The Chosen: Ich habe dich bei deinem Namen gerufen - Jerry B. Jenkins - E-Book

The Chosen: Ich habe dich bei deinem Namen gerufen E-Book

Jerry B. Jenkins

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Beschreibung

Jesus - niemand hat die Welt so bewegt. Wo er auftaucht, wird alles anders: Für Maria Magdalena, die von ihren inneren Dämonen fast zum Selbstmord getrieben wird. Für den Fischer Simon, der in großen finanziellen Schwierigkeiten steckt. Für den Gelehrten Nikodemus, der sein theologisches Wissen plötzlich auf dem Prüfstand sieht. "Gewöhn dich an Anders!" sagt Jesus zu Simon, und damit beginnt das größte Abenteuer aller Zeiten für die Menschen, die sich ihm anschließen und begreifen: Dieser Mann ist Gottes Sohn. Bestsellerautor Jerry B. Jenkins beschreibt das Leben und Wirken von Jesus in enger Anlehnung an die biblischen Berichte. Gleichzeitig aber auch auf eine so lebendige Art und Weise, dass man das Gefühl hat, selbst Teil der Geschichte zu sein. Dieser Roman basiert auf der ersten Staffel der erfolgreichen TV-Serie "The Chosen".

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Seitenzahl: 404

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Über den Autor

Jerry B. Jenkins hat als Autor und Co-Autor mittlerweile mehr als 150 Bücher geschrieben. Zu seinen Veröffentlichungen zählen neben Romanen auch mehrere Biografien sowie Sachbücher für Ehe und Familie. Er verbrachte 13 Monate mit Billy Graham, um diesen beim Schreiben seiner Lebenserinnerungen zu unterstützen.

Mit seiner Frau Dianna lebt er in Colorado. Sie haben drei erwachsene Söhne und acht Enkel.

Für Schwester Pam,

aus der die Liebe Gottes strahlt.

Grundlage dieses Romans ist die mehrteilige TV-Serie The Chosen von Dallas Jenkins. Drehbuch von Ryan M. Swanson, Dallas Jenkins und Tyler Thompson. Regie Dallas Jenkins.

„Es besteht kaum ein Zweifel: The Chosen wird einer der beliebtesten und am meisten gefeierten Filme in der Geschichte der christlichen Medien werden.“

MOVIEGUIDE Magazine

VORBEMERKUNG

The Chosen wurdevon Menschen entwickelt, die die Bibel lieben und glauben, dass sie die große Liebesgeschichte Gottes mit den Menschen wiedergibt. Einige Hintergrundgeschichten rund um die biblischen Erzählungen über Jesus Christus haben wir uns allerdings ausgedacht. Aber die Richtschnur für unsere Arbeit ist der biblische Rat, dem Wort Gottes nichts hinzuzufügen und nichts davon wegzustreichen.

Einige Orte und Zeitabfolgen haben wir anders verknüpft oder verdichtet, und manche Charaktere und Dialoge sind erfunden. Unser Anliegen war es dabei, den Zuschauern (und hier den Lesern) möglichst lebhaft vor Augen zu führen, wie Jesus und seine Jünger ihre Welt erlebt haben könnten.

Es war unser Bestreben, dass alle biblischen oder historischen Inhalte ebenso wie unsere künstlerische Vorstellungskraft einem Ziel dienen: die Wahrheit und den Zweck der Bibel zum Leben zu erwecken. Unser großer Wunsch ist es, dass Sie selbst in das Neue Testament eintauchen und Jesus entdecken.

„Fürchte dich nicht,denn ich habe dich erlöst!Ich habe dich bei deinem Namen gerufen,du bist mein.“

JESAJA 43,1

Teil 1

Als Augustus Caesar zum Kaiser von Rom aufstieg, machte er Judäa zu einer römischen Provinz.400 Jahre lang hatten die Propheten Israels geschwiegen. In den Synagogen rezitierten die Priester aus den Schriften, während römische Offiziere durch die Straßen patrouillierten und den Juden hohe Steuern auferlegten.In den Prophezeiungen war die Rede davon, dass eines Tages jemand kommen würde, der das Volk Gottes retten würde: der Messias.

Kapitel 1

LEIDENSCHAFT

Kidron, Israel

Shimon ist nicht besonders groß, aber sehr muskulös, mit dichten Locken, die auf seiner Stirn tanzen. Er weiß, dass er jünger aussieht, als er ist. Trotzdem würde er mit seinen zwanzig Jahren die Verantwortung für seine drei jüngeren Schwestern übernehmen müssen, wenn er nach dem Tod seines Vaters das Land und die Schafe erbt. Und das könnte durchaus an diesem Tag geschehen, falls das der Grund ist, warum ihn seine Eltern zu sich gerufen haben, obwohl er eigentlich auf der Weide gebraucht wird.

Seit mehr als zwei Jahren ist sein Vater nun schon so krank, dass er ihn nicht mehr bei der Feldarbeit unterstützen kann. Die Hilfe und der Rat seines Vaters fehlen ihm. Nun ist er gezwungen, ganz allein zurechtzukommen. Am Tag zuvor hatten Beamte aus Kidron seine Eltern aufgesucht. Shimon wäre gern bei dem Gespräch dabei gewesen, doch vermutlich würde er heute erfahren, was sie gewollt hatten.

Er betritt das Schlafzimmer seiner Eltern, wo sein Vater im Bett liegt. „Ich habe versagt“, beginnt der alte Mann.

„Sag so etwas nicht“, widerspricht Shimon. „Du hast getan, was du konntest.“

„Lass ihn ausreden“, ermahnt ihn seine Mutter. „Er möchte um Verzeihung bitten.“

„Aber es gibt doch nichts, wofür er um Verzeihung bitten muss! Ich weiß doch, dass er gern mit mir dort draußen wäre, wenn er nicht …“

Sein Vater hebt die Hand. „Wir haben alles verloren. Uns ist nichts geblieben, was ich dir hinterlassen kann.“

„Aber …“

„Lass mich aussprechen“, keucht sein Vater. „Mir ist ganz elend zumute. Ich habe an euch allen versagt.“

„Was sagst du da?“

„Du brauchst nicht mehr aufs Feld zu gehen. Die neuen Besitzer sind bereits da.“

Shimon taumelt. „Aber die Schafe, meine Schwestern, unsere Zuk…“

„Ich allein trage die Schuld daran“, wispert sein Vater. „Es tut mir leid! Mehr gibt es nicht zu sagen.“

Wie betäubt steht Shimon da. Er würde seinen Vater gern trösten, ihm danken für alles, was er ihm beigebracht hat und dass er in ihm die Liebe zu den Schriften, den Prophezeiungen, dem verheißenen Messias geweckt hat. Was soll er jetzt tun? Und wie kann er jetzt alles, was er gelernt hat, noch nutzen?

„Du musst weggehen und dir Arbeit suchen“, erklärt seine Mutter. „Dieses Heim ist uns zwar noch geblieben. Aber ansonsten weder Land noch Vieh. Und wir müssen noch fünf Menschen ernähren.“

„Natürlich werde ich tun, was getan werden muss“, verspricht Shimon. „Aber wohin soll ich gehen? Was soll ich tun?“

Mühsam richtet sich sein Vater auf. „Du wolltest doch immer nach Bethlehem gehen. Aus den Herden dort werden die Tiere ausgesucht, die im Tempel von Jerusalem geopfert werden. Die Hirten dort brauchen sicher immer eine helfende Hand.“

Nach Bethlehem! Gut zwanzig Meilen weiter östlich. Das ist der Ort, der von den Propheten genannt wird! Shimon mag sich kaum vorstellen, dass er die dortige Synagoge aufsuchen könnte. Aber würde er dafür überhaupt Zeit haben? Er würde die Arbeit eines Tagelöhners annehmen müssen, wenn er seine Eltern und seine Schwestern ernähren will.

In nur einem Augenblick hat sich Shimons Zukunft völlig verändert. Doch die Aussicht, nach Bethlehem zu gehen, macht es ihm leichter.

•••

Eine Woche später

Im verzweifelten Bemühen, Schritt zu halten, zerrt Shimon am Seil, das um den Hals eines weißen Lammes liegt. Mühsam stützt er sich auf die grob behauene Krücke, die er sich aus einem Ast geschnitzt hat. Die drei älteren Hirten, bei denen er arbeitet, schauen sich nach ihm um und durchbohren ihn mit ihren Blicken. Jeder von ihnen führt ein Lamm nach Bethlehem. Aaron, dessen tiefschwarze Haut einen starken Kontrast zu seiner weißen Tunika bildet, ahmt Shimons Hinken nach und verspottet ihn, indem er so tut, als wäre sein Gehstock eine Krücke, auf die er sich stützen muss.

„Komm schon!“, ruft Joram, der Älteste, und sein weißer Haarkranz leuchtet in der unbarmherzig vom Himmel herabbrennenden Sonne. „Weiter!“

Shimons Bemühen, seinen Brotherren zu zeigen, dass ihre Schafe ihm genauso sehr am Herzen liegen wie ihnen, hatte zu seiner Verletzung geführt. Während eines Gewitters hatte er mit der Herde in einer Höhle Schutz gesucht. Eines der Tiere war ihm entwischt. Er war ihm nachgelaufen. Dabei war er in eine Felsspalte geraten und hatte sich seinen linken Knöchel übel verletzt. Ein wenig Mitgefühl – oder Anerkennung – hätte ihm gutgetan, aber ihm schlug nichts als Verachtung entgegen. Und er bekam keinerlei Hilfe. Nur der dunkelbärtige Natan hatte ihm schroff den Rat gegeben, den Knöchel „fest zu wickeln“. Natan ist der Einzige, der den jungen Mann wenigstens anschaut, wenn er mit ihm spricht.

Shimon hofft, die drei Männer einzuholen, wenn sie unterwegs am Brunnen Rast machen. Ungeachtet seiner Schmerzen läuft er weiter. Bei jedem Schritt zuckt er zusammen, und der Schweiß rinnt ihm über das staubverschmierte Gesicht.

Die älteren Hirten haben den Brunnen nun schon fast erreicht. Shimon humpelt weiter, und als er näher kommt, sieht er fünf Frauen, die mit ihren Tonkrügen und Ledereimern am Brunnen Wasser schöpfen, als die älteren Hirten dort eintreffen. Shimon fällt auf, dass die Frauen aus ihrer Abneigung keinen Hehl machen. Vier ziehen sich demonstrativ zurück, zwei halten sich die Nase zu.

„Schöner Tag heute, nicht?“, sagt Natan laut und nickt einer der Frauen zu und lächelt, aber sie schlägt die Hand vors Gesicht und eilt davon. „Bleib doch hier!“, ruft er ihr nach.

Als Shimon den Brunnen erreicht, haben die anderen ihre Wassersäcke aus Ziegenleder bereits gefüllt und setzen ihren Weg fort. Die einzige Frau, die noch am Ort geblieben ist, wendet sich zum Gehen, als Shimon eintrifft. Er füllt seinen Sack und eilt weiter. Die Älteren sollen keinen zu großen Vorsprung bekommen. Da ist der Wegweiser nach Bethlehem. Eine Stelle aus den Schriften, die er so liebt, fällt ihm ein. Sein Vater hat mit ihm die Tora studiert. Shimon hat lange Passagen auswendig gelernt, und vor allem die über seine neue Wirkungsstätte. Aaron und die anderen machen sich darüber lustig. Während er weiterhumpelt und das Lamm blökt, wiederholt Shimon laut:

„Du, Bethlehem Efrata, bist zwar zu klein, um unter die großen Städte Judas gerechnet zu werden. Dennoch wird aus dir einer kommen, der über Israel herrschen soll. Seine Herkunft reicht in ferne Vergangenheit zurück, ja bis in die Urzeit.

Er lässt sein Volk in die Hände seiner Feinde fallen, bis die, die ein Kind bekommen soll, geboren hat. Dann aber wird auch der Rest des Volkes zu den übrigen Israeliten zurückkehren.

Er wird sich als Hirte um seine Herde kümmern und wird sie in der Kraft des Herrn und in der Hoheit des Namens seines Gottes weiden. Zu dieser Zeit wird sein Volk sicher wohnen, und er wird von allen Völkern der Erde hoch geehrt werden.

Und er wird der Friede sein.“

War das möglich? Würde der Messias wirklich von hier kommen?Das waren vielleicht zu hohe Erwartungen, doch Shimon glaubt von ganzem Herzen an die Propheten. Er stellt sich vor, dass der Erwählte für die Juden eintritt und die Römer auf ihren Platz verweist.

Kapitel 2

EIN ZEICHEN

Kinder tollen in dem dichten Gedränge auf dem Marktplatz in Bethlehem herum. Mit lauter Stimme feilschen die Männer um ihre Waren und füllen ihre Käfige mit Tieren, die später die Pilger kaufen werden, um sie im nur knapp sechs Meilen entfernten Tempel in Jerusalem zu opfern. Shimon und die Hirten, die ihm Arbeit geben, haben nur die besten Tiere aus ihren Herden ausgesucht, um die höchsten Preise zu erzielen.

Die Händler beschwatzen die Hirten und Bauern, ihre Preise zu senken. Die Hirten und Bauern wiederum preisen die Qualität ihrer Tiere und Erzeugnisse in den höchsten Tönen an. Wild gestikulierend streitet sich Joram mit einem Kaufmann, neben dem ein Kind seine Hände in einen Haufen frisch geschorene Wolle gräbt. Aaron beugt sich über einen Stand, um an den dargebotenen frischen Gewürzen zu schnuppern. Überall blökt und gurrt es, als Shimon sich vorsichtig einen Weg durch das dichte Gedränge bahnt. Der Gestank nach Dung ist allgegenwärtig.

Ein Pharisäer verlässt gerade die Synagoge, um die Tiere zu begutachten, die vielleicht als Opfertiere in Betracht kommen. Shimon sieht seine Chance gekommen. Der heilige Mann hält gerade Natans schwarzes Lamm in den Händen und untersucht es von allen Seiten. „Es ist ohne Fehler!“, lobt Natan sein Tier. „Nichts, kein Makel, nichts. Nichts daran auszusetzen. Siehst du?“

„Makellos!“, erwidert der Pharisäer. „Das ist ein gutes Tier.“

Jetzt ist Shimon an der Reihe. Er hält dem Pharisäer sein weißes Lamm entgegen. „Lehrer, ich habe eine Frage zum Messias“, versucht er das klagende Geblöke des Tieres zu übertönen. „Jeden Tag habe ich die Tora studiert und …“

Der Pharisäer seufzt, ohne den Blick von dem Lamm abzuwenden, das er begutachtet. „Ein Hirte, der etwas lernen will …“

„Ja!“, erwidert Shimon und lächelt. Dann wird er wieder ernst. „Glaubst du, dass der Messias uns von der Besatzung der Römer befreien wird?“

„Ja“, erwidert der Pharisäer leichthin. Das Gespräch langweilt ihn, das ist nicht zu übersehen. „Er wird ein großer militärischer Führer sein.“

„Bist du sicher?“, fragt Shimon und beeilt sich fortzufahren: „Denn am letzten Schabbat hat der Rabbi aus dem Propheten Hesekiel vorgelesen, und da stand nicht …“

„Wie kannst du es wagen!“, ruft der Pharisäer und dreht sich ruckartig zu Shimon um.

Aaron eilt herbei. „Es tut mir leid, Lehrer. Er ist besessen …“

„Du hast dieses Tier mitgebracht?“

Shimon und Aaron nicken.

„Ich sagte ‚makellos‘!“, wiederholt der Pharisäer.

„Makellos, ja!“, erklärt Aaron.

Der Pharisäer dreht das Tier um und entdeckt eine Wunde an der Flanke. „Die Tiere hier sind für gerechte Männer bestimmt, für das vollkommene Opfer.“ Er setzt das Lamm auf den Boden. „Dieses Tier kann ich nicht nach Jerusalem schicken!“

Mit gesenktem Kopf ergreift Aaron das Seil und will das Tier wegführen. „Tut mir leid. Tut mir sehr leid, sehr, sehr leid.“

Jetzt nähern sich Joram und Nathan, und der Pharisäer fuchtelt mit dem Finger vor Shimons Gesicht herum. „Du fragst dich, warum der Messias noch nicht gekommen ist? Deinetwegen und wegen solcher Leute, wie du es bist, voller Fehler und Flecken. Ihr haltet ihn fern! Wenn du noch einmal ohne ein makelloses Lamm hierherkommst, werde ich euch alle von diesem Marktplatz verbannen.“

Der Pharisäer spuckt vor den Hirten aus, und Shimon zögert, als wollte er sich entschuldigen. Aber Natan flüstert: „Komm jetzt. Komm.“

Shimon will sich gerade in Bewegung setzen, als Joram sich ihm in den Weg stellt. „Wir haben dich doch vor genau so etwas gewarnt. Bist du nicht nur lahm, sondern auch noch taub?“

„Es tut mir leid!“

„Wir werden nicht auf dich warten! Du wirst diesen Kümmerling allein zurückbringen müssen. Und streng dich an, dass du mit uns mithalten kannst, sonst musst du dir den Weg zurück allein suchen.“

Shimon senkt den Blick, und während sich die anderen in Bewegung setzen, bleibt Natan stehen und tätschelt dem jungen Mann die Wange.

Tief beschämt drängt sich Shimon durch die Menschenmenge, um die drei Hirten nicht aus den Augen zu verlieren. Auf keinen Fall will er allein zur Herde zurückkehren. Aber sein verletzter Knöchel und das Lamm behindern ihn, und im Matsch rutscht ihm seine Krücke weg. Er stürzt auf den rechten Ellbogen und verletzt sich den Unterarm. Noch auf den Knien liegend sucht er in der Menge nach den anderen, aber sie sind nicht mehr zu sehen.

Shimon rappelt sich hoch. Eine tiefe Stimme dringt an sein Ohr. Als er sich umschaut, sieht er, dass er vor der kleinen Synagoge steht. Ganz leise schlüpft er durch die mit einem Vorhang verhängte Seitentür. Dahinter erwartet ihn ein prachtvoll ausgestatteter Raum. Shimon betet, dass ihn niemand entdeckt.

An der Bima liest der Priester aus einer Schriftrolle: „Denn das Volk, das in der Dunkelheit lebt, sieht ein helles Licht. Und über den Menschen in einem vom Tode überschatteten Land strahlt ein heller Schein.

Du vermehrst das Volk und schenkst ihm große Freude. Es freut sich über dich wie ein Volk zur Erntezeit, wie jubelnde Menschen, die Beute unter sich aufteilen.“

Ein Mann hinten in der Synagoge wirft Shimon, der mit seinem Lamm in der Tür steht, finstere Blicke zu. Der Mann erhebt sich und kommt rasch auf ihn zu. Sein Blick bleibt an Shimons Ellbogen hängen, von dem Blut auf die Türschwelle tropft. Finster schaut er ihn an und drängt Shimon hinaus. „Verschwinde hier!“

„Kann ich nicht einfach nur zuhören?“

„Nein! Das ist ein heiliger Ort!“

„Bitte!“

„Geh! Verschwinde hier!“ Er schiebt Shimon hinter den Vorhang und wischt das Blut vom Boden, während der Priester unbeirrt weiterliest. Aber auch draußen vor der Tür kann Shimon die Worte verstehen: „Denn wie am Tage Midians zerbricht Gott das Joch, das sein Volk drückte, und den Stock auf seinem Nacken, die Peitsche seines Treibers. Alle dröhnend marschierenden Stiefel und blutgetränkten Mäntel werden verbrannt werden und den Flammen zum Opfer fallen.“

Shimon humpelt zurück zum Gedränge auf dem Marktplatz. Was er über den Messias gehört hat, fasziniert ihn. Dem Pharisäer, der ihn belächelt und getadelt hat, und einem römischen Soldaten geht er tunlichst aus dem Weg. Während sich Shimon durch das Gedränge schiebt, kommt ihm ein Reisender entgegen. Der Schweiß läuft ihm über das schmutzige, ausgezehrte Gesicht. Er führt einen Esel am Zügel, auf dem eine schwangere Frau sitzt. „Verzeihung, mein Freund“, spricht der Mann ihn an. „Kannst du mir den Weg zum Brunnen in dieser Stadt zeigen? Meine Frau hat schon seit Stunden nichts mehr getrunken.“

Shimon nickt. „Ja, am anderen Ende des Platzes.“

„Vielen Dank, Bruder.“

Der Mann zerrt den Esel weiter, und Shimon erhascht einen Blick auf die Frau. Sie ist hochschwanger, und man sieht ihr an, dass es ihr nicht gut geht. „Warte, warte. Hier.“ Shimon drückt dem Mann seinen Wassersack in die Hand.

„Oh! Vielen Dank, du bist sehr freundlich“, sagt der und reicht ihn an die Frau weiter, und sie trinkt mit großen Schlucken.

„Woher kommt ihr?“, fragt Shimon.

„Aus Galiläa. Nazareth.“

Shimon blickt sich aufmerksam um. „Sagt das hier nicht zu laut“, flüstert er. „Ihr wisst ja, dass es heißt, es könne nichts Gutes kommen aus …“

„Ich weiß, was über Nazareth gesagt wird“, erwidert der Mann lächelnd.

„Keine Sorge. Ich werde es niemandem verraten. Euer Geheimnis ist bei mir sicher.“

„Danke für deine Freundlichkeit“, erwidert der Nazarener, und die Frau wirft ihm ein schüchternes Lächeln zu.

Shimon streckt dem Mann die Hand hin und nennt ihm seinen Namen.

Doch bevor der Mann antworten kann, kommt der Pharisäer auf die kleine Gruppe zu und ruft: „Aus dem Weg!“

„Wir müssen weiter“, erklärt der Mann, und seine Frau gibt Shimon den Wassersack zurück, bevor die beiden ihren Weg fortsetzen.

Shimon führt sein Lamm vom Marktplatz weg und kann noch schwach hören, was der Priester in der Synagoge liest: „Macht die erschlafften Hände wieder stark, die zitternden Knie wieder fest! Ruft den verzagten Herzen zu: ,Seid stark und fürchtet euch nicht. Seht doch: Die Rache und Vergeltung unseres Gottes kommt. Er wird kommen und euch retten.‘“

Die Sonne steht tief am Horizont, als Shimon sich auf den langen Weg zurück zum Berg macht, wo die Schafherde grast. Inständig hofft er, dass seine Brotherren ihm verzeihen können. Bis er dort ankommt, wird es dunkel sein, und der Hunger quält ihn jetzt schon. Doch die Worte aus den Schriften haben ihm neuen Mut gegeben, und während er das mit einem Makel behaftete Schaf zurück zur Herde führt, erinnert er sich an den Rest des Abschnitts aus dem Propheten Jesaja. Leise spricht er die Worte vor sich hin:

„Dann werden die Augen der Blinden und die Ohren der Tauben geöffnet. Der Lahme wird springen wie ein Hirsch, und der Stumme wird jubeln. Denn aus der Wüste entspringen Quellen, Ströme bewässern die Steppe. Luftspiegelungen werden zu echten Seen und das durstige Land zu sprudelnden Wasserquellen. Gras, Binse und Schilf blühen, wo einst Schakale hausten.“

•••

Es ist stockdunkel, als Shimon den Berg erreicht, wo die Schafe sich bereits für die Nacht niedergelegt haben. Joram, Natan und Aaron sitzen um ein kleines Feuer herum und lassen sich ihre Abendmahlzeit schmecken. Sie lachen, und ganz offensichtlich reden sie über die Begegnung auf dem Marktplatz. „Das nächste Mal wische ich mir die Hände an seinem Gewand ab“, bemerkt Aaron. „Er fällt bestimmt in Ohnmacht!“

Natan fuchtelt mit einer Brotkruste herum. „Pharisäer sind so geizig. Wenn einer seinen letzten Willen verfasst, setzt er sich bestimmt selbst als Erben ein!“

„Und bekommt trotzdem nicht viel!“, meint Aaron.

Joram dreht sich um, als Shimon in den Schein des Feuers tritt. Auch die Lampen, die an den Zeltstangen hängen, geben ein wenig Licht. „Ah! Endlich! Da ist er ja wieder!“

„Hallo, Shimon“, sagt Natan.

„Bleib du bei den Schafen!“, ruft Joram.

„Er ist wirklich zu nichts zu gebrauchen“, bemerkt Aaron. „Warum behältst du ihn?“

„Er ist ein guter Junge.“ Joram zuckt die Achseln. „Jetzt hat er bestimmt Hunger.“

„Aaron hat heute das Abendessen gemacht“, erklärt Natan. „Also ist nichts gekocht!“

Joram lacht, und Aaron sagt: „Das Essen ist gut. Es ist ein Rezept meiner Großmutter, also meckere hier nicht herum!“

„Bestimmt ist das der Grund, warum dein Großvater verschwunden ist“, bemerkt Joram, und Natan bricht in brüllendes Gelächter aus.

Erschöpft bringt Shimon das Lamm zum Muttertier zurück und beobachtet, wie sich beide im Gras niederlegen. Als er wieder aufsteht und zu den anderen zurückgehen will, muss er feststellen, dass sein Knöchel schlimmer geworden ist. Er kann sich kaum noch bewegen. Die anderen drei sitzen noch am Feuer und reden über den Tag.

„Ich wünschte, diese Frau am Brunnen wäre nicht weggegangen“, meint Natan.

Aaron nickt. Ein verträumter Ausdruck liegt in seinen Augen. „Sie war sehr schön.“

„Sehr hübsch, sehr hübsch“, sagt Joram.

Shimon stützt sich auf seine Krücke. „Kann ich jetzt etwas zu essen bekommen?“

„Nicht bei uns.“ Aaron schüttelt den Kopf. „Nimm deinen Teller und geh da rüber.“ Er deutet auf die Herde.

„Nach dem, was heute Morgen passiert ist“, erklärt Joram, „wirst du heute Nacht bei den Schafen schlafen.“

„Und pass dieses Mal besser auf“, ermahnt ihn Aaron.

Joram weist mit dem Zeigefinger auf ihn. „Hüte dich vor den Wölfen.“

Natan gibt ein wenig Essen in seinen Teller. „Und nimm dich in Acht vor dem Pharisäer – vielleicht folgt er dir ja.“

Shimon nimmt eine Fackel und hält sie ins Feuer, bis sie sich entzündet.

„Gestern hat ein Römer schon wieder ein Schaf geholt“, berichtet Aaron den anderen.

Shimon humpelt mit seinem Teller davon. Natan ruft ihm nach: „Shimon! Sie reden wieder über die Römer.“

„Er hat es vor meinen Augen geschlachtet und gebraten!“, berichtet Aaron weiter. „Sie nehmen sich einfach, was sie wollen!“

Joram schüttelt den Kopf. „Lasst uns über was anderes reden.“

Shimon schleppt sich über das Grasland zu einem kleinen Bach. Er keucht jetzt. Jeder Schritt ist eine Qual. Noch nie hat er sich so einsam gefühlt. Seinen Teller stellt er auf einem Stein ab und watet zum seichten Ufer, steckt die Fackel in den Schlamm und bückt sich langsam, um seinen verletzten Ellbogen in dem klaren Wasser zu reinigen. Die drei anderen am Feuer sind verstummt, und er hört nur noch, wie sie mit ihren Stöcken im Feuer stochern.

Shimon legt seine Krücke zur Seite und lässt sich neben seinem Teller nieder. Er ist zutiefst erschöpft und kämpft gegen die Tränen an. Wegen seiner Verletzung fühlt er sich unrein, und jetzt ist er beinahe zu müde, um zu essen. Der Schein seiner Fackel fällt auf das Wasser, und er ist erstaunt, dass es vom Schlamm trüb ist. Im Tageslicht war das Wasser noch klar gewesen.

Dann frischt der Wind auf. Die Schafe springen auf. Die Äste der Bäume wiegen sich im Wind, die Blätter rauschen, und Shimons Fackel erlischt. Er wirft einen vorsichtigen Blick auf den Berghang über sich, wo Joram, Natan und Aaron ebenfalls aufgesprungen sind und ihre Umhänge enger um sich wickeln als Schutz gegen den Wind. Ihr Feuer, über dem noch die Töpfe hängen, erlischt ebenfalls. Jetzt kann er sie nicht mehr sehen.

Auf einmal wird der Himmel so hell wie der Tag zur Mittagszeit. Die Männer sinken auf die Knie, Joram vergräbt sein Gesicht in der Erde, Natan und Aaron beobachten das Schauspiel mit aufgerissenen Augen und offenem Mund.

Mitten unter ihnen erscheint plötzlich … ein Engel? Und ein Glanz erstrahlt … ein Glanz … wie von der Herrlichkeit Gottes. Anders kann Shimon es nicht beschreiben. Er ist unfähig, sich zu rühren. Jetzt redet der Engel: „Habt keine Angst! Ich bringe eine gute Botschaft für alle Menschen! Der Retter – ja, Christus, der Herr – ist heute Nacht in Bethlehem, der Stadt Davids, geboren worden!“

Ich träume, denkt Shimon. Ich träume. Das kann nicht sein! Heute? Zu meinen Lebzeiten?

Der Engel fährt fort: „Und daran könnt ihr ihn erkennen: Ihr werdet ein Kind finden, das in Windeln gewickelt in einer Futterkrippe liegt!“

Und auf einmal ist da bei dem Engel eine Menge der himmlischen Heerscharen, die Gott loben und sagen: „Ehre sei Gott im höchsten Himmel und Frieden auf Erden für alle Menschen, an denen Gott Gefallen hat.“

Shimon traut seinen Ohren und Augen nicht. Und dann ist alles wieder dunkel. So schnell, wie sie gekommen waren, sind die Engel auch wieder verschwunden. Mühsam rappelt sich Shimon hoch. Seine Kameraden lachen wie Kinder. Er weiß, sie werden so schnell sie können nach Bethlehem gehen. Und genau das hat er auch vor.

Shimon stemmt seine Krücke in den Boden, wendet sich vom Bach weg zum Berg und beginnt zu laufen. Seinen verstauchten Knöchel vergisst er ganz. Er rennt, als hätte er sich nicht verletzt. Tatsächlich läuft er so schnell, dass Teile des Verbands von seinem Knöchel abfallen. Schließlich ist er barfuß. Schon bald wirft er auch die Krücke weg. Er hat das Gefühl, er fliege der Stadt entgegen.

Was die anderen wohl denken? In den letzten Tagen hat er sie immer wieder verärgert mit seiner Faszination für die alten Prophezeiungen und damit, dass er die Pharisäer so oft infrage stellte. Und mehr noch, was sie wohl denken, dass sie jetzt nicht in der Lage sind, ihn einzuholen? Shimon ist in den letzten Tagen immer ein Hemmschuh für sie gewesen.

Kann das wahr sein? Was meinte der Engel mit den Worten: „in einer Futterkrippe“? Der Messias? Der König?

Shimon dreht sich um. Joram, Natan und Aaron sind hinter ihm. Auch sie laufen, so schnell sie können, aber sie bleiben immer weiter zurück. Wie er selbst waren auch die anderen zunächst zutiefst erschrocken beim Anblick des Engels und vor Furcht wie gelähmt, doch jetzt jauchzen und jubeln und lachen sie wie ausgelassene Kinder. Falls Shimon sich das alles nur einbildet, dann sind sie Teil seiner Fantasien. Hat er sich das, was geschehen ist, so lange gewünscht, sich so sehr danach gesehnt, dass er alles nur in seiner Fantasie erlebt? Seit Jahrhunderten haben die Propheten geschwiegen, und jetzt erscheint ein Engel mit dieser Nachricht?

Shimon empfindet keinen Schmerz, keine Erschöpfung, nicht einmal Atemnot, während er über die Felder zur Straße und am Brunnen vorbeirennt. Verse aus der Schrift, die er in endlosen Stunden gelesen, studiert und auswendig gelernt hat, gehen ihm durch den Kopf. Deshalb wird der Herr selbst das Zeichen geben. Seht! Die Jungfrau wird ein Kind erwarten! Sie wird einem Sohn das Leben schenken.

Aber eine Futterkrippe? Wo? Wie weit entfernt?

Shimon wird langsamer und bleibt schließlich vor einem kleinen Stall stehen. Tiere trotten hinein und hinaus. Das ist bestimmt nicht der Ort.

Um ihn liegt alles im Dunkeln. Aber aus dem Innern dringt Licht.

Kapitel 3

ALLE MÜSSEN ES ERFAHREN

Durch die Stalltür beobachtet Shimon, wie ein Mann ein schreiendes Baby hochnimmt. Der Mann ist der Reisende, mit dem Shimon auf dem Marktplatz gesprochen hat! Er hatte ihm seinen Wasserschlauch überlassen. Reglos schaut Shimon zu, wie der Mann mit strahlendem Gesicht das Baby in Windeln wickelt, genau wie der Engel gesagt hat.

Die Frau, die aus seinem Wasserschlauch getrunken hat, trug den Messias unter dem Herzen!

Joram drängt sich an Shimon vorbei und stößt ihn dabei zur Seite. Aaron und Natan folgen dicht hinter ihm. Shimon hat den Stall zwar als Erster erreicht, doch nun wird er ihn als Letzter betreten. Joram stößt die Tür auf, und als die vier Hirten eintreten, reicht der Mann das Baby rasch seiner Mutter und stellt sich ihnen mit erhobenen Händen in den Weg. In seiner Miene zeigt sich Angst. Seine Frau wirkt erschöpft, aber auch glücklich. Schweißnass kleben ihr die Haare am Kopf.

Joram kann gar nicht schnell genug berichten: von der Ankündigung des Engels und den himmlischen Heerscharen. Als der Mann Shimon hinter den anderen entdeckt, entspannen sich seine Züge, und er heißt alle willkommen. Die Frau grüßt die Ankömmlinge mit einem Lächeln, als die Hirten langsam vor der jungen Familie niederknien.

Erneut nimmt der Mann das Baby hoch, das mittlerweile eingeschlafen ist, und hält es den Hirten entgegen. Joram streckt die Arme danach aus, aber der Mann sucht Shimons Blick und drückt ihm das Kind in den Arm. Die anderen schauen mit vor Staunen geweiteten Augen zu.

Shimon ist sprachlos. Im Vergleich zu einem Lamm ist das Baby leicht wie eine Feder. Kann es wirklich sein, dass er, Shimon, den Messias im Arm hält, den Herrn? Unvorstellbar! Seine Augen füllen sich mit Tränen.

„Wie schön er ist!“, flüstert Joram.

Die Zeit scheint stillzustehen. Sein Blick ruht auf dem Baby, und nur am Rande nimmt Shimon wahr, dass seine Kameraden sich mit den Eltern unterhalten, die sich als Josef und Maria aus Nazareth vorstellen. Die Hirten bieten Hilfe an und schlagen vor, eine geeignetere Unterkunft zu suchen. Aber der Reisende und seine Frau lehnen ab. Es gehe ihnen gut, sagen sie.

Wenn sie es zugelassen hätten, hätte Shimon das heilige Kind stundenlang halten mögen. Wer würde ihm so etwas glauben? Vermutlich nicht einmal seine eigene Familie! Am liebsten würde er es der ganzen Welt erzählen.

Immer noch kniend blicken die anderen ihn an, als wollten sie ihn auffordern, sein Privileg mit anderen zu teilen, aber er wird das Kind erst abgeben, wenn die Eltern ihn dazu auffordern.

„Wir müssen das weitererzählen.“

Natan erhebt sich. „Wir müssen es allen erzählen!“

„Ja, allen!“ stimmt Joram zu.

„Ja, ja, danke!“, stammelt Shimon schließlich.

Sie rennen hinaus, nur Shimon bleibt zurück. Vorsichtig und zärtlich hält er das Kind immer noch im Arm. Dieses kleine, kostbare Bündel wird Israel von seinen Unterdrückern befreien. „Wir haben so lange darauf gewartet! So lange!“, flüstert Shimon Josef zu.

Shimon gibt das Baby zurück, und sofort wird es wieder unruhig. Josef reicht das Kind an Maria weiter. Sie bemerkt die Wunde an Shimons Arm. „Du bist verletzt“, sagt sie.

„Ach, das ist nicht schlimm.“

Maria nimmt eine Windel des Babys und reicht sie Josef, der sie an Shimon weitergibt. Er hält ein Ende mit den Zähnen fest und wickelt sie schnell um seine Wunde.

„Wie soll er heißen?“, fragt Shimon.

Maria schaut Josef an und antwortet: „Jesus.“

„Wir werden ihn Jesus nennen“, sagt Josef.

„Ich muss gehen“, erklärt Shimon. „Die Menschen müssen davon erfahren.“

Josef nickt. „Ja, alle müssen es erfahren.“

•••

Shimon rennt zum Marktplatz. Noch mehr Stellen aus den Schriften gehen ihm durch den Kopf. Denn uns wurde ein Kind geboren, uns wurde ein Sohn geschenkt. Auf seinen Schultern ruht die Herrschaft. Er heißt: wunderbarer Ratgeber, starker Gott, ewiger Vater, Friedensfürst.

Seine Herrschaft ist groß und der Frieden auf dem Thron Davids und in seinem Reich wird endlos sein. Er festigt und stützt es für alle Zeiten durch Recht und Gerechtigkeit. Dafür wird sich der Herr, der Allmächtige, nachhaltig einsetzen.

Als Shimon auf dem Markt eintrifft, haben Joram, Natan und Aaron bereits einen solchen Lärm veranstaltet, dass die Bewohner des Ortes aus ihren Häusern kommen. Die Hirten greifen sich jeden, den sie sehen – ob Römer, religiöse Führer, einfach jeden –, und sprudeln ihre Geschichte heraus – von dem Engel, den himmlischen Heerscharen und wie sie das Baby, den Messias, gefunden haben. „Das Baby, der Messias – er liegt in einer Krippe!“, ruft Aaron.

„In einem Stall!“, ergänzt Natan. „Die Engel haben uns gesagt, wo wir ihn finden würden. Und genau so war es!“

Die Hirten sind außer Rand und Band. Sie sind so aufgeregt, dass sie nicht einmal auf Antworten warten. Einer tritt sogar auf den Mann zu, der Shimon aus der Synagoge geworfen hat, aber der weicht zurück. Ganz offensichtlich hält er diese Männer für verrückt. „Der Messias, ich sage es euch!“, ruft Joram.

Shimon tritt mitten auf den Platz, als Natan sich gerade von jemandem abwendet. Mit strahlendem Gesicht umarmt er Shimon und zieht ihn an sich. „Du hattest recht!“, sagt er. „Du hattest die ganze Zeit recht!“

Schließlich löst er sich wieder von ihm, um anderen von ihrem Erlebnis zu erzählen. Shimon steht auf einmal dem Pharisäer gegenüber, mit dem er am Morgen gesprochen hatte. „Du schon wieder!“, sagt der religiöse Führer und zeigt mit dem Finger auf ihn. „Ich habe dir doch gesagt, du sollst dich hier nicht mehr blicken lassen! Also, wo ist es? Hast du ein makelloses Lamm für das Opfer gefunden?“

Shimon hält inne. Seine Augen beginnen zu strahlen, als die Wahrheit in ihm Raum gewinnt. Und langsam beginnt er zu lächeln.

Teil 2

Wenn du durch Wasser gehst, werde ich bei dir sein.Ströme sollen dich nicht überfluten!Wenn du durch Feuer gehst, wirst du nicht verbrennen;die Flammen werden dich nicht verzehren!Denn ich bin der Herr, dein Gott,der Heilige Israels, dein Heiland …Ich – ich allein – bin es,der deine Übertretungen um meiner selbst willen tilgtund nicht mehr an deine Sünden denkt.

JESAJA 43,2–3.25

Kapitel 4

BESESSEN

Zwei Jahre später

Beduinenlager

Nicht weit entfernt von der kleinen, von Fackeln erhellten Stadt Magdala, die sich in die Hügellandschaft schmiegt, sitzt Anouk, ein stämmiger, dunkelhäutiger Mann, vor dem Zelt seiner Familie. Es ist weit nach Mitternacht. Leise summend hält er ein kleines Feuer in Gang.

Sein Summen geht jedoch in ein Husten über, und je mehr er versucht, den Husten zu unterdrücken, um seine schlafende Familie nicht aufzuwecken, desto schlimmer wird er. Auf einmal steht seine fünfjährige Tochter Maria im Zelteingang, barfuß und mit einer einfachen Puppe im Arm, die er für sie geschnitzt hat. „Papa?“

Anouk erhebt sich. Es tut ihm leid, dass sein Husten sie geweckt hat. „Du sollst doch schlafen, meine Kleine.“

„Ich kann aber nicht schlafen“, erwidert sie. Ihr Tonfall tut ihm weh.

Er streckt die Arme nach ihr aus. „Setz dich, Kleine. Komm, setz dich zu mir.“ Anouk zieht sie auf seinen Schoß. „Hast du wieder Kopfschmerzen?“

„Nein.“

„Ich weiß. Du denkst über den großen neuen Stern nach, richtig? Siehst du, da ist er ja! Siehst du ihn?“ Er deutet zum Himmel.

„Nein.“

„Wieso kannst du denn nicht schlafen?“

„Ich habe Angst.“

„Wovor denn?“

„Ich weiß es nicht.“

•••

Das stimmt. Die Kleine weiß es nicht. Sie liebt den kühlen Abend, wenn die Temperatur sinkt und ihr die Kleider nicht mehr schweißdurchnässt am Leib kleben. Aber Maria ist ein ängstliches Kind; sie fürchtet sich vor Löwen, Wölfen, Schakalen, Geparden und sogar vor den gestreiften Hyänen. Noch nie hat sie eines dieser Tiere aus der Nähe gesehen, aber sie hat ihre Laute gehört, sie aus der Ferne beobachtet, und sie weiß: Dort draußen lauern sie.

Noch etwas anderes bedroht Maria, etwas, das sie nicht kennt und versteht. Etwas, das in ihr ist, verursacht ihr Kopfschmerzen, hindert sie am Schlafen. Aber an diesem Abend ist das nicht der Grund. Es war das Husten ihres Vaters, was sie beunruhigt hat.

•••

Anouk drückt Maria an sich. Ein so kleines Kind sollte sich nicht so fürchten. Vielleicht sollten er und die anderen Männer im Lager nicht so offen über die Gefahren reden, die von wilden Tieren in der Umgebung ausgehen. „Hey. Was tun wir, wenn wir Angst haben?“

„Wir sagen seine Worte.“

Anouk nickt. „Adonais Worte. Vom Propheten …“

„Jesaja“, ergänzt sie.

„Dem Propheten Jesaja. Richtig.“ Er nickt. „,Doch nun spricht der Herr, der dich geschaffen hat, Jakob, und der dich geformt hat, o Israel: Fürchte dich nicht.‘“ Anouk streichelt Marias Hand. „Na los, Maria, du bist dran. Lass mich deine hübsche Stimme hören. Komm …“

„Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein.“

„,Du bist mein.‘ Das stimmt.“ Zärtlich küsst Anouk ihre Wange.

•••

Die Stadt Kapernaum, achtundzwanzig Jahre später

Eine junge Frau, vielleicht Anfang dreißig, fährt in ihrem Bett hoch und blickt sich um, während grelles Morgenlicht in ihre Kammer dringt. Sie keucht, als würde sie aus tiefem Wasser auftauchen. Mit den Augen sucht sie ihre Umgebung ab. Dann erhebt sie sich, um in den Spiegelteller an der Wand zu schauen. Dicke Schweißtropfen liegen auf ihrem verschmierten geschminkten Gesicht.

Hat sie von ihrem Vater, der sie vor so vielen Jahren getröstet hat, nur geträumt? Sie berührt ihre Wange, wo er sie geküsst hat, und erst jetzt entdeckt sie das Blut an ihrer Hand. Ihre Fingernägel sind an beiden Händen abgebrochen.

Was ist passiert? Sie untersucht ihr zerrissenes Gewand, das ebenfalls nass von Blut ist, und von draußen hört sie einen Mann rufen: „Hilfe! Jemand muss mir helfen!“ Sie späht durch den Vorhang auf den Basar hinaus, wo sich ein Stand an den anderen reiht und Menschen aus den verschiedensten Volksgruppen in fremden Sprachen miteinander Handel treiben.

Der Mann wankt durch die Menschenmenge und deutet auf ihre Unterkunft. „Helft mir, sie wollte mich umbringen! So helft mir doch – irgendjemand …!“

Der Trubel auf dem Marktplatz kommt zum Stillstand, alle starren ihn an. Wo immer er sich hinwendet, weichen die Menschen vor dem schreienden Mann zurück. Eine Mutter zieht ihr Kind zur Seite. Kunden und Kaufleute beschimpfen ihn.

Ein stattlicher Römer packt ihn an der Schulter und lässt ihn sofort wieder los, als er das Blut an seiner Hand sieht. „Du dreckiger Hund!“

Der Mann umklammert die Arme des Soldaten und starrt ihn an. „Dämonen! Sie ist besessen von ihnen.“

Verwirrt und tief beschämt kehrt die Frau in ihre schmuddelige Kammer in Rivkas Herberge zurück. Sie erinnert sich nicht an das, was geschehen ist. Schon einmal hat man solche Anschuldigungen gegen sie erhoben, aber eine Frau der Nacht ist sie nie gewesen. Sie weiß, warum sie für so eine gehalten wird, denn diese Frauen leben häufig im Vergnügungsviertel. Und die Leute reden über ihre Anfälle. Seit sie nicht mehr die kleine Maria aus dem Wüstenlager in der Nähe von Magdala ist, versteckt sie sich hinter dem Namen Lilith, und das schon viele Jahre lang.

Was sie schon immer gut konnte, war, anderen Frauen die Haare zu frisieren. Aber sie fühlt sich beschmutzt, beschädigt, unfähig, jemandem ihre Dienste anzubieten. Ihren mageren Lebensunterhalt bestreitet sie durch Betteln und Schnorren. Rivka lässt sie in dieser armseligen Kammer wohnen. Dafür macht sie ihr die Haare. Was immer sie dem Mann getan hat – oder die Dämonen ihm durch sie antun wollten –, sie zweifelt keine Sekunde daran, dass es so war.

Kapitel 5

LEHRER ALLER LEHRER

Im trüben Licht der Morgendämmerung führen Sklaven eine prachtvoll ausgestattete Kutsche über den holprigen Weg von Judäa nach Kapernaum. Im Innern sitzt Nikodemus und betet. Ihm gegenüber sitzt Zohara, seine schöne Frau. Die achtzehn kostbaren Gewänder, in die er gehüllt ist, und sein getrimmter, mit Goldstaub gesprenkelter Bart lassen in ihm einen führenden Pharisäer des Jerusalemer Hohen Rates erkennen. In letzter Zeit ist er der äußeren Zeichen seiner Stellung ein wenig überdrüssig geworden. Eigentlich ist das der Inhalt seines Gebets. Im Stillen sucht er Vergebung für die Zeit, als er sich noch in der Bewunderung jüngerer Schüler und der Unterwürfigkeit der Öffentlichkeit gesonnt hatte.

Er muss gestehen, dass diese besondere jährliche Reise, um in der Synagoge und der Toraschule in Kapernaum zu lehren, in der Vergangenheit seine Demut auf eine harte Probe gestellt hat. Und er will nicht, dass es dieses Mal auch wieder so ist. Er weiß, dass seine Gastgeber sich große Mühe geben und ihm und Zohara eine noble Unterkunft zur Verfügung stellen werden. Nikodemus will nicht abweisend erscheinen oder den Anschein erwecken, er nähme das als selbstverständlich hin, denn eine solche Behandlung steht ihm in seinem Amt zu. Aber er sehnt sich wieder nach der innigen Frömmigkeit, die er als junger Mann empfunden hat, bevor er von der großen Versammlung in den Hohen Rat gewählt wurde. Bei den meisten seiner Mitratsmitglieder ließ sich beobachten, dass ihre geistliche Disziplin nachließ, sobald sie den Höhepunkt ihrer Karriere erreicht hatten und ihre Position und ihr Ruf wichtiger wurden als ihre Beziehung zum Göttlichen. Herr,bewahre mich vor diesem Hochmut, betet er leise.

„Haaalt!“, ruft ein Sklave, bevor er an Nikodemus’ Fenster auftaucht. „Vergib mir, Rabbi …“

Zohara fährt den Sklaven an, weil er nicht erkannt hat, dass Nikodemus gerade betet. Der Sklave wendet sich ihr zu und senkt dann hastig den Blick, als hätte er sie beim Baden überrascht. Sofort zieht sie ihr Tuch über den Kopf.

„Aber seht doch – da vorn!“

Fünf römische Legionäre zu Pferd nähern sich ihrem Gefährt in vollem Galopp. Auf dem Pferd, das die Gruppe anführt, sitzt ein jüngerer Mann in einer makellosen Tunika mit kaiserlichem Helm, der sich auch durch seine Kleidung von den anderen abhebt. Der Sklave neigt den Kopf, als der Soldat vom Pferd steigt. Die anderen vier Legionäre blicken sich aufmerksam um.

„Wieso hält man uns an?“, fragt Nikodemus den jungen Offizier.

„Vielleicht, um sich zu begrüßen?“

„Ich reise in offiziellen Angelegenheiten“, erklärt der Pharisäer.

„Nur römische Angelegenheiten sind offizielle Angelegenheiten“, erwidert der Mann, der zweifellos sehr von sich überzeugt ist. „Ich bin Quintus, der Prätor von Kapernaum.“

„Und ich bin …“

„Du bist der große Nikodemus. Neuigkeiten verbreiten sich schnell.“

„Willst du mich verhaften?“

Quintus lacht. „Nein, mein Freund. Ich bin Beamter und kein Soldat. Ich diene dem Willen des Volkes. Und Pilatus.“

„Und ich diene nur Gott.“

„Ja, ja. So wie deine Feinde, die Sadduzäer. Die Essener. Die Zeloten. Alle abtrünnigen Prediger in der Wüste, die von der Ankunft eines Messias faseln. Sie alle wetteifern um die Gunst des Volkes.“

Nikodemus hat genug gehört. „Also, was willst du, Quintus?“

„Mir scheint, es wurden Steuern nicht bezahlt. Aber wenn du mir hilfst, helfe ich den Pharisäern bei ihren … Anliegen.“

„Wie könnte ich? Die Menschen ertrinken doch bereits in Steuern.“

„Sag mir, Nikodemus, was kann unter Wasser sein und doch nie ertrinken?“

Was für eine Frage ist das denn? Nikodemus runzelt die Stirn. „Fische?“

Kapitel 6

DER STEUEREINTREIBER

Kapernaum, nördlicher Bezirk

Das elegante Haus ist durchflutet vom frühen Morgenlicht. Das geräumige Wohnzimmer ist teuer und hochmodern ausgestattet. Bodentiefe Fenster bieten einen atemberaubenden Ausblick auf die Stadt. Die Böden glänzen, und eine Matte aus Hirschfell liegt vor einer Feuerstelle aus Marmor. Der Raum ist makellos sauber, doch auf seltsame Weise unpersönlich.

Ein schmächtiger Mann Ende zwanzig mit flinken Augen, glatter Haut und vollen Lippen steht ausdruckslos vor einem großen Schrank, der gefüllt ist mit ordentlich geplätteten Leinengewändern. Mehrmals schaut er die Auswahl durch, bevor er ein Gewand auswählt. Er weiß vorher genau, für welches Gewand er sich entscheiden wird, aber er spürt in sich den Drang, diese scheinbar endlose Zeremonie jeden Tag zu wiederholen.

Niemand sonst weiß, dass er darunter leidet. Als Kind wurde er unbarmherzig verspottet, weil er anders war. Doch irgendwie hat er seine Liebe zu Ordnung und Präzision in passende Bahnen gelenkt. Seine Genauigkeit kommt ihm jetzt zugute. Auch wenn seine jüdischen Mitbürger wegen seines Postens verächtlich auf ihn herabblicken; er verdient damit weit mehr als sie alle. Sogar seine Familie hat sich von ihm abgewendet. Doch dieses Haus in der Nachbarschaft anderer Publikani – Menschen, die wie er Verwaltungsaufgaben für die Römer durchführen – ist seine Belohnung. Hier fühlt er sich sicher, hier kann er er selbst sein, und niemand beobachtet ihn oder beurteilt jede seiner Launen.

Seine Fähigkeit, sich auf eine Sache zu konzentrieren und durch verschiedene Rituale seine Verschrobenheiten in Schach zu halten, ist sehr nützlich. Er steckt die letzte Weintraube von einem Porzellanteller in den Mund, reibt ein wenig Weihrauch auf die Handgelenke und wählt, wie bei den Gewändern, aus mehreren Paaren kostbarer Sandalen die richtigen für diesen Tag aus. Schließlich nimmt er eine Stoffserviette von einem Stapel und verlässt das Haus.

Auf dem Weg zu seiner prachtvoll verzierten Haustür reicht ihm ein Sklave eine Schultertasche aus Leder mit seinem Kassenbuch, seiner Tafel und anderen nützlichen Dingen. Jetzt ist er gut vorbereitet. Und obwohl der Sklave ihm mehrmals versichert, dass er während seiner Abwesenheit gut auf das palastartige Haus aufpassen wird, verschließt er selbst die schwere Tür mit einem Messingschlüssel, nachdem er das Haus verlassen hat. Dreimal, um ganz sicher zu sein.

Mit eiligen Schritten läuft er durch die verwinkelten, schmalen Gassen an den luxuriösen Häusern anderer von seinem Stand vorbei, die genauso wohlhabend sind wie er. Die meistgenutzten Wege, wo er erkannt, verhöhnt, bespuckt und vielleicht angegriffen werden könnte, meidet er und bevorzugt die Gassen, in denen die Menschen Müll und Abwasser entsorgen und wo die Fliegen sich tummeln. Sorgfältig bedeckt er Mund und Nase mit der Serviette, während er Ausschau hält nach seiner Mitfahrgelegenheit zum Marktplatz, wo sein Steuerstand steht. Ein Bürger der Stadt erhält eine Steuerstundung dafür, dass er sich in seinem Wagen unter der Plane verstecken darf. Das ist zwar nicht ideal, doch auf diese Weise entgeht Matthäus dem Spott und der Häme, mit denen er überschüttet würde, wenn er den ganzen Weg zu Fuß zurücklegen müsste.

Ein Bürger kommt ihm entgegen. Er weicht ihm aus. Bei den Ratten, die durch die Gasse laufen, hat er nicht so viel Glück. Er kann ihnen nicht aus dem Weg gehen und tritt in einen Dunghaufen. Das kann er nicht ertragen. Er beugt sich vornüber und würgt. Während er noch seine beschmutzte Sandale aus dem Dunghaufen zieht, hört er vom Ende der Gasse jemanden rufen: „Matthäus! Pst, pst!“ Seine Mitfahrgelegenheit zur Arbeit.

„Nicht so laut!“

„Verzeihung, werter Public Anus“, erwidert der schmuddelige Lieferant. „Ich bin es, der nicht mit dir gesehen werden will, schon vergessen?“

„Es heißt Publi-canus.“

„Mir gefällt es anders besser, Steuereintreiber.“

Matthäus zieht seine beschmutzten Sandalen aus und holt ein neues Paar aus seiner Tasche. Die anderen wirft er achtlos auf die Straße.

„Hey, hey, hey!“, ruft der Fahrer. „Die kosten ein Monatsgehalt von all meinen Söhnen zusammen! Und du wirfst sie einfach weg?“

„Die Sandalen sind mein Eigentum. Ich tue damit, was ich will. Ich bezahle dich fürs Fahren. Also durchwühle den Müll in deiner Freizeit.“

„Dich zu fahren, hat ein bisschen von beidem, oder?“, erwidert der Mann und lacht. Er schlägt die Plane zurück. Seine Ladefläche ist dreckig. Als Matthäus hineinklettert, fügt der Fahrer hinzu: „Aber falls jemand nach meiner Ladung fragt, muss ich die Wahrheit sagen – der größte Haufen Mist in ganz Kapernaum!“

Matthäus’ Blick verfinstert sich, bevor er die Plane über sich zieht.

Kapitel 7

DAS VERGNÜGUNGSVIERTEL

Die Schüler der Toraschule, alle in weiße Gewänder gehüllt, scharen sich um Nikodemus, den verehrten Gast ihrer Schule vom Hohen Rat in Jerusalem. Er wird heute zu ihnen sprechen. Hinter ihnen stehen ihre Lehrer, in Schwarz gekleidet. Shmuel, ein früherer Schützling von Nikodemus und heute der oberste Rabbi der Schule, ist auch dabei. Mit der Leichtigkeit und dem Selbstvertrauen, die seine Stellung mit sich bringen, beginnt Nikodemus seinen Vortrag. „Nun, ehrlich gesagt, ich freue mich jedes Mal auf meinen jährlichen Besuch in Kapernaum. Und auf euren wundervollen See Genezareth. Er ist wirklich der Stolz des Landes.“

Schüler und Lehrer klatschen begeistert Beifall. Sie hängen förmlich an seinen Lippen.

„Sogar meine Kinder waren von ihm angetan. Den ganzen Tag waren sie schwimmen, spielten im Sand und beobachteten Menschen. Dann eines Tages fragte ich: ,Wenn es euch hier so gut gefällt, wieso geht ihr denn nie an den Strand, wenn wir eure Großeltern am Meer besuchen?‘ Mein Sohn zuckte die Achseln und erwiderte: ‚Aber Vater, da ist doch nie jemand, denn es ist tot!‘“

Seine Zuhörer lachen, und Nikodemus beugt sich vor und spricht mit verändertem Tonfall weiter. „Und euer See bietet auch noch den exquisitesten Fisch weit und breit! Wie bedauerlich, dass die, die die Fische fangen, so gottlos sind, dem Glücksspiel in finsteren Spelunken zu verfallen. Und sie fischen sogar am Schabbat!“ Er hält inne. „Kann man von einem Fang essen, ohne von den Sünden des Fängers befleckt zu werden?

Macht euch nichts vor – es ist Sünde, einen solchen Fisch zu sich zu nehmen. Was in den Körper eines Menschen gelangt, verunreinigt ihn. Warum fahren unsere jüdischen Brüder am Schabbat mit ihren Booten hinaus auf den See?“

Seinen jungen Zuhörern hat es die Sprache verschlagen.

„Ich versichere euch, der Messias kommt nicht, bevor dieses üble Laster aus unserer Mitte getilgt wurde.“ Nikodemus mustert ihre Gesichter, aber die meisten wenden den Blick ab. „Eure Taten werden gesehen und beurteilt. Gott hat euch damit betraut, in jeder Hinsicht ein Vorbild zu sein. Sollte das für euch eine zu große Bürde sein, verdient ihr nicht, dass ihr den Namen Israel tragt.“

Es hat Nikodemus schon immer erstaunt und fasziniert, dass er einen Vortrag halten kann, während er gleichzeitig über andere Dinge nachdenkt. Seine Gedanken wandern ab zum Kommen des Messias. Nikodemus kann nicht verstehen, dass seine Kollegen aus dem Hohen Rat immer seltener über diese heiligste – und für seinen Geschmack faszinierendste – aller Prophezeiungen reden. Sollten sie nicht wachsam sein und auf den Messias warten? Vielleicht haben die Jahre, in denen der Himmel schwieg, die Erwartung seiner Mitbrüder gedämpft. Aber seine Sehnsucht ist dadurch nur umso größer geworden.

•••

Nikodemus hat seinen Vortrag beendet, und Shmuel und sein Schüler Yussif eilen voraus in eine kostbar ausgestattete Kammer, die nächste Station des Ehrengastes. Zwei Sklaven sind damit beschäftigt, das Gold und Leder zu polieren, auch das Messing eines prachtvollen Tisches, hinter dem ein Stuhl steht, der eher wie ein prächtiger Thron aussieht.

„Ich will mich darin spiegeln können“, ermahnt Shmuel den Sklaven. „Der Gelehrte kommt aus dem fernen Judäa und ist Mitglied des großen Sanhedrin in Jerusalem. Er soll nicht an einem staubigen Tisch sitzen.“

Sein Schüler gießt Wein in einen Becher. „Yussif, richte deinen Tallit“, fordert Shmuel ihn auf.

Eilig rückt der junge Mann seinen Gebetsschal gerade und späht hinaus in den Flur. „Er ist gleich da!“

„Bewegt euch!“, fordert Shmuel die Sklaven auf. „Geht! Holt die anderen!“ Während sie davoneilen, streicht er sein Gewand glatt und tritt vor die Tür, um Nikodemus, der von mehreren Schülern und Lehrern begleitet wird, willkommen zu heißen. Shmuel verneigt sich mit strahlendem Gesicht. „Meister! Du hast uns alle tief berührt!“

Nikodemus begrüßt ihn schlicht. „Shmuel.“

Shmuel schmilzt dahin und deutet mit einer weiteren Verbeugung auf die Torakammer. „Erweist du uns die Ehre, Rabbi?“

„Hm, lagert ihr dort vielleicht weiße Sardinen …?“

Betreten wendet sich Shmuel an Yussif. „Äh, also, ich – wir … könnten natürlich welche …“