Die Verschwörung - Jerry B. Jenkins - E-Book

Die Verschwörung E-Book

Jerry B. Jenkins

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Beschreibung

Überall auf der Welt werden die Christen von den Truppen der Weltgemeinschaft verfolgt. Auch die Mitglieder der "Tribulation Force" sind zu Flüchtlingen geworden. Da tritt plötzlich ein unsichtbarer Gegner auf den Plan, dem die Menschheit hilflos ausgeliefert ist: Eine Armee von 200 Millionen dämonischen Reitern überzieht die Erde und bringt Tod und Verderben mit sich. Auch das Ende der beiden Zeugen droht, als der Zeitpunkt ihrer in der Offenbarung angekündigten Ermordung immer näher rückt. Doch das sind nicht die einzigen Schrecken, die die Menschen bei den Jubiläumsfeierlichkeiten in Jerusalem erleben ...

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Tim LaHaye • Jerry B. Jenkins

Die Verschwörung

Die letzten Tage der Erde

Roman

Die amerikanische Originalausgabe erschien im Verlag

Tyndale House Publishers, Inc., Wheaton, Illinois, USA,

unter dem Titel „Assassins“.

© 1999 by Tim LaHaye und Jerry B. Jenkins

© der deutschen Taschenbuchausgabe 2007 by Gerth Medien GmbH, Dillerberg 1, 35614 Asslar

Aus dem Englischen von Eva Weyandt mit Genehmigung

von Tyndale House Publishers, Inc.

Left Behind © ist ein eingetragenes Warenzeichen

von Tyndale House Publishers, Inc.

Die Bibelstellen wurden der Einheitsübersetzung entnommen.

© 1980 Katholische Bibelanstalt, Stuttgart.

Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart

Taschenbuch ISBN 978-3-86591-275-6

eBook ISBN 978-3-96122-105-9

Umschlaggestaltung: Michael Wenserit; Julie Chen

Umschlagfoto: The Living Earth Inc./Earth Imaging

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Dr. John F. Walvoord gewidmet.

Für mehr als 50 Jahre,

in denen er dabei geholfen hat,

dass die Fackel der Prophetie weiter brennt.

38 Monate nach Beginn der Trübsalszeit

Die Christen

Rayford Steele, Mitte 40. Er flog als Flugkapitän für die Fluglinie Pan-Continental und verlor bei der Entrückung Frau und Sohn. Nach den dramatischen Ereignissen wurde er Flugkapitän der Weltgemeinschaft und gehörte zu den ersten Mitgliedern der Tribulation Force. Mittlerweile ist er auf der Flucht und hat in einem Versteck der Tribulation Force in Mount Prospect Unterschlupf gefunden.

Cameron „Buck“ Williams,Anfang 30, ehemaliger Chefreporter des Global Weekly und früherer Herausgeber des Global Community Weekly, gehörte ebenfalls zu den ersten Mitgliedern der Tribulation Force. Jetzt ist er Herausgeber einer Internet-Zeitung mit dem Namen „Die Wahrheit“ und hat als Flüchtling in dem Versteck der Tribulation Force in Mount Prospect Unterschlupf gefunden.

Chloe Steele Williams, Anfang 20, war vor den Ereignissen Studentin an der Stanford-Universität und hat Mutter und Bruder bei der Entrückung verloren. Sie ist die Tochter von Rayford, Ehefrau von Buck und Mutter des zehn Monate alten Kenny Bruce. Darüber hinaus ist sie Leiterin und Initiatorin der „Internationalen Handelsgesellschaft“, einem Untergrund-Netzwerk von Christen. Auch sie gehörte zu den ersten Mitgliedern der Tribulation Force und hat auf der Flucht vor der Weltgemeinschaft ebenfalls im Versteck der Tribulation Force Unterschlupf gefunden.

Tsion Ben-Judah, Ende 40, ist Rabbi und ehemaliger israelischer Staatsmann. Er sprach im israelischen Fernsehen öffentlich über seine Umkehr, woraufhin seine Frau und seine beiden Kinder ermordet wurden. Danach floh er in die USA und wurde zum geistlichen Führer der Tribulation Force. Über das Internet kommuniziert er täglich mit mehr als einer Milliarde Menschen. Ben-Judah wohnt ebenfalls in dem Versteck in Mount Prospect.

Dr. Floyd Charles, Ende 30, war früher Arzt der Weltgemeinschaft und wohnt heute in dem Versteck der Tribulation Force.

Mac McCullum, Ende 50, ist der Pilot Nicolai Carpathias und wohnt im Hauptquartier der Weltgemeinschaft in Neu-Babylon.

David Hassid, Mitte 20, ist Leiter der Versorgungsabteilung der Weltgemeinschaft und wohnt im Hauptquartier der Weltgemeinschaft in Neu-Babylon.

Lea Rose, Ende 30, ist Oberschwester im Arthur Young Memorial Hospital in Palatine und wohnt allein.

Tyrola „T.“ Mark Delanty, Ende 30, ist Besitzer und Leiter des Flughafens in Palwaukee.

Mr und Mrs Lukas „Laslo“ Miklos, Mitte 50, Besitzer einer Lignit-Mine in Griechenland.

Abdullah Smith, Anfang 30, ehemals Pilot eines Jagdflugzeugs. Er wohnt in Jordanien.

Die Feinde

Nicolai Carpathia, Mitte 30, war während der dramatischen Ereignisse Präsident von Rumänien und wurde dann zum Generalsekretär der Vereinten Nationen. Heute ist Carpathia selbst ernannter Potentat der Weltgemeinschaft und wohnt im Hauptquartier der Weltgemeinschaft in Neu-Babylon.

Leon Fortunato, Anfang 50, ist Carpathias rechte Hand, Supreme Commander und wohnt im Hauptquartier der Weltgemeinschaft.

Peter Mathews, Ende 40, ist ehemaliger Kardinal der Erzdiözese Cincinnati, selbst ernannter Pontifex Maximus Peter II., Oberhaupt des Enigma-Babylon-Welteinheitsglaubens und wohnt im Tempel-palast in Neu-Babylon.

Die Unentschlossenen

Hattie Durham, 30, ist ehemalige Flugbegleiterin der Pan-Continental. Nach der Entrückung wurde sie Assistentin und Geliebte von Nicolai Carpathia. Nachdem die Beziehung auseinanderging und dieser versuchte, sie zu ermorden, wohnt Hattie im Versteck der Tribulation Force.

Chaim Rosenzweig, Ende 60, ist israelischer Botaniker und Staatsmann. Er ist darüber hinaus der Entdecker einer Formel, die Israels Wüste zum Blühen brachte, und wurde vom Global Weekly zum „Mann des Jahres“ ernannt. Er wohnt in Jerusalem.

Prolog

Wie aus dem Nichts war ein riesiges Netzwerk von Hausgemeinden messianischer Juden entstanden, die zu den 144000 Zeugen gehörten und führende Positionen einnahmen. Täglich unterwiesen sie ihre Anhänger anhand der Internet-Predigten von Tsion Ben-Judah im Wort Gottes. Tag für Tag wuchs die Mitgliederzahl dieser geheimen Hausgemeinden, von denen es mittlerweile Zehntausende auf der ganzen Welt gab und deren Existenz dem Enigma-Babylon-Welteinheitsglauben ein Dorn im Auge war. […]

Seit geraumer Zeit veröffentlichte Buck Williams nun seine Internet-Zeitung „Die Wahrheit“. Sie war sein einziges Betätigungsfeld. Ironischerweise erreichte er durch sie zehntausendmal mehr Leser als durch seine Artikel in der Zeitung Global Community Weekly. Natürlich bangte er um seine Sicherheit, aber weit mehr Angst hatte er um seine Frau Chloe. […]

Nicolai Carpathia hatte sich in vielerlei Hinsicht um die Welt verdient gemacht. Nach dem großen Erdbeben hatte er die Straßen ausbessern und die Städte und Flughäfen wieder aufbauen lassen. Eine herausragende Leistung war aber in erster Linie der Wiederaufbau Neu-Babylons zur schönsten Stadt, die es je gegeben hatte. „Sie ist ein Meisterwerk, und ich hoffe, dass Sie sie so bald wie möglich besuchen werden.“ Durch das neue solare Satellitensystem war die Kommunikation verbessert worden. Jeder konnte jeden jederzeit über Telefon und Internet erreichen, ungeachtet Zeit oder Standort. Doch all dies diente nur einem Zweck – die für eine Weltherrschaft Nicolai Carpathias notwendigen Voraussetzungen zu schaffen. […]

Der Tag würde kommen, an dem das Zeichen des Kreuzes auf der Stirn der Christen sie auch allen anderen Menschen als Feinde des Antichristen offenbaren würde.

Das Problem war, es würde auch der Tag kommen, an dem die andere Seite für alle sichtbar ihr eigenes Zeichen bekommen würde. Nach Aussage der Bibel würden diejenigen, die dieses „Zeichen des Tieres“ nicht trugen, nicht mehr kaufen oder verkaufen können. Das große Netzwerk der Christen würde einen Untergrundmarkt aufbauen müssen, um am Leben zu bleiben. […]

Der Supreme Commander der Weltgemeinschaft, Leon Fortunato, kündigte dem internationalen Fernsehpublikum Seine Exzellenz, Potentat Nicolai Carpathia, an. Tsion Ben-Judah hatte Rayford gewarnt, dass Nicolais übernatürliche Kräfte wahrscheinlich übertrieben dargestellt würden, um eine Grundlage zu legen für die Zeit, in der Nicolai sich in der zweiten Hälfte der Trübsalszeit selbst zum Gott erheben würde. […]

Ausgelassene Fröhlichkeit hatte keinen Platz im Leben der Mitglieder der Tribulation Force. Die Trauer ist so zermürbend, dachte Rayford. Er freute sich auf den Tag, an dem Gott alle Tränen von ihren Augen abwischen und es keinen Krieg mehr geben würde. […]

„Ich empfinde großes Mitgefühl für Sie.“ Tsion sprach gerade mit Hattie Durham. „Ich sehne mich so sehr danach, dass Sie zu Jesus finden.“ Und plötzlich konnte er nicht mehr fortfahren. Seine Lippen zitterten und er brachte kein Wort mehr heraus.

Hattie zog die Augenbrauen in die Höhe und starrte ihn an.

„Verzeihen Sie“, fuhr er schließlich flüsternd fort. Er nahm einen Schluck Wasser und fasste sich. Unter Tränen sprach er weiter. „Irgendwie hat Gott mir gestattet, Sie durch seine Augen zu sehen – als verängstigte, zornige, erschütterte junge Frau, die von vielen Menschen in ihrem Leben missbraucht und verlassen worden ist. Er liebt Sie mit vollkommener Liebe. Jesus hat seine Zuhörer einmal angesehen und gesagt: ‚Jerusalem, Jerusalem, die du tötest die Propheten und steinigst, die zu dir gesandt sind! Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küken versammelt unter ihre Flügel; und ihr habt nicht gewollt!‘

Miss Durham, Sie kennen die Wahrheit. Ich habe gehört, wie Sie das bestätigt haben. Und doch sind Sie nicht bereit. […] Ich sehe Sie in Ihrer zerbrechlichen Schönheit und erkenne, was das Leben Ihnen angetan hat. Ich wünsche Ihnen so sehr, dass Sie Frieden finden. Ich denke darüber nach, was Sie in dieser gefährlichen Zeit für Christus tun könnten. Ich befürchte, dass Sie Ihr Leben aufs Spiel setzen, wenn Sie noch länger zögern, und ich hoffe nur, dass Sie nicht zu sehr werden leiden müssen, bis er Sie endlich erreicht.“

Rayfords Leben als Flugkapitän einer kommerziellen Luftlinie schien Jahre her zu sein. Es war schwer zu begreifen, dass er noch vor knapp drei Jahren als Ehemann und Vater in einem Vorort Chicagos gelebt und sich um nichts anderes zu sorgen brauchte als um die Frage, wann und wohin er als Nächstes fliegen würde.

Aber was hatte es ihn gekostet, an diesen Punkt zu kommen, an dem er heute stand! Er empfand Mitleid mit Tsion. Wenn die Trübsalszeit für einen normalen Menschen wie ihn, Rayford, schon so schwer zu ertragen war, wie musste sich ein Mensch fühlen, der die Aufgabe erhalten hatte, die 144000 Zeugen und vielleicht eine Milliarde anderer Menschen zusammenzurufen und in der biblischen Lehre zu unterweisen. […]

Buck unterhielt sich immer gern mit Tsion. Sie hatten schon so vieles gemeinsam durchgestanden. Plötzlich wurde ihm klar, dass er bei einem Mann, dessen Frau und Kinder ermordet worden waren, über die schwierige Schwangerschaft seiner Frau jammerte. Und doch hatte Tsion die Fähigkeit, ihm Ratschläge zu geben, ihn zu beruhigen. […]

„Die sechste Posaune kommt also als Nächstes? Was wird das sein?“, fragte Buck.

Tsion seufzte. „Um es kurz zu machen: Es wird eine Armee von 200 Millionen Reitern sein, die ein Drittel der Weltbevölkerung auslöschen wird.“

Buck war sprachlos. Er hatte die Prophezeiung gelesen, sich aber nie vorgestellt, was das im Einzelnen wirklich bedeutete.

„[…] Das, was wir bislang durchlitten haben, alles, was wir an Hässlichem bereits erlebt haben, wird angesichts dieses bisher schlimmsten Gerichts verblassen.“

„Und die nachfolgenden Gerichte werden noch schlimmer?“

„Schwer vorzustellen, nicht wahr? […] Nur ein Viertel der Menschen, die bei der Entrückung zurückgelassen wurden, werden die Wiederkunft Christi erleben, Cameron. Ich habe keine Angst vor dem Tod, aber ich bete jeden Tag, dass Gott mir das Vorrecht gewährt, ihn auf die Erde zurückkehren zu sehen, wenn er sein Reich errichtet. Wenn er mich vorher zu sich holt, werde ich vereint sein mit meiner Familie und anderen Menschen, die ich geliebt habe, aber was für eine Freude wäre es, hier zu sein, wenn Jesus wiederkommt!“

„Das erste Wehe ist vorüber; siehe, es kommen noch zwei Wehe danach. Und der sechste Engel blies seine Posaune; und ich hörte eine Stimme aus den vier Ecken des goldenen Altars vor Gott; die sprach zu dem sechsten Engel, der die Posaune hatte: Lass los die vier Engel, die gebunden sind an dem großen Strom Euphrat. Und es wurden losgelassen die vier Engel, die bereit waren für die Stunde und den Tag und den Monat und das Jahr zu töten den dritten Teil der Menschen.“

Offenbarung 9,12–15

1

Zorn. Kein anderes Wort konnte seine Gefühle besser beschreiben.

Rayford war klar, dass es vieles gab, wofür er dankbar sein konnte. Weder Irene, die Frau, mit der er 21 Jahre verheiratet gewesen war, noch Amanda – ihre Ehe hatte nur knapp drei Monate gedauert – mussten diese Welt länger ertragen. Auch Raymie war jetzt im Himmel. Und seine Tochter Chloe und ihr Baby Kenny erfreuten sich bester Gesundheit.

Das sollte doch genügen! Aber trotzdem wurde Rayford von seinen Hassgefühlen regelrecht zerfressen; man konnte es nicht anders ausdrücken. Mitten am Vormittag eines kühlen Montags im Mai stürmte er schließlich ohne Jacke aus dem Versteck. Niemand im Haus hatte ihn aufhalten können.

Hattie war wieder die alte; sie jammerte darüber, dass sie nichts unternehmen konnte, und sorgte gleichzeitig dafür, dass sie wieder zu Kräften kam.

„Sie werden vielleicht nicht glauben, dass ich es tue“, hatte sie zwischen zwei Liegestützen zu ihm gesagt, „aber da unterschätzen Sie mich.“

„Ich zweifle nicht daran, dass Sie verrückt genug sind, es zu versuchen.“

„Aber Sie wollen mich nicht hinüberfliegen.“

„Nein, das kommt nicht infrage.“

Rayford stürmte einen schmalen Weg entlang, der zwischen dem Grundstück des Verstecks und den Ruinen der Nachbarhäuser hindurchführte. Er blieb stehen und sah sich um. Zorn war eine Sache. Dummheit eine andere. Es hatte keinen Zweck, sich und die anderen zu verraten, nur, weil er einmal ein wenig frische Luft schnappen wollte.

Er konnte niemanden entdecken, hielt sich aber dennoch im Schutz der Bäume. Wie sich die Welt innerhalb von eineinhalb Jahren verändert hatte! Chicago war früher eine blühende Stadt gewesen. Jetzt nach dem Erdbeben lag sie in Trümmern, war ein Zufluchtsort für Flüchtlinge und Verzweifelte. Beides traf auch auf ihn zu. Seit Monaten war Rayford nun schon ein Flüchtling und seine Verzweiflung wuchs von Tag zu Tag.

Der mörderische Zorn drohte ihn zu verzehren. Sein Verstand kämpfte gegen seine Gefühle an. Er kannte andere – ja, dazu gehörte auch Hattie –, die wie er ein Motiv hatten, Nicolai umzubringen. Und dennoch flehte Rayford Gott an, ihm diese Aufgabe zuzuweisen. Er wollte derjenige sein, der die Tat ausführte. Er war fest davon überzeugt, dass es sein Schicksal war.

Rayford schüttelte den Kopf und lehnte sich gegen einen Baum. Wo war der Duft von frisch gemähtem Gras, der Lärm von Kindern, die im Garten spielten? Nichts war mehr so, wie es früher einmal gewesen war. Er schloss die Augen und ging noch einmal seinen Plan durch. Er würde verkleidet in den Mittleren Osten fliegen und zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Er würde Gottes Waffe sein, das Werkzeug des Todes. Er würde Nicolai Carpathia ermorden.

David Hassid hatte es geschafft. Er würde im Hubschrauber der Weltgemeinschaft mitfliegen, der eine Ladung Computer für den Palast des Potentaten abholen sollte. Die Hälfte der Leute in seiner Abteilung hatten die Aufgabe erhalten, in den kommenden Wochen herauszufinden, von wo aus Tsion Ben-Judah täglich seine Predigten und Buck Williams seine Zeitung ins Internet eingab.

Der Potentat wollte persönlich wissen, wie schnell die Computer angeliefert und mit der nötigen Software ausgestattet werden konnten. „Ich schätze, wir werden einen halben Tag brauchen, um sie am Flughafen auszuladen, auf Lastwagen zu verladen und hierherzubringen“, hatte David ihm erklärt. „Dann müssen sie hier ausgeladen werden. Rechnen Sie mit einigen Tagen für das Anschließen und die Installation.“

Carpathia hatte ungeduldig mit den Fingern geschnippt, als David „einen halben Tag“ gesagt hatte. „Es muss schneller gehen“, entgegnete er. „Wie können wir Zeit gewinnen?“

„Es wäre kostenaufwendig, aber Sie könnten –“

„Die Kosten spielen keine Rolle, Mr Hassid. Es muss schnell gehen.“

„Ein Hubschrauber könnte die Ladung abholen und direkt am Frachttor abladen.“

„Genau“, erwiderte Carpathia. „So wird es gemacht.“

„Ich würde gern persönlich die Lieferung überwachen.“

Carpathias Gedanken waren bereits mit etwas anderem beschäftigt. Er winkte ab. „Natürlich. Was immer Sie für nötig halten.“

David rief Mac McCullum über eine abhörsichere Leitung an. „Es hat geklappt“, sagte er.

„Wann fliegen wir?“

„So spät wie möglich. Es muss wie ein Irrtum aussehen.“

Mac lachte leise. „Haben Sie ihnen nicht den falschen Flughafen genannt?“

„Natürlich. Am Telefon habe ich ihnen einen falschen Flughafen genannt, aber in den Papieren steht der richtige. Sie werden die Ladung dort absetzen, wo ich es ihnen gesagt habe. Mit den Papieren sichere ich mich aber gleichzeitig vor möglichen Problemen mit Nicolais Marionette ab.“

„Dann sieht Fortunato Ihnen noch immer über die Schulter?“

„Immer, aber weder er noch Nicolai schöpfen Verdacht. Sie mögen Sie auch, Mac.“

„Als ob ich das nicht wüsste. Wir müssen so lange auf dem Zug bleiben, wie er uns mitnimmt.“

Rayford wagte nicht, mit Tsion über seine Gefühle zu sprechen. Der Rabbi war auch so bereits überaus beschäftigt, und Rayford wusste genau, was er sagen würde: „Gott hat seinen Plan. Überlassen Sie es ihm, ihn auszuführen.“

Aber was war denn falsch daran, wenn Rayford helfen wollte? Er war bereit dazu. Er konnte es schaffen. Und was machte es schon, wenn er dabei sein Leben aufs Spiel setzte – und es vielleicht verlor? Er wäre dann endlich bei den Menschen, die er liebte. Und die anderen würden auch bald dazukommen.

Rayford war klar, dass sein Vorhaben verrückt war. Noch nie hatte er sich von seinen Gefühlen leiten lassen. Vielleicht war sein eigentliches Problem im Augenblick, dass er zur Untätigkeit verurteilt war. Dass er bislang Carpathias Pilot gewesen war, war zwar ein großes Risiko, aber diesen Einsatz wert gewesen. Er hatte viele wichtige Informationen in Erfahrung bringen können.

Seine jetzige Aufgabe war damit nicht zu vergleichen, obwohl auch mit ihr ein gewisses Risiko verbunden war. Er flog als Pilot für die „Internationale Handelsgesellschaft“, die Gesellschaft, die die Christen am Leben erhalten sollte, wenn der freie Handel abgeschafft wurde. Im Augenblick baute Rayford Kontakte auf, erstellte Flugpläne, mit anderen Worten: Er arbeitete für seine Tochter. Er musste anonym bleiben und in Erfahrung bringen, wem man trauen konnte. Aber das war nicht dasselbe. Er fühlte sich einfach überflüssig.

Aber falls er derjenige sein konnte, der Carpathia töten würde!

Wem wollte er denn etwas vormachen? Carpathias Mörder würde vermutlich ohne Gerichtsverhandlung hingerichtet werden. Und falls Nicolai Carpathia tatsächlich der Antichrist war – eine Tatsache, von der die meisten Menschen außer seinen Anhängern überzeugt waren –, würde er sowieso nicht lange tot sein. Der Mord wäre nichts weiter als eine Genugtuung für Rayford. Nicolai Carpathia würde vermutlich aus diesen Ereignissen mehr denn je als Held hervorgehen. Aber die Tatsache, dass es trotzdem getan werden musste und dass er zum rechten Zeitpunkt zur Stelle sein würde, gab Rayfords Leben wieder ein Ziel.

Er liebte seinen Enkel Kenny Bruce sehr, aber allein dessen Name erinnerte Rayford an schmerzliche Verluste. Der verstorbene Ken Ritz war ein guter Freund gewesen, und Bruce Barnes hatte Rayford als Mentor so vieles beigebracht, nachdem er ihm unmittelbar nach der Entrückung das Videoband vorgespielt und ihn dabei unterstützt hatte, zum Glauben an Christus zu kommen.

Das musste es sein! Bestimmt war der Auslöser für seinen Hass, seine Wut die Tatsache, dass Carpathia nichts anderes war als ein Handlanger des Satans, dass er zum Plan Gottes dazugehörte. Aber der Mann hatte ein solches Chaos, eine solche Zerstörung angerichtet, er war verantwortlich für so viel Trauer, dass Rayford nicht anders konnte, als ihn zu hassen.

Er wollte gegenüber Katastrophen, Tod und Zerstörung, die mittlerweile zum Alltag dazugehörten, nicht abstumpfen. Er wollte sich noch lebendig fühlen, wollte Verletzungen und Gewalt empfinden. Die Situation auf der Welt war schlimm und verschlechterte sich zusehends. Das Chaos wurde immer größer. Tsions Meinung nach würde der Höhepunkt nach dreieinhalb Jahren erreicht sein, also in vier Monaten. Und dann begann die große Trübsalszeit.

Rayford würde alles dafür tun, um die sieben Jahre zu überstehen, um die Wiederkunft Christi mitzuerleben, wenn Jesus kam, um seine tausendjährige Herrschaft auf dieser Erde aufzurichten. Aber wenn Gottes Plan für ihn anders aussah, konnte er nichts dagegen tun? Tsion war der Meinung, dass höchstens ein Viertel der Menschen, die bei der Entrückung zurückgeblieben waren, das Ende erleben würde, und diejenigen, die tatsächlich am Leben blieben, wünschten vermutlich, es wäre nicht so.

Rayford versuchte zu beten. Glaubte er wirklich, Gott würde antworten und ihm die Erlaubnis geben, seinen Plan auszuführen? Er wusste es besser. Aber diese Pläne halfen ihm, sich lebendig zu fühlen, freier atmen zu können.

Natürlich hatte er andere Dinge, für die zu leben sich lohnte. Er liebte seine Tochter, ihren Mann und ihren Sohn. Aber er konnte auch nicht leugnen, dass er in gewisser Weise dafür verantwortlich war, dass Chloe bei der Entrückung zurückgelassen worden war. Er musste sich damit abfinden, in dieser Welt zu leben. Aber was für eine Zukunft hatten sie? Er wollte nicht darüber nachdenken. Stattdessen überlegte er, welche Waffen er sich beschaffen konnte und wie er sie zum richtigen Zeitpunkt würde einsetzen können.

Kurz nach Einbruch der Dunkelheit erhielt David in Neu-Babylon einen Anruf von seinem Routenplaner.

„Der Pilot der Maschine mit den Computern möchte wissen, ob er auf der Landebahn oder am –“

„Das habe ich ihm doch bereits gesagt! Er soll sich an seine Anweisungen halten!“

„Sir, in den Papieren heißt es, auf der Landebahn hinter dem Palast. Aber er meint, Sie hätten ihm gesagt, er solle den Flugplatz in Neu-Babylon anfliegen.“

David atmete tief durch, als müsste er sich erst beruhigen. „Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?“

„Sie haben Flugplatz gesagt, aber –“

„Vielen Dank! Wann ist seine berechnete Ankunftszeit?“

„Er wird in 30 Minuten am Flughafen eintreffen. Bis zum Palast braucht er 45. Ich habe ganz klar –“

David legte auf und rief Mac an. Eine halbe Stunde später saßen sie im Hubschrauber und warteten auf dem Rollfeld beim Palast. Natürlich kam die Ladung mit den Computern nicht an. David rief beim Flughafen an. „Sagen Sie dem Piloten, wo wir sind!“

„Mann“, meinte Mac, „Sie jagen alle ja ganz schön ins Bockshorn!“

„Denken Sie, ich will, dass die besten Computerspezialisten der Welt mit den neuesten Computern ausgestattet werden, damit sie das Versteck der ‚Tribulation Force‘ finden?“

Mac stellte die Funkfrequenz des Flughafens ein und hörte, wie der Pilot des Frachtflugzeugs die Anweisung bekam, zum Flugplatz des Palastes zu fliegen. Er blickte David an.

„Auf zum Flughafen, Hubschrauberpilot“, sagte David.

„Wir werden an ihm vorbeifliegen.“

„Das hoffe ich.“

So war es auch tatsächlich. David hatte schließlich Erbarmen mit dem Piloten, versicherte ihm, er und Mac würden auf ihn warten, er solle nur zurückkommen.

Die Computer wurden mithilfe eines Krans entladen, und Mac brachte den Hubschrauber in Position, um sie zu übernehmen. Der Leiter der Frachtabteilung versicherte Mac, der Hubschrauber könne die Ladung problemlos transportieren, und erklärte ihm, wie er abheben solle.

„Im Notfall können Sie die Ladung vom Cockpit aus ausklinken, Sir“, meinte er, „aber es dürfte eigentlich keine Probleme geben.“

Mac dankte ihm und fing Davids Blick auf.

„Das werden Sie doch wohl nicht tun“, sagte er kopfschüttelnd.

„Natürlich werde ich das tun. Dieser Knopf hier? Ich trage hier die Verantwortung.“

2

Kurz nach Mittag saß Buck in dem erweiterten Schutzbunker unter dem Versteck und arbeitete an seinem Computer. Er, sein Schwiegervater und Dr. Charles hatten den Bunker vergrößert. Nicht, dass Dr. Ben-Judah nicht dazu bereit oder unfähig gewesen wäre. Für einen Gelehrten wie ihn, der den größten Teil des Tages vor dem Computerbildschirm saß, war er erstaunlich fit.

Aber Buck und die anderen ermutigten ihn, bei seiner viel wichtigeren Arbeit zu bleiben und Auslegungen zu schreiben, die im Internet veröffentlicht wurden, um die Christen im Glauben weiterzubringen und Ungläubige zur Umkehr aufzurufen. Es war klar, dass Tsion sich nicht wohl dabei fühlte, wenn die anderen Männer die schwere Arbeit erledigten, während er mit seiner Software im oberen Raum des Hauses „herumspielte“. Tagelang hatte er immer wieder darum gebeten, den anderen helfen zu dürfen, den Bunker zu erweitern und die anfallende Erde aus dem Keller zu den nahe gelegenen Feldern zu bringen. Die anderen hatten ihm versichert, sie kämen sehr gut auch ohne seine Hilfe zurecht und vier Männer könnten auf so engem Raum gar nicht zusammenarbeiten. Seine Aufgabe sei zu wichtig und dürfe durch eine solche Arbeit nicht verzögert werden.

Schließlich hatte Rayford zu Tsion gesagt: „Sie sind der Älteste, unser Pastor, unser Mentor, aber ich bin schon länger bei dieser Gruppe als Sie, und ich mache jetzt meine Autorität geltend.“

Tsion hatte sich aufgerichtet und sich in gespielter Furcht an die Wand gelehnt.

„Jawohl, Sir“, hatte er gesagt. „Und meine Aufgabe ist?“

„Ihre Aufgabe ist es zu tun, was Sie bisher getan haben, alter Mann. Sie haben die Hände eines Gelehrten. Wir natürlich auch, aber Sie stehen uns im Weg.“

Tsion hatte sich mit dem Ärmel die Stirn abgewischt.

„Oh Rayford, hören Sie auf, sich über mich lustig zu machen. Ich möchte doch nur helfen.“

Buck und Doc hatten in ihrer Arbeit innegehalten und Tsion ebenfalls gut zugeredet.

„Dr. Ben-Judah“, hatte Floyd Charles gesagt, „wir alle sind der Meinung, dass Sie Ihre Zeit vergeuden, dass wir Ihre Zeit vergeuden, wenn wir Sie mithelfen lassen. Bitte beruhigen Sie doch unser Gewissen und lassen Sie uns das ohne Sie zu Ende bringen.“

Nun war Rayford an der Reihe, den Beleidigten zu spielen.

„So viel zu meiner Autorität“, schmollte er. „Ich habe gerade einen Befehl gegeben und jetzt schwächt der Knochendoktor ihn schon wieder ab und formuliert ihn zu einer Bitte um.“

„Seien Sie doch mal ernst, meine Herren“, ermahnte Tsion mit seinem ausgeprägten israelischen Akzent.

Rayford hob die Hände.

„Na endlich! Der Gelehrte hat begriffen!“

Tsion trollte sich nach oben und brummelte, das sei doch vollkommen unlogisch, aber er versuchte nicht mehr, sich dem Grabungsteam anzuschließen.

Buck war beeindruckt davon, wie sehr die anderen drei sich ergänzten. Rayford war auf technischem Gebiet besonders bewandert, Buck dagegen manchmal ein wenig zu analytisch und Floyd trotz seines akademischen Abschlusses immer gern bereit, Anweisungen zu befolgen. Buck neckte ihn deswegen. Er habe immer gedacht, Ärzte würden sich für allwissend halten. Floyd war nicht streitsüchtig veranlagt, aber er fand den Vorwurf nicht besonders lustig. Mit jedem Tag schien Floyd früher zu ermüden, doch er gab niemals auf. Er war lediglich häufig kurzatmig, fuhr sich mit den Händen durch die Haare und rieb sich die Augen.

Rayford erläuterte die Arbeit jedes Tages anhand einer groben Skizze, die mithilfe zweier Quellen angefertigt worden war. Die erste waren die ausführlich geführten Notizbücher des Besitzers dieses Hauses, Donny Moore, der während des großen Erdbebens zu Tode gekommen war. Buck und Tsion hatten die Leiche von Donnys Frau einige Zeit später in der Frühstücksecke der Küche ihres Hauses gefunden.

Offensichtlich hatte Donny für die unsichere Zukunft vorgeplant. Er war davon ausgegangen, dass er und seine Frau eines Tages in einem Versteck würden leben müssen. Ob er nun einen nuklearen Niederschlag fürchtete oder sich einfach vor den Streitkräften der Weltgemeinschaft verstecken wollte, auf jeden Fall hatte er einen ausführlichen Plan ausgearbeitet. In seiner Skizze war der kleine Kellerraum im hinteren Teil des Hauses bis weit in den Garten hinein vergrößert worden.

Die andere Quelle, die Rayford hinzuzog, war die Verbesserung der ursprünglichen Pläne durch den verstorbenen Ken Ritz. Ritz hatte so getan, als sei er ein ganz gewöhnlicher, ungebildeter Buschpilot. Es stellte sich jedoch heraus, dass er an der Londoner Wirtschaftsschule studiert hatte, die Zulassung für alle möglichen Hochgeschwindigkeitsjets besaß und außerdem ein hervorragender Architekt war, wie diese Skizzen zeigten. Ken hatte die Arbeitsgänge skizziert, die Stützbalken verschoben und ein zentrales Kommunikationssystem eingeplant. Wenn die Arbeiten dem Plan entsprechend ausgeführt würden, dürfte der Schutzbunker nicht zu orten sein. Außerdem würden sie problemlos über die verschiedenen Satelliten kommunizieren können.

Chloe und Hattie wussten sich ebenfalls zu beschäftigen. Hattie gönnte sich keine freie Minute. Wie besessen arbeitete sie daran, ihre körperliche Verfassung zu verbessern. Die Krankheit hatte ihr stark zugesetzt und ihr Körper war ausgemergelt und kraftlos. Buck fürchtete, dass sie etwas plante. So war es bei ihr meist. Niemand im Haus konnte mit Bestimmtheit sagen, ob sie nicht einige Monate zuvor durch ihren schlecht durchdachten Plan, nach Europa zu fliehen, bereits ihren Aufenthaltsort preisgegeben hatte. Bisher hatte niemand herumgeschnüffelt, aber wie lange würden sie noch Ruhe haben?

Chloe war natürlich den größten Teil des Tages mit Baby Kenny beschäftigt. Wenn sie nicht schlief, um selbst wieder zu Kräften zu kommen, nutzte sie ihre freie Zeit, um über das Internet die wachsende Schar der Lieferanten und Händler für ihre neu gegründete Handelsgesellschaft zu koordinieren. Die Christen bauten Handelsbeziehungen untereinander auf in Erwartung des Tages, an dem sie vom normalen Handel ausgeschlossen sein würden.

Der Druck der beengten Räumlichkeiten, der harten Arbeit und nicht zu vergessen die Angst vor der Zukunft lasteten schwer auf Buck. Er war dankbar, dass er schreiben und Rayford und Doc beim Bau des Schutzbunkers helfen konnte und dass er trotzdem noch Zeit für Chloe und Kenny fand. Doch die Tage kamen ihm entsetzlich lang vor. Chloe und er hatten nur am Abend ein wenig Zeit für sich, und dann waren sie beide so müde, dass sie kaum genug Energie für eine Unterhaltung aufbrachten. Kenny schlief in ihrem Zimmer, und obwohl er nicht übermäßig viel schrie, mussten Chloe und er doch in der Nacht mehrmals wegen ihm aufstehen.

Einmal lag Buck mitten in der Nacht wach. Er freute sich, Chloes tiefe Atemzüge zu hören. Das zeigte ihm, dass sie fest schlief. Er dachte darüber nach, wie die wirtschaftliche Situation der Tribulation Force zu verbessern war, und hoffte, genauso viel dazu beitragen zu können wie die anderen Männer. Anfangs, als nur der verstorbene Bruce Barnes, Rayford, Chloe und er dazugehört hatten, hatte er das Gefühl gehabt, eine wichtige Aufgabe wahrnehmen zu können. Das Ziel der Tribulation Force war es gewesen, Menschen für Christus zu gewinnen, sich dem Antichristen zu widersetzen und bis zur Wiederkunft Christi in mehr als dreieinhalb Jahren zu überleben.

Tsion war ihnen von Gott geschickt worden, um Bruce zu ersetzen. Ihn galt es um jeden Preis zu beschützen. Sein Wissen und seine Liebe, seine Fähigkeit, Dinge einfach zu erklären, machten ihn zum schlimmsten Feind Nicolai Carpathias, abgesehen von den beiden Zeugen an der Klagemauer, die die Menschen, die Gott noch nicht kannten, noch immer mit Plagen und Gerichten peinigten.

Was Buck sehr erstaunte, war, dass Chloe ganz augenscheinlich in der Lage war, eine internationale Firma zu leiten und sich trotzdem um das Baby zu kümmern. Auch Doc war ganz offensichtlich ein Geschenk von Gott. Er hatte Hattie das Leben gerettet und sich um die Gesundheit der anderen gekümmert. Hattie war die einzige Nichtchristin unter ihnen und verständlicherweise hauptsächlich an sich selbst interessiert.

Doch am meisten sorgte sich Buck um Rayford. Sein Schwiegervater war in letzter Zeit nicht er selbst gewesen. In ihm schien es zu brodeln. Mit Hattie war er ungeduldig und mit seinen Gedanken häufig ganz woanders. Er wirkte verzweifelt. Rayford hatte auch begonnen, dass Haus zu verlassen und mitten am Tag draußen herumzuspazieren. Buck wusste, dass Rayford niemals leichtsinnig sein würde, aber er wünschte, jemand könnte seinem Schwiegervater helfen. Er hatte Tsion einmal gebeten, mit ihm zu sprechen, aber der Rabbi hatte ihm entgegnet: „Captain Steele wird schon zu mir kommen, wenn er mit mir reden möchte. Ich habe nicht die Freiheit, mich in sein Privatleben einzumischen.“

Dann hatte Buck den Doc um seine Meinung gefragt.

„Er ist mein Mentor, und nicht umgekehrt“, hatte Floyd geantwortet. „Ich gehe mit meinen Problemen zu ihm; ich erwarte nicht, dass er mit seinen Problemen zu mir kommt.“

Auch Chloe hatte abgewehrt.

„Buck, Daddy ist ein Mensch, der von Traditionen bestimmt wird und in einigen Dingen ausgesprochen altmodisch ist. Er wird mir immer ungebeten einen Rat geben, wenn er das möchte, aber mir würde es nicht im Traum einfallen, ihn dazu zu bringen, sich mir anzuvertrauen.“

„Aber du siehst doch auch, dass etwas nicht stimmt, oder?“

„Natürlich. Aber was erwartest du? Wir sind alle mittlerweile mürbe geworden. Ist das denn eine Art zu leben? Tagsüber können wir uns nicht hinauswagen, abgesehen von einigen Fahrten zum Flugplatz in Palwaukee. Wir nehmen eine andere Identität an und leben ständig in der Angst, dass man uns hier entdeckt.“

Bucks Mitbewohner hatten jeden Grund, einer Konfrontation mit Rayford aus dem Weg zu gehen. Also würde Buck diese Aufgabe übernehmen müssen. Na, toll, dachte er.

David Hassid saß im Hubschrauber der Weltgemeinschaft und beobachtete Mac McCullum. Die Bodencrew am Flughafen von Neu-Babylon hakte ein dickes Drahtseil am Helikopter ein, mit dem er die Kisten mit den 144 Computern transportieren sollte. Der Vorarbeiter machte Mac ein Zeichen, langsam aufzusteigen, bis das Seil gespannt war. Dann ging er vorsichtig noch höher und die Kisten hoben vom Boden ab. Alle würden denken, dass er die Ladung in das Hauptquartier der Weltgemeinschaft nach Neu-Babylon bringen würde.

„Wir dürften eigentlich keine Probleme haben, die Ladung wohlbehalten an ihrem Bestimmungsort abzuliefern, vorausgesetzt, Sie lassen die Finger von dem bewussten Hebel. Sie haben doch nicht ernsthaft vor, die Computer im Meer zu versenken, oder?“

„Um meine Leute daran zu hindern, Tsions Versteck zu finden, würde ich alles tun, sogar das, falls es keinen anderen Weg gibt.“

„Falls?“

„Kommen Sie, Mac. Sie müssten mich doch eigentlich mittlerweile kennen. Denken Sie, ich würde so viele Computer einfach ins Meer werfen? Ich bin vielleicht nur halb so alt wie Sie –“

„Hey!“

„In Ordnung, etwas weniger als halb so alt, aber trauen Sie mir doch etwas zu. Glauben Sie, die Anzahl der bestellten Computer sei reiner Zufall?“

Mac schaltete das Funkgerät ein.

„Helikopter eins der Weltgemeinschaft an Palasttower, over.“

„Hier Tower. Sprechen Sie.“

„Errechnete Ankunftszeit in drei Minuten, over.“

„Roger, out.“

Mac wandte sich an David.

„Das habe ich mir schon gedacht. Einen für tausend Zeugen.“

„So lassen sie sich zwar nicht aufteilen, aber ich habe tatsächlich nicht vor, sie in der Wüste abzuwerfen.“

„Aber ich werde sie auch nicht im Palast abliefern, richtig?“

David lächelte und schüttelte den Kopf. Der Palastbereich lag nun vor ihnen. Das große, glänzende Schloss, das Carpathia sich als Denkmal gebaut hatte, war von unzähligen kleineren Gebäuden umgeben. Alle erdenklichen Annehmlichkeiten waren vorhanden, und Tausende von Angestellte warteten darauf, Carpathia jeden Wunsch von den Augen abzulesen.

David holte sein Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer.

„Corporal A. Christopher“, sagte er, als sich jemand meldete. „Hier spricht Direktor Hassid.“ Er legte die Hand auf das Telefon und erklärte: „Der neue Leiter der Frachtabteilung der Condor.“

„Kennen Sie ihn?“

David zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf. „Ja, Corporal Christopher. Ist der Frachtraum frei? … Ausgezeichnet. Halten Sie sich für uns bereit … Nun, das kann ich nicht ändern, Corporal. Sie können gern mit der Personalabteilung sprechen, aber so wie ich das verstanden habe, haben Sie in dieser Angelegenheit nichts zu sagen.“

David nahm das Telefon vom Ohr und stellte es ab. „Hat einfach aufgelegt“, meinte er.

„Niemand ist begeistert davon, für die Fracht der zwei-eins-sechs zuständig zu sein“, meinte Mac. „Nicht genug zu tun. Trauen Sie diesem Burschen?“

„Ich habe keine andere Wahl“, erwiderte David.

Buck hatte seinen Computer vorübergehend auf dem Küchentisch aufgestellt und war gerade dabei, einen Artikel für seine Zeitung zu schreiben, als Rayford von seinem Morgenspaziergang zurückkehrte.

„Hey“, begrüßte ihn Buck. Rayford nickte nur und blieb vor der Kellertreppe stehen.

Bucks Entschlossenheit geriet ins Wanken.

„Was machen wir heute, Ray?“

„Dasselbe wie immer“, murmelte dieser. „Wir müssen anfangen, die Wände hochzuziehen. Und dann muss der Bunker unsichtbar gemacht werden. Man darf den Zugang nicht finden können. Wo ist der Doc?“

„Habe ihn nicht gesehen. Hattie ist im –“

„Ich weiß schon, sie ist auf der anderen Seite und trainiert zweifellos für einen Marathonlauf. Sie wird uns noch alle in Gefahr bringen.“

„Hey, Dad“, begann Buck vorsichtig. „Versuch doch mal, etwas positiver zu sein.“

Rayford ignorierte ihn einfach.

„Wo sind die anderen?“, fragte er.

„Tsion ist oben. Chloe arbeitet im Wohnzimmer an ihrem Computer und Kenny schläft gerade. Wo Hattie ist, habe ich schon gesagt; nur Floyd hat sich unerlaubt von der Truppe entfernt. Vielleicht ist er unten, aber ich habe nicht bemerkt, dass er in den Keller gegangen wäre.“

„Sag nicht, Floyd hätte sich unerlaubt von der Truppe entfernt. Das ist nicht witzig, Buck.“

Es war ungewöhnlich, dass Rayford Buck auf diese Weise zurechtwies, und Buck wusste kaum, was er antworten sollte.

„Ich meine ja nur, dass ich nicht weiß, wo er steckt, Ray. Tatsache ist, dass er in letzter Zeit nicht besonders gut aussah, und gestern schien er überhaupt nicht fit zu sein. Vielleicht schläft er ja noch.“

„Bis zum Mittag? Was ist denn los mit ihm?“

„Ich habe einen gelben Schimmer in seinen Augen entdeckt.“

„Ich nicht.“

„Da unten ist es dunkel.“

„Und wieso hast du es gesehen?“

„Es ist mir gestern Abend einfach aufgefallen. Ich habe es ihm gegenüber sogar erwähnt.“

„Und was hat er geantwortet?“

„Er hat einen Witz darüber gemacht, dass Höhlenbewohner immer denken würden, ihre Brüder sähen seltsam aus. Ich bin nicht weiter darauf eingegangen.“

„Er ist der Arzt“, meinte Rayford. „Er kann für sich selbst sorgen.“ Das, fand Buck, war der ideale Einstieg für ein ernstes Gespräch. Er konnte Rayford sagen, dass er sich ausgesprochen ungewöhnlich verhielt, dass von Mitgefühl bei ihm nicht mehr viel zu merken sei. Aber die Chance war vertan, als Rayford ihn nach seinen Plänen fragte.

„Was hast du heute vor, Buck? Zeitungs- oder Bunkerarbeit?“

„Du bist der Boss, Ray. Sag es mir.“

„Ich könnte dich unten gebrauchen, aber nur, wenn es dir passt.“

Buck erhob sich.

Mac setzte die Ladung vorsichtig an der Ostseite des Hangars ab, in dem die Condor 216 untergestellt war. Die Hangartür stand offen, ebenso die Ladeluke des Flugzeugs. Noch bevor die Rotoren zum Stillstand gekommen waren, sprang David schon aus dem Hubschrauber und rannte los, um das Kabel von den Kisten zu lösen. Ein Gabelstapler kam angefahren, nahm die erste Ladung auf und brachte sie in den Hangar. Als Mac zu David trat und sie gemeinsam die Hangartür schlossen, hatte der Gabelstapler bereits alle Kisten zum Flugzeug gebracht.

„Corporal Christopher!“, rief David. Knapp 100 Meter entfernt tauchte der Corporal auf. „In Ihr Büro!“

„Er wirkt nicht besonders erfreut“, bemerkte Mac, als sie unterwegs waren zu dem verglasten Raum innerhalb des Hangars. „Keine Begrüßung, keine Antwort. Negative Körpersprache. Wird es da nicht Probleme geben?“

„Der Corporal ist mein Untergebener. Ich halte die Karten in den Händen.“

„Wie auch immer, David, Sie müssen Respekt zeigen, um Respekt zu bekommen. Und wir können niemandem trauen. Sie wollen doch nicht, dass Ihre wichtigsten Leute –“

„Vertrauen Sie mir, Mac. Es ist alles unter Kontrolle.“

Der Name auf der Tür zum Büro war gerade erst erneuert worden. Dort stand in großen Buchstaben: „CCCCC.“

„Was soll denn das heißen?“, fragte Mac erstaunt.

„Corporal Christopher, Condor Cargo Chief.“

„Also bitte!“, meinte Mac.

David forderte ihn auf, ihm in das Büro des Corporals zu folgen. Er schloss die Tür hinter sich und setzte sich an den Schreibtisch, nachdem er Mac einen Platz angeboten hatte. Mac schien sich nur widerstrebend hinsetzen zu wollen.

„Was ist?“, fragte David.

„Gehen Sie so mit einem Untergebenen um?“ Mac blickte ihn mit hochgezogener Augenbraue an.

David legte die Füße auf den Schreibtisch und nickte.

„Vor allem mit einem neuen. Man muss ihnen zeigen, wer der Boss ist.“

„Mir hat man beigebracht, dass man seine Autorität bereits verloren hat, wenn man einem Untergebenen gegenüber seine Autorität betonen muss.“

David zuckte die Achseln.

„Es sind schlimme Zeiten“, verteidigte er sich. „Verzweifelte Zeiten verlangen verzweifelte Maßnahmen …“

Vor der Tür wurden Schritte laut und die Türklinke wurde heruntergedrückt.

„Sicher wollen Sie anklopfen, bevor Sie zu Ihrem Vorgesetzten und Ihrem Piloten ins Zimmer kommen“, rief David.

Die Tür blieb einen Zentimeter weit offen stehen.

„Schließen Sie die Tür und klopfen Sie an, Corporal!“, rief David, die Hände hinter den Kopf gelegt. Seine Füße ruhten noch immer auf dem Schreibtisch.

Die Tür wurde mit einem Ruck ins Schloss gezogen. Es folgte eine lange Pause, schließlich klopfte es dreimal entschlossen. Mac schüttelte den Kopf.

„Dieser Bursche klopft sogar sarkastisch“, flüsterte er. „Aber Sie haben es verdient.“

„Herein“, rief David dann laut.

Mac sprang auf, als eine erschöpft wirkende junge Frau eintrat. Ihr schwarzes Haar quoll unter ihrer Kappe hervor, ihre großen dunklen Augen, die perfekten Zähne und die makellose Haut machten sie zu einer außergewöhnlichen Erscheinung.

Mac riss sich die Kappe vom Kopf. „Ma’am.“

„Verschonen Sie mich, Captain“, fuhr sie ihn an. Dann wandte sie sich stirnrunzelnd an David. „Muss ich tatsächlich anklopfen, wenn ich mein eigenes Büro betrete?“

David hatte sich nicht gerührt.

„Setzen Sie sich, Mac“, meinte er.

„Wenn sich die Dame setzt.“

„Diese Erlaubnis werde ich ihr nicht erteilen“, gab David zurück.

„Captain Mac McCullum, das ist Corporal Annie Christopher. Annie, Mac.“

Mac wollte sich erneut erheben, aber Annie trat vor und schüttelte ihm die Hand.

„Das ist nicht nötig, Captain. Ich weiß, wer Sie sind, und Ihr Neandertaler-Chauvinismus ist bemerkt worden. Da wir zusammenarbeiten werden, können Sie aufhören, mich wie eine kleine Dame zu behandeln.“

Mac sah zuerst sie, dann David an.

„Vielleicht sollten Sie sie mit dem Respekt behandeln, den sie verdient“, meinte er dann.

David legte den Kopf zur Seite. „Wie Sie schon sagten, Mac. Man weiß nie, wem man trauen kann. Und jetzt zu Ihrer Anfrage, Corporal. Solange Sie unter meinem Befehl stehen, gehört alles, was Sie als Ihr Eigentum betrachten, mir. Dieser Raum ist abgeteilt worden, um Ihnen das zu erleichtern, was ich Ihnen zu tun auftrage. Verstanden?“

„Jawohl.“

„Und, Corporal, ich gehöre zwar nicht zum Militär, aber ich weiß, dass es sich nicht gehört, in Gegenwart eines Vorgesetzten eine Kopfbedeckung zu tragen.“

Annie Christopher seufzte und nahm ihre Mütze ab. Sie fuhr sich mit der Hand durch ihre kurzen Haare und ging zum Fenster, um das Rollo herunterzulassen.

„Was tun Sie da?“, fragte David. „Niemand ist draußen und ich habe Ihnen nicht die Erlaubnis gegeben –“

„Ach, kommen Sie schon, Direktor Hassid. Brauche ich denn für alles eine Genehmigung?“

David nahm die Füße vom Schreibtisch und setzte sich aufrecht hin, als Annie auf ihn zukam.

„Um ehrlich zu sein, ja.“

Er öffnete die Arme und sie setzte sich auf seinen Schoß.

„Wie geht es dir, Liebling?“, fragte sie.

„Mir geht es prima, Liebes, aber ich glaube, Mac bekommt gleich einen Herzanfall.“

Mac rutschte auf die Stuhlkante und beugte sich vor.

„Ihr seid unmöglich, und zwar alle beide“, beschwerte er sich. „Verzeihen Sie, Miss Christopher, aber ich würde gern Ihr Zeichen sehen.“

„Aber gern“, erwiderte sie. Sie beugte sich vor, damit er es sich ansehen konnte. „Das war das Erste, was David und ich getan haben, als wir uns kennenlernten.“

Mac legte die Hand an ihren Kopf und fuhr mit dem Daumen über das Zeichen auf ihrer Stirn. Dann nahm er ihr Gesicht in beide Hände und gab ihr einen Kuss auf den Kopf.

„Sie sind noch so jung, dass Sie meine Tochter sein könnten“, meinte er, „Schwester.“

Annie setzte sich auf einen anderen Stuhl.

„Und nur zur Erklärung, Captain McCullum, ich hasse es, für Sie beide zu arbeiten. Ich stelle immer wieder den Antrag, dass man mich endlich in eine andere Abteilung versetzt. Denn wie Sie gesehen haben: Der Leiter meiner Abteilung ist herablassend und unerträglich und der Kapitän der Condor unerträglich sexistisch.“

„Aber“, meinte David, „ich habe die Personalabteilung angewiesen, dass sie nicht versetzt werden darf. Annie hat bisher in jeder Abteilung, in der sie gearbeitet hat, Schwierigkeiten gemacht, und dies ist jetzt die Rache dafür. Die anderen sind begeistert, dass sie sie endlich los sind.“

Mac blinzelte zuerst sie, dann David an.

„Ich kann es kaum erwarten, Ihre Geschichte zu hören.“

Buck verschob das Gespräch von Mann zu Mann mit seinem Schwiegervater, als Rayford die Pläne unter einer Lampe im Keller ausbreitete und ihn fragte, wie der Eingang am besten unsichtbar gemacht werden könne.

„Ich dachte schon, du würdest nie fragen“, meinte Buck. „Tatsächlich habe ich schon darüber nachgedacht.“

„Ich bin ganz Ohr.“

„Erinnerst du dich noch an den Gefrierschrank im anderen Haus?“

„Der so komisch gerochen hat?“

Buck nickte. Sie hatten die verdorbenen Nahrungsmittel herausgenommen, aber der Gestank war geblieben.

„Wir schieben ihn hier herüber, packen verdorbene Lebensmittel hinein. Jeder, der ihn öffnet, wird ihn sofort wieder schließen und die scheinbar verdorbenen Lebensmittel nicht weiter untersuchen. Sie werden nie auf den Gedanken kommen, die Körbe hochzuheben, denn wenn sie es tun würden, würden sie einen falschen Boden entdecken, der zu der Treppe zum Schutzbunker führt. Und in der Zwischenzeit ziehen wir im Keller eine zweite Wand ein.“

Rayford legte den Kopf zur Seite und dachte nach. Schließlich zuckte er die Achseln.

„Das gefällt mir. Jetzt müssen wir uns nur noch überlegen, wie wir das vor Hattie geheim halten.“

Buck zuckte zusammen, als ihm ein Gedanke kam.

„Sag mal, Floyd ist wirklich nicht hier unten! So langsam mache ich mir aber jetzt Sorgen!“

Macs Piepser meldete sich.

„Es ist Fortunato“, erklärte er. „Wunderbar. Darf ich Ihr Telefon benutzen, Corporal?“

„Das ist nicht mein Telefon, Sir“, erwiderte Annie. „Es ist mir nur zur Verfügung gestellt …“

Er wählte die Nummer von Fortunatos Büro. „Mac McCullum, ich rufe zurück … Ja, Ma’am. … Freitag? … Wie viele Gäste? … Nein, Ma’am. Sie können ihm sagen, dass es in Bezug auf diese Lieferung einige Unstimmigkeiten gegeben hat. Er wird mit dem Leiter der Versorgungsabteilung sprechen müssen, aber nein, es waren keine da, die wir zum Palast hätten bringen können … Vielleicht wenn wir aus Botswana zurückkommen, ja, Ma’am.“

Die Tür zu Dr. Floyd Charles’ Schlafzimmer war geschlossen. Buck sah, dass Tsion im Nebenzimmer an seinem Computer saß. Er hatte die Stirn in die Hand gestützt.

„Sind Sie in Ordnung, Tsion?“

„Cameron! Kommen Sie doch bitte herein. Ich ruhe mich nur ein wenig aus.“

„Sie beten?“

Der Rabbi lächelte müde.

„Unablässig. Wir haben keine Wahl, oder? Wie geht es Ihnen, mein Freund? Machen Sie sich noch immer Gedanken um Ihren Schwiegervater?“

„Ja, aber ich werde mit ihm reden. Ich frage mich, ob Sie Doc heute schon gesehen haben?“

„Normalerweise frühstücken wir zusammen. Aber heute Morgen war ich allein. Ich habe ihn nicht im Keller gehört, und ich gestehe, dass ich mir seither auch keine Gedanken gemacht habe. Ich habe geschrieben. Cameron, wir haben keine Ahnung, wie viel Zeit zwischen dem fünften und dem sechsten Wehe vergehen wird. Ich versuche herauszufinden, ob das, was Johannes in seiner Vision gesehen hat, real oder symbolisch gemeint ist. Wie Sie wissen –“

„Dr. Ben-Judah, verzeihen Sie. Ich würde das gern hören, aber –“

„Ja, natürlich. Sie sollten nach Floyd sehen. Wir werden später darüber sprechen.“

„Ich wollte wirklich nicht unhöflich sein.“

„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Cameron. Und jetzt gehen Sie. Wir werden uns später unterhalten. Rufen Sie mich, wenn Sie mich brauchen.“

Buck hatte sich immer noch nicht an das Privileg gewöhnt, mit dem Mann in einem Haus zu wohnen, dessen Worte von Millionen von Menschen auf der ganzen Welt gierig aufgesaugt wurden. Obwohl Tsion immer in greifbarer Nähe war, luden sich die anderen Hausbewohner seine Botschaften aus dem Internet auf ihren Computer, wenn Tsion zu beschäftigt oder zu müde zum Reden war. Das Schönste an ihrem Zusammenleben war, dass er genauso aufgeregt über die Ergebnisse seines Studiums war wie seine Leser. Er arbeitete den ganzen Vormittag und den größten Teil des Nachmittags über an der Vorbereitung und erst am frühen Abend wurden seine Ausarbeitungen ins Internet eingegeben. Auf der ganzen Welt übertrugen Übersetzer seine Worte in die Sprache ihres Volkes. Andere Christen investierten pro Tag viele Stunden, um die Informationen von Dr. Ben-Judah zu katalogisieren und für neue Christen leicht zugänglich zu machen.

Wenn Tsion auf eine neue Erkenntnis stieß, hörte Buck ihn häufig aufschreien, und dann dauerte es nicht lange, bis der Gelehrte an der Treppe erschien.

„Hört euch das an“, rief er dann, „alle, die ihr mich hören könnt!“ Seine Kenntnisse der biblischen Sprachen verhalfen ihm zu einem ganz neuen Verständnis vieler Bibelstellen.

Buck konnte es kaum erwarten zu hören, welche Gedanken sich Tsion zu dem angekündigten sechsten Schrecken gemacht hatte. Doch im Augenblick machte er sich mehr Sorgen um den Doc. Vorsichtig klopfte er an dessen Schlafzimmertür. Als keine Reaktion zu hören war, klopfte er lauter. Dann drehte er den Türknauf und betrat das Zimmer. Es war bereits Nachmittag und die Frühlingssonne stand hoch am Himmel. Aber im Zimmer war es dunkel und die Rollläden waren heruntergelassen. Doc Charles lag im Bett. Vollkommen unbeweglich.

„Ich muss am Freitag nach Afrika fliegen“, erklärte Mac. „Unser Supreme Commander hat sich bereit erklärt, persönlich mit Mwangati Ngumo zu sprechen. Natürlich denkt Ngumo, er würde sich mit Nicolai treffen. Ich wette, Mwangati fragt sich, wann Carpathia seine Zusagen einlösen wird.“

Annie Christopher schnaubte.

„Wenn man sich vorstellt, was der Potentat ihm vermutlich versprochen hat, wenn er von seinem Amt als Generalsekretär zurücktritt!“

„Wir werden es am Freitag erfahren“, meinte Mac. „Ich zumindest.“

Annie sah Mac an.

„Sie dürfen bei diesen Besprechungen zugegen sein?“, fragte sie.

Mac blickte David an. „Sie haben es ihr nicht erzählt?“

„Tun Sie sich keinen Zwang an“, entgegnete David.

„Kommen Sie mit, Corporal“, forderte Mac sie auf.

Sie und David folgten ihm nach draußen.

„Ich werde Sie weiterhin Captain oder Mr McCullum nennen, auch wenn wir allein sind“, erklärte Annie. „Ich habe Ihnen mein Zeichen gezeigt und mich von Ihnen auf die Stirn küssen lassen. Wenn Sie wollen, dürfen Sie mich aber gerne ‚Schwester‘ nennen, solange wir alleine sind.“

„Ich weiß nicht“, überlegte Mac. „Am besten belassen wir es bei der formellen Anrede, damit wir uns nicht aus Versehen vor anderen verplappern.“

Sie folgte ihm ins Cockpit.

„Doc?“, flüsterte Buck, als er sich dem Bett näherte. Er konnte keine Bewegung wahrnehmen. Keinesfalls wollte er ihn erschrecken.

Da er annahm, dass das elektrische Licht nicht so grell wäre wie der helle Sonnenschein, schaltete Buck es ein. Er seufzte auf. Zumindest atmete Floyd. Vielleicht hatte er in der Nacht nicht schlafen können und holte das jetzt nach. Floyd stöhnte und drehte sich um.

„Sind Sie in Ordnung, Doc?“, fragte Buck leise.

Floyd setzte sich auf und blickte ihn verwirrt an.

„Oh, Mist, das habe ich befürchtet“, erklärte er.

„Es tut mir leid“, entschuldigte sich Buck. „Ich wollte nur –“

Floyd schlug die Decke zurück und setzte sich auf die Bettkante. Unter seinem Morgenmantel war er vollständig mit Flanellhemd, Jeans und Stiefeln bekleidet. Alle Kleidungsstücke waren durchgeschwitzt.

„War es gestern Nacht so kalt?“, fragte Buck.

„Würden Sie bitte die Vorhänge öffnen?“

Floyd schirmte seine Augen gegen die Helligkeit ab.

„Was ist los, Floyd?“

„Ist der Wagen fahrbereit?“

„Sicher.“

„Bringen Sie mich ins ‚Young Memorial‘. Sind meine Augen noch immer gelb?“

Er blinzelte Buck an, der sich vorbeugte, um ihm in die Augen zu sehen.

„Oh Floyd“, stöhnte Buck. „Ich wünschte, es wäre so.“

„Blutunterlaufen?“

„Das ist die Untertreibung des Jahrhunderts.“

„Nichts Weißes mehr zu sehen?“

Buck schüttelte den Kopf.

„Ich stecke in Schwierigkeiten, Buck.“

3

David, Mac und Annie saßen in dem luxuriösen Aufenthaltsraum der Condor.

„Also“, meinte Annie, „diese, wie nannten Sie das noch gerade –?“

„Abhöranlage“, half Mac aus.

„Diese Abhöranlage ermöglicht es Ihnen also, alles zu hören, was im Flugzeug gesprochen wird?“

Mac nickte. „Überall, in der Lounge, auf den Sitzen, in den Schlafräumen, Toiletten –“

„Erstaunlich.“

„Das ist toll, nicht wahr?“, fragte Mac.

„Erstaunlich, dass das noch nicht entdeckt worden ist.“

„Machen Sie Witze? Wenn das entdeckt wird, dann leugne ich einfach, etwas davon gewusst zu haben. Ich hatte nichts damit zu tun. Rayford hat mir nichts davon erzählt, ich bin nie darüber gestolpert. Sie betrachten ihn bereits als Verräter, und weder sie noch ich wissen, wo er sich aufhält.“

Annie ging zu einer Couch, vor der ein glänzend polierter Holztisch stand.

„Und hier sitzt der große Mann, wenn er fernsieht?“

David nickte.

Sie wandte sich Mac zu, als wäre ihr gerade etwas eingefallen. „Sie haben keine Probleme, ihn anzulügen?“

Mac schüttelte den Kopf. „Den Antichristen? Meinen Sie das im Ernst? Mein ganzes Leben ist eine Lüge. Wenn er eine Ahnung hätte, würde er mich foltern lassen. Falls er auch nur den leisesten Verdacht hegte, ich könnte den Aufenthaltsort von Rayford, Buck oder Chloe kennen, wäre ich ein toter Mann.“

„Der Zweck heiligt also die Mittel?“, fragte Annie.

Mac zuckte die Achseln. „Ich kann nachts noch schlafen. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.“

„Ich werde jetzt, wo ich weiß, dass Sie Carpathia ein wenig unter Kontrolle haben, auf jeden Fall selbst besser schlafen.“

„Zumindest, wenn er an Bord ist“, ergänzte Mac. „Um ehrlich zu sein, Leon ist viel unterhaltsamer. Bei ihm gibt es viel mehr zu hören.“

„Ich wünschte, ich könnte einmal mitfliegen“, seufzte Annie.

„Ich auch“, meinte David. „Aber außerhalb des Cockpits würden wir sowieso nichts mitbekommen. Ach, da fällt mir ein, Mac, haben Sie noch immer Bedenken, dass Ihr Erster Offizier misstrauisch geworden ist?“

„Jetzt nicht mehr“, beruhigte ihn Mac. „Ich habe dafür gesorgt, dass er befördert wird. Er fliegt unseren Pontifex Maximus.“

Annie lachte. „Das gefällt mir. Ich kann mir seinen Titel nie merken. Wie war das noch gleich, Seine Exzellenz Pontifex Maximus Peter der Zweite, oder?“

Mac zuckte die Achseln. „Ich nenne ihn Pete.“

„Ihr solltet das Flugzeug sehen, das er bestellt hat“, lachte David. „Nicolai und Leon sind außer sich.“

„Besser noch als das hier?“, fragte Mac.

„Viel besser. Um die Hälfte größer und es kostet doppelt so viel. Hat früher mal einem Scheich gehört. Nächste Woche wird es gebracht.“

„Und das wurde genehmigt?“

„Sie lassen ihn auflaufen“, erklärte David. „Wird sein neuer Pilot es denn fliegen können?“

„Er kann alles fliegen“, entgegnete Mac. „Eigentlich mochte ich ihn. Ein fähiger Pilot. Aber Carpathia treu ergeben. So gern ich auch offen mit ihm gesprochen hätte, ich habe es einfach nicht gewagt, mich ihm zu offenbaren. Ein Christ in Sektor C hatte ihn bereits auf die Wahrheit hingewiesen.“

„In der Wartungsabteilung?“, fragte Annie erstaunt. „Ich wusste gar nicht, dass wir dort Christen haben.“

„Jetzt nicht mehr. Mein Erster hat ihn verraten. Das hätte er be- stimmt auch mit mir gemacht. Gott wird ihn auf andere Weise erreichen müssen.“

David erhob sich und ließ seine Hand über den Fuß des breiten Fernsehbildschirms gleiten. Er stellte ihn an, drehte den Ton leiser und verfolgte gelangweilt die von Carpathia kontrollierten Nachrichten.

„Erstaunlich guter Empfang hier im Flugzeug“, meinte er.

„Mich kann nichts mehr überraschen“, meinte Mac. „Stellen Sie das doch mal lauter.“

In den Nachrichten wurden in erster Linie Carpathias Leistungen gerühmt. Der Potentat wurde gezeigt – glatt und charmant wie eh und je. Er lobte eine Regionalregierung und wies bescheiden das Lob für sein eigenes Wiederaufbauprojekt zurück.

„Es ist für mich ein Vorrecht, dass man mich gebeten hat, jedem einzelnen Mitglied der Weltgemeinschaft zu dienen“, sagte er.

„Da ist er, Mac“, meinte David und deutete auf einen Piloten im Hintergrund. Carpathia wurde gezeigt, wie er in einem Land der ehemaligen Dritten Welt willkommen geheißen wurde, das von seiner Großzügigkeit profitiert hatte. „Und da ist Peters neuer Pilot. Wird ein Christ ihn ersetzen?“

„Falls ich ihn an der Personalabteilung vorbeischmuggeln kann.“

„Jemanden, den ich kenne?“

„Jordanier. Ehemaliger Jagdflieger. Abdullah Smith.“

Bucks Landrover raste in Richtung Palatine. Floyd Charles lag auf dem Rücksitz.

„Also, was ist los, Doc?“, fragte Buck.

„Ich bin ein Idiot, das ist alles“, erwiderte Floyd. Er rappelte sich hoch und setzte sich hinter Buck. „Ich habe seit Monaten gespürt, dass es passieren würde, aber ich habe mir eingeredet, ich würde es mir nur einbilden. Als meine Sehfähigkeit nachließ, hätte ich mich sofort mit einem Krankenhaus in Verbindung setzen müssen. Jetzt ist es zu spät.“

„Was ist los?“

„Sagen wir, ich kann mir mittlerweile vorstellen, was Hattie beinahe umgebracht hätte. Irgendwie habe ich mich bei ihr angesteckt. Für einen Laien ausgedrückt: Es wirkt wie ein zeitverzögertes Zyanid. Es kann wochenlang im Körper ruhen. Wenn es dann zuschlägt, haben Sie verloren. Falls es tatsächlich das ist, wird man es nicht aufhalten können. Ich habe die Symptome behandelt, aber das war zwecklos.“

„Reden Sie nicht so“, widersprach Buck. „Wenn Hattie überlebt hat, dann werden auch Sie es schaffen.“

„Sie hat monatelang intensive Pflege bekommen.“

„Wir werden beten. Lea Rose wird dafür sorgen, dass Sie die notwendige Pflege bekommen.“

„Zu spät“, erwiderte Doc. „Ich bin ein Idiot. Ein Arzt ist sein schlimmster Patient.“

„Sind wir anderen auch in Gefahr?“

„Nein. Wenn Sie keine Symptome haben, besteht keine Gefahr. Vermutlich habe ich mich bei ihr angesteckt, als sie die Fehlgeburt hatte.“

„Und was ist mit Lea?“

„Ich kann nur hoffen.“

Bucks Telefon klingelte.

„Wo bist du?“, fragte Chloe.

„Ich bin mit Floyd unterwegs. Wollte dich nicht stören.“

„Ich habe mir Sorgen gemacht, als ich dich wegfahren hörte und nicht wusste, wo du hinwillst. Am helllichten Tag bist du unterwegs? Das gefällt Daddy überhaupt nicht. Er wollte heute T. am Flugplatz besuchen.“

„Er kann mit Kens Wagen fahren.“

„Der ist zu bekannt, aber darum geht es nicht. Niemand hat ge- wusst, dass ihr weggefahren seid. Tsion hat sich Sorgen gemacht.“

Buck seufzte. „Floyd geht es nicht gut und wir durften keine Zeit verlieren. Wir sind auf dem Weg ins ‚Young Memorial‘. Ich halte dich auf dem Laufenden.“

„Was ist denn –?“

„Später, Liebes, okay?“

Sie zögerte. „Sei vorsichtig und sag Floyd, dass wir für ihn beten werden.“

„Wir sollten nicht so oft zusammen gesehen werden“, meinte Mac. David und Annie nickten zustimmend. „Abgesehen von den normalen Begegnungen. Weiß jemand, dass Sie jetzt hier sind?“

Annie schüttelte den Kopf. „Heute Abend um zehn habe ich noch eine Verabredung.“

„Ich habe frei“, meinte David. „Aber heutzutage gibt es keine normalen Arbeitstage mehr, falls Sie das noch nicht bemerkt haben. Man fragt sich unwillkürlich, wann Carpathia mal schläft.“

„Ich würde gern eure Geschichten hören“, meinte Mac. „Ich weiß, dass Sie noch Familie in Israel haben, David. Woher kommen Sie, Annie?“

„Aus Kanada. Während des großen Erdbebens war ich von Montreal hierher unterwegs. Ich habe meine ganze Familie verloren.“

„Damals waren Sie noch kein Christ?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, dass ich, abgesehen von Hochzeiten und Beerdigungen, jemals in der Kirche gewesen bin. Wir waren viel zu gleichgültig, um Atheisten zu sein, aber genau das haben wir praktiziert. Vermutlich hätten wir uns zu den Agnostikern gezählt. Das klingt toleranter, weniger dogmatisch. Wir hielten zusammen. Waren gute Menschen, besser als viele religiöse Leute aus unserem Bekanntenkreis.“

„Aber Sie haben sich nicht für Gott interessiert?“

„Nach dem großen Massenverschwinden habe ich angefangen, mir Gedanken zu machen, aber wir wurden sofort treue Anhänger Carpathias. Er erschien uns wie die Stimme der Vernunft, ein Mann mit großem Mitgefühl, voller Liebe und friedliebend. Ich bewarb mich um eine Stelle in der Organisation, als die Vereinten Nationen unter einem anderen Namen weiter existierten und Umzugspläne bekannt wurden. Der Tag, an dem ich die Zusage bekam, war der glücklichste Tag in meinem Leben, im Leben unserer ganzen Familie.“

„Und was ist passiert?“

„Ich habe meine Familie verloren, das ist passiert. Ich war am Boden zerstört. Natürlich hatte ich auch vorher schon Angst. Einige unserer Bekannten waren verschwunden und andere in dem anschließenden Chaos ums Leben gekommen. Aber noch nie hatte ich einen mir nahestehenden Menschen verloren. Und dann starben auf einmal meine Eltern und meine beiden jüngeren Brüder bei dem Erdbeben. Und nicht nur sie, die Hälfte unserer Stadt wurde ausgelöscht, während ich mich fröhlich in der Luft befand. Es gelang unserem Piloten, im Sand des Bagdader Flughafens notzulanden. Wir sahen auch andere Flugzeuge landen. Und dann erfuhr ich, dass das Hauptquartier der Weltgemeinschaft in Trümmern lag. Über Umwege erreichte ich den Schutzbunker und dort musste ich mir dann auf CNN die Überreste meiner kleinen Heimatstadt ansehen. Tagelang war ich zu nichts zu gebrauchen. Ich weinte, betete zu Wer-weiß-Wem, flehte die Kommunikationsabteilung an, Informationen über meine Familie zu beschaffen. Sie waren langsamer als ich, denn ich begann, im Internet zu suchen. Und schließlich fand ich Dutzende bekannter Namen auf der Liste der Toten. Ich hatte Angst, unter ‚C‘ nachzusehen, doch ich musste es tun.“

Annie biss sich auf die Lippe.

„Sie brauchen nicht darüber zu sprechen, wenn Sie nicht möchten.“

„Ich möchte es aber, Mr McCullum. Es ist nur noch so frisch, als wäre es gestern gewesen. Ich bin also die Listen durchgegangen, wollte nach Hause fliegen, meine Familie bestatten lassen, aber das war nicht erlaubt. Massenverbrennungen aus gesundheitlichen Gründen, hieß es. Es war noch nicht einmal jemand übrig, mit dem ich hätte trauern können. Ich wollte mich umbringen.“

David legte ihr die Hand auf die Schulter. „Erzähle ihm, was du im Internet gefunden hast.“