kriegsgebrüll und Säbelrasseln. Dennoch – überall hatte der Krieg seine Spuren hinterlassen. Löcher in den Burgmauern und der Hafenbefestigung zeugten vom Ansturm tyrjanischer Kriegsmaschinen und Kanonenkugeln, das verbrannte Land hinter der Stadt vom hinterhältigen Versuchen feindlicher Fußtruppen, die Bevölkerung von Norhav durch Belagerung auszuhungern. Ein bitteres Lächeln schlich sich auf Jarnos Lippen. Versucht hatte die tyrjanische Artillerie eine Menge, doch am Ende waren Norwynds Truppen stärker gewesen. Versucht hatte auch die tyrjanische Flotte eine Menge, doch Norwynds Schiffe und gerade die Kriegsflotte Norhavs hatten den Inselstaatlern schnell gezeigt, wessen Seemacht die Stärkere war.

Wir haben gewonnen.

Jarno schnaubte. Aus Kriegen, das hatte er in seiner steilen Laufbahn vom einfachen Soldaten zum Kommandanten des Sterns der Norhavschen Flotte unter dem Oberbefehl König Ervars selbst schnell gelernt, gingen weder Helden noch Sieger hervor. Am Ende waren sie alle geschlagen, selbst, falls sie sich in all den Schlachten zu Wasser und zu Land als stärker als der Gegner erwiesen hatten, dank ihrer Thaumaturgen, deren Erfindungen das ihre zu Norwynds Sieg beigetragen hatten. Am Ende waren sie doch alle gebrochen und versehrt, manche an ihren Körpern, manche an ihren Seelen, viele an beidem. Niemand, das hatte Jarno am eigenen Leib erfahren, kehrte aus einer Schlacht als derselbe Mensch zurück, als der er hineingezogen war.

Vorsichtig verlagerte er das Gewicht auf sein linkes Bein und lauschte dem sanften Surren der thaumaturgischen Prothese, die ihm seine letzte Schlacht eingebracht hatte. Er würde nie wieder auf der Nordstern in einen Kampf segeln, nie wieder den Donner ihrer Kanonen hören oder das Bersten von Holz, wenn ihr Rammdorn sich in den Rumpf eines gegnerischen Schiffes bohrte.

Sie lag unten im Hafen, seine wunderschöne Nordstern, die einzige Dame, die je sein Herz erobert hatte. Hämmern und Sägen drangen von dort unten an Jarnos Ohren. Auch die Nordstern war nicht unversehrt aus der letzten, alles entscheidenden, Schlacht herausgekommen. Werftarbeiter hämmerten an ihrem Rumpf, teerten und sägten, gerade wurde der neue Mast aufgerichtet, an dem bald frische, unversehrte Segel den Wind fangen würden.

Ohne ihn. Ohne Jarno.

Er musste zugeben, das tat weh. Er hatte sich erholt, war dabei, damit zurechtzukommen, was in der Schlacht geschehen war, als der Mast der Nordstern gefallen war wie ein geschlagener Riese und ihn halb unter sich begraben hatte.

Jarno erinnerte sich an Schmerz, an seine eigenen Schreie, an Blut und entsetzte Blicke – und dann an nichts mehr. Als er im Lazarett wieder aufgewacht war, hatte sein linker Unterschenkel geschmerzt wie ein Gruß aus der Unterwelt. Nur, dass sich da unter der Wolldecke nur ein vollständiges Bein abgezeichnet hatte. Das Linke hatte knapp unter dem Knie geendet. Und doch. Dieser Schmerz.

Jarno biss die Zähne zusammen. Geisterschmerz nannten die Heiler die Pein, mit der verlorene Gliedmaßen die Verwundeten marterten. Er erinnerte sich, dass er bitter gelacht hatte. Ganz schön lästig und sehr präsent für einen Geist. Der königliche Heiler Larin hatte ihm daraufhin diesen Blick geschenkt, der ihm sagte, dass er überleben, dass alles gut werden würde. Weil sein Humor und sein Kampfgeist ungebrochen waren und ihm Kraft geben würden.

Jarno hatte überlebt.

Und irgendwie war es auch gut, dieses neue Leben als königlicher Berater. Genauso, wie auch dieses Bein gut war, dieses Kunstwerk aus Magie und Mechanik, das seinem Stumpf wie angegossen passte und auf seine Gedanken ebenso wie auf seine Nerven reagierte. Er konnte es inzwischen sogar fühlen, wenn jemand die kühle Bronzehaut berührte.

Jarno atmete tief die frische Seeluft ein, lauschte dem Geschrei der Möwen, diesem Lied von Freiheit und Wildheit, das er schon immer so geliebt hatte.

Er lebte. Er konnte wieder gehen. Er war nicht elendig an Wundbrand verreckt. Er hatte eine neue Aufgabe bekommen, spürte das wunderbare Gefühl, gebraucht zu werden, noch immer wichtig zu sein. Jarno schloss die Augen, hielt das Gesicht in den Wind und ließ ihn über seine Haut streichen, sein Haar zausen. Der Wind war wunderbar, seit er nicht mehr nach Blut und Feuer stank, sondern den Duft des Meeres mit sich brachte, nach Salz, Algen, Felsen, Sand und Watt. Das feine Raucharoma, das er jetzt trug, war das der Räuchereien, die unten im Fischereihafen ihre Arbeit taten. Der Fisch war es, der Norhavs Menschen gerettet hatte. Jarno grinste. Das konnte nicht klappen – eine Stadt aushungern zu wollen, die Zugang zu Meer hat. Natürlich, Tyrjans Seekönig Idan und dessen Schiffe hatten alles versucht, die Fischer von Norhav aufzuhalten, den schützenden Wall der Kriegsschiffe zu durchbrechen – doch vergeblich. Am Ende war es die schiere Masse an Soldaten, Seeleuten, Schiffen und Kriegsgerät, die Tyrjan in die Knie gezwungen hatte – nachdem es der Flotte von Norhav gelungen war, den kleinen Inselstaat wirksam von seinem Nachschub abzuschneiden.

Vor zwei Wochen hatten König Ervar von Norwynd und Seekönig Idan von Tyrjan das Friedensabkommen unterzeichnet. Seit zwei Wochen gehörte Jarno zum Beraterstab König Ervars, und seit einer trug er die wertvolle thaumaturgische Prothese.

Ein Geschenk des Königs.

Jarno hatte sich immer schwer damit getan, großzügige Geschenke anzunehmen. Seine Vernunft hatte die Bescheidenheit besiegt, die ihm ein einfaches Holzbein nahegelegt hatte, nun, da er sich aus dem Militärdienst zurückgezogen und des Königs Angebot angenommen hatte, seinem Beraterstab beizutreten, dem immer auch ehemalige Soldaten angehörten. Genauso wie Angehörige der Zünfte und der Gilden. Nur wer die Stimme des Volkes hört, kann es auch so regieren, dass alle gerecht behandelt werden. König Ervar hörte die Stimmen seines Volkes. Die Worte des Adels ebenso wie die der Handwerkerinnen und Händler, der Kunstschaffenden und derer, die ohne Haus und Hof am Bettelstab gingen. Darum verehrte Jarno seinen König. Liebte ihn. Wollte ihm dienen, ganz gleich, auf welche Weise.

Er hatte den Posten angenommen und das Geschenk. Inzwischen bewegte er sich auf seinem thaumaturgischen Bein nach einer Woche sicherer als auf dem diplomatischen Parkett nach fast zweien, aber er vertraute darauf, dass er so, wie er auf magischem Fuß laufen gelernt hatte, auch bald lernen würde, sich auf dem oft so schlüpfrigen Tanzboden der Gesandten und Unterhändler zu bewegen.

Jarno unterdrückte ein Gähnen, der Tag war anstrengend gewesen und noch lange nicht vorbei: Den ganzen Morgen hatten sie über den Umgang mit Kriegsbeute und Gefangenen verhandelt, über Reparationszahlungen und Wiederaufbau gesprochen und Pläne geschmiedet, den Anführer der Unterhändler der besiegten Inselmacht gehört und Abkommen zu Handel und neuen Grenzen auf See geschlossen. Jarno schwirrte immer noch der Kopf von all den neuen Begriffen, die er Tag für Tag lernte. Es machte ihn müde, dass er so oft auf seinen Verstand hören und sein Herz zum Schweigen bringen musste. Verträge wurden mit dem Kopf geschlossen, nicht mit der Seele, und zuweilen widersprachen die getroffenen Absprachen seiner Ansicht von Menschlichkeit und Liebe. So würden zwei Gefangene in Norwynd bleiben. Sie würden Geiseln sein, sollten bleiben auf Jahr und Tag, um für diese Zeit den noch so wackeligen Frieden zu sichern und erneute Kriegstreiberei durch Seekönig Idan zu unterbinden. Menschen, die dem wichtig genug waren, um als Unterpfand zu dienen. Die tyrjanischen Kriegsgeiseln waren in der königlichen Burg selbst untergebracht, standen unter König Ervars Schutz und würden sich in gewissen Grenzen sogar frei bewegen können. Bisher hatte Jarno sie nur aus der Ferne gesehen, doch der tyrjanische Unterhändler Darun, seines Zeichens Hohepriester des Meeresgottes Varush und König Idans eigener Vetter, hatte bei den Verhandlungen ihre Namen genannt und ihre Wichtigkeit hervorgehoben: Arina, eine Base des Seekönigs, unverheiratet und kinderlos, sowie seinen eigenen Ziehsohn Silian, der ein begnadeter Tempeltänzer war und Ervar mit seiner Kunst erfreuen sollte.

Jarno seufzte. Er verstand den Sinn hinter alldem, und doch machte es ihn traurig, diesen zwei Menschen den Weg zurück in ihre Heimat verwehren zu müssen. Wie würde ich mich fühlen, müsste ich im Land des Herrschers bleiben, der mein Volk, meinen König unterworfen hat? Durch dessen Soldaten so viele der meinen umgekommen sind? Die Geiseln, das spürte er, konnten sich zu zweischneidigen Schwertern entwickeln, wenn sie nicht gut beobachtet wurden. Sie würden Freiheiten genießen, durften sich in der Stadt und der näheren Umgebung bewegen und würden ihr Dasein nicht in einem Kerker fristen müssen. Was aber, wenn sie insgeheim Intrigen spannen, um sich zu befreien, um dem bösen Unterwerfer zu schaden, sich zu rächen? Was, wenn es ihnen gelang, die thaumaturgischen Halsbänder, die ihnen angelegt worden waren, damit sie innerhalb der ihnen gestatteten Grenzen blieben, doch irgendwie los zu werden? Eine Baronin und ein Tempeltänzer. Warum dieser Tänzer? Jarno hatte nachgefragt, als Darun ihn zusammen mit der Baronin als Faustpfand benannt hatte, doch keine Antwort erhalten, die ihn zufriedengestellt hätte. Nun, immerhin schien es Ervar zu reichen, dass der Mann der Ziehsohn eines königlichen Vetters war.

Jarno seufzte erneut und notierte sich in Gedanken die Namen mehrerer Leute, mit denen er würde reden müssen: Fionna, des Königs Hofthaumaturgin, die auch sein herrlich zuverlässiges Bein gefertigt hatte. Mit Tharas, dem Kommandanten der königlichen Leibwache. Mit dem Koch, den Mägden und Küchenjungen, mit Lorna, der Herrin über des Königs Ställe. Die Sicherheit seines Königs ging Jarno über alles. Und wenn er die mögliche Gefahr in den Kriegsgeiseln nicht sehen wollte – Jarno sah sie. Und er würde aufpassen. Immerhin würde ihm das nicht schwerfallen, unterstanden ihm doch noch immer einige Männer und Frauen der königlichen Wache, und Ervar hatte ihm aufgetragen, für das Wohl der Geiseln zu sorgen.

 

In der königlichen Halle herrschte mehr Gedränge als auf einem Schlachtfeld. Zumindest fühlte es sich für Jarno so an, als er gemeinsam mit den anderen zehn Ratsmitgliedern im Gefolge des Königs die Halle zu pompösen Fanfarenklängen betrat. Er wusste ganz genau, dass Ervar die Stirn runzelte und leicht das Gesicht verzog. Prunk und Pomp lagen seinem König ebenso wenig wie Jarno selbst, doch war beides gerade nun einmal notwendig. Nun gut, soll Norwynd sich ruhig ein bisschen aufplustern und unsere schöne wellenumtoste Norhav sich schmücken, so gut sie es kann, damit wir ein wenig Eindruck hinterlassen. Sie alle hatten gelacht, als der König diese Worte fallen gelassen hatte, während sie die Feierlichkeiten planten, die endgültig den Krieg beenden und den Beginn des Friedens markieren sollten. Morgen würde Hohepriester Darun mit seinen Unterhändlern die Stadt verlassen, es würde langsam wieder Ruhe einkehren. Jarno sehnte sie herbei, diese Ruhe. Er wollte endlich wirklich Ordnung in sein Arbeitszimmer bringen, in dem sich die Zeichen seines neuen Postens in Form von Briefen, Schriftrollen und dicken Büchern voller Aufzeichnungen seiner Vorgänger stapelten, wollte endlich mehr Zeit für die Arbeit mit Fionna und seinem thaumaturgischen Bein, dessen Feinheiten ihm zum Teil immer noch ein Rätsel waren. Doch heute Nacht hieß es noch einmal: Feiern, mit den richtigen Leuten die richtigen Worte wechseln und vielleicht ein wenig das Vergnügungsprogramm genießen, von dem der König mit so geheimnistuerischen Worten gesprochen hatte.

Jarno musste sich bis Mitternacht gedulden. Erst, nachdem er mit dem tyrjanischen Gesandten gespeist und mit Hauptmann Tharas mehrere Schreittänze absolviert hatte, kündigte der Zeremonienmeister den Höhepunkt des Abends an. Die kräftigen Stabschläge auf den Marmorboden hallten von den Wänden wider wie Kanonenschläge und ließen Jarno zusammenzucken. Dann erhob sich die helle Stimme des jungen Mannes über das Gemurmel im Saal: »Mein König, werte Gäste, edle Damen, edle Herren, Gesandte, Botschafter – die Zeit ist gekommen für eine Darbietung der besonderen Art. So schrecklich die vergangenen Monde auch gewesen sind, haben sie uns doch auch Schönes in diese Stadt gebracht, Schönes, das wir einige Zeit zu halten gedenken. Räumt die Tanzfläche, verehrte Gäste, denn nun soll sie nur noch einem gehören. Schaut. Staunt. Öffnet eure Herzen und lasst eure Sinne verführen.«

Die Musikkapelle setzte wieder ein, während Diener und Mägde die überall im Saal funkelnden Lichter mit Seidentüchern in verschiedensten Schattierungen von Blau abdeckten, bis Jarno glaubte, sich tief unter dem Meer zu befinden. Flackernde Flammen von Öllaternen und Windlichtern unter aquamarin, türkis, himmelblau und meergrün schimmernder Seide schufen eine beinahe vollkommene Illusion. Schellen klirrten, Flötentriller hoben sich wie Möwenrufe über dumpfen Trommelschlag. Die Menschen zogen sich an die Wände des Saales zurück, als die Flügeltüren aufschwangen und umgeben von künstlichem Nebel aus thaumaturgischen Maschinen eine Gestalt eintrat.

Nein, der Mann trat nicht einfach ein. Er schwebte. Schien auf dem Nebel zu wandern, der sich in milchig bläulichen Schwaden um seine nackten Füße schlängelte. Fußkettchen mit kleinen Schellen klirrten melodisch bei jedem Schritt. Der Oberkörper des Tänzers war nackt und kunstvoll geschminkt. Wie geschuppt schimmerte seine Haut, blau, silbern, grün, ein Hauch von Violett und Rosa. Silberfäden mit Perlen durchzogen sein Haar, scharfer Kontrast zu den dunklen Strähnen, die so rabenschwarz waren, dass sie beinahe blau schimmerten. Der Tänzer trug sein Haar offen, nur an den Schläfen erkannte Jarno mehrere dünne Zöpfe. Um die Stirn wand sich ein Silberband, besetzt mit Verzierungen in der Form von Seesternen, der größte schimmerte in der Mitte, zwischen den Augen des Tänzers, besetzt mit Edelsteinsplittern, die das Licht brachen. Selbst das thaumaturgische Geiselhalsband schien eins zu werden mit dem Schmuck, silbern und schmal schmiegte es sich um den schlanken Hals, der kleine Edelstein, in dem der Zauber des Bandes gefangen war, ein funkelnder Saphir, schillerte in vollkommenem Blau.

Jarno hielt den Atem an. Was hatte der König gesagt? Es können Adelige, Künstler, Menschen sein, die ihren Herrschern wichtig genug sind, dass sie sie nicht verlieren wollen. Menschen, die wichtiger sind als jedes Bestreben, einen neuen Krieg anzuzetteln. Sein Mund war plötzlich staubtrocken. Fahrig griff er nach einem Becher, als eine Bedienstete mit einem Tablett an ihm vorbeischritt. Er trank, scharf würzig erfüllte das Aroma tyrjanischen Kräuterweins seinen Mund. Jarno unterdrücke ein Husten, schluckte.

Der Tempeltänzer. Ein Tänzer des Varush. Hohepriester Daruns Ziehsohn.

Jarnos Magen krampfte sich zusammen, obwohl der Kräuterwein ihn mit Wärme erfüllte. Bei allen Göttern. Ich hoffe, er ist wirklich nur ein Tempeltänzer. Hoffentlich nicht mehr als ein Novize. Wie hatte Darun gerade ihn als Geisel vorschlagen können – und dann auch noch zulassen, dass er seine Kunst vor weltlichem Publikum zeigen muss? Auf einem Ball zur Siegesfeier? Jarno nahm noch einen Schluck von dem scharfen Wein und schluckte hart. Der Tanz begann. Tänzer und Musiker holten das Meer in die Königshalle. Beschworen es. Im Sirren der Saiteninstrumente hörte Jarno das An- und Abschwellen der Brandung, erkannte er das Schlurfen der Wellen, wie sie sich am Strand brachen und Muschelschalen und Steinchen ans Ufer warfen und andere wieder mit sich in die Tiefe zogen. In den Bewegungen des Tänzers erkannte er den Tanz der Fischschwärme, springende Delfine und Wale, die Fontänen in die Luft stießen. Er sah Wasservögel in die Tiefe stoßen und mit dem Schnabel voller kleiner Fische wieder aufsteigen, hörte den Schrei des Seeadlers in schrillen Flötentönen und fand seinen eleganten Flug wieder in den immer gewagteren Sprüngen des Tänzers.

Jarno konnte den Blick nicht von dem Tyrjaner nehmen. Götter, ich habe noch nie etwas so Schönes gesehen. Und er hatte viele Männer gesehen. Nackt. Ergriffen von Leidenschaft. In seinen Armen, in seinem Bett.

Noch nie hatte ihn die Erregung überwältigt, während er einem Tänzer zusah.

Dieser Mann packte ihn, ohne ihn zu berühren. Jede Bewegung lockte ihn. Die Schwünge der schmalen Hüften, die kraftvollen Sprünge, die fließenden Bewegungen der schlanken Glieder, das Spiel glatter, flacher Muskeln unter der geschminkten Haut, auf der Schweißtropfen im flackernden Licht glitzerten wie Diamanten.

Der Tänzer wirbelte an Jarno vorbei, der Hauch eines seidenen Tuchs streifte ihn, herber Duft stieg ihm in die Nase – Kräuteröl, Schminke, sauberer Schweiß, aus ehrlicher Anstrengung geboren. Ein Duft nach Salz und Meer. Der Atem des Mannes drang an Jarnos Ohr, angestrengtes Keuchen. Seine Hand zuckte, beinahe hätte er den Fremden berührt. Er spürte Wärme. Hitze. Dann war es vorbei, der Tänzer flog weiter, wirbelte, sprang, die Musik schraubte sich zu immer wilderen Klängen empor, bis sie mit einem Mal plötzlich abriss und der Tänzer in der Mitte des Saales in die Knie sank und den Oberkörper so weit zurückbeugte, dass sein Haar den Boden berührte.

Jarno stand wie erstarrt, den leeren Becher in der Hand, in seinem Magen die prickelnde Wärme des Kräuterweins und ein schmerzhaft süßes Ziehen in seinen Lenden.

Der Tänzer verharrte keuchend, während Applaus aufbrandete und Jubelrufe laut wurden.

Jarno spürte, wie ihn jemand in die Seite stieß.

»Donnerwetter, was für eine Darbietung! Unglaublich, wie kann sich ein Mensch so verbiegen? Der muss Knochen aus Federstahl haben!« Tharas tauchte neben Jarno auf, breit grinsend, noch einmal boxte er ihn in die Rippen.

Jarno keuchte und nickte. »Ja«, brachte er hervor.

»Ja? Gute Güte, ist das alles?« Tharas‘ Grinsen wuchs in die Breite. »Hat es dir die Sprache verschlagen, Kommandant?«

Jarno spürte, wie Schwindel ihn erfasste. »Ich … Tharas, tut mir leid … zu viele Menschen, ich brauche frische Luft, ich muss hier raus!«

Jarno schaffte es noch, seinem Freund zuzunicken, dann hastete er auf die Tür zum Balkon zu und atmete erst auf, als er Wind auf dem Gesicht spürte. Erst jetzt merkte er, dass er klatschnass geschwitzt war, als hätte er selbst getanzt und nicht nur zugesehen. Als er sich einige tiefe Atemzüge später wieder der verglasten Tür zuwandte und in den Saal spähte, war der Tänzer verschwunden, und die Diener hatten damit begonnen, die meerblauen Tücher wieder von den Lampen zu ziehen.

Jarno war, als erwachte er aus einem Traum.

Kapitel 2

 

Silian

Graue Augen. Graue Augen, in denen ein Sturm tobte. Silian hatte sich an ihnen festgehalten, den gesamten Tanz über. Er wusste, der Mann hatte ihn angesehen. Mehr noch. Hatte ihn beobachtet.

Silian wusste, wer er war: Jarno, der ehemalige Flottenkommandant des Königs von Norwynd, nun Mitglied des Beraterstabs, seit er in der letzten, alles entscheidenden Schlacht die Hälfte seines linken Beins verloren hatte.

Silian hatte getanzt und nur ihn angesehen, weil er sich an etwas festhalten musste. Nicht Norwynds König, für den der Tanz eigentlich bestimmt gewesen war, nicht seinen Ziehvater, der ihn als Faustpfand an diesen Hof geschickt hatte. Nicht den versammelten Adel der Hauptstadt, die Diplomaten, Unterhändler, Gesandte. Schon gar nicht Baronin Arina, die zweite tyrjanische Kriegsgeisel. Keinen von ihnen hatte er wirklich wahrgenommen. Nur diesen Mann, der immer wirkte, als könne ihn nichts aus der Ruhe bringen, den er aus der Ferne beobachtet hatte, seit er nach Norhav gebracht worden war. Als Geisel. Als Kriegsbeute. Als Faustpfand für den Frieden. Ihn, den Ziehsohn eines Priesters. Zugegeben, eines mächtigen Priesters von königlichem Geblüt – aber eben nur ein Tänzer. Silian lachte bitter auf.

Als ob es Seekönig Idan scheren würde, wenn ein einfacher Tempeltänzer ohne höhere Weihen einen Kopf kürzer gemacht und als Fischfutter ins Meer geworfen wird. Warum denken sie alle, dass ich wichtig bin?

Genau das hatte Darun ihm gesagt: Du bist wichtig. Ich will, dass du mit Arina nach Norhav gehst. Dein Tanz wird die Mächtigen dort beeindrucken, sie werden euch beide lieben. Arina für ihre Klugheit und dich für deine Schönheit und den Zauber deiner Tänze. Ich werde dich vermissen, mein Lieber. Aber es ist wichtig, dass du gehst. Arina und du, ihr seid Tyrjan – du das Meer, das alles umschließt, sie das königliche Blut. Silian grub die Zähne in die Unterlippe, biss den Schmerz weg, der seine Kehle zusammenzog. Darun war für ihn immer wie ein Vater gewesen, ebenso wie er Meli, die Priesterin, die ihn aufgezogen hatte, immer als eine Mutter betrachtet hatte. Er kannte kaum etwas anderes als den Tempel, hatte sich immer sicher gefühlt, wenn er wusste, dass Darun und Meli in der Nähe waren. Jetzt war er allein. Mit Arina verband ihn nichts – im Gegenteil, die Frau war ihm beinahe unheimlich. Immer schien sie ihn zu beobachten, immer klebten ihre Blicke wie Pech an ihm, wenn sie einander begegneten. Silian wusste, er würde möglichst wenig Zeit mit ihr verbringen, ganz gleich, dass sie eine Tyrjanerin war. Das Meer würde seine Freundin und Verbündete sein, das Meer war immer seine Trösterin gewesen, wenn er traurig war oder sich allein gefühlt hatte und Meli oder Darun nicht hatten da sein können.

Er griff nach dem Schwamm und begann, sich Schweiß und Schminke von der Haut zu waschen. Es war, als würde er einen Teil von sich selbst abwaschen, den er so gern für immer an sich binden wollte. Silian drückte den Schwamm aus, beobachtete den blausilbrigen Flitter, der sich auf dem Wasser sammelte und im Licht der Kerzen, die seine Gemächer erhellten, schimmerte.

Sie hatten ihm und Arina kleine Wohnungen in der Burg gegeben, die eines Adeligen würdig gewesen wären. Silian bewohnte Zimmer in einem der breiten Türme, mit Blick auf das Meer, dafür hatte Darun noch gesorgt. Dass er das Meer sehen konnte. Wenn du das Meer ansiehst, mein Lieber, dann denk immer daran, dass dieses Wasser auch an die Küsten Tyrjans spült. Uns mögen Seemeilen trennen, doch das Meer verbindet uns. Du berührst es, und es wird deine Berührung zu Meli und zu mir tragen. Daruns Worte fühlten sich hohl und leer an in Silians Gedanken.

Aber immerhin war er hoch oben, konnte auf einen Balkon hinaustreten und den Wind spüren, das Meer hören, sich frei fühlen.

Doch wann immer er hinaustrat, spürte er nichts als Schmerz. Wind, Meer und Möwenschreie sangen von Freiheit, während er ein Gefangener war. Sicher, er durfte sich in der Stadt frei bewegen, hätte sie sogar bis zu einem gewissen Umkreis verlassen dürfen, doch seine feine, kaum sichtbare Fessel an seiner Kehle hätte ihn rasch und schmerzhaft daran erinnert, wann es Zeit gewesen wäre, wieder umzukehren. Silian strich über das dünne Silberband mit dem winzigen blauen Edelstein, das sich seltsam weich an seine Haut schmiegte. Ein zartes thaumaturgisches Ding, das wie hübscher Tand wirkte und doch nichts anderes war als eine Fessel. Während des Tanzes hatte es sich unter all dem anderen Schmuck gut versteckt, jetzt sah Silian es im Spiegel. Es leuchtete auf seiner weißen Haut wie ein Brandmal. Nur die Hofthaumaturgin mit den lachenden Augen und dem kurz geschorenen grauen Haar, die es ihm und Arina angelegt hatte, und König Ervar würde es wieder entfernen können. Nach Jahr und Tag. Mehr als elf Monde würde er noch ausharren müssen, und Silian bezweifelte, dass ihm das gelingen würde.

Er erinnerte sich, dass die Thaumaturgin, Fionna, ihn beinahe liebevoll gemustert hatte, als sie ihm das Band angelegt hatte. Halte dich an die Regeln, dann wirst du den Schmerz nie spüren. Ihre Stimme, sanft, als spräche sie zu einem verängstigen Tier. Sie wusste gar nichts.

Silian fuhr fort, sich die Schminke abzuwaschen, legte den silbernen Gürtel ab, den schillernden Seidenschurz in den hundert Schattierungen von Blau, wie sie auch das Meer haben konnte und den er immer trug, wenn er zu Ehren des Varush tanzte. Varush war überall, nicht nur in Tyrjan. Auch hier in Norhav. Das Meer war hier dasselbe wie dort, und doch so anders. Doch Silian sagte es sich immer wieder, um sich zu beruhigen und den Schmerz niederzuhalten, so wie Darun ihn dazu aufgefordert hatte. Das Meer war dasselbe, überall, ganz gleich, an welcher Küste er die Hände ins Wasser tauchte, und irgendwo in den kühlen Fluten war auch das Echo der Berührung von Daruns Händen.

Ans Meer gehen konnte er, er hatte es ausprobiert, gleich an seinem ersten Tag, gleich, nachdem er die thaumaturgische Fessel erhalten hatte. Er war an den Königsstrand gegangen, zu dem eine in den Felsen gehauene Treppe vom Burgpark aus hinabführte. Hätte er nicht ans Meer gehen können, Silian wusste, er wäre zerbrochen.

Silian hüllte sich in ein einfaches Nachtgewand, warf einen Blick auf das Tablett mit Speisen von der Feier, die ein Diener ihm gebracht haben musste, während er getanzt hatte, und schenkte sich nur einen Becher verdünnten Wein ein. Kräuterwein aus Tyrjan, wieder eine Erinnerung an die Heimat. Der bittersüße Geschmack passte zu seiner Stimmung.

Warum habe ich diesen ehemaligen Soldaten angesehen? Nur weil er den Sturm in den Augen trägt? Er gehört zu seinem König. Zu meinem Feind. Habe ich ihn angesehen, weil er während der Reigen mit einem Mann getanzt hat? Er war nicht der Einzige gewesen. Silian hatte alles gesehen, Frauenpaare, gemischte Paare, Männerpaare. Alles ist möglich. Wie zu Hause.

Er konnte nichts von dem Essen anrühren, das von der Tafel des Königs stammte – und er wollte es auch gar nicht. Es gab nur eins, was er wirklich wollte: zurück nach Hause. In seinen Tempel. Zurück zu diesem ganz einzigartigen Meeresrauschen, das auf diese Weise nur in Varushs Halle erklang. Zurück zu Melis warmen, weichen Umarmungen und ihren Liedern, die er immer noch so sehr mochte. Zurück zu Darun, der seine Tanzübungen beobachtete und ihn immer wieder scharf kritisierte – nur, damit er besser wurde, immer besser.

Silian blickte sein Spiegelbild an. Mach dir doch nichts vor. Selbst in seiner Heimat hatte er nie wirklich Frieden verspürt. Die ständige Sehnsucht, das Gefühl, fremd zu sein, wo auch immer er war, nicht richtig zu sein, das begleitete ihn schon sein ganzes Leben. Nur am Meer fühlte Silian sich wirklich wohl, im Rauschen der Wellen und im Singen des Windes flohen die Schatten und er fand für eine Weile Ruhe. Darum war er in dem Tempel so glücklich gewesen, auf dessen Altarstufen ihn Meli einst gefunden hatte – immer wieder hatte sie ihm diese Geschichte erzählt. Darum tanzte er den Meeresgott im Wandel der Jahreszeiten und der Wetterumschwünge. Wenn er tanzte, war Silian das Meer, und das Meer war in ihm. Eines Tages werde ich ins Meer tauchen und nie wieder zurückkommen. Es wird mich umarmen, und ich werde in seinen Armen schlafen. Er wusste nicht, meinte er das Meer oder den Gott der Wogen? Silian zwang sich, wenigstens die vier Austern auszuschlürfen, die auf der Platte mit dem Essen lagen, er spülte sie mit dem Wein hinunter, dann trat er mit dem nochmals gefüllten Becher auf den Balkon.

Das Fest war beendet, die Königshalle lag im Finstern. Über dem Meer stand der Mond, spiegelte sich silbern in der leichten Dünung, die das Spiegelbild immer wieder zerriss und neu zusammenfügte.

Silian erkannte sich selbst in diesem wässrigen Mond. Zerrissen und wieder zusammengefügt. Nur dass ihn niemand zerriss – er tat es täglich selbst, während er versuchte, sich selbst zu finden, herauszufinden, wer er war und wohin er gehörte. Tyrjan war sein Zuhause, nach dem er sich sehnte und zu dem er zurückwollte, doch er wusste, selbst falls er lange genug aushalten sollte, um nach Jahr und Tag das Schiff zu besteigen, das ihn wieder zurückbringen sollte, er würde sich dann auch dort wieder fremd fühlen. Trotz Daruns Tanzübungen. Trotz Melis Liebe. Weil ihn niemals jemand wieder zusammenfügte, wenn er zerriss. Das Loch in ihm blieb, es sorgte dafür, dass er sich verletzlich und roh anfühlte. Dumpfer Schmerz, den er nicht einordnen konnte, war sein ständiger Begleiter.

Ich will sobald wie möglich wieder tanzen. Wenn ich tanze, fühle ich mich ganz.

Silian rief sich die Musik zurück ins Gedächtnis. Er stellte den Becher auf den Boden und tanzte zu Klängen, die nur er hören konnte, tief in den Schatten seiner Seele. Er tanzte, bis die Sonne den Himmel rot färbte und seine nackten Füße rote Male auf dem weißen Steinboden des Balkons hinterließen. Müde, erschöpft und frierend huschte Silian in sein Schlafgemach und vergrub sich unter den Daunendecken seines Bettes. Er schlief und träumte vom Meer.

 

Silian erwachte und fühlte sich schwer. Im Traum hatte er fliegen können, tief unten im Meer, schwerelos, getragen von endlosem Blau, wie die silbrigen Fische, die ihn begleitet hatten. Aufzuwachen in diesem Zimmer, unter Daunendecken in einem Bett, in der Nase den Geruch von heruntergebranntem Kaminfeuer und getragener Kleidung, ließ ihn wünschen, einfach wieder einschlafen zu können und erneut hinabzutauchen in seinen Traum. Hinabzutauchen in das Meer, auf dessen Grund, da war Silian sicher, nichts als Frieden auf ihn wartete.

Frieden, auf den er heute vergeblich hoffen würde. Heute sollten Darun und die Unterhändler wieder zurück nach Tyrjan segeln. Die Verhandlungen waren endgültig abgeschlossen, alle Vereinbarungen bis ins kleinste Detail ausgehandelt, sogar bereits der Tag festgesetzt, an dem er und Baronin Arina wieder in die Heimat würden zurückkehren dürfen – vorausgesetzt, Seekönig Idan hatte bis dahin sein Temperament im Zaum gehalten und keinen neuen Krieg angezettelt.

Vielleicht ist ihm Arina wertvoll genug, obwohl sie den ganzen Tag mit einer Miene herumläuft, als hätte ihr jemand statt Tee Essig zum Frühstück serviert. Bis auf ein paar belanglose Höflichkeitsfloskeln hatte Silian bisher noch kaum ein Wort mit der Baronin gesprochen, obwohl er das Gefühl nicht loswurde, dass sie ihn beobachtete. Er grinste schief. Vielleicht hatte er auch deswegen immer wieder Kommandant Jarnos Augen gesucht, während er auf dem Fest getanzt hatte – um nicht immer wieder Arinas anhänglichen Blicken begegnen zu müssen.

Ich frage mich, was für ein Interesse eine Baronin an einem kleinen Tempeltänzer wie mir haben kann. Vermählen wird sie sich mit mir wohl kaum wollen. Es war weithin bekannt, dass nicht nur eine Geliebte in Tyrjan auf Arinas Rückkehr wartete. Noch nie hatte sie sich für einen Mann interessiert, auch auf dem Fest hatte sie ausschließlich mit Frauen getanzt, und ihr Gefolge bestand ebenfalls ausschließlich aus Dienerinnen. Eine Zofe hatte sie angeblich sogar von zu Hause mitbringen dürfen.

Silian zuckte mit den Schultern, wusch sich, kleidete sich an und spähte in seinen Wohnraum, wo wie bisher jeden Tag seiner Gefangenschaft ein ausgesprochen diskreter Dienstbote sein Frühstück platziert hatte: eine Kanne Tee auf einem Stövchen, frisch gebackene weiche Brötchen in einem Korb, dazu Butter, Honig und würziger Käse, einige Scheiben kalter Braten, Räucherfisch, ein aufgeschnittener Apfel. Silian setzte sich, schenkte sich Tee ein, zwang sich dazu, ein paar Apfelschnitze und ein halbes Brötchen mit einer Scheibe Räucherfisch zu essen. Wie jeden Morgen stopfte er einen Teil der Brötchen und den Rest vom Apfel in einen Stoffbeutel. Über die Apfelschnitze freuten sich immer die Pferde im Burghof, und die Möwen am Königsstrand warteten schon darauf, dass er kam und Brocken in die Luft warf. Silian liebte es, den Möwen zuzusehen, wie sie elegant über ihm kreisten und im Flug die Brotstücke fingen. Und so waren schließlich alle zufrieden – in der Küche mokierte sich niemand darüber, dass er zu viel von dem liebevoll zurechtgemachten Essen zurückgehen ließ, die Tiere freuten sich über ein paar luxuriöse Bissen, und niemand stellte ihm Fragen.

Und mit jedem Bissen, den er nicht aß, mit jeder Stunde, die er den zuweilen nagenden Hunger ertrug, kam Silian seinem eigenen Ziel einen kleinen Schritt näher: sich auch an Land leicht zu fühlen, schwerelos zu schweben, wenn er tanzte, sich zu fühlen, als glitte er unter Wasser dahin, getragen, ohne den ewigen Sog der Erde zu spüren.

Die Erde trägt, so hieß es.

Silian fühlte sich nicht getragen. Für ihn war es schon immer anders gewesen. Schon immer hatte er das Gefühl gehabt, dagegen kämpfen zu müssen, nicht von der Erdenschwere zu Boden gezogen zu werden wie in einen Mahlstrom hinein. Schon seit er ein kleiner Junge gewesen war hatte er immer nur leicht sein wollen, gewichtslos, schwerelos. Er hatte nie einfach nur tanzen wollen, er wollte fliegen. Schweben. Getragen werden von der Luft, so wie ihn auch das Wasser trug, wenn er schwamm. Nur dafür lebte er.

Und dafür, eines Tages den Weg zu finden an den Ort, der ihm Frieden versprach. Einen Weg in die Tiefen des Meeres.

Silian knotete den Beutel an seinen Gürtel, zog einen fließenden weiten Mantel über Hemd, Tunika, Hosen und halbhohe Stiefel, alles in den verschiedensten Schattierungen von blau und grün. Kurz zögerte er, dann legte er mit einem stummen Seufzer den Schmuck an, den König Ervar ihm hatte schicken lassen – einen Silberring, geformt wie eine Welle, auf deren Krone statt Meerschaum Aquamarinsplitter schimmerten, dazu einen passenden Armreif und eine Silberkette mit einem ebenfalls wogenförmigen Anhänger. Er fühlte sich herausgeputzt wie ein Festtagsochse. Müde warf er einen Blick in den Burghof, in dem sich bereits die Prozession zu formieren begann, die die Unterhändler zu ihrem Schiff in den Hafen geleiten würde. Inmitten der herumwuselnden Menschen erkannte Silian Kommandant Jarno – nicht nur an dem charakteristischen Gang, den sein thaumaturgisches Artefakt ihm verlieh, auch an seinem hellen Haarschopf, der im Sonnenlicht leuchtete wie gesponnenes Gold. Silian hob eine Braue, als er Arina in der Menge bemerkte, hoch zu Ross, elegant im Damensattel, ganz in Schwarz gekleidet, als sei sie auf dem Weg zu einer Beerdigung. Sie sprach mit Darun, der ebenfalls schon zu Pferd saß und die tyrjanische Flagge trug. Neben Arinas wartete ein weiteres gesatteltes Pferd – ein Blauschimmel mit Silberfäden in Mähne und Schweif, unter dem Sattel eine meerblaue Decke.

Silian straffte sich und machte sich auf den Weg in den Burghof, bevor der König auf die Idee kam, einen Dienstboten nach ihm zu schicken. Die Wartenden machten ihm Platz, als er den Burghof betrat. Hier und da nickte ihm jemand freundlich zu, andere streiften ihn mit mitleidigen oder abschätzenden Blicken. Silian versuchte, all die Menschen auszublenden, die für ihn alle wie Fremde waren. Nur wenige Namen hatte er sich merken können. Jarno. Tharas, Hauptmann der Leibwache. Rittmeisterin Lorna, die ihm mit dem Schimmel am Zügel entgegenkam und lächelte. Wie immer hatte sie ihr rotes Haar zu einem festen Knoten geschlungen und trug grünbraune Reitkleidung mit dem Abzeichen der königlichen Stallungen am Kragen. »Der König wünscht, dass du gemeinsam mit Baronin Arina reitest. Ich habe dir Rose fertiggemacht. Keine Sorge, sie ist lammfromm und wird notfalls einfach Arinas Prinz hinterherlaufen.«

Silian nickte. »Ich kann reiten, aber trotzdem, danke … es ist lange her«, murmelte er, trat an neben die Stute und hob einen Unterschenkel, um sich von Lorna in den Sattel helfen zu lassen.

Die Rittmeisterin schenkte ihm einen anerkennenden Blick und gab ihm den Schwung, den er benötigte, um sanft und leicht auf Roses Rücken zu landen, dann half sie ihm, die Steigbügel einzustellen. Silian hatte gerade die Zügel aufgenommen, als der Tross sich gemächlich in Bewegung setzte. Lorna gab Rose einen sanften Klaps auf das runde Hinterteil und schwang sich dann selbst auf einen schnaubenden, tanzenden Rappen, dem es offenbar nicht schnell genug ging.

Silian senkte den Kopf, als der König ihn passierte, Jarno an seiner Seite, dann reihte er sich neben Baronin Arina und Darun in die Reihe der Reiter ein. Sie ritten dem Hafen entgegen. Schiffen entgegen, die alle Tyrjaner heimbringen würden, nur ihn und Arina nicht.

Silian seufzte stumm.

Kapitel 3

 

Silian

»Wie sehr wünschst du dir, mitzusegeln, Tänzer?« Baronin Arina drehte sich im Sattel halb zu Silian um und musterte ihn.

Silian fühlte sich unter ihren Blicken wie ein seltenes Insekt unter der Lupe. Er hob eine Braue. »Und du, Baronin?«, gab er zurück und zwang sich, ihrem durchbohrenden Blick aus wasserhellen Augen standzuhalten. Trotz ihres hochgeschlossenen Kleides erkannte er, dass auch sie das thaumaturgisches Halsband trug, das sie daran hindern würde, Norhav und die nähere Umgebung zu verlassen. Wie eine feine Linie zeichnete es sich unter dem engen Halskragen ab. Feine Linien hatten sich auch um ihren Mund in die Haut gegraben. Silian wusste, Arina war noch keine alte Frau, dennoch wirkte sie in diesem Witwenkleid und mit dem strengen Knoten aschblonder Haare in ihrem Nacken wie eine dünne Großmutter.

»Ich tue, was ich tun muss. Mein König befiehlt, und ich als seine treue Base gehorche.« Sie richtete den Blick wieder auf die Schiffe, die gerade die Laufstege einzogen.

Alle, die mitsegeln sollten, waren an Bord, im Gepäck die Grüße des Königs, die unterschriebenen Friedensvereinbarungen und großzügig gegebene Hilfsgüter. Sogar einige norwyndische Heiler und Thaumaturgen waren mit an Bord, Silian erkannte sie an den grünen und dunkelblauen Gewändern mit den eingestickten Gildenzeichen in Silber und Gold. Er unterdrückte bei Arinas Worten ein Schnauben. »Deine Antwort sollte deine Frage an mich beantworten, Baronin. Als Untertan meines Königs und Ziehsohn und Diener des Hohepriesters muss ich gehorchen. Auch wenn …« Er biss sich auf die Lippen. Arina musste von seinen Fragen und Zweifeln nichts wissen. Seekönig Idan hatte ihn ausgewählt, also hatte er sich in sein Schicksal zu fügen. Der König würde seine Gründe haben. Ebenso wie Darun, der am Heck des Schiffes stand, die tyrjanische Flagge in der Hand. Er hatte einen Arm erhoben und winkte, schrieb dann das Zeichen Varushs in die Luft. Silian hob ebenfalls die Hand und erwiderte den rituellen Gruß. Zum letzten Mal für eine sehr lange Zeit. Er unterdrückte ein Seufzen.

»Warum gerade du?« Arina hob eine Braue. Ihr Lächeln wirkte gezwungen, das Funkeln ihrer Augen schien Silian kühl.

Silian richtete den Blick auf Roses Mähnenkamm und schwieg.

»Sie haben dir nichts gesagt?« Arina flüsterte beinahe. In ihrer Stimme schwang ein seltsamer Unterton mit, den Silian nicht deuten konnte.

»Was sollen sie mir denn gesagt haben? Vielleicht dachten der Seekönig und mein Ziehvater, dass ein Tänzer des Meeresgottes eine würdige Geisel für einen anderen Seekönig ist. Obwohl Norwynd keine Insel ist, so hat sich doch gezeigt, dass sie eine ernst zu nehmende Seemacht sind, und damit ist auch Ervar ein Seekönig. Auch die Norwynder verehren einen Meeresgott. Heißt es nicht, dass alle Götter ein Gott und alle Göttinnen eine Göttin sind? Sie mögen ihren Meeresgott Arwer nennen – er repräsentiert dieselbe Macht wie Varush.« Noch immer betrachtete Silian Roses silbrige Mähnenhaare und ihr blaugraues Apfelschimmelfell. Unten im Hafen hatten Fanfaren zu schmettern begonnen, ihre Klänge geleiteten die Schiffe auf das weite Meer hinaus. Aus den Augenwinkeln erkannte Silian weitere bunte Flaggen und Wimpel, Segel, die den Wind aufnahmen und sich blähten. Varush und Arwer meinten es gut. Die Schiffe würden schnell Fahrt aufnehmen und innerhalb weniger Tage Tyrjan erreichen. Noch einmal winkte er Darun zu und vollführte den Varush-Gruß.

»Du bist ein Träumer, Silian vom Varush-Tempel. Ein Traumtänzer.«

Er sah auf, begegnete Arinas kühl forschendem Blick, glaubte, leisen Spott in ihren Augen zu erkennen. »Wenn du mir etwas sagen möchtest, Baronin, dann tu es.« Ihre Geheimnistuerei begann, an seinen ohnehin schon dünnen Nerven zu zerren.

Für einen winzigen Moment verengten ihre Augen sich, dann lächelte sie wieder. »Ich kenne deine Wünsche, Traumtänzer. Deine Sehnsucht. Und ich denke, es ist dein Glück, dass du in Norhav gelandet bist, und nicht dein Verderben, denn hier kannst du finden, was es sonst nirgendwo in der bekannten Welt gibt.« Sie lächelte immer noch, neigte sich leicht zu Silian und berührte beinahe mit den schmalen Lippen sein Ohr, als sie ihm zuraunte: »Wenn du mehr wissen willst, dann suche mich nach dem Abendessen in meinen Räumlichkeiten auf. Du weißt, wo.«

Ihr Atem streifte Silians Haut. Er zuckte zusammen, sein Nackenhaar richtete sich auf, Gänsehaut rann über seinen Rücken. »Was weißt du schon von meinen Träumen, Baronin?« stieß er heftiger als gewollt hervor.

Arina lachte leise. »Mehr als du ahnst, Traumtänzer. Komm zu mir.« Sie hob die Hand zum Gruß und wendete ihr Pferd, um sich dem Tross anzuschließen, der sich langsam auf den Rückweg zur Burg machte. Diesmal scherte sie sich nicht um die Marschordnung, sie ließ Silian stehen und schloss sich direkt dem König und seinem Gefolge an, als diese die Hafenpromenade entlangtrabten, von der aus Silian und Arina der Abfahrt der Schiffe zugesehen hatten. Silian sah ihr nach, schüttelte den Kopf und nahm die Zügel wieder auf. Er schloss sich dem Tross wieder an, versuchte aber nicht, zu Arina aufzuschließen. Er bemerkte, dass sie mit dem König sprach, einen Blick zurückwarf und in seine Richtung deutete, woraufhin der König nickte, offensichtlich zufrieden, dass seine zweite Geisel noch da war. Hatte Ervar etwa Angst, dass er es irgendwie geschafft haben könnte, sich auf eines der Schiffe zu schmuggeln? Wie denn, unter Arinas wachsamen Augen und mit einem thaumaturgischen Halsband an der Kehle? Silian tastete nach der feinen Silberkette, die sich an seine Haut schmiegte. Sobald er sein Pferd los war und sich irgendwo abmelden konnte, würde er an den Königsstrand gehen. Es sei denn, König Ervar wünschte seine Gegenwart.

 

Jarno

Jarno atmete auf, als die Schiffe unter Fanfaren- und Paukenklang das Hafenbecken verließen und unter vollen Segeln auf das Meer hinausglitten. Jetzt würde wieder Ruhe bei Hofe einkehren und er würde sich endlich um die Dinge kümmern können, die ihm wirklich am Herzen lagen, und nicht mehr den lieben langen Tag in irgendwelchen zähen Besprechungen zubringen, in denen sich alle Teilnehmenden früher oder später wie Straßenköter in die Haare gerieten und versuchten, einander die Worte im Mund herumzudrehen.

Er wollte eine Bestandsaufnahme machen, die Schiffe begutachten, die Werften besuchen, sich einen Überblick darüber verschaffen, wie viele Schiffe der Krieg wirklich gekostet hatte. Und erkennen, wo sie eventuell noch Schwachstellen aufwiesen. Herausfinden, wie die schon so hervorragenden Schiffe noch besser gemacht werden konnten. Perfekt. Er wollte die perfekten Schiffe, die perfekte Flotte, einen einzigartigen Schutz für seinen König und sein Land, für die Untertanen in den Hafenstädten, die Fischer, die Tag für Tag auf See waren, um die hungrigen Mäuler zu stopfen, die die Bauern im Umland allein nicht satt bekamen.

Und er wollte mit den Geiseln sprechen. In den letzten Monden hatte er gegen die Tyrjaner gekämpft und hatte erkennen müssen, dass sie ihm, seinem Volk, den Norwyndern, so ähnlich waren, dass es ihn erschreckt hatte. Sie sind ein Volk, das mit dem Meer lebt, mit seinen Gaben und seinen Gefahren. So wie wir. Verdammt, ich werde das Gefühl nicht los, mit jedem Kämpfer und jeder Kriegerin, die durch meine Befehle gefallen sind, meine eigenen Geschwister ermordet zu haben. Er hatte nichts als Bewunderung empfunden für die Kommandantin des tyrjanischen Flaggschiffes, die ihm ins Gesicht gelacht hatte, als der Rammdorn der Nordstern sich in den Rumpf ihres Schiffes gegraben hatte und sie mit ihm untergegangen war. Den Säbel erhoben hatte sie bis zuletzt ihrer Mannschaft Mut gemacht. Nie wieder. Solange ich lebe, will ich nie wieder für eine Schlacht zur See fahren. Wenn ich das nächste Mal gen Tyrjan segle, dann, um die Geiseln nach Hause zu bringen. Dieser Friede darf nicht nur wenige Monde halten. Wir müssen ihn festigen. Wir können eins sein. Verdammt, sogar unsere wichtigste Gottheit ist dieselbe, selbst wenn wir sie bei unterschiedlichen Namen nennen. Er ist das Meer – und das Meer hat viele Namen.

Jarno ließ den Blick über die Prozession wandern. Baronin Arina hatte sich dem König genähert und sprach mit ihm, gut beobachtet von Tharas‘ Leuten. Jarno ging nicht davon aus, dass die Baronin versuchen würde, trotz ihres Halsbandes dem König etwas anzutun, nicht hier, nicht jetzt, nicht unter so vielen möglichen Zeugen, doch es war gut, dass die königliche Garde sie im Auge behielt. Jarno hatte bisher nur einige belanglose Worte mit der Dame gewechselt, dennoch ahnte er, dass sie nicht ungefährlich war. Klug war sie, bewandert auf dem Parkett der Diplomatie, eine belesene Frau, die ihre Jugend nicht ausschließlich mit dem Herstellen hübscher Häkeldeckchen und dem Besticken von Schiffsbannern verbracht hatte. Arina galt als Gelehrte, Gerüchte behaupteten, dass sie eine passable Säbelfechterin war und schwimmen konnte wie ein Fisch. »Und sie kann wunderbar reden, ohne etwas zu sagen.« Jarno brummte, fasste die Zügel fester und schloss sich der Prozession an, suchte dabei die Reihen von Reitern und Fußvolk nach dem Tempeltänzer ab. Kurz vorher hatte er ihn noch an Arinas Seite gesehen, die Baronin hatte mit ihm gesprochen, sich dann aber rasch entfernt und den Tänzer sichtlich verwirrt zurückgelassen. Silian. Er heißt Silian. Kein Titel, kein Familienname. Silian vom Varush-Tempel, Tänzer für den Meeresgott. Ziehsohn des Hohepriesters.

Jarno entdeckte ihn einige Pferdelängen vor sich, er ritt für sich, unauffällig beobachtet von einer Hauptfrau der Königswache. Der Tänzer schien sich auf dem Pferderücken nicht unwohl zu fühlen. Hoch aufgerichtet und entspannt saß er im Sattel, die Zügel locker in den Händen, den Blick nach vorn gerichtet. Er sah nicht zurück, nicht den Schiffen nach. Jarno konnte nur ahnen, was in ihm und Arina vorgehen mochte. Sie blieben, während alle Tyrjaner bis auf die von Seekönig Idan ernannte Botschafterin wieder in die Heimat segelten. Jahr und Tag der Heimat fernbleiben zu müssen – Jarno mochte nicht darüber nachdenken. Er liebte Norwynd und konnte sich nicht vorstellen, länger als einige Wochen an einem anderen Ort zu leben. Er ertappte sich dabei, dass er Silian beobachtete und wieder an dessen Tanz denken musste. Wie er sich bewegt hatte, wie er über das Parkett geflogen war. Wie schön er gewesen war mit der schillernden Schminke und dem blauen Licht, den meerfarbenen Schleiern.

Jarno biss die Zähne zusammen und versuchte, seine Gedanken zu einem Kübel voll Eiswasser zu lenken. Als er den Burghof erreichte, war von Silian nichts mehr zu sehen, doch Lorna stand noch da, den Rappen der Baronin am Zügel, während einer der Reitknechte den Schimmel wegführte, den Silian geritten hatte. Jarno ließ sich aus dem Sattel gleiten und führte sein Pferd zu den Stallungen. »Lorna! Hast du gesehen, wohin der tyrjanische Tänzer gegangen ist, Silian?«

Lorna nahm ihm die Zügel ab. »Ich hörte, wie er sich bei Tharas abgemeldet hat – er wollte spazieren gehen. In zwei Stunden wollte er zurück sein. Ich habe ihn zur Felsentreppe gehen sehen, bestimmt will er zum Königsstrand. Dort ist er doch so gut wie immer.«

»Danke. Ich wollte mit den Geiseln sprechen, und ich dachte, ich fange mit ihm an.«

Lorna grinste. »Ich habe dich beobachtet, während du seinem Tanz zugesehen hast. Er gefällt dir.«

»Unsinn. Ich tue nur meine Arbeit. Der König bat mich …«

Lorna nahm ihm die Zügel aus der Hand. »Wenn du dich beeilst, holst du ihn noch ein.« Sie zwinkerte ihm zu, strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Knoten gelöst hatte, und zog mit Jarnos Pferd ab.

»Lorna!«

»Tu deine Arbeit, königlicher Berater, bevor sie dir wegläuft!«

Jarno blickte ihr kopfschüttelnd nach. Dann wandte er sich entschlossen um und verließ den Burghof. Er folgte dem Pfad, der sich die Felsen hinab wand und an einer kleinen Bucht endete – dem Strand der Könige, der nur den Herrschern und ihrem Gefolge zugänglich war. Ein guter Ort, um allein zu sein, das Meer zu beobachten oder in den Wellen zu schwimmen. Die Strömung verlief dort unten so, dass sie Schwimmer immer wieder zum Land trieb. Nur wenige Schritte vom Königsstrand entfernt würde sie jeden, der zu weit hinausschwamm, unbarmherzig aufs weite Meer hinauszerren.

Jarno erreichte die Letzte der in den Fels gehauenen Stufen und verharrte. Silian stand am Spülsaum, er hatte die Stiefel ausgezogen, die hinter ihm auf dem Trockenen standen. Die sacht an den Strand rollenden Wellen leckten an seinen Füßen. Der Tänzer blickte aufs Meer hinaus. Der Wind spielte mit seinem dunklen Haar, im Sonnenlicht glänzten die Strähnen wie Elsternfedern – blau, grün, violett. Jarno zögerte, grub die Fußspitze in den feinen Sand, atmete tief den Duft von Meer und Algen. Er lehnte sich an den Felsen, spürte den rauen Stein unter der Hand. Silian schien vollkommen in Gedanken versunken, ganz und gar bei sich. Hielt er stumme Zwiesprache mit dem Meer?

Jarno zögerte. Er wollte den Tänzer nicht erschrecken, ihn nicht stören. Vielleicht war der Zeitpunkt nicht richtig? Vielleicht sollte er warten? Er grub die Zähne in die Unterlippe. Langsam wandte er sich zum Gehen.

Silian blickte sich um. »Kommandant.« Er neigte leicht den Kopf, eine Bewegung voller Anmut. »Suchst du nach all dem Trubel auch den Frieden des Meeres?« Er lächelte. Das Lächeln erreichte die Augen nicht, die Schatten in seinem Blick blieben.

Jarno holte tief Atem, stieß sich von dem Felsen ab und trat näher. »Nicht mehr Kommandant. Berater. Aber ich habe nichts dagegen, wenn du mich einfach Jarno nennst, wenn niemand in der Nähe ist.«

Silian hob eine fein gezeichnete Braue, und Jarno verspürte das Bedürfnis, sich selbst in den Hintern zu treten, und kämpfte den aufkommenden Lachanfall nieder bei dem Gedanken, dass ihm das mithilfe seines thaumaturgischen Beins ohne Schwierigkeiten möglich wäre. Er schaffte es, das Lachen mit einem Husten zu überspielen. »Was verwundert dich so, Silian von Tyrjan?«

»Die Vertraulichkeit, Berater Jarno. Aus welchem Grund folgst du mir? Ich habe mich den Regeln entsprechend bei Hauptmann Tharas abgemeldet.«

Jarno schüttelte den Kopf. »Darum geht es nicht. Ich möchte nur mit dir sprechen.«

Silians Miene verschloss sich wie eine Muschel. »Und worüber? Ich kenne die Regeln, ich tanze, wenn ich dazu aufgefordert werde, und ansonsten werde ich mir Mühe geben, niemandem im Weg zu sein oder zur Last zu fallen, bis meine Zeit als Faustpfand abgelaufen ist.« Er senkte den Kopf, murmelte noch etwas, das Jarno nicht verstand.

»Und … was noch? Silian, ich bin nicht dein Feind.«

»Nicht?« Wieder diese hochgezogene Braue.

Oh wunderbar, das habe ich ja wirklich hervorragend vermasselt. Jarno unterdrückte einen Seufzer und streckte Silian eine Hand entgegen. »Beginnen wir noch einmal von vorn. Ich bin Jarno, Berater des Königs und für dein und Baronin Arinas Wohlergehen verantwortlich. Ich möchte sichergehen, dass alles in Ordnung ist, du gut behandelt wirst und es dir an nichts fehlt. Dasselbe gilt natürlich auch für sie. Die Wachen in der Nähe eurer Wohnungen unterstehen mir, und es sind meine Bediensteten, die euch mit allem versorgen, was ihr benötigt.«

Der Tänzer trat einen Schritt zurück und schnaubte unterdrückt. »Keine Feinde. So. Erzähl das bitte den Tyrjanern, die auf dem Meer geblieben sind, versunken in den Fluten, nachdem eure Kriegsschiffe sie mit ihren Kanonen zerschossen oder ihren Rammdornen in Fetzen gerissen haben!« In Silians blauen Augen funkelte Zorn. Er presste die Lippen zusammen, als wollte er weitere Worte zurückhalten, die Hände zu Fäusten geballt.

Wie schön er ist. Wie stark er gerade scheint, obwohl er aussieht, als würde die nächste Böe ihn zu Fall bringen, die nächste etwas wildere Welle ihn ins Meer hinaustragen. Jarno nickte. Er suchte nach Worten, wollte Silian nicht noch weiter von sich stoßen. Götter, er wollte doch nur reden. Und diesen faszinierenden Mann näher kennenlernen. Nicht einfach nur reden. Nein, er wollte mit ihm sprechen, über Dinge, die ihm wichtig waren, die ihn bewegten. Er wollte wissen, was für Musik Silian mochte, welche Bücher er vielleicht gelesen hatte, ob er lieber Süßigkeiten oder etwas Herzhaftes aß. Oder mit ihm schweigen, ohne dass die Luft zwischen ihnen wie eine Gewitterfront aufgeladen war und vor Spannung knisterte. Silian hatte Jarno mit seinem Tanz berührt. Hatte dafür gesorgt, dass er die halbe Nacht nicht hatte schlafen können, weil er diesen Tanz wieder vor sich gesehen hatte, sobald er die Augen schloss. Noch nie hatte ein anderer Mann ihn so gefangen genommen, ohne dass er ihn mehr als nur flüchtig kannte. »Silian«, sagte er leise, »bitte hör mir nur einen Moment zu. Dann werde ich gehen und dich allein lassen, versprochen, und wenn du es willst, mich dir nie wieder nähern. Bitte gib mir nur einen Augenblick.«

Kapitel 4

 

Silian

Silian nickte, die Fingernägel so fest in die Handflächen gegraben, dass es wehtat. Was wollte der Berater von ihm? Ja, er hatte ihn angesehen in der letzten Nacht, während er getanzt hatte, weil Jarno ihm das Gefühl gegeben hatte, ihn wirklich wahrzunehmen. Ihn, den Mann, den Menschen. Einen Menschen mit einer Lebensgeschichte, einem Schicksal, einer Seele – nicht nur den Tänzer im aufregenden Kostüm und geschminkt in den Farben des Ozeans. Jarno hatte ihn angesehen, als wollte er wirklich wissen, was er da tanzte. Und nun sah er ihn genauso an. Als wollte er in sein Innerstes blicken und erfahren, wie es ihm ging. Wie er sich wirklich fühlte. Ob wirklich alles in Ordnung war.

Silian watete einige Schritte weiter ins Wasser, es war ihm gleich, dass seine Hosen am Saum nass wurden. Das Meer auf der Haut zu spüren, gab ihm Sicherheit. Wie eine Hand, die ihn hielt. »Was willst du mir sagen?« Er wandte Jarno den Rücken zu, wusste aber ganz genau, dass der andere noch da war. Leises Knirschen verriet ihm, dass Jarno die Fußspitzen wieder in den Sand bohrte.

»Es ist mir wichtig, dass du dich hier so wohl wie möglich fühlst und dass es dir an möglichst wenig fehlt. Ich weiß, dass du nicht frei bist und dass das natürlich dein Wohlbefinden einschränkt. Ich kann nur ahnen, wie schwer es dir gefallen ist, Abschied von deinem Ziehvater zu nehmen und die Schiffe segeln zu sehen, ohne nicht selbst an Bord zu stehen. Was Heimweh ist, das weiß ich. Und ich möchte, dass du weißt, dass du dich jederzeit an mich wenden kannst, wenn es etwas gibt, das dich belastet. Der Baronin Arina werde ich dasselbe zusagen. Ja, ihr seid Geiseln – aber ich möchte, dass ihr euch dennoch eher fühlen könnt wie Gäste. Ich verbiete euch auch nicht, Zeit miteinander zu verbringen. Ihr seid beide Fremde in diesem Land, habt gemeinsame Erinnerungen an eure Heimat, die ihr gegen euren Willen verlassen musstet, und nie würde ich auf den Gedanken kommen, euch das wegzunehmen – dieses gemeinsame Erinnern. Ich sah, dass du mit ihr gesprochen hast. Kennt ihr einander gut?«

Silian schüttelte den Kopf, schaffte es, nicht zu schnauben. Gemeinsame Erinnerungsstündchen mit Arina? Tränenreiches Schwelgen in Geschichten aus der Heimat, dabei Wein trinken und Fischhäppchen essen, bis der Morgen graut? Möge Varush einen Sturm schicken, um das zu verhindern! »Ich kenne sie nur flüchtig. Natürlich weiß ich, wer sie ist – Seekönig Idans und meines Ziehvaters Base, und solange der Seekönig und seine Königin Kari noch keine Kinder haben, die Nächste in der Thronfolge, also eine wertvolle Geisel. Aber ich bin nur ein einfacher Tempeltänzer ohne höhere Weihen, der sich beim besten Willen nicht vorstellen kann, warum König Idan ihn erwählte, um an Baronin Arinas Seite als Unterpfand für den Frieden hier zu bleiben.« Er wandte sich um und sah, dass Jarno eine Braue hob.

Silian lächelte schief. »Du hast dir dieselbe Frage gestellt. Und ja, Arina bat mich, sie heute Abend aufzusuchen. Worüber sie genau mit mir reden wollte, hat sie mir nicht gesagt.

---ENDE DER LESEPROBE---