Das Zeichen - Jerry B. Jenkins - E-Book

Das Zeichen E-Book

Jerry B. Jenkins

0,0

Beschreibung

Mit fester Hand regiert der Antichrist in Gestalt des auferstandenen Nicolai Carpathia die Welt. Eine erbarmungslose Verfolgung der Christen beginnt. Erstes Ziel des Terrors ist Griechenland, wo sich die Gläubigen von einer heimtückischen Todesmaschine bedroht sehen. Sie sind gezwungen, das Loyalitätszeichen der Weltgemeinschaft anzunehmen - oder zu sterben. Auch die Christen in Nicolais Palast planen ihre Flucht, um der Verfolgung zu entgehen. Die alles entscheidende Schlacht zwischen den Mächten von Gut und Böse um die Seelen der Menschen kann beginnen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 449

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Tim LaHaye • Jerry B. Jenkins

Das Zeichen

Die letzten Tage der Erde

Roman

Die amerikanische Originalausgabe erschien im Verlag

Tyndale House Publishers, Inc., Wheaton, Illinois, USA,

unter dem Titel „The Mark“.

© 2000 by Tim LaHaye und Jerry B. Jenkins

© der deutschen Taschenbuchausgabe 2007 by Gerth Medien GmbH, Dillerberg 1, 35614  Asslar

Aus dem Englischen von Eva Weyandt mit Genehmigung

von Tyndale House Publishers, Inc.

Left Behind © ist ein eingetragenes Warenzeichen

von Tyndale House Publishers, Inc.

Die Bibelstellen wurden der Einheitsübersetzung entnommen.

© 1980 Katholische Bibelanstalt, Stuttgart.

Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart

Taschenbuch ISBN 978-3-86591-277-0

eBook ISBN 978-3-96122-098-4

Umschlaggestaltung: Michael Wenserit; Julie Chen

Umschlagfoto: Adobe Image Library

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Für Linda und Rennie

42 Monate nach Beginn der Trübsalszeit – drei Tage nach Beginn der Großen Trübsalszeit

Die Christen

Rayford Steele, Mitte 40, flog als Flugkapitän für die Fluglinie Pan-Continental und verlor bei der Entrückung Frau und Sohn. Nach den dramatischen Ereignissen wurde er Flugkapitän der Weltgemeinschaft und gehörte zu den ersten Mitgliedern der Tribulation Force. Mittlerweile ist er ein international gesuchter Flüchtling. Er wird verdächtigt, das Attentat auf Nicolai Carpathia begangen zu haben, und hält sich im neuen Versteck der Tribulation Force, im Strong-Gebäude in Chicago, verborgen.

Cameron „Buck“ Williams, Anfang 30, ehemaliger Chefreporter des Global Weekly und früherer Herausgeber des Global Community Weekly, gehörte zu den ersten Mitgliedern der Tribulation Force. Mittlerweile ist er Herausgeber einer Internet-Zeitung mit dem Namen „Die Wahrheit“. Augenblicklich ist er ein international gesuchter Flüchtling und hält sich zusammen mit den anderen Mitgliedern der Tribulation Force im Strong-Gebäude in Chicago auf.

Chloe Steele Williams, Anfang 20, war vor den Ereignissen Studentin an der Stanford-Universität und hat Mutter und Bruder bei der Entrückung verloren. Sie ist die Tochter von Rayford, Ehefrau von Buck und Mutter des 14 Monate alten Kenny Bruce. Darüber hinaus ist sie Leiterin und Initiatorin der „Internationalen Handelsgesellschaft“, einem Untergrundnetzwerk von Christen. Auch sie gehörte zu den ersten Mitgliedern der Tribulation Force und hat im Strong-Gebäude in ChicagoUnterschlupf gefunden.

Tsion Ben-Judah, Ende 40, ist Rabbi und ehemaliger israelischer Staatsmann. Er sprach im israelischen Fernsehen öffentlich über seinen Glauben an Jesus als den Messias, woraufhin seine Frau und seine beiden Kinder ermordet wurden. Danach floh er in die USA und wurde zum geistlichen Führer der Tribulation Force. Über das Internet kommuniziert er täglich mit mehr als einer Milliarde Menschen. Auch er hält sich zusammen mit den anderen Mitgliedern der Tribulation Force im Strong-Gebäude in Chicago verborgen.

Dr. Chaim Rosenzweig, Ende 60, ist israelischer Botaniker und Staatsmann. Darüber hinaus ist er der Entdecker einer Formel, die Israels Wüste zum Blühen brachte, und wurde vom Global Weekly zum „Mann des Jahres“ gekürt. Er hat das Attentat auf Carpathia verübt und lebt ebenfalls im Strong-Gebäude.

Mac McCullum, Ende 50, ist der Pilot Carpathias und wohnt in Neu-Babylon, Vereinigte Carpathiatische Staaten.

David Hassid, Mitte 20, ist hochrangiger Angestellter der Weltgemeinschaft in Neu-Babylon.

Annie Christopher, Anfang 20, ist Offizier der Weltgemeinschaft und Leiterin der Transportabteilung für die Phoenix 216. Sie liebt David Hassid und wohnt in Neu-Babylon.

Lea Rose, Ende 30, war bis vor kurzem Oberschwester im Arthur Young Memorial Hospital in Palatine. Sie hat zusammen mit den anderen Mitgliedern der Tribulation Force im Strong-Gebäude in Chicago Zuflucht gesucht.

Mr und Mrs Lukas „Laslo“ Miklos, Mitte 50, sind die Besitzer einer Lignitmine in Griechenland, Vereinigte Carpathiatische Staaten.

Abdullah Smith, Anfang 30, war früher jordanischer Kampfflieger und ist heute Erster Offizier der Phoenix 216. Er wohnt in Neu-Babylon.

Ming Toy, 22, Witwe, Wachoffizier in einem Brüsseler Frauengefängnis, hält sich auf Anweisung zur Beisetzung Carpathias in Neu-Babylon auf.

Chang Wong, 17, Ming Toys Bruder, wohnt in China, Vereinigte Asiatische Staaten. Er ist zusammen mit seinen Eltern zur Beisetzung Carpathias nach Neu-Babylon gekommen. Seine Eltern wissen nicht, dass er zum Glauben gekommen ist.

Christen nach eigenem Bekenntnis

Al B. (Albie), Ende 40, Nachname unbekannt, gebürtig aus Al Basrah im Norden Kuwaits. Er war Leiter des Towers am Flughafen von Al Basrah und ist heute ein international tätiger Schwarzmarkthändler. Buck Williams erzählte er, er habe sich dem christlichen Glauben zugewandt, nachdem er die Lehren von Tsion Ben-Judah im Internet studiert habe. Auf seiner Stirn ist das Zeichen der Christen zu sehen. Er unterstützt die Mitglieder der Tribulation Force im Norden Illinois, Vereinigte Nordamerikanische Staaten.

Die Feinde

Nicolai Jetty Carpathia, Mitte 30, war während der dramatischen Ereignisse Präsident von Rumänien und wurde dann Generalsekretär der Vereinten Nationen. Carpathia war bis zu seiner Ermordung in Jerusalem selbst ernannter Potentat der Weltgemeinschaft. Drei Tage später kehrt er auf dem Palastgelände der Weltgemeinschaft in Neu-Babylon ins Leben zurück.

Leon Fortunato, Anfang 50, ist Carpathias rechte Hand. Augenblicklich ist er Supreme Commander der Weltgemeinschaft und wohnt im Hauptquartier der Weltgemeinschaft in Neu-Babylon.

Die Unentschlossenen

Hattie Durham, Anfang 30, war Flugbegleiterin der Pan-Continental. Nach der Entrückung wurde sie Assistentin und Geliebte von Carpathia. Später wohnte Hattie eine Zeit lang im Versteck der Tribulation Force, bevor sie von dort floh und von den Truppen der Weltgemeinschaft in Belgien inhaftiert wurde. Zuletzt wurde sie in den Vereinigten Nordamerikanischen Staaten gesehen.

„Weh aber der Erde und dem Meer. Denn der Teufel kommt zu euch hinab und hat einen großen Zorn und weiß, dass er wenig Zeit hat.“

Offenbarung 12,12

Prolog

„Meine Damen und Herren der Weltgemeinschaft, Ihr Supreme Potentat, Seine Exzellenz Nicolai Carpathia“, kündigte der Sprecher den nun Folgenden an.

Nicolai trat einen Schritt näher an die Kamera heran und zwang sie damit zu einer Neueinstellung. Er blickte direkt in das Objektiv.

„Meine lieben Untertanen“, begann er. „Zusammen haben wir eine ereignisreiche Woche hinter uns gebracht. Ich bin tief gerührt von Ihrer großen Anteilnahme und dass Millionen von Menschen zu einem Ereignis nach Neu-Babylon gekommen sind, das nun glücklicherweise doch nicht meine Beisetzung geworden ist. Ihr Mitgefühl hat mich tief bewegt.

Wie Sie wissen und wie ich bereits gesagt habe, gibt es noch immer kleine Widerstandszellen, die unseren Frieden und unsere Harmonie stören. Bestimmte Gruppen verbreiten sogar sehr verletzende, verleumderische und falsche Dinge über mich.

Ich glaube, Sie werden mir zustimmen, wenn ich sage, dass ich heute bewiesen habe, wer ich bin. Sie werden gut daran tun, mir zu folgen. Sie wissen, was Sie gesehen haben, und Ihre Augen lügen nicht. Ich bin gerne bereit, ehemalige Anhänger des radikalen Flügels in unserer Gemeinschaft willkommen zu heißen, die sich davon haben überzeugen lassen, dass ich nicht der Feind bin. Im Gegenteil, ich bin vielleicht sogar derjenige, den sie in ihrer Religion anbeten und lieben, und ich bete, dass sie vor dieser Möglichkeit nicht die Augen verschließen werden.

Zum Schluss möchte ich noch ein paar Worte direkt an die Opposition richten. Ich habe immer unterschiedliche Ansichten toleriert. Es gibt jedoch Menschen unter Ihnen, die mich öffentlich als Antichristen und diese Phase der Geschichte als die Trübsalszeit bezeichnen. Lassen Sie mich Ihnen eines sagen:

Wenn Sie mit Ihren subversiven Angriffen auf mich und auf die Harmonie in der Welt, die herzustellen ich mir so große Mühe gegeben habe, weitermachen, dann kann das Wort Trübsal gar nicht umschreiben, was auf Sie wartet. Wenn die letzten dreieinhalb Jahre Ihre Vorstellung von der Trübsalszeit sind, dann warten Sie ab, bis Sie die Große Trübsal erleben.“

1

In Neu-Babylon war es Nachmittag.

David Hassid war außer sich. Annie war nirgends zu finden. Er hatte noch nichts von ihr gehört, konnte aber dennoch seinen Blick kaum von den riesigen Leinwänden im Palasthof abwenden. Das Bild des unverwüstlichen Nicolai Carpathia, der nach drei Tagen von den Toten auferstanden war, füllte die Leinwand vollständig aus. Er strotzte vor Energie. David hatte Angst, seine dämonische Ausstrahlung würde ihn töten können, wenn er sich in der Nähe dieses Mannes aufhielte.

Das Verschwinden von Annie beunruhigte ihn schließlich so sehr, dass er den Blick doch von den Leinwänden losriss und sich zu den Absperrungen durchdrängte, hinter denen noch wenige Stunden zuvor der tote Körper des Königs der Welt aufgebahrt gewesen war.

Konnte David tatsächlich Beweise dafür sehen, dass nun der Satan von diesem Mann Besitz ergriffen hatte? Der Körper, das Haar, die Erscheinung, das Aussehen – scheinbar hatte sich nichts verändert. Aber seine Augen strahlten eine ungewöhnliche Ruhelosigkeit und Wachsamkeit aus. Obwohl er lächelte und mit leiser und sanfter Stimme sprach, war es, als ob Nicolai das Ungeheuer in sich kaum im Zaum halten könne. Kontrollierter Zorn, unterschwellige Gewalt, Rachegefühle ließen die Muskeln an seinem Hals und den Schultern ständig in Bewegung sein. David erwartete beinahe, dass er aus seinem Anzug springen, seine Haut ablegen und sich der Welt als die widerliche Schlange zeigen würde, die er war.

Davids Aufmerksamkeit wurde kurz von dem Mann an Carpathias Seite abgelenkt, doch als sein Blick wieder zu dem noch immer ungewöhnlich gut aussehenden Gesicht zurückwanderte, war er nicht darauf vorbereitet, von seinem Feind direkt angesehen zu werden. Natürlich kannte Nicolai ihn, aber in seinem Blick lagen nicht wie sonst freundliche Anerkennung und Akzeptanz. Dieser wohlwollende Blick hatte ihn immer beunruhigt, doch er zog ihn dem Blick vor, der ihn nun ansah. Er schien durch David hindurchzugehen. Beinahe fühlte er sich veranlasst, vorzutreten und seinen Verrat und den aller seiner Freunde aus der Tribulation Force zu bekennen.

David rief sich in Erinnerung, dass Satan nicht allwissend war, und doch fiel es ihm schwer zu glauben, dass dieser nicht all seine Geheimnisse kannte. Er verspürte den Wunsch davonzurennen, doch er wagte es nicht, und er war sehr dankbar, als Carpathia sich wieder seiner Aufgabe zuwandte: die Anbetung der Weltöffentlichkeit entgegenzunehmen.

David eilte zurück an seinen Posten, doch jemand hatte seinen Wagen genommen. Er wurde wütend und holte sein Handy hervor. Nur mit Mühe konnte er sich beherrschen. Zornig fuhr er den Leiter des Fuhrparks an: „Sie sorgen besser dafür, dass ich hier innerhalb von zwei Minuten ein Fahrzeug habe, sonst wird jemand –“

„Ein Elektrocart, Sir?“, erwiderte der Mann. Sein Akzent verriet seine australische Herkunft.

„Natürlich!“

„Die sind knapp, Direktor, aber –“

„Das muss wohl so sein, weil sich jemand meinen geholt hat!“

„Aber, wollte ich sagen, ich würde Ihnen unter den gegebenen Umständen gern meinen überlassen.“

„Unter den gegebenen Umständen?“

„Die Auferstehung natürlich! Um ehrlich zu sein, Direktor Hassid, ich würde das gern mit eigenen Augen sehen.“

„Bringen Sie nur –“

„Denken Sie, das ginge, Sir? Ich meine, in Uniform? Ich weiß, die Zivilisten, die sich nicht innerhalb des Parks aufgehalten haben, wurden abgewiesen, und sie sind bestimmt nicht besonders glücklich darüber, aber als Angestellter –“

„Ich weiß es nicht! Ich brauche einen Wagen, und zwar sofort!“

„Würden Sie mich denn zu dem Empfang bringen, bevor Sie mit dem Wagen weiterfahren?“

„Ja! Beeilen Sie sich!“

„Freuen Sie sich so, Direktor, oder was ist los?“

„Wie bitte?“

Der Mann sprach langsam und herablassend. „Über die Auferstehung!“

„Sitzen Sie in Ihrem Fahrzeug?“, fragte David.

„Ja, Sir.“

„Darüber freue ich mich.“

Der Mann sprach noch immer, als David die Verbindung einfach unterbrach und die Nummer des Offiziers wählte, der für die Einteilung der Aufsichtsbeamten zuständig war.

„Ich suche Annie Christopher“, erklärte er.

„Sektor?“

„Fünf-drei.“

„Sektor 53 ist geräumt worden, Herr Direktor. Sie ist vielleicht einem anderen Sektor zugeteilt worden. Vielleicht wurde sie aber auch freigestellt.“

„Wenn sie einem neuen Sektor zugeteilt worden wäre, dann wüssten Sie doch darüber Bescheid, oder?“

„Einen Augenblick, ich sehe nach.“

Der Leiter des Fuhrparks kam strahlend in seinem Elektrocart angefahren. David stieg ein, das Handy noch immer fest an sein Ohr gepresst.

„Ich werde Gott sehen!“, freute sich der Mann.

„Ja“, erwiderte David. „Einen Augenblick, bitte.“

„Ist das zu glauben? Er muss Gott sein. Wer sonst könnte er sein? Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, na ja, wenn auch nur im Fernsehen. Er ist von den Toten auferstanden. Ich habe gesehen, dass er tot war; das weiß ich genau. Wenn ich ihn jetzt persönlich sehe, gibt es keinen Zweifel mehr, oder? Oder?“

David nickte und steckte einen Finger in sein freies Ohr.

„Ich sagte, es gibt keinen Zweifel mehr.“

„Keinen Zweifel mehr!“, rief David. „Jetzt geben Sie mir eine Minute!“

„Wo fahren wir hin, Sportsfreund?“

David sah den Mann ungläubig an. Er sprach noch immer mit ihm!

„Ich sagte, wo fahren wir hin? Werde ich Sie absetzen oder Sie mich?“

„Ich werde Sie absetzen! Fahren Sie hin, wohin Sie wollen, und dann steigen Sie endlich aus!“

„Entschuldigung!“

Gewöhnlich behandelte David seine Mitarbeiter nicht so, nicht einmal solche Tölpel. Aber er wollte unbedingt erfahren, ob Annie einem neuen Sektor zugeteilt worden war, und wenn ja, welchem.

„Nichts“, meldete sich der Mann am Telefon.

„Dann hat sie dienstfrei?“, fragte er erleichtert.

„Vermutlich. Wir haben nichts über sie in unserem System.“

David überlegte, ob er sich beim Sanitätsdienst erkundigen sollte, doch er verwarf den Gedanken wieder, weil er nicht überängstlich erscheinen wollte.

Der Leiter des Fuhrparks fuhr im Schritttempo durch die Menschenmenge, die sich nur langsam und widerstrebend teilte. Die Menschen wirkten schockiert. Einige waren zornig. Sie hatten Stunden gewartet, um den Leichnam zu sehen, und nun, da Carpathia auferstanden war, würden sie ihn überhaupt nicht sehen, weil sie zufällig am falschen Ort standen.

„So, näher werde ich wohl nicht rankommen“, sagte der Mann und bremste so abrupt ab, dass David sich festhalten musste. „Sie bringen ihn dann wieder zurück, oder, Sir?“

„Natürlich“, erwiderte David. Er nahm sich so weit zusammen, dass er dem Mann wenigstens dankte. Als er auf den Fahrersitz rutschte, sagte er: „Sind Sie seit der Reorganisation mal wieder in Australien gewesen?“

Der Mann runzelte die Stirn und deutete mahnend mit dem Finger auf David. „Ein Mann Ihrer Stellung sollte doch den Unterschied zwischen einem Australier und einem Neuseeländer erkennen können.“

„Mein Fehler“, entschuldigte sich David. „Vielen Dank für den fahrbaren Untersatz.“

Als er losfuhr, rief der Mann ihm nach: „Natürlich sind wir jetzt sowieso alle stolze Bürger der Vereinigten Pazifischen Staaten!“

David bemühte sich, den Blickkontakt mit den zahlreichen verärgerten Zuschauern zu meiden, die versuchten, ihn anzuhalten – nicht, weil sie mitfahren, sondern weil sie Informationen von ihm haben wollten. Manchmal war er gezwungen, scharf abzubremsen, damit er niemanden umfuhr. Die Frage war immer dieselbe. Die Menschen sprachen zwar mit unterschiedlichen Akzenten, doch sie wollten alle dasselbe wissen. „Gibt es einen Weg, hineinzukommen und Seine Exzellenz zu sehen?“

„Ich kann Ihnen nicht helfen“, erwiderte David. „Treten Sie bitte zur Seite. Das ist eine offizielle Angelegenheit.“

„Das ist nicht fair! Wir warten die ganze Nacht und den halben Tag in der brütenden Sonne, und wofür?“

Doch andere tanzten auf den Straßen, reimten Lieder und Verse über Carpathia, ihren neuen Gott. David sah erneut zu den riesigen Monitoren, auf denen Carpathia zu sehen war, der unzähligen Menschen die Hand schüttelte. Links von David hatte das Aufsichtspersonal alle Mühe, die Unermüdlichen von ihrem Versuch abzuhalten, sich in den Garten zu schmuggeln. „Die Schlange ist geschlossen!“, riefen sie immer und immer wieder.

Auf der Leinwand war zu sehen, wie die Pilger, nachdem sie Nicolai in seiner Herrlichkeit bewundert hatten, reihenweise in Ohnmacht fielen. Viele taumelten, wenn sie auch nur in seine Nähe kamen. Die Aufsichtsbeamten stützten sie, schoben sie vorwärts, doch wenn Seine Exzellenz leise mit ihnen sprach und sie berührte, sanken ein paar von ihnen ohnmächtig in den Armen der Leute zusammen.

Über Nicolais Säuseln hinweg – „Schön, Sie zu sehen. Vielen Dank für Ihr Kommen. Alles Gute. Alles Gute“ – hörte David Leon Fortunato. „Betet euren König an“, sagte er mit eindringlicher Stimme. „Verbeugt euch vor Seiner Majestät. Betet den Herrn, euren Gott, an.“

Missmutig versuchten die Wachen, die zitternde, aufgebrachte Menschenmenge weiterzuschieben. Immer wieder mussten sie vor Ekstase ohnmächtig gewordene Zuschauer auffangen. „Lächerlich!“, brummten sie vor sich hin. Die Mikrofone übertrugen die Worte von Fortunato, Carpathia und dem Ordnungspersonal über den ganzen Platz. „Gehen Sie weiter. Kommen Sie! So geht es! Stehen Sie auf! Gehen Sie endlich weiter!“

Endlich erreichte David Sektor 53, der, genau wie man ihm gesagt hatte, verlassen dalag. Die aufgestellten Zäune waren umgefallen und das riesige Plakat war niedergetrampelt worden. David blieb stehen, die Arme auf das Lenkrad gelegt. Er schob seine Uniformmütze nach hinten. Die Sonne knallte vom Himmel herab. Seine Hände waren krebsrot, und ihm war klar, dass er diese Stunden in der prallen Sonne teuer würde bezahlen müssen. Aber bevor er Annie nicht gefunden hatte, konnte er sich nicht wieder in den Schatten zurückziehen.

Während die Massen sich langsam durch und um ihren Sektor herumschoben, sah David auf den Boden. Der Asphalt war von der Sonne aufgeweicht. Neben den Bonbonpapierchen, Eisstielen und Trinkbechern auf dem geteerten Boden entdeckte er die Überreste von Medikamenten oder Verbandsmaterial. Er wollte gerade den Wagen verlassen, um sich dies näher anzusehen, als ein älteres Ehepaar einstieg und zu dem Sektor gefahren werden wollte, in dem die Shuttle zum Flughafen abfuhren.

„Dieses Fahrzeug befördert keine Personen“, erklärte er zerstreut. Allerdings war er so geistesgegenwärtig, vor dem Aussteigen die Schlüssel abzuziehen.

„Wie unhöflich!“, beschwerte sich die Frau.

„Komm“, meinte der Mann.

David ging zu Sektor 53 hinüber und kniete sich hin. Die Hitze war wirklich unerträglich und lähmend. Im Schatten der Vorübergehenden untersuchte er die Plastikbanderolen des Verbandsmaterials. Auch Gaze, Salbe und Röhrchen fand er. Ganz eindeutig war hier jemand verarztet worden. Das hieß nicht zwangsläufig, dass dies Annie gewesen war. Jeder hätte es gewesen sein können. Trotzdem musste er Klarheit haben. Er kehrte zu seinem Fahrzeug zurück, in dem mittlerweile jeder Platz außer seinem besetzt war.

„Wenn Sie nicht zur Sanitätsstation wollen“, sagte er und tippte eine Nummer in sein Handy ein, „dann sitzen Sie im falschen Wagen.“

In Chicago sah sich Rayford Steele im Strong-Gebäude um. Das neunte Stockwerk war eine Goldgrube und er konnte sogar seine düsteren Gedanken in Bezug auf Albie für den Augenblick verdrängen. Die Wahrheit über seinen kleinen, dunkelhaarigen Freund aus dem Mittleren Osten würde sehr bald ans Licht kommen. Albie sollte ein Kampfflugzeug von Palwaukee nach Kankakee bringen, wo Rayford ihn später mit einem Helikopter der Weltgemeinschaft abholen würde.

Im neunten Stock entdeckte er nicht nur einen Raum, der mit den neuesten Computern und Minicomputern voll gestellt war, die alle noch originalverpackt waren. Dort befand sich auch ein kleines privates Schlafzimmer neben einem großen Büro, das scheinbar für einen Manager gedacht gewesen und wie ein luxuriöses Hotelzimmer ausgestattet war. In jedem Stockwerk fand er neben mindestens vier Büros ein ähnlich ausgestattetes Schlafzimmer.

„Dieses Haus bietet mehr Annehmlichkeiten, als wir uns je hätten träumen lassen“, erzählte er den erschöpften Mitgliedern der Tribulation Force. „Bis die Fenster geschwärzt sind, werden wir ein paar der Betten in die Korridore neben die Aufzüge stellen. Dort können sie von außen nicht gesehen werden.“

„Ich dachte, niemand käme je hierher?“, wandte Chloe ein. Kenny schlief auf ihrem Schoß und Buck döste an ihrer Schulter.

„Man kann nie wissen, was auf den Satellitenbildern zu sehen ist“, erklärte Rayford. „Es könnte durchaus sein, dass wir tief und fest schlafen, während die Sicherheitskräfte und der Geheimdienst der Weltgemeinschaft uns aus der Stratosphäre fotografieren.“

„Lass uns diese beiden hier ins Bett stecken“, sagte sie, „bevor ich noch zusammenbreche.“

„Ich habe früher öfter Möbel gerückt“, meinte Lea und erhob sich langsam von ihrem Stuhl. „Wo stehen diese Betten und wohin wollen wir sie rücken?“

„Ich wünschte, ich könnte auch helfen“, meinte Chaim durch zusammengebissene Zähne. Sein Kiefer war noch immer verdrahtet.

Rayford winkte ab. „Wir sind so froh, Sie bei uns zu haben. Sie und Buck müssen so schnell wie möglich wieder gesund werden. Das ist jetzt erst mal das Wichtigste.“

„Genau, Sie sollten aufnahmebereit sein“, meldete sich Tsion zu Wort. „Sie haben mich für genügend Examina lernen lassen. Jetzt werden Sie den Crashkurs Ihres Lebens durchlaufen.“

Rayford, Chloe, Lea und Tsion benötigten eine halbe Stunde, um die Betten zum Aufzug zu schieben und in einem innenliegenden Korridor des 24. Stockwerks ein provisorisches Lager einzurichten. Als Rayford endlich in den Hubschrauber stieg, den er kunstvoll auf den Betonboden des 25. Stockwerks aufgesetzt hatte, der das neue Dach des Gebäudes bildete, lagen alle außer Tsion in tiefem Schlaf. Der Rabbi schien neue Energie bekommen zu haben, und Rayford wusste nicht so genau, warum.

Rayford ließ die Lichter des Instrumentenbords und natürlich auch die Scheinwerfer ausgeschaltet. Er stellte die Rotoren an, wartete aber mit dem Abheben, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Auf beiden Seiten des Hubschraubers waren nur etwa drei Meter Platz. Ein schwieriger Start, vor allem für Rayford, der erst vor kurzem gelernt hatte, einen Hubschrauber zu fliegen. Nichts war gefährlicher als die Luftströme in einem solchen Trichter. Rayford hatte erlebt, wie Hubschrauber über freien Flächen abgeschmiert waren, nur weil sie zu lange auf einer Stelle in der Luft verharrt hatten. Mac McCullum hatte versucht, ihm die physikalische Erklärung dafür zu geben, aber Rayford hatte nicht so genau zugehört. Es ging darum, dass die Rotoren die Luft unter dem Hubschrauber aufsaugten und sie deshalb keine Tragkraft mehr hatte. Wenn der Pilot dann merkte, dass er durch eigene Schuld abstürzte, war es schon zu spät.

Rayford brauchte genauso dringend wie jeder seiner Schutzbefohlenen Schlaf, aber er musste Albie abholen. Doch natürlich war es nicht nur das. Er hätte seinen Freund anrufen und ihm sagen können, er solle sich bis zum nächsten Abend versteckt halten. Aber Albie war neu im Land und hätte sich entweder ein Versteck suchen oder sich unter falschem Namen in einem Hotel einmieten müssen. Da Carpathia aber auferstanden war und in der Weltgemeinschaft natürlich erhöhte Wachsamkeit herrschte, hätte er die Wachen vermutlich nicht lange mit seiner Rolle als Offizier der Weltgemeinschaft getäuscht. Außerdem musste Rayford unbedingt wissen, ob Albie nun „für ihn oder gegen ihn“ war, wie sein Vater immer sagte. Er hatte sich sehr gefreut, als er das Zeichen auf Albies Stirn entdeckte, aber vieles, was dieser Mann in den frühen Morgenstunden getan hatte, verwirrte Rayford und ließ ihn zweifeln. Ein so gerissener Mann wie Albie, der schon so viele Dinge unter höchster Gefahr für seine Person beschafft hatte, wäre ein besonders übler Gegner. Rayford hatte Angst, dem Wolf im Schafspelz Zutritt zur Tribulation Force ermöglicht zu haben.

Während der Hubschrauber durch den Schacht des Gebäudes aufstieg, hielt Rayford die Luft an. Er hatte versucht, den Hubschrauber möglichst genau in der Mitte des Stockwerks zu landen, sodass er nun beim Aufstieg eine Ecke als Orientierungspunkt nehmen konnte. Wenn er die schwirrenden Rotoren im gleichen Abstand von den Wänden in der einen Ecke hielt, durfte er im Grunde keine Probleme haben.

Wie verletzlich und ausgeliefert konnte sich ein Mensch eigentlich fühlen? Er stellte sich vor, David Hassid hätte sich verrechnet oder sich auf alte Informationen verlassen und wüsste nichts von den Informationen der Weltgemeinschaft, dass Chicago sicher und nicht radioaktiv verseucht war. Rayford selbst hatte gehört, wie Carpathia gesagt hatte, er habe bei der Bombardierung der Stadt keine Nuklearwaffen eingesetzt, zumindest anfangs nicht. Er fragte sich, ob die Weltgemeinschaft solche Informationen ausgestreut hatte, um Rebellen wie sie genau dorthin zu locken, wo sie sie haben wollten – an einen Ort, an dem sie leicht zu fangen waren.

Nachdem sein Helikopter das Gebäude unter sich gelassen hatte, wagte Rayford noch immer nicht, die Scheinwerfer einzuschalten. Er würde niedrig fliegen und hoffentlich unterhalb des Radars bleiben. Vor der Satellitenüberwachung war er nicht geschützt, denn die Hitzesensoren waren mittlerweile so empfindlich, dass sein dunkler Schwirrvogel auf dem Monitor orangefarben glühen würde.

Ein Schauder rann ihm über den Rücken, als er seiner Fantasie freien Lauf ließ. Wurde er vielleicht bereits von einem halben Dutzend Hubschrauber wie seinem eigenen verfolgt? Er würde sie weder sehen noch hören. Sie konnten in der Nähe gewartet haben, sogar auf dem Boden. Woher sollte er dies wissen?

Seit wann litt er unter solchen Wahnvorstellungen? Die reale Gefahr war schon groß genug, auch ohne dass er sich noch etwas einbildete.

Rayford schaltete das Licht am Instrumentenbord ein und erkannte sofort, dass er vom Kurs abgekommen war. Das ließ sich leicht korrigieren, aber so viel zu seinem Orientierungssinn. Mac hatte ihm einmal gesagt, einen Helikopter zu fliegen sei im Vergleich zu einer 747 etwa so schwer, wie einen Sportwagen zu fahren, wenn man an ein Fahrrad gewöhnt war. Daher nahm er an, dass er höllisch würde aufpassen müssen. Aber er hatte ja nicht vorgehabt, im Dunkeln einen Blindflug über eine so riesige Geisterstadt zu unternehmen. Er musste unbedingt nach Kankakee, Albie abholen und vor Sonnenaufgang wieder im Wolkenkratzer gelandet sein. Es blieb ihm keine Zeit. Auf keinen Fall wollte er am helllichten Tag über Sperrgebiet entdeckt werden. Eine Entdeckung im Schutz der Nacht war eine Sache. Dann könnte er alles auf eine Karte setzen und seinem Instinkt vertrauen. Aber tagsüber hätte er keine Chance, und lieber würde er sterben, als irgendjemanden in die Nähe ihres neuen Verstecks zu führen.

In Neu-Babylon hatten Tausende frustrierter Bittsteller vor dem Palast der Weltgemeinschaft eine neue Warteschlange gebildet. Die Sicherheitskräfte der Weltgemeinschaft fuhren an den Reihen entlang und teilten den Leuten mit, der auferstandene Potentat werde sich nicht mehr lange dort aufhalten können. Er hatte nur mit denen gesprochen, die zufällig zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort gestanden hatten.

David fuhr auf dem Weg zur Sanitätsstation an den Menschenschlangen vorbei. Sie rührten sich nicht, gingen nicht auseinander. Die Sicherheitskräfte hörten schließlich auf, noch weitere Erklärungen zu geben, nachdem ihre über Megafon verbreiteten Mitteilungen ignoriert wurden. David blieb hinter einem der Jeeps stehen und einer der Beamten zuckte genauso verwirrt wie David die Achseln.

Der Mann mit dem Megafon sagte schließlich resignierend: „Wie Sie meinen, aber es wird Ihnen nichts bringen, wenn Sie hier noch länger stehen bleiben!“

„Wir haben eine andere Idee!“, rief ein Mann mit spanischem Akzent.

„Ich höre“, erwiderte der Beamte, während die Menschenmenge in seiner Nähe still wurde.

„Wir werden die Statue anbeten!“, rief er und Hunderte von Menschen in seinem Umfeld jubelten.

„Was will er? Was hat er gesagt?“, fragten die Leute.

„Hat nicht der Supreme Commander Fortunato genau das vorgeschlagen?“, fragte der Mann.

„Woher kommen Sie, mein Freund?“, fragte der Beamte bewundernd.

„Méjico!“, rief der Mann in seiner Muttersprache und viele jubelten.

„Sie haben das Herz eines Torreros!“, meinte der Beamte. „Ich werde nachfragen!“

Während der Beamte in sein Telefon sprach, verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer. Plötzlich erhob er sich und zeigte dem Mann die erhobenen Daumen. „Sie haben die Erlaubnis, das Bild Seiner Exzellenz, des auferstandenen Potentaten, anzubeten!“

Die Menge jubelte.

„Ihre Führer halten dies sogar für eine wundervolle Idee!“

Die Menge begann, zu singen und zu jubeln, und drängte sich immer näher an den Hof heran.

„Bitte bleiben Sie ruhig!“, forderte der Beamte sie auf. „Es wird noch mehr als eine Stunde dauern, bis Sie eingelassen werden können. Aber Ihr Wunsch wird erfüllt werden!“

Kopfschüttelnd wendete David den Wagen und fuhr zum Hof zurück. Die Menschen, an denen er vorbeikam, riefen ihm zu: „Stimmt das? Dürfen wir endlich die Statue anbeten?“

David ignorierte die meisten von ihnen. Eine Gruppe von Menschen sammelte sich vor seinem Fahrzeug, und er war gezwungen abzubremsen, um ihnen auszuweichen. Manchmal nickte er, sehr zu ihrer Freude. Sie rannten zurück an ihren Platz in der Schlange, die sich bereits über mehr als eine Viertelmeile erstreckte. Würde dieser Tag jemals zu Ende gehen?

2

Rayford hätte sich in den Hintern treten können. Er hatte sich vollkommen in der Zeit verschätzt. Es war unmöglich, Albie abzuholen, die Unterbringung des Kampfflugzeugs und der Gulfstream zu arrangieren und zum neuen Versteck der Tribulation Force zurückzukehren, bevor es hell wurde. Die ersten hellen Streifen zeigten sich bereits am Horizont. Er klopfte seine Hosentaschen nach seinem Handy ab, tastete dann in seiner Fliegertasche, in seiner Jacke und auf dem Boden danach.

Am liebsten hätte er geflucht, aber seit er vor ein paar Tagen wieder zu Verstand gekommen war, hatte sich vieles geändert. Von einem alten Freund im College hatte er etwas gelernt, das er damals als zu esoterisch und viel zu gefühlsbetont abgelehnt hatte. Sein Freund hatte es den Modus des „gegenteiligen Auslösers“ genannt. Er reagierte genau entgegengesetzt zu seinen Gefühlen. Wenn er schreien wollte, flüsterte er. Wenn er jemanden ins Gesicht schlagen wollte, tätschelte er sanft seine Schulter.

Rayford hatte auf diesem einsamen, sehr aufwühlenden Flug vom Mittleren Osten nach Griechenland und schließlich zu den Vereinigten Nordamerikanischen Staaten nicht an diesen alten Freund oder seine verrückte Idee gedacht. Doch nun beschloss er, es einmal damit zu versuchen. Er wollte sich selbst verfluchen, weil er so kurzsichtig gewesen war und sein Telefon verloren hatte. Stattdessen überlegte er sich eine andere Reaktion. Das Gegenteil von Fluchen war Segnen, aber wen sollte er segnen? Beten war auch eine Möglichkeit.

„Herr“, begann er, „wieder einmal brauche ich Hilfe. Ich bin wütend auf mich selbst und habe nur wenige Möglichkeiten. Ich bin müde und muss unbedingt wissen, was ich tun soll.“

Im selben Augenblick fiel ihm ein, dass er sein Telefon Albie überlassen hatte. Natürlich hatte dieser auch selbst ein Handy, aber in der ganzen Verwirrung hatte Rayford seines an seinen Freund weitergegeben. Schon bald würde er jemanden damit beauftragen, im Versteck eine Funkstation mit einer sicheren Leitung zum Hubschrauber einzurichten, damit er direkt kommunizieren konnte. In der Zwischenzeit jedoch konnte er den anderen Mitgliedern der Tribulation Force nicht mitteilen, wo er sich befand oder dass er erst später zurückkommen würde.

Auch wusste er nicht, ob mit Albie alles in Ordnung war. Er würde einfach landen, sich unter seiner falschen Identität beim Tower melden und hoffen müssen, dass Albie auf ihn wartete.

David hinterließ eine Nachricht auf Annies Mailbox und rief alle Stellen an, die eventuell etwas über ihren Verbleib wussten. Im Sanitätsbereich herrschte zu viel Betrieb, sodass die Leute dort nicht im Computer nachsehen konnten. „Außerdem wäre sie noch nicht erfasst“, wurde ihm gesagt, „selbst wenn sie hier wäre.“

„Werden die Angestellten denn bei ihrer Einlieferung nicht erfasst?“

„Eigentlich nicht, Direktor. Hier geht alles drunter und drüber. Die Lebenden werden behandelt und bei den Toten wird der Tod festgestellt. Ihre Daten zu erfassen hat im Augenblick nicht die oberste Priorität, aber irgendwann werden wir schon alle Namen eingegeben haben.“

„Wie kann ich erfahren, ob sie da ist?“

„Sie können gerne herkommen und nachsehen, aber Sie dürfen sich nicht einmischen und nicht im Weg stehen.“

„Wo ist das Aufnahmezelt?“

„Östlich von unserem Hauptzelt. Wir versuchen, die Patienten im Schatten von drei Zelten zu behandeln, aber wir haben keinen Platz mehr, und sobald sie versorgt wurden, werden sie verlegt.“

„Die meisten haben vermutlich einen Sonnenstich?“, fragte David.

„Sie wurden wohl eher vom Blitz getroffen, Direktor.“

„Tower an Hubschrauber der Weltgemeinschaft! Hören Sie?“

„Hier spricht der Hubschrauber der Weltgemeinschaft, Kankakee“, meldete sich Rayford. Er nahm sich zusammen. „Ich bitte um Verzeihung. Bin am Steuer eingeschlafen.“

„Hoffentlich nicht wörtlich.“

„Nein, Sir.“

„Erklären Sie den Zweck Ihres Besuchs.“

„Äh, ja, Zivilist unter dem Befehl von Deputy Commander Marcus Elbaz.“

„Mr Berry?“

„Roger.“

„Sie haben Landeerlaubnis für den Süden. Sie treffen sich in Hangar 2. Sie können sich sicher vorstellen, dass wir hier unter Personalmangel leiden. Die Sicherung und das Auftanken bleiben Ihnen überlassen.“

Zehn Minuten später fragte Rayford Albie, wie lange er seiner Meinung nach vor der Weltgemeinschaft noch die Maskerade aufrechterhalten könne. „Solange Ihr Kamerad Hassid im Palast im Sattel sitzt. Er ist ein bemerkenswerter junger Mann, Rayford. Ich gestehe, ich musste hier mehr als einmal die Luft anhalten. Das waren harte Brocken, vor allem angesichts des herrschenden Personalmangels. Ich musste zwei Checks durchlaufen.“

Rayford blinzelte. „Mich haben die ohne Weiteres hereingelassen, obwohl ich mich nicht einmal beim Tower gemeldet hatte.“

„Der Grund dafür ist, dass Sie mit mir zusammen und außerdem Zivilist sind.“

„Aha, Sie haben sie überzeugt, oder?“

„Voll und ganz. Aber das habe ich Ihrem Freund zu verdanken. Er hat mich nicht nur in der internationalen Datenbank der Weltgemeinschaft mit Namen, Rang und Personalnummer eingetragen, er hat mich auch diesem Teil der Vereinigten Nordamerikanischen Staaten zugewiesen. Ich bin hier, weil ich hier sein soll. Ich bin besser legitimiert als die meisten Angestellten der Weltgemeinschaft.“

„David ist wirklich gut“, meinte Rayford.

„Der Beste. Ich habe mich aufgeblasen, den Ungeduldigen gespielt und angedeutet, es würde großen Ärger geben, wenn sie mich zu lange aufhielten. Aber sie ließen sich davon nicht beeindrucken, bis sie meinen Namen bei der zweiten Überprüfungsstelle in den Computer eingaben und Davids Datenbank aufriefen. Eines Tages muss er mir mal erzählen, wie er das gemacht hat. Er hat alle meine Informationen eingegeben, und als meine Papiere mit dem übereinstimmten, was sie auf dem Bildschirm sahen, war ich aus dem Schneider. Dann begann ich, Befehle herumzubrüllen. Ich habe ihnen gesagt, sie sollten Ihnen alle Steine aus dem Weg räumen, wir hätten eine dringende Angelegenheit zu erledigen und müssten unbedingt sofort aufbrechen.“

Rayford informierte Albie darüber, dass sie unmöglich noch vor Sonnenaufgang zum Versteck zurückkehren konnten. Er würde ihn gern nach Palwaukee bringen, um die Gulfstream nach Kankakee zu überführen.

„Möchten Sie sich nicht lieber etwas amüsieren?“, fragte Albie. „Wollen Sie nicht nachsehen, ob die Weltgemeinschaft Ihr altes Versteck bereits abgefackelt hat, und ihnen diese Arbeit abnehmen, falls es noch nicht geschehen ist?“

„Keine schlechte Idee“, meinte Rayford. „Wenn sie es bereits niedergebrannt haben, in Ordnung, aber wenn sie anfangen, dort nach Beweisen zu suchen, dann werden sie bestimmt auch etwas finden.“

„Dafür haben sie gar nicht genügend Leute“, wandte Albie ein. Er ging auf den Helikopter zu. „Ist er schon aufgetankt?“

Rayford nickte.

„Der Jäger auch. Er steht bereit, wann immer wir ihn brauchen.“ Albie hängte sich seine Tasche über die Schulter, suchte darin nach Rayfords Telefon und warf es ihm zu.

„Drei Anrufe“, murmelte Rayford, als sie in den Hubschrauber stiegen. „Ich hoffe, in Chicago ist alles in Ordnung. Wann sind die Anrufe gekommen?“

„Alle drei vor etwa einer halben Stunde, direkt nacheinander. Aber es waren keine Nummern zu sehen, darum hielt ich es für besser, sie nicht zu beantworten.“

Obwohl sie bereits angeschnallt waren, meinte Rayford: „Ich rufe besser mal im Versteck an.“

Wenig später meldete sich Tsion mit verschlafener Stimme.

„Es tut mir leid, dass ich Sie aufgeweckt habe, Doktor“, begann Rayford.

„Oh, Captain Steele, das ist doch nicht schlimm. Ich bin gerade erst eingeschlafen. Chloes Telefon läutete und läutete und sie schlief tief und fest. Niemand ist aufgewacht; sie sind alle so erschöpft. Ich schaffte es nicht rechtzeitig, das Telefon zu nehmen, aber als es wieder zu läuten begann, habe ich mich beeilt und ging damit in eine ruhige Ecke. Rayford, es war Miss Durham!“

„Sind Sie sicher?“

„Ja, und sie klang ziemlich verzweifelt. Ich flehte sie an, mir zu sagen, wo sie sich aufhält, und erinnerte sie daran, dass wir alle sie lieben und für sie beten. Aber sie wollte nur mit Ihnen sprechen. Sie sagte, sie hätte versucht, Sie zu erreichen, und ich versicherte ihr, ich würde es auch versuchen. Ich habe zweimal vergeblich durchgeklingelt. Aber Sie haben ja ihre Nummer.“

„Ich werde sie anrufen.“

„Und dann sagen Sie mir Bescheid.“

„Tsion, ruhen Sie sich aus. Sie haben so viel damit zu tun, Ihren Computerbereich aufzubauen, Chaim zu unterweisen –“

„Oh Rayford, ich freue mich so darüber, dass ich kaum weiß, was ich tun soll. Und ich habe meinen Lesern am Computer so viel zu sagen. Aber Sie müssen Miss Durham anrufen, und ja, Sie haben recht. Wenn nichts anliegt, das wir unbedingt wissen sollten, dann können Sie es uns erzählen, wenn Sie zurückkommen. Um ehrlich zu sein, ich hatte gedacht, dass Sie mittlerweile schon da wären.“

„Ich habe mich verkalkuliert, Tsion. Ich kann erst heute Abend zurückkommen, wenn es wieder dunkel ist. Aber ich bin jetzt telefonisch erreichbar.“

„Und Sie haben sich mit Ihrem Freund aus dem Mittleren Osten getroffen?“

„Ja.“

„Und geht es ihm gut, Rayford? Verzeihen Sie, aber er wirkte ziemlich besorgt.“

„Alles ist in Ordnung, Doktor.“

„Er ist jetzt Christ, richtig?“

„Ja.“

„Und er wird bei uns bleiben?“

„Damit ist zu rechnen.“

„Dann freue ich mich darauf, auch ihn zu unterweisen.“

David war entsetzt. Er hatte die Hauptsanitätsstation mehrmals besucht, die trotz ihrer immer größer werdenden Personalknappheit immer tipptopp in Ordnung gewesen war. Doch mittlerweile hatte sich die Erste-Hilfe-Station beinahe zu einer mobilen Armeechirurgie ausgeweitet.

Die anderen Sanitätsstationen waren abgebaut und die übrigen Verletzten entweder zum Verbandsplatz im Palasthof oder ins Palastgebäude gebracht worden.

Reihe um Reihe standen die provisorischen Pritschen über den Hof verteilt. „Warum bringen Sie diese Leute denn nicht hinein?“, fragte David, während er an seinem Kragen zupfte.

„Warum kümmern Sie sich nicht um Ihre Angelegenheiten und lassen uns unsere Arbeit tun?“, erwiderte ein Arzt und wandte sich kurz von einem totenblassen Hitzeopfer ab.

„Ich wollte Sie ja nicht kritisieren. Es ist nur, dass –“

„Es ist nur, dass alle jetzt hier sind“, erklärte der Arzt. „Zumindest die meisten von uns. Die Mehrheit der behandelbaren Fälle sind auf Hitzschlag und Dehydrierung zurückzuführen und die meisten Verletzten sind Opfer des Blitzschlags geworden.“

„Ich suche nach –“

„Tut mir leid, Direktor, aber wen immer Sie auch suchen, Sie werden sich allein auf die Suche nach ihm machen müssen. Wir kümmern uns nicht um Namen oder Nationalitäten. Wir versuchen nur, sie am Leben zu erhalten. Um den Papierkram werden wir uns später kümmern.“

„Eine meiner Angestellten war stationiert in –“

„Es tut mir leid! Nicht, dass es mir egal wäre, aber ich kann Ihnen nicht helfen! Verstanden?“

„Sie hätte sich bestimmt vor einem Sonnenstich oder Hitzschlag zu schützen gewusst.“

„Gut. Und jetzt auf Wiedersehen.“

„Sie war im Sektor 53.“

„Also, Sie wollen bestimmt nicht hören, was in Fünf-drei passiert ist“, meinte der Arzt und wandte sich wieder seinem Patienten zu.

„Was war denn?“

„Sehr viele Blitzschlagopfer. Dort hat es mächtig gekracht.“

„Wo sind die Opfer hingebracht worden?“

Der Arzt wollte nicht weiter mit David sprechen. Er nickte einem Assistenten zu. „Sagen Sie es ihm.“

Der junge Mann sprach mit einem französischen Akzent. „Kein besonderer Platz. Einige wurden hierhergebracht. Andere wurden in diesem Sektor behandelt. Ein paar im Gebäude.“

David wollte wieder zu seinem Fahrzeug zurückgehen, doch dann überlegte er es sich anders. Er ließ es stehen und schritt die Reihe der Opfer ab. Das war ein hoffnungsloses Unterfangen. Wie sollte er die Leute erkennen? Annie trug eine Uniform. Doch die Patienten waren mit feuchten Laken abgedeckt, die sie kühl halten sollten. Er würde jedes Laken anheben müssen. Und er würde bei der medizinischen Behandlung stören.

Während er in der Hitze die Reihen abschritt, griff David nach seiner Wasserflasche. Doch sie war leer. Seine Kehle war wie ausgedörrt, und er wusste, dass er dringend Wasser brauchte. Wann hatte er zum letzten Mal etwas getrunken? Wann hatte er zuletzt gegessen? Wann geschlafen?

Auf den riesigen Monitoren waren Viv Ivins, Leon Fortunato und Nicolai Carpathia zu sehen. Noch immer zogen die Pilger an ihnen vorüber. Sie sprachen mit ihnen, segneten sie, berührten sie. Davids Uniform war vollkommen durchgeschwitzt und hing wie ein nasser Sack an ihm herunter. Er blieb stehen, um tief durchzuatmen, doch er hatte das Gefühl, als sei seine Kehle geschwollen, sein Mund nicht mehr in der Lage, Speichel zu produzieren, seine Luftröhre wie zugeschnürt. Schwindelig. Annie. Verschwommen. Heiß. Annie. Alles dreht sich. Durst. Rote Hände.

David taumelte. Seine Uniformkappe rutschte von seinem Kopf und rollte davon. Sein Verstand befahl ihm, danach zu greifen, doch seine Hände rührten sich nicht. Halt deinen Sturz auf! Halt deinen Sturz auf! Aber er schaffte es nicht. Seine Arme wollten sich nicht bewegen. Er würde mit dem Gesicht voran auf dem Boden aufschlagen. Nein, er konnte sein Kinn nicht einziehen.

Er schlug mit dem Kopf auf dem Asphalt auf. Die raue Oberfläche verletzte durch sein Haar seine Kopfhaut. Er schloss die Augen in Erwartung des Schmerzes und weiße Blitze zuckten vor seinen Augen vorbei. Die Hände noch immer an seine Knie gelegt, sein Hinterteil in die Luft gestreckt, rollte er ganz langsam zur Seite und schlug auf der Hüfte auf. Er öffnete die Augen und sah, wie langsam Blut an seinem Gesicht herunterlief und sich in einer kleinen Pfütze auf dem glühend heißen Asphalt sammelte. Er versuchte, sich zu bewegen, zu sprechen. Er drohte das Bewusstsein zu verlieren, und er konnte nichts anderes denken, als dass er der Nächste in einer langen Reihe von Opfern sein würde.

„Soll ich das Steuer übernehmen, während Sie telefonieren?“, fragte Albie.

„Das wäre gar nicht schlecht“, erwiderte Rayford. Sie tauschten die Plätze, während er Hatties Nummer eintippte. Die junge Frau meldete sich mit einem heiseren, verängstigten Flüstern beim ersten Läuten.

„Rayford, wo sind Sie?“

„Das möchte ich nicht sagen, Hattie. Sprechen Sie mit mir. Wo sind Sie?“

„In Colorado.“

„Genauer.“

„Pueblo, im Norden, glaube ich.“

„Und die Weltgemeinschaft hat Sie geschnappt?“

„Ja. Und sie wollen mich zurück ins ‚Buffer‘ schicken.“ Rayford schwieg. „Lassen Sie mich nicht hängen, Rayford. Wir haben zusammen schon zu viel durchgemacht.“

„Hattie, ich weiß nicht, was ich sagen soll.“

„Was?!“

„Was soll ich denn tun?“

„Kommen Sie und holen Sie mich! Ich will nicht zurück nach Belgien! Ich werde dort sterben.“

„Und was erwarten Sie von mir?“

„Dass Sie das Richtige tun.“

„Mit anderen Worten, mein Leben und das der ‚Tribulation Force‘ in Gefahr bringen, um –“

Klick.

Rayford konnte nicht sagen, ob sie aufgelegt hatte, weil sie beleidigt war oder weil sie jemanden hatte kommen hören. Er erzählte Albie von dem Gespräch.

„Was wollen Sie tun, mein Freund?“

Rayford starrte Albie im Licht der anbrechenden Dämmerung an und schüttelte den Kopf. „Diese Frau hat uns nur Ärger gemacht.“

„Aber sie ist Ihnen wichtig. Das haben Sie mir erzählt.“

„Tatsächlich?“

„So nach und nach. Vielleicht hat es mir auch Mac erzählt.“

„Mac kennt sie gar nicht.“

„Aber er kennt Sie, und Sie reden doch miteinander, oder?“

Rayford nickte. „Wir wissen, dass sie aus dem ‚Buffer‘ entlassen wurde, damit sie –“

„,Buffer‘?“

„,Belgium Facility for Female Rehabilitation‘ [dt. Belgische Einrichtung für die Rehabilitation von Frauen; Anm. d. Übers.].“

„Aha, das kann ich mir besser merken.“

„Wie auch immer, die Weltgemeinschaft hoffte, sie würde uns zur Gala nach Jerusalem locken, aber sie –“

„Entschuldigen Sie, Rayford, soll ich nun Kurs auf das ehemalige Versteck nehmen oder direkt nach Palwaukee fliegen?“

„Das hängt davon ab, ob ich beschließe, nach Colorado zu fliegen.“

„Das ist Ihre Entscheidung, aber ich hatte Sie für entscheidungsfreudiger gehalten, wenn ich das mal so sagen darf. Ihre Leute bewundern und respektieren Sie, das ist offensichtlich.“

„Das sollten sie nicht. Ich –“

„Sie haben sich mit ihnen versöhnt, Rayford. Sie haben Ihnen vergeben. Und jetzt werden Sie wieder ihr Führer. Was werden Sie wegen dieser Hattie Durham unternehmen? Entscheiden Sie. Sagen Sie es mir, sagen Sie es den Leuten im Strong-Gebäude, und dann tun Sie es.“

„Ich weiß es nicht, Albie.“

„Sie werden es nie genau wissen. Wägen Sie Ihre Möglichkeiten gegeneinander ab und dann handeln Sie. Auf jeden Fall sind wir knapp zehn Minuten von dem ehemaligen Versteck entfernt. Fangen Sie mit einer kleinen Entscheidung an.“

„Also gut, werfen wir einen Blick darauf.“

„Gut gemacht, Rayford.“

„Seien Sie nicht so schulmeisterlich, Albie. Wir sitzen in einem Hubschrauber der Weltgemeinschaft. Wir werden kein Misstrauen erregen.“

„Aber Sie haben eine Entscheidung getroffen. Und jetzt denken Sie laut über die wichtigere nach. Werden wir nach Colorado fliegen?“

„Ich wollte noch sagen, dass sie die Weltgemeinschaft nicht zu uns geführt hat, sondern geradewegs dorthin gefahren ist. Ihre Familie ist tot, aber vielleicht dachte sie, sie könnte sich mit Freunden in Colorado in Verbindung setzen. Wer weiß? Ich könnte nicht einmal sagen, ob die Irreführung der Weltgemeinschaft ein Geniestreich oder einfach nur Glück war, aber ich würde sagen, Letzteres.“

„Dann hat Hattie Sie also nicht auffliegen lassen?“

Rayford wandte sich von Albie ab und sah aus dem Fenster. Er betete im Stillen. Es war noch gar nicht so lange her, seit er ein Auge auf Hattie Durham geworfen und beinahe seine Ehe aufs Spiel gesetzt hatte. Die Schuld daran lag bei ihm, aber seither hatte sie ihm nichts als Ärger gemacht. Er und die anderen Mitglieder der Tribulation Force hatten sie geliebt, sie beraten, für sie gesorgt, sie angefleht, ihre Beziehung zu Christus in Ordnung zu bringen. Aber sie hatte sich nicht überzeugen lassen. Immer wieder hatte sie durch ihren Egoismus die Tribulation Force in Gefahr gebracht. Soweit er wusste, trug sie die Schuld daran, dass die Weltgemeinschaft das Versteck schließlich entdeckt hatte.

Rayfords Telefon läutete. „Hattie?“

„Ich habe Schritte gehört. Sie haben mich in einen kleinen Raum in einem Bunker etwa eine Stunde südlich von Colorado Springs gesperrt.“

„Das ist ein weiter Weg.“

„Oh, vielen Dank, Rayford. Ich wusste, dass ich auf Sie zählen kann –“

„Ich habe noch nicht entschieden, was ich tun werde, Hattie.“

„Natürlich haben Sie das. Sie werden mich doch nicht einfach im Stich lassen, damit ich ins Gefängnis zurückgeschickt werde oder Schlimmeres. Was muss ich tun, Ihnen versprechen, dass ich Christ werde?“

„Nicht, wenn Sie es nicht wirklich ernst meinen.“

„Na ja, wenn Sie nicht kommen, um mich zu holen, können Sie sich auf jeden Fall von dieser Idee verabschieden.“

Rayford klappte sein Handy zu und seufzte. „Was für ein Dummkopf!“

„Hattie?“, fragte Albie. „Oder Sie, weil Sie in Erwägung ziehen, ihren Wunsch zu erfüllen?“

„Sie! Es ist doch ganz offensichtlich, dass es sich bei der ganzen Aktion um einen Versuch der Weltgemeinschaft handelt, einen von uns dorthin zu locken. Wenn sie mich erst mal haben, halten sie mich als Geisel, bis ich Informationen über die anderen Mitglieder der ‚Tribulation Force‘ preisgebe. Denn eigentlich suchen sie Tsion. Wir anderen sind nur lästig. Er ist der Feind.“

„Also müssen Sie zwischen Miss Durham und Tsion Ben-Judah entscheiden? Wollen Sie meine Meinung hören?“

„So einfach ist das nicht. Immerhin wollen wir ja, dass sie zum Glauben kommt, Albie. Ich meine, wir alle wünschen uns das sehr.“

„Und Sie denken, wenn Sie sie jetzt im Stich lassen, wird sie niemals zum Glauben kommen?“

„Das hat sie gesagt.“

„Es mag vielleicht hartherzig klingen, und ich räume ein, dass ich auf diesem Gebiet noch ein Neuling bin, aber es ist doch Hatties Entscheidung, oder? Sie können ihr diese Entscheidung nicht abnehmen.“

„Nach Colorado zu fliegen wäre das Dümmste, was ich machen könnte. Sie wurde geschnappt, eingesperrt, man hat ihr gedroht, sie wieder ins Gefängnis zu bringen, und doch haben sie ihr das Telefon gelassen? Ich meine, für wie blöd halten die mich eigentlich?“

Albie suchte den Horizont ab. „Dann ist Ihre Entscheidung doch einfach.“

„Ich wünschte, es wäre so.“

„So ist es. Entweder Sie fliegen nicht oder Sie greifen auf alle Ihre Hilfsmittel zurück.“

„Was meinen Sie damit?“

„Es gibt eine Möglichkeit, die Sie anscheinend vergessen haben. Vielleicht sogar zwei.“

„Ich höre.“

„Bitten Sie David Hassid herauszufinden, wo genau sie gefangen gehalten wird. Er soll eine Anweisung von einem Kommandanten schicken, sie bis auf Weiteres dort festzuhalten. Sie rufen Hattie an und sagen ihr, Sie würden nicht kommen. Machen Sie es ihr und demjenigen, der mithört, wer immer das sein mag, glaubhaft. Dann tauchen Sie einfach auf, als Überraschungsangriff sozusagen, wenn Hattie und die Leute von der Weltgemeinschaft denken, Sie hätten Ihre Freundin im Stich gelassen.“

Rayford kräuselte die Lippen. „Vielleicht sollten Sie die Leitung der ‚Tribulation Force‘ übernehmen. Ich könnte getötet oder gefangen genommen werden.“

„Aber Sie haben eine weitere Möglichkeit nicht in Betracht gezogen.“

„Ich bin ganz Ohr.“

„Sir? Direktor? Sind Sie in Ordnung?“

„Er ist bewusstlos.“

„Seine Augen sind offen, Doktor.“

„Er ist auf den Kopf gefallen, Medizinfrau.“

„Ich habe Sie gebeten, mich nicht so zu ne–“

„Tut mir leid. Ich weiß nicht, wie Sie mit den gefallenen Kriegern im Reservat umgegangen sind, aber der hier konnte seinen Sturz nicht einmal abfangen. Er könnte die Augen nicht schließen, selbst wenn er es wollte.“

„Helfen Sie mir, ihn –“

„Sie machen es schon wieder, Süße. Ich bin kein Pfleger.“

„Und Sie machen es auch schon wieder, Doktor! Wir können ihn natürlich liegen und verbluten lassen. Ich kann Sie aber auch daran erinnern, dass die Zahl unserer Patienten weit größer ist als die Zahl der Helfer.“

Davids Zunge war geschwollen, und es gelang ihm einfach nicht, das Wort auszusprechen. Er wollte nichts weiter als Wasser, aber er wusste, dass auch sein Kopf versorgt werden musste.

„Spray!“, rief die Schwester, die augenscheinlich indianischer Abstammung war. Jemand warf ihr eine Flasche zu. Sie sprühte ihm dreimal lauwarmes Wasser ins Gesicht, aber er konnte nicht einmal blinzeln. Verglichen mit der Hitze des Asphalts war das Wasser eiskalt. Ein paar Tropfen fielen in seinen Mund. Er keuchte bei dem Versuch, sie zu schlucken.

Der Arzt und die Schwester drehten ihn vorsichtig auf den Rücken und im Geiste blinzelte er vor der grellen Sonne. Doch er wusste, dass seine Augen weit aufgerissen waren und brannten. Er wollte sie bitten, ihn noch einmal nass zu sprühen, aber er fühlte sich wie gelähmt. Die Schwester legte ihm seine Kappe über das Gesicht, und als das Gefühl zurückkehrte, versuchte er, sich nicht zu bewegen, damit die Kappe nicht verrutschte.

Wenn er nur seine Stimme wiederfinden könnte, dann würde er nach Annie fragen, aber er war hilflos. Vermutlich war sie bereits auf der Suche nach ihm.

Als David auf eine der Pritschen gehoben wurde, rutschte ihm die Kappe vom Gesicht, aber er konnte blinzeln und wurde schon bald in den Schatten eines überfüllten Zeltes gebracht. Ihm wurde der letzte Streifen Schatten zugewiesen. „Kritisch?“, fragte jemand.

„Nein“, erwiderte der Arzt. „Aber die Kopfwunde muss so schnell wie möglich genäht werden.“

Die erste Nadel, die sich in seine Kopfhaut bohrte, ließ ihn zusammenzucken, aber noch immer brachte er kein Wort heraus. Sekunden später war seine Kopfhaut taub.

„Können Sie das übernehmen?“, fragte der Arzt.

„Dann wird es nicht gerade eine Schönheitsoperation, oder?“, erwiderte die Schwester.

„Nehmen Sie Fäden wie bei einem Fußball – mir ist es egal. Er kann ja einen Hut tragen.“

David war im Grunde egal, wie sein Kopf aussah, und das war gut, weil die Schwester schnell einen Zentimeter Kopfhaut an jeder Seite der Wunde rasierte, ihn mit noch mehr Flüssigkeit besprühte und eine große Nadel herausnahm.

„Wie schlimm?“, brachte David mühsam und mit schwerer Zunge heraus.

„Sie werden am Leben bleiben“, erwiderte sie. „Das ist nur eine oberflächliche Wunde. Sie haben einen harten Schädel. Aber Ihnen wurde das Fleisch buchstäblich vom Knochen gerissen. Mindestens fünf Zentimeter tief, oben auf dem Kopf.“

„Wasser?“

„Tut mir leid.“

„Bisschen?“

Schnell schraubte sie den Verschluss der Sprühflasche ab. Es war noch ein wenig Wasser darin. „Aufmachen.“

Das meiste lief an Davids Hals entlang, aber es löste seine Zunge. „Suche Chief Christopher“, sagte er.

„Kenne ihn nicht“, erwiderte sie. „Und jetzt halten Sie still.“

„Sie. Annie Christopher.“

„Direktor, ich habe etwa fünf Minuten Zeit für Sie, und wenn Sie Glück haben, finde ich eine Infusion, um Ihnen Flüssigkeit zuzuführen. Aber während ich Sie nähe, werden Sie den Mund halten müssen und sich nicht bewegen dürfen, wenn Sie nicht noch schlimmer aussehen wollen.“

„Sehen Sie, was ich sehe?“ Albie blinzelte in die Ferne.

Rayford folgte seinem Blick. Seine Gefühle erstaunten ihn. Eine schwarze Rauchsäule schraubte sich hundert Meter in die Luft. „Meinen Sie?“, fragte er.

Albie nickte. „Muss es sein.“

„Fliegen Sie so dicht heran wie möglich“, forderte Rayford ihn auf. „Das war für lange Zeit mein Zuhause.“

„Mach ich. Also, werden Sie nun alle Möglichkeiten ausschöpfen? Oder habe ich mein Geld an diese Uniform und alle Auszeichnungen vergeudet?“

3

Buck erwachte gegen Mittag Chicagoer Zeit. Er fühlte sich doppelt so alt, wie er war. Wie an jedem Tag seit der Entrückung wusste er genau, wo er sich befand. In der Vergangenheit war es häufig vorgekommen, dass er beim Aufwachen in einer fremden Stadt erst einmal überlegen musste, wer er war, wo er sich genau befand und was er in dieser Stadt zu tun hatte. Aber jetzt nicht mehr. Selbst wenn er erschöpft, verletzt und kaum in der Lage war zu funktionieren, drehte sich das Selbsterhaltungsrad seines sonst passiven Verstandes.

Er hatte tief und fest geschlafen, aber sobald er die Augen geöffnet und auf seine Uhr gesehen hatte, wusste er Bescheid. Das alles machte auf eine lächerliche Weise Sinn. Buck starrte die Wand neben einem Aufzug in einem ausgebombten Wolkenkratzer in Chicago an. Er vernahm gedämpfte Stimmen. Kaffeeduft stieg ihm in die Nase und der Geruch eines Babys. Kenny duftete nach Frische und Puder, und wenn Buck unterwegs war, rief er sich diesen Geruch häufig ins Gedächtnis.

Aber Kenny war hier. Chloe hatte eine Barriere errichtet, damit er nicht zu den äußeren Fluren lief, in deren Fenster die Mittagssonne hereinschien. Buck drehte sich auf den Rücken und stützte sich auf den Ellbogen ab. Offensichtlich hatte Kenny den Versuch aufgegeben, über die Absperrung zu klettern. Er saß zufrieden auf dem Boden und spielte mit einem seiner Schnürsenkel.

„Hey, Kenny Bruce“, flüsterte Buck. „Komm zu Daddy.“

Kennys Kopf fuhr hoch. Er krabbelte auf allen vieren los, dann rappelte er sich hoch und kam zu Bucks Bett. „Pa-pa.“

Buck griff nach ihm und der kleine Kerl kletterte auf ihn und legte sich auf seinen Bauch. Buck ließ sich zurücksinken und schloss die Arme um Kenny. Nur selten brachte der Junge die Geduld auf, still in den Armen seines Vaters zu liegen. Als Buck den Herzschlag des kleinen Jungen spürte, wünschte er, er könnte immer so liegen bleiben.

„Pa-pa da-da?“, fragte Kenny und Buck konnte die Tränen kaum noch zurückhalten.

Rayford hatte eine Entscheidung getroffen, mehrere, um genau zu sein. Nachdem er gesehen hatte, dass das ehemalige Versteck bis auf die Grundmauern niedergebrannt worden war, wies er Albie an, nach Kankakee zurückzukehren. Von dort aus würden sie mit dem Jagdflugzeug der Weltgemeinschaft nach Colorado fliegen.

„So gefallen Sie mir, Captain“, lobte Albie.

„Ja, das denke ich mir“, brummte Rayford. „Vermutlich werde ich uns allen den sicheren Tod bringen.“

Da er David in Neu-Babylon nicht erreichen konnte, hinterließ er ihm eine Nachricht. Er bat ihn, den genauen Aufenthaltsort von Hattie Durham zu ermitteln und ihm diesen mitzuteilen. David sollte die Sicherheitsbeamten, die sie gefangen hielten, darüber informieren, dass Hattie, sollte die gegenwärtige Operation fehlschlagen, festgehalten werde, bis jemand mit dem Auftrag kam, sie abzuholen.

David überlistete häufig die Computersysteme der Weltgemeinschaft, indem er Anweisungen solchen Inhalts auf den Weg gab, die nicht zu ihm zurückverfolgt werden konnten. Er war der Einzige, der die Sicherheitscodes verteilte, um solche Mitteilungen vor den „Feinden der Weltgemeinschaft“ zu schützen. Aus diesem Grund konnte er die Kanäle auch benutzen, ohne entdeckt zu werden.

„Rufen Sie, sobald Sie können, Albie oder mich an, um uns zu bestätigen, dass Sie uns den Weg geebnet haben“, hinterließ Rayford auf Davids Mailbox.

Schon bald würde Rayford dem jungen Israeli sein neuestes Foto mit dem neuen Namen schicken müssen, damit David Hassid ihn in die Friedenstruppen der Weltgemeinschaft „aufnehmen“ konnte. Doch zuerst einmal würden er und Albie auf der ehemaligen Peterson Air Force Base