Die Rückkehr - Jerry B. Jenkins - E-Book

Die Rückkehr E-Book

Jerry B. Jenkins

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Beschreibung

Der Tod Nicolai Carpathias stürzt die Welt in tiefe Verzweiflung. Eine erbarmungslose Jagd nach dem Attentäter beginnt, den man unter den Mitgliedern der Tribulation Force vermutet. Nur um Haaresbreite können diese unterdessen den Häschern der Weltgemeinschaft entkommen. Ist ihr Versteck noch sicher? Hat tatsächlich ein Mitglied der Tribulation Force den Mord begangen? Und wem können sie noch trauen? Die Ereignisse überschlagen sich und die Erde wird zum Schauplatz einer riesigen Schlacht zwischen den Mächten der Finsternis und des Lichts. Plötzlich erleben die Mitglieder der Tribulation Force die Erfüllung einer weiteren Prophezeiung: Die Rückkehr Carpathias! Aber ist der Auferstandene wirklich Nicolai Carpathia?

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Tim LaHaye • Jerry B. Jenkins

Die Rückkehr

Die letzten Tage der Erde

Roman

Die amerikanische Originalausgabe erschien im Verlag

Tyndale House Publishers, Inc., Wheaton, Illinois, USA,

unter dem Titel „The Indwelling“.

© 2000 by Tim LaHaye und Jerry B. Jenkins

© der deutschen Taschenbuchausgabe 2007 by Gerth Medien GmbH, Dillerberg 1, 35614 Asslar

Aus dem Englischen von Eva Weyandt mit Genehmigung

von Tyndale House Publishers, Inc.

Left Behind © ist ein eingetragenes Warenzeichen

von Tyndale House Publishers, Inc.

Die Bibelstellen wurden der Einheitsübersetzung entnommen.

© 1980 Katholische Bibelanstalt, Stuttgart.

Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart

Taschenbuch ISBN 978-3-86591-276-3

eBook ISBN 978-3-96122-104-2

Umschlaggestaltung: Michael Wenserit; Julie Chen

Umschlagfoto: Brian MacDonald

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Unserem Agenten Rick Christian gewidmet,

der den Wert der Idee und das Potenzial einer

Partnerschaft erkannte und

uns miteinander bekannt gemacht hat.

42 Monate nach Beginn der Trübsalszeit

Die Christen

Rayford Steele, Mitte 40, flog als Flugkapitän für die Fluglinie Pan-Continental und verlor bei der Entrückung Frau und Sohn. Nach den dramatischen Ereignissen wurde er Flugkapitän der Weltgemeinschaft und gehörte zu den ersten Mitgliedern der Tribulation Force. Mittlerweile ist er ein international gesuchter Flüchtling; auf der Flucht aus Israel, dem Schauplatz des Attentats auf Carpathia.

Cameron „Buck“ Williams, Anfang 30, ehemaliger Chefreporter des Global Weekly und früherer Herausgeber des Global Community Weekly, gehörte zu den ersten Mitgliedern der Tribulation Force. Mittlerweile ist er Herausgeber einer Internet-Zeitung mit dem Namen „Die Wahrheit“. Augenblicklich ist er ein international gesuchter Flüchtling, der sich gerade in Israel aufhält.

Chloe Steele Williams, Anfang 20, war vor den Ereignissen Studentin an der Stanford-Universität und hat Mutter und Bruder bei der Entrückung verloren. Sie ist die Tochter von Rayford, Ehefrau von Buck und Mutter des 14 Monate alten Kenny Bruce. Darüber hinaus ist sie Leiterin und Initiatorin der „Internationalen Handelsgesellschaft“, einem Untergrundnetzwerk von Christen. Auch sie gehörte zu den ersten Mitgliedern der Tribulation Force und hat auf der Flucht vor der Weltgemeinschaft in dem Versteck der Tribulation Force Unterschlupf gefunden.

Tsion Ben-Judah, Ende 40, ist Rabbi und ehemaliger israelischer Staatsmann. Er sprach im israelischen Fernsehen öffentlich über seinen Glauben an Jesus als den Messias, woraufhin seine Frau und seine beiden Kinder ermordet wurden. Danach floh er in die USA und wurde zum geistlichen Führer der Tribulation Force. Über das Internet kommuniziert er täglich mit mehr als einer Milliarde Menschen. Tsion wohnt ebenfalls im Versteck der Tribulation Force in Mount Prospect.

Mac McCullum, Ende 50, ist der Pilot Carpathias und wohnt im Hauptquartier der Weltgemeinschaft in Neu-Babylon.

David Hassid, Mitte 20, ist hochrangiger Angestellter der Weltgemeinschaft in Neu-Babylon.

Annie Christopher, Anfang 20, ist Offizier der Weltgemeinschaft und Leiterin der Transportabteilung für die Phoenix 216. Sie liebt David Hassid und wohnt in Neu-Babylon.

Lea Rose, Ende 30, ist Oberschwester im Arthur Young Memorial Hospital in Palatine. Sie hält sich im Auftrag der Tribulation Force in Brüssel auf.

Tyrola „T.“ Mark Delanty, Ende 30, ist der Besitzer und Leiter des Flughafens in Palwaukee, Illinois.

Mr und Mrs Lukas „Laslo“ Miklos, Mitte 50, sind die Besitzer einer Lignitmine in Griechenland.

Abdullah Smith, Anfang 30, war früher jordanischer Kampfflieger und ist heute Erster Offizier der Phoenix 216.

Die Feinde

Nicolai Jetty Carpathia, Mitte 30, war während der dramatischen Ereignisse Präsident von Rumänien und wurde dann Generalsekretär der Vereinten Nationen. Carpathia war bis zu seiner Ermordung in Jerusalem selbst ernannter Potentat der Weltgemeinschaft und liegt im Palast der Weltgemeinschaft in Neu-Babylon aufgebahrt.

Leon Fortunato, Anfang 50, ist Carpathias rechte Hand und möglicher Nachfolger. Augenblicklich ist er Supreme Commander der Weltgemeinschaft und wohnt im Hauptquartier der Weltgemeinschaft in Neu-Babylon.

Die Unentschlossenen

Hattie Durham, Anfang 30, ist ehemalige Flugbegleiterin der Pan-Continental. Nach der Entrückung wurde sie Assistentin und Geliebte von Nicolai Carpathia. Nachdem die Beziehung auseinanderging und dieser versuchte, sie zu ermorden, wohnte Hattie eine Zeit lang im Versteck der Tribulation Force, bevor sie von dort floh und von den Truppen der Weltgemeinschaft in Belgien inhaftiert wurde.

Dr. Chaim Rosenzweig, Ende 60, ist israelischer Botaniker und Staatsmann. Darüber hinaus ist er der Entdecker einer Formel, die Israels Wüste zum Blühen brachte, und wurde vom Global Weekly zum „Mann des Jahres“ gekürt. Er wohnt in Jerusalem und hat allem Anschein nach einen Schlaganfall erlitten.

„Das zweite Wehe ist vorüber; siehe, das dritte Wehe kommt schnell.“

Offenbarung 11,14

Prolog: Was bisher geschah …

Als er den Schuss vernahm, hatte sich Buck unter einer Tribüne in Sicherheit gebracht. Zu beiden Seiten drängten Menschen an ihm vorbei und er sah das Strahlen auf einigen Gesichtern. Waren das vielleicht Menschen, die an der Klagemauer zum Glauben gekommen waren und miterlebt hatten, wie Carpathia ihre Helden ermordet hatte?

Als Buck zur Bühne hinübersah, sprangen die Potentaten gerade hinunter. Chaim wirkte wie gelähmt.

Carpathia lag auf der Bühne. Aus Augen, Nase und Mund lief ihm Blut, und Buck hatte den Eindruck, dass er auch oben am Kopf blutete. Das Mikrofon an seinem Rockaufschlag war noch eingeschaltet, und da Buck direkt unter dem Lautsprecherturm lag, hörte er Nicolais heiseres Flüstern: „Aber ich dachte … ich habe alles getan, was du wolltest.“

Fortunato beugte sich über Carpathias Brust, legte den Arm unter seinen Kopf und bettete ihn in seinen Schoß. Jammernd wiegte er seinen Potentaten hin und her.

„Sie dürfen nicht sterben, Exzellenz!“, wimmerte Fortunato. „Wir brauchen Sie. Die Welt braucht Sie! Ich brauche Sie!“

Die Sicherheitskräfte umringten sie mit gezückten Uzis. Buck reichte es. Für einen Tag hatte er genügend traumatische Erlebnisse gehabt. Wie gebannt starrte er auf Carpathias blutverschmierten Hinterkopf.

Die Wunde war tödlich. Und Buck konnte auch sehen, wodurch sie verursacht worden war.

Zwei Stunden später wurde von Seiten der Weltgemeinschaft der Tod Carpathias bestätigt. Immer wieder wurde Fortunatos Kommentar gesendet.

„Wir werden im Geist unseres tapferen Führers, Gründers und moralischen Ankers, Potentat Nicolai Carpathia, weitermachen. Die Todesursache wird bis zur vollständigen Klärung noch vertraulich behandelt. Aber Sie können versichert sein, dass der Schuldige seiner gerechten Strafe nicht entgehen wird.“

Die Bevölkerung wurde darüber aufgeklärt, dass der Leichnam des ermordeten Potentaten im Palast in Neu-Babylon bis zum Begräbnis am Sonntag aufgebahrt werden würde.

„Wir dürfen das Fernsehgerät nicht abstellen, Chloe“, ermahnte Tsion. „Wir müssen davon ausgehen, dass die Auferstehung gefilmt werden wird.“

Doch als der Samstagmorgen in Mount Prospect in den Samstagabend überging, begann sich sogar Tsion zu wundern. In der Bibel war kein Tod durch eine Kugel vorhergesagt. Der Antichrist sollte an einer Kopfwunde sterben und schließlich wieder lebendig werden. Carpathia lag noch immer aufgebahrt in Neu-Babylon.

Als der Sonntag anbrach, betrachtete Tsion mit finsterem Gesicht die Trauernden, die an dem Glassarg im sonnenüberfluteten Hof des Palastes der Weltgemeinschaft vorüberzogen. Er begann zu zweifeln.

Hatte er sich vielleicht geirrt?

Zwei Stunden vor der Beisetzung wurde David Hassid in Leon Fortunatos Büro gerufen. Leon und die Leiter des Geheimdienstes und der Sicherheitskräfte saßen konzentriert vor einem Fernsehbildschirm. In Leons Gesicht stand tiefe Trauer und der Wunsch nach Rache geschrieben. „Sobald Seine Exzellenz im Grab liegt“, sagte er mit belegter Stimme, „wird der Fall abgeschlossen werden. Die Verfolgung seines Mörders kann nur helfen. Sehen Sie sich das an, David. Die verschiedenen Blickwinkel sind versperrt, aber sehen Sie sich die Szene aus der Frontalen an. Sagen Sie mir, ob Sie sehen, was wir sehen.“

David sah genau hin. Oh nein!, dachte er. Das kann nicht wahr sein!

„Nun?“, fragte Leon und blickte ihn an. „Gibt es Zweifel?“

David zögerte, aber das bewirkte nur, dass nun auch die anderen beiden ihn ansahen.

„Diese Kamera lügt nicht“, meinte Leon. „Wir haben unseren Attentäter, nicht wahr?“

Sosehr er sich wünschte, eine andere Erklärung anbieten zu können für das, was offensichtlich war, David würde nur seine Position aufs Spiel setzen, wenn er es versuchte.

Er nickte. „Allerdings.“

Der Montag der Gala-Woche

Lea Rose war stolz darauf, dass sie auch unter Druck noch in der Lage war, klar und logisch zu denken. Ein Jahrzehnt lang war sie Oberschwester in einem großen Krankenhaus gewesen und hatte dort in den vergangenen dreieinhalb Jahren zu den wenigen Christen gehört. Nur durch ihren wachen Verstand war es ihr gelungen, den Friedenstruppen der Weltgemeinschaft zu entkommen, bis sie schließlich gezwungen war, sich der Tribulation Force anzuschließen.

Aber an dem Montag zu Beginn der Gala-Woche, in der die Welt die Ermordung der beiden Zeugen und des Antichristen erleben würde, hatte sie keine Ahnung, was sie tun sollte. Durch ihre Verkleidung und den Decknamen Donna Clendenon glaubte sie, die Verantwortlichen der belgischen Einrichtung für die Rehabilitation von Frauen (BFFR) in die Irre geführt zu haben. Sie hatte sich als Hattie Durhams Tante ausgegeben.

Croix, einer der Wärter, fragte sie mit seinem französischen Akzent: „Und wie kommen Sie darauf, Ihre Nichte könnte hier inhaftiert sein?“

„Sie denken, ich wäre den weiten Weg von Kalifornien hierhergekommen, wenn ich auch nur den geringsten Zweifel gehabt hätte?“, fragte Lea. „Alle wissen, dass Hattie hier einsitzt, und ich kenne auch ihren Decknamen: Mae Willie.“

Der Wärter legte den Kopf zur Seite. „Und Ihre Botschaft kann nur persönlich überbracht werden?“

„Ein Todesfall in der Familie.“

„Das tut mir leid.“

Lea kräuselte die Lippen und zeigte ihre vorstehenden Zähne, die sie bewusst so hergerichtet hatte. Wer’s glaubt, dachte sie.

Croix erhob sich und blätterte einige Seiten auf seinem Klemmbrett durch. „BFFR ist ein Hochsicherheitsgefängnis, in dem es kein allgemeines Besuchsrecht gibt. Miss Durham ist von den anderen Inhaftierten separiert worden. Für einen Besuch bei ihr werde ich eine Genehmigung einholen müssen. Natürlich könnte auch ich ihr die Botschaft überbringen.“

„Ich möchte sie doch nur kurz sprechen“, beharrte Lea.

„Sie können sich sicher vorstellen, wie groß der Personalmangel hier ist.“

Lea antwortete nicht. Millionen waren bei der Entrückung verschwunden. Die Hälfte der Menschen, die auf der Erde zurückgelassen worden waren, war seither verstorben. Überall herrschte Personalmangel. Das reine Überleben nahm im Augenblick alle Kräfte in Anspruch. Croix hatte sie gebeten, in einem Wartezimmer Platz zu nehmen, doch er hatte ihr verschwiegen, dass sie mehr als zwei Stunden lang keine Menschenseele zu Gesicht bekommen würde, weder Personal noch Inhaftierte noch andere Besucher. Der Glaskasten, in dem früher scheinbar ein Geistlicher gesessen hatte, stand leer. Es war niemand da, den Lea hätte fragen können, wie lange es noch dauern würde, und als sie sich erhob, um sich auf die Suche nach jemandem zu machen, musste sie feststellen, dass sie eingeschlossen worden war. Waren sie hinter ihr her? War sie jetzt auch eine Gefangene?

Lea stand kurz davor, an die Tür zu klopfen und um Hilfe zu rufen, als Croix zurückkam. Ohne sich zu entschuldigen und ihren Blick meidend, sagte er: „Meine Vorgesetzten werden über Ihren Antrag nachdenken und sich morgen mit Ihnen in Verbindung setzen.“

Lea zwang ein Lächeln auf ihr Gesicht. Als ob ich euch sagen würde, in welchem Hotel ich abgestiegen bin.

„Ich kann Sie ja anrufen“, schlug Lea vor.

„Wie Sie wollen“, meinte Croix achselzuckend. „Merci.“ Und dann, als sei ihm bewusst geworden, dass er französisch gesprochen hatte, wiederholte er: „Danke.“

Nachdem Lea das Gefängnis verlassen hatte, atmete sie erleichtert auf. Sie fuhr eine Weile ziellos durch die Gegend, bis sie sicher war, dass sie nicht verfolgt wurde. Da Rayford ihr gesagt hatte, sie solle sich bis Freitag nicht bei ihm melden, rief sie Buck an und brachte ihn auf den neuesten Stand.

„Ich weiß nicht, ob ich abhauen oder die Sache durchziehen soll“, sagte sie.

In dieser Nacht empfand Lea in ihrem Hotelzimmer eine Einsamkeit, die beinahe genauso schlimm war wie die, die sie empfunden hatte, als sie nach der Entrückung zurückgeblieben war. Sie dankte Gott für die Tribulation Force und dass sie dort so freundlich aufgenommen worden war. Von allen, außer von Rayford. Sie wurde einfach nicht schlau aus ihm. Er war ein brillanter Kopf mit eindeutigen Führungsqualitäten, und bis zu dem Tag, an dem sie in das Versteck eingezogen war, hatte sie ihn bewundert. Aber sie kamen einfach nicht miteinander aus und auch alle anderen schienen über sein Verhalten frustriert zu sein.

Am Morgen nahm Lea eine Dusche, zog sich an und frühstückte. Sobald sie die Erlaubnis bekam, wollte sie Hattie besuchen. Eigentlich hatte sie gerade von ihrem abhörsicheren Handy aus im Gefängnis anrufen wollen, doch sie blieb vor dem Fernsehgerät hängen. Dort wurde gerade übertragen, wie Carpathia vor den Augen der Welt Moishe und Eli verhöhnte.

Mit angehaltenem Atem verfolgte sie, wie Carpathia die beiden Zeugen mit Schüssen aus seiner Pistole ermordete. Lea erinnerte sich noch an die Zeit, zu der die Fernsehkameras bei einer solchen Gewalttat schnell zur Seite geschwenkt hätten. Doch das war nun nicht mehr der Fall. Nach der Ermordung folgte das Erdbeben, das ein Zehntel von Jerusalem in Trümmer legte.

Der Fernsehsender der Weltgemeinschaft zeigte Szenen des Erdbebens und schwenkte immer wieder zurück zu den schweigenden Zeugen, die von dem höhnisch grinsenden Carpathia verspottet und schließlich erschossen wurden. Diese Bilder wurden ständig in Zeitlupe wiederholt, und obwohl Lea sich abgestoßen fühlte, konnte sie doch den Blick nicht davon losreißen.

Sie hatte gewusst, dass es so kommen würde; sie alle hatten es gewusst, jeder, der Tsion Ben-Judahs Auslegungen las. Aber zu sehen, wie es geschah, schockierte sie und machte sie gleichzeitig traurig. In Leas Augen schwammen Tränen. Sie kannte auch den Ausgang; die beiden würden auferweckt werden und Carpathia würde seine Strafe bekommen. Lea betete für ihre neuen Freunde, von denen sich einige in Jerusalem aufhielten. Aber sie durfte nicht heulend vor dem Fernsehgerät sitzen bleiben, denn es gab einige Dinge, die erledigt werden mussten. Es würde noch sehr viel schlimmer werden, und Lea wusste, dass sie sich daran gewöhnen musste, auch in Stresssituationen zu funktionieren, um sich darauf vorzubereiten und sich davon zu überzeugen, dass sie dem gewachsen war.

Sie griff zu ihrem Handy und rief das BFFR an. Das Telefon im Hochsicherheitsgefängnis für Frauen klingelte und klingelte, und Lea freute sich, dass die Weltregierung genau wie das Volk unter dem Verlust der Hälfte der Bevölkerung litt. Endlich nahm eine Frau den Hörer ab, doch sie kannte keinen Wärter mit Namen Croix.

„Er ist Franzose“, versuchte Lea zu erklären.

„Ach, ich weiß, wen Sie meinen. Bleiben Sie dran.“

Endlich meldete sich eine Männerstimme. „Wen möchten Sie sprechen?“, fragte er. Man spürte, dass er in Eile war.

„Wärter Croix“, erwiderte sie, „etwa eins neunzig –“

„Croix!“, rief der Mann. „Telefon.“

Aber niemand kam ans Telefon. Entnervt legte Lea schließlich auf und machte sich auf den Weg zum Gefängnis. Ihr Handy ließ sie zur Sicherheit im Wagen.

Croix folgte ihr in ein Wartezimmer, das mit einem großen Spiegel ausgestattet war. Lea hielt es für möglich, dass der Spiegel von der anderen Seite ein Fenster war, durch das sie beobachtet wurde. Erneut befiel sie die Furcht, ihre Deckung könnte aufgeflogen sein.

„Ich dachte, Sie wollten anrufen“, sagte der Wärter. Er deutete mit seinem unvermeidlichen Klemmbrett auf einen Stuhl.

„Ich habe es versucht“, erwiderte sie. „Diese Einrichtung wird schlecht geführt.“

„Wir sind personell unterbesetzt.“

„Können wir jetzt endlich zur Sache kommen?“, fragte Lea. „Ich muss mit meiner Nichte sprechen.“

„Nein.“

„Nein?“

Croix starrte sie an. Offensichtlich war er nicht bereit, das Gesagte zu wiederholen.

„Was ist los?“, fragte sie.

„Ich bin nicht befugt –“

„Kommen Sie mir doch nicht damit“, entgegnete Lea ungeduldig. „Wenn ich sie nicht sehen kann, dann geht es eben nicht, das verstehe ich schon, aber ich habe das Recht zu erfahren, ob sie gesund und am Leben ist.“

„Das ist sie.“

„Und warum kann ich sie dann nicht sehen?“

Croix presste die Lippen zusammen. „Sie wurde verlegt, Madam.“

„Seit gestern?“

„Ich bin nicht befugt –“

„Wie lange ist sie schon fort? Wo ist sie?“

Er schüttelte den Kopf. „Ich sage Ihnen, was mir gesagt wurde. Wenn Sie ihr eine Botschaft zukommen lassen wollen –“

„Ich muss es ihr persönlich sagen. Ich möchte mich davon überzeugen, dass es ihr gut geht.“

„Soweit ich weiß, ist sie –“

„Soweit Sie wissen! Haben Sie auch nur eine Ahnung, wie begrenzt Ihr Wissen ist?“

„Dadurch, dass Sie mich beleidigen, werden Sie –“

„Ich wollte Sie nicht beleidigen! Ich bitte nur um die Erlaubnis, meine Nichte sehen zu dürfen und –“

„Das reicht, Officer Croix“, ertönte die Stimme einer Frau von der anderen Seite des Glases. „Sie können gehen.“

Croix verließ wortlos den Raum, ohne sich auch nur noch einmal umzudrehen. Die Frau hatte mit einem fremden Akzent gesprochen. Lea erhob sich und trat vor den Spiegel. „Und was kommt jetzt als Nächstes, Madam? Soll ich auch gehen oder werde ich jetzt etwas über meine Nichte erfahren?“

Stille.

„Bin ich jetzt auch eine Gefangene? Schuldig aufgrund der verwandtschaftlichen Beziehung?“

Lea fühlte sich verletzlich und fragte sich, ob sich überhaupt jemand hinter dem Glas befand. Schließlich marschierte sie zur Tür, war aber nicht überrascht festzustellen, dass sie schon wieder eingeschlossen worden war.

„Na toll“, sagte sie und ging zurück zum Spiegel. „Wie lauten die Zauberworte, die mich hier herausbringen? Nun kommen Sie schon! Ich weiß doch, dass Sie da sind!“

„Sie werden ungehindert gehen können, wenn wir sagen, dass Sie gehen können.“

Dieselbe Frau. Lea stellte sie sich als eine ältere Dame vor, die ganz eindeutig Asiatin war. Sie hob ergeben die Hände und ließ sich auf einen Stuhl sinken. Als sie ein Klicken an der Tür hörte, sah sie auf.

„Sie können gehen“, ertönte wieder die fremde Stimme.

Lea blickte ungläubig zum Spiegel hin. „Tatsächlich?“

„Wenn Sie zögern …“

„Oh, ich gehe schon“, sagte sie und erhob sich. „Könnte ich auf meinem Weg nach draußen wenigstens einen Blick auf sie werfen? Bitte. Ich möchte nur wissen –“

„Sie strapazieren meine Geduld, Mrs Clendenon. Sie haben alle Informationen bekommen, die Sie hier bekommen werden.“

Lea blieb, die Hand an den Türknauf gelegt, stehen. Sie schüttelte den Kopf und hoffte, einen Blick auf die Stimme erhaschen zu können.

„Gehen Sie, Madam!“, warnte diese. „Solange Sie noch können.“

Lea hatte sich nach Kräften bemüht. Sie war nicht bereit, wegen dieser Sache im Gefängnis zu landen. Vielleicht für etwas anderes, für eine andere Aufgabe. Für Dr. Ben-Judah würde sie ihre Freiheit opfern. Aber für Hattie? Hatties Arzt war bei der Behandlung der Krankheit gestorben und sie hatte kaum Dankbarkeit gezeigt.

Entschlossen marschierte Lea durch die leeren Flure. Sie hörte eine Tür hinter sich zuschlagen, und in der Hoffnung, einen Blick auf die Frau werfen zu können, drehte sie sich schnell um. Eine kleine, schlanke, blasse, dunkelhaarige Frau in Uniform eilte in der anderen Richtung davon. Konnte sie es gewesen sein?

Lea lief zum Haupteingang, bog aber im letzten Augenblick zu einer Reihe von Fernsprechern ab. Zumindest sahen sie aus wie Fernsprecher. Sie wollte so tun, als würde sie telefonieren, um zu sehen, ob jemand aus einer Tür stürmte, um ihr zu folgen. Doch alle Telefone waren nur Attrappen, sie waren nicht angeschlossen.

Gerade wollte sie ihren Plan aufgeben, als sie schnelle Schritte vernahm und eine junge Asiatin durch die Eingangstür hasten sah. Die Wagenschlüssel hielt sie griffbereit in der Hand. Lea war davon überzeugt, dass dies dieselbe Frau war, die aus dem mysteriösen Raum gekommen war. Und nun folgte Lea ihr.

Sie zögerte vor den Glastüren und beobachtete, wie die Frau zum Besucherparkplatz lief und sich aufmerksam umsah. Offensichtlich frustriert, drehte sie sich um und ging langsam zum Eingang zurück. Unbekümmert verließ Lea das Gebäude. Sie hoffte, dieses Mal einen Blick auf die Frau werfen zu können. Falls sie sie dazu bringen konnte, mit ihr zu reden, würde sie wissen, ob sie die Frau hinter dem Spiegel gewesen war.

Eine Angestellte der Weltgemeinschaft ist sie auf jeden Fall und sie ist schlimmer dran als ich, dachte Lea. Als die Frau sie entdeckte, schien sie überrascht zu sein. Doch schnell fasste sie sich wieder und gab sich Mühe, sich normal zu verhalten. Als sie aufeinander zugingen, fragte Lea, wo die Toilette sei, doch die Frau zog sich ihre Uniformmütze tiefer in die Stirn und drehte sich, als sie vorbeiging, zur Seite, um zu husten. Sie hörte die Frage nicht oder tat so, als habe sie sie nicht gehört.

Lea verließ den unbewachten Parkplatz und wartete an einem Stoppschild ein paar Meter weiter, von wo aus sie den Eingang des Gefängnisses im Rückspiegel beobachten konnte. Die Frau eilte heraus und sprang in einen viertürigen Wagen. Entschlossen, sie abzuhängen, brauste Lea davon und versuchte, auf Nebenstraßen ihr Hotel wiederzufinden.

Immer wieder wählte sie Rayfords Nummer. Keinesfalls konnte sie bis Freitag warten. Als er sich nicht meldete, beschlich sie die Befürchtung, sein Telefon könnte in die falschen Hände gefallen sein. Darum hinterließ sie eine verschlüsselte Nachricht: „Unser Vogel hat den Käfig verlassen. Was nun?“

Obwohl sie davon überzeugt war, dass sie nicht mehr verfolgt wurde, fuhr sie aufs Land hinaus. Erst bei Einbruch der Dämmerung kehrte sie zum Hotel zurück. Sie hatte sich kaum eine halbe Stunde in ihrem Zimmer aufgehalten, als das Telefon läutete.

„Ja?“, meldete sie sich.

„Sie haben Besuch“, informierte sie der Portier. „Darf ich die Dame hochschicken?“

„Nein! Wer ist es?“

„Eine Freundin, hat sie gesagt.“

„Ich werde herunterkommen“, erklärte Lea.

Sie stopfte ihre Sachen in eine Tasche und schlüpfte hinaus zu ihrem Wagen. Sie versuchte, durch das Glas im Fahrstuhl in die Lobby zu spähen, aber sie konnte nichts erkennen. Als sie den Motor anließ, fuhr ein Wagen hinter sie und blieb stehen. Lea war festgesetzt. Sie verschloss von innen ihren Wagen. Der Fahrer des anderen Fahrzeugs stieg aus.

Nachdem sich Leas Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte sie erkennen, dass es derselbe Wagen war, mit dem die Frau vom Gefängnis losgefahren war. Das Klopfen an die Fensterscheibe ließ sie zusammenfahren. Mit klopfendem Herzen ließ Lea die Scheibe ein Stück herunter.

„Ich muss meine Rolle spielen“, flüsterte die Frau. „Spielen Sie doch bitte mit.“

Mitspielen? „Was wollen Sie?“, fragte Lea.

„Kommen Sie mit.“

„Nicht um alles in der Welt. Wenn Sie nicht wollen, dass Ihr Wagen zu Schrott gefahren wird, geben Sie den Weg frei.“

Die Frau beugte sich vor. „Ausgezeichnet. Und jetzt steigen Sie bitte aus und lassen Sie sich von mir Handschellen anlegen –“

„Sind Sie von Sinnen? Ich habe nicht die Absicht –“

„Vielleicht können Sie meine Stirn in der Dunkelheit nicht erkennen“, sagte die Frau. „Aber vertrauen Sie mir.“

„Warum sollte ich?“

Und dann entdeckte Lea es. Die Frau hatte das Zeichen. Sie war eine Christin.

Die Frau deutete auf die Zentralverriegelung, während sie Handschellen von ihrem Gürtel nahm. Lea entriegelte die Tür. „Wie haben Sie mich gefunden?“, fragte sie.

„Ich habe Ihren Decknamen in mehreren Hotels überprüft. Es hat nicht lange gedauert.“

„Meinen Decknamen?“, fragte Lea. Sie stieg aus und drehte sich so, dass die Frau ihr die Handschellen anlegen konnte.

„Ich bin Ming Toy“, stellte sie sich vor. Sie führte Lea zum Rücksitz ihres Wagens. „Eine Christin kommt den ganzen Weg bis nach Brüssel, um mit Hattie Durham zu sprechen, und reist unter ihrem eigenen Namen? Bestimmt nicht.“

„Ich bin doch ihre Tante“, widersprach Lea. Ming fuhr mit dem Wagen vom Parkplatz.

„Na, das haben Ihnen vielleicht alle anderen abgenommen“, sagte sie. „Aber sie haben nicht gesehen, was ich gesehen habe. Also, wer sind Sie und was tun Sie hier?“

„Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Ihr Zeichen überprüfe, Miss Toy?“

„Mrs. Ich bin Witwe.“

„Ich auch.“

„Nennen Sie mich doch Ming.“

„Ich werde Ihnen sagen, wie Sie mich nennen können, sobald ich Ihr Zeichen überprüft habe.“

„Gleich.“

Ming bog zu einer Polizeistation der Weltgemeinschaft ab. „Ich brauche einen Befragungsraum“, rief sie dem Mann am Schreibtisch zu. Sie hielt Lea am Oberarm fest.

„Commander“, begrüßte sie der Mann nickend. Er schob ihr einen Schlüssel über den Tresen. „Die letzte Tür auf der linken Seite.“

„Das ist privat. Keine Beobachtung, keine Wanzen.“

„Das ist der abhörsichere Raum, Madam.“

Ming verschloss die Tür, richtete die Lampe richtig aus und befreite Lea von den Handschellen. „Jetzt können Sie mein Zeichen überprüfen“, forderte sie Lea auf. Sie setzte sich und legte den Kopf zur Seite.

Lea hielt vorsichtig Mings Hinterkopf fest. Jeder, der das mit sich machen ließ, musste es ehrlich meinen. Sie leckte ihren Daumen an und rieb fest damit über das Zeichen auf Mings Stirn. Schließlich ließ sich Lea auf einen Stuhl fallen, der gegenüber von Ming stand, und ergriff ihre Hände. „Ich kann es gar nicht erwarten, alles über Sie zu erfahren“, sagte sie.

„Das geht mir auch so“, erwiderte Ming. „Zuerst möchte ich Ihnen sagen, wo sich Hattie Durham aufhält. Dann werden wir uns gegenseitig unsere Geschichte erzählen. Danach werde ich Sie in Ihr Hotel zurückbringen, meinen Kameraden erzählen, ich hätte Sie ausgefragt und Sie seien tatsächlich Hatties Tante. Ich werde sie in dem Glauben lassen, Sie hätten mir abgenommen, dass Hattie verlegt wurde.“

„Sie wurde nicht verlegt?“

Ming schüttelte den Kopf.

„Ist sie am Leben?“

„Noch.“

„Gesund?“

„Gesünder als damals, als sie zu uns gebracht wurde. Tatsächlich ist sie in ausgesprochen guter Verfassung. Kräftig genug, um einen Potentaten zu erschießen.“

Lea runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. „Ich kann Ihnen nicht folgen.“

„Sie haben sie gehen lassen.“

„Warum?“

„Sie hat nur davon gesprochen, Carpathia zu töten. Schließlich sagten sie ihr, dass sie keine Bedrohung mehr darstelle, da sie ihr Baby ja verloren habe. Sie könne gehen. Außerdem gaben sie ihr noch eine kleine Entschädigung. Ungefähr 100000 Dollar in bar.“

Lea schüttelte den Kopf. „Sie betrachten sie nicht mehr als Bedrohung? Aber sie will ihn wirklich töten.“

„Das wissen sie“, fuhr Ming fort. „Meiner Meinung nach halten sie sie für dümmer, als sie aussieht.“

„Manchmal ist das auch so“, bestätigte Lea.

„Aber sie ist nicht so dumm, sie geradewegs zur ‚Tribulation Force‘ zu führen. Der Plan war, ihr zu der Gala in Jerusalem zu folgen und sie bei einem Treffen mit einigen von den Anhängern Ben-Judahs zu beobachten.“

„Mir gefällt dieser Titel. Ich bin in erster Linie Christin, aber ich bin auch stolz, eine Anhängerin Ben-Judahs zu sein.“

„Ich auch“, stimmte Ming ihr zu. „Und ich wette, Sie kennen Ben-Judah persönlich.“

„Allerdings.“

„Wow.“

„Aber, Ming, die Weltgemeinschaft täuscht sich in Bezug auf Hattie. Sie ist verrückt genug zu versuchen, Nicolai zu töten, aber sie hat kein Interesse daran, sich mit einem von uns in Verbindung zu setzen.“

„Sie würden überrascht sein.“

„Wieso?“

„Sie ist nicht nach Jerusalem gefahren, wie gehofft wurde. Wir sind ihr bis nach Nordamerika gefolgt. Ich glaube, sie hat die Nase von der Weltgemeinschaft voll und möchte so schnell wie möglich wieder in Sicherheit sein.“

„Das ist ja schlimm!“, rief Lea. „Sie wird sie zum Versteck führen.“

„Vielleicht hat Gott Sie aus diesem Grund hergeschickt“, mutmaßte Ming. „Ich wusste nicht, wie ich Sie schützen sollte. Wen sollte ich denn benachrichtigen? Sie sind die Antwort auf mein Gebet.“

„Aber was kann ich schon tun? Ich werde sie nie einholen können, bevor sie zu uns kommt.“

„Sie können die anderen zumindest warnen, oder?“

Lea nickte. „Mein Telefon liegt in meiner Tasche im Wagen.“

„Und meine Telefone sind alle nicht abhörsicher.“

Auf dem Rückweg erzählten sie sich ihre Geschichte. Ming war 22 Jahre alt und kam aus China. Ihr Mann, mit dem sie erst zwei Monate verheiratet gewesen war, wurde kurz nach der Entrückung getötet, als der Zug, in dem er saß, verunglückte, weil der Bremser und mehrere Kontrolleure verschwunden waren. Kurz nach der Unterzeichnung des Vertrages zwischen den Vereinten Nationen und Israel hatte sie sich in einem Anfall von Patriotismus der Weltgemeinschaft angeschlossen. Ihr war die Aufgabe übertragen worden, die Verwaltung der ehemaligen Philippinen wieder aufzubauen. Dort war sie durch die Briefe ihres Bruders zum Glauben gekommen. Er war 17. „Changs Freunde hatten ihn zum Glauben geführt“, erklärte sie. „Er hat es meinen Eltern noch nicht erzählt. Sie gehören noch der alten Schule an und sind Sympathisanten von Carpathia. Vor allem mein Vater. Ich mache mir große Sorgen um Chang.“

Ming hatte sich um eine Stelle bei den Friedenstruppen der Weltgemeinschaft beworben in der Hoffnung, die Gelegenheit zu bekommen, anderen Mitchristen zu helfen. „Ich weiß nicht, wie lange ich meine Tarnung noch aufrechterhalten kann.“

„Wie kommt es, dass Sie so viele Wärter unter sich haben?“

„Das ist keine so große Sache. Die Dezimierung der Bevölkerung ist dem nicht abträglich gewesen.“

„Ach, kommen Sie! Sie haben doch das Sagen.“

„Na ja, in aller Bescheidenheit, ein hoher Intelligenzquotient schadet auch nicht. Das und der Gebrauch der Ellbogen“, fügte sie hinzu. Sie musste ein Lächeln unterdrücken. „Zwei von dreien lege ich auf die Matte.“

„Das meinen Sie doch nicht ernst.“

„Ich beherrsche asiatische Kampfsportarten.“ Ming bog zum Hotelparkplatz ab. „Rufen Sie sofort Ihre Freunde an“, sagte sie. „Und halten Sie sich vom Gefängnis fern. Ich werde Sie decken.“

„Gott sei Dank für Sie, Ming“, sagte Lea überwältigt. Sie tauschten ihre Telefonnummern aus. „Der Tag wird kommen, wo auch Sie ein Versteck brauchen werden. Bleiben Sie mit uns in Verbindung.“ Sie umarmten sich und Lea holte schnell ihre Tasche und ging zurück auf ihr Zimmer.

Im Haus meldete sich niemand, und Lea fragte sich, ob ihr Versteck vielleicht bereits aufgeflogen war. Was war aus ihren neuen Freunden geworden? Sie wählte Rayfords Nummer, dann wieder die Nummer des Hauses, immer und immer wieder.

Da sie niemanden erreichen konnte, machte sich Lea klar, dass sie der Tribulation Force in Nordamerika vor Ort besser helfen konnte als von einem Hotelzimmer in Brüssel aus. Sie buchte einen Nachtflug und fuhr zum Flughafen. Immer wieder versuchte sie, die anderen im Versteck zu erreichen, doch vergeblich.

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Buck wappnete sich innerlich. Er hatte seinen Ellbogen um einen Pfosten des Gerüsts gelegt. Tausende von Menschen waren in Panik bei dem ohrenbetäubenden Lärm des Schusses zusammengefahren und hatten sich unwillkürlich abgewandt. Der Schuss war kaum 30 Meter von Buck entfernt abgegeben worden und so laut, dass es ihn nicht erstaunt hätte, wenn selbst die Leute in der letzten Reihe dieser riesigen Menschenmenge ihn noch hätten hören können.

Er war kein Experte, hatte aber dennoch den Eindruck, dass der Schuss aus einem Hochleistungsgewehr stammte. Die einzige kleine Waffe, die einen solchen Lärm gemacht hatte, war die Pistole, mit der Carpathia Moishe und Eli drei Tage zuvor erschossen hatte. Um ehrlich zu sein, das Geräusch war diesem hier sehr ähnlich. Vielleicht war der Schuss aus Carpathias Waffe abgegeben worden? Vielleicht hatte ihn jemand aus seinem eigenen Stab als Zielscheibe benutzt?

Das Rednerpult war mit einem lauten Krachen zu Boden gestürzt und der Nachhall des Schusses verklang in der Ferne …

Buck verspürte den Wunsch, mit den anderen Menschen loszurennen, doch er machte sich Sorgen um Chaim. War er getroffen worden? Und wo steckte Jacov? Nur zehn Minuten zuvor hatte Jacov noch unterhalb der linken Bühne auf seinen Arbeitgeber gewartet. Buck hatte ihn dort gesehen. Und keinesfalls würde Chaims Freund und Assistent ihn in einer Krise im Stich lassen.

Die Leute liefen größtenteils an der Bühne vorbei, doch einige kletterten auch unter den Bühnenteilen hindurch. Sie stießen gegen Buck und gegen die Pfosten, sodass die gesamte Konstruktion ins Wanken geriet. Buck hielt sich fest und sah zu den riesigen Lautsprecherboxen hoch, die umzustürzen drohten.

Buck hatte die Wahl: Entweder er mischte sich unter die aufgebrachte Menge und riskierte es, niedergetrampelt zu werden, oder er kletterte ein paar Meter an dem winkligen Querbalken hoch. Er entschied sich für die letzte Möglichkeit und spürte sofort, wie wackelig die Konstruktion war. Sie schwankte stark, während Buck über die Menge hinwegsah. Carpathias Schrei und Fortunatos Klagen hatte er noch gehört, doch plötzlich verstummten die Lautsprecher über ihm.

Buck sah hoch und beobachtete, wie sich eine der Lautsprecherboxen löste.

„Vorsicht!“, schrie er der Menge zu, aber niemand hörte oder beachtete ihn. Er sah noch einmal hoch, um sicherzugehen, dass er nicht in Gefahr war. Die Schnur, mit der die Box gesichert war, zerriss wie ein dünner Faden. Entsetzt musste Buck mit ansehen, wie eine Frau unter dem Lautsprecher begraben wurde. Mehrere andere gerieten ins Taumeln. Ein Mann versuchte, das Opfer unter der Box hervorzuziehen, aber die Menge hinter ihm blieb nicht stehen. Die Massenhysterie veranlasste die Menschen, sich gegenseitig ohne Rücksicht niederzutrampeln, um aus der Gefahrenzone herauszukommen.

Auch Buck konnte nicht helfen. Die gesamte Bühnenkonstruktion drehte sich. Er klammerte sich krampfhaft fest und wagte es nicht, sich in den Strom schreiender Menschen fallen zu lassen. Endlich entdeckte er Jacov, der gerade versuchte, die Seitentreppe zum Podium hinaufzusteigen, wo Carpathias Sicherheitskräfte mit gezückten Gewehren standen.

Ein Hubschrauber wollte in der Nähe der Bühne landen, doch er musste warten, bis der Bereich geräumt war. Chaim saß reglos in seinem Stuhl, weit weg von Carpathia und Fortunato. Er schien steif zu sein, sein Kopf war zur Seite gefallen, so als könnte er sich nicht bewegen. Wenn er nicht erschossen worden war, hatte er vielleicht einen weiteren Schlaganfall erlitten oder Schlimmeres, einen Herzinfarkt vielleicht. Falls Jacov zu ihm gelangen konnte, würde er Chaim irgendwo in Sicherheit bringen.

Buck versuchte, Jacov im Auge zu behalten, während Fortunato den Hubschraubern bedeutete, zu landen und Carpathia wegzubringen. Endlich gelang es Jacov, sich aus der Masse zu befreien, und er rannte die Treppe hinauf, wurde jedoch von dem Kolben eines Gewehrs niedergeschlagen und in die Menge zurückgeschleudert.

Der Aufschlag war so hart, dass Jacov sicherlich das Bewusstsein verloren hatte und sich folglich auch nicht davor schützen konnte, überrannt zu werden. Buck sprang von dem Pfosten in die Menge und kämpfte sich zu Jacov durch. Er ging um die heruntergefallene Lautsprecherbox herum und spürte das klebrige Blut unter seinen Schuhen.

Als Buck sich der Stelle näherte, an der Jacov aufgeschlagen sein musste, sah er noch einmal zur Bühne hoch. Chaims Rollstuhl bewegte sich! Mit voller Geschwindigkeit rollte er zum hinteren Teil der Bühne. War Chaim an den Joystick gekommen? War der Rollstuhl außer Kontrolle geraten? Wenn er nicht anhielt oder umdrehte, würde er vier Meter tief auf das Pflaster stürzen und damit in den sicheren Tod. Chaims Kopf hing noch immer zur Seite, der Körper war steif.

Buck erreichte Jacov, der ausgestreckt auf dem Boden lag. Sein Kopf war seltsam zur Seite gedreht, die Augen weit aufgerissen, die Glieder schlaff. Buck konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken, als er die noch immer in Panik vorbeihastenden Menschen zur Seite schob und Daumen und Zeigefinger an Jacovs Hals legte. Kein Pulsschlag.

Buck wollte den Leichnam aus dem Weg zerren, aber er befürchtete, trotz der vielen Narben in seinem Gesicht erkannt zu werden. Für Jacov konnte er nichts mehr tun. Aber was war mit Chaim?

Buck rannte links um die Bühne herum und kam an der hinteren Ecke schlitternd zum Stehen. Da lag Chaims Rollstuhl auf dem Boden. Die schweren Batterien hatten sich aus ihrem Gehäuse gelöst und lagen sechs Meter von dem Stuhl entfernt. Ein Rad war verbogen, beinahe durchgebrochen, das Sitzpolster fehlte und eine Fußstütze war abgebrochen. Würde Buck einen weiteren Freund tot vorfinden?

Er suchte die Stelle ab, an der der Rollstuhl lag, und sah auch unter der Bühne nach. Aber außer den Holzsplittern vom Rednerpult fand er nichts. Wie konnte Chaim einen solchen Sturz überlebt haben? Einige der Weltherrscher waren über den hinteren Teil der Bühne entflohen. Sie hatten sich an den Rand gehängt und dann abspringen müssen, um sich keine ernsthaften Verletzungen zuzuziehen. Und trotzdem hatten sich bestimmt einige den Knöchel gebrochen oder eine Sehne gezerrt. Aber ein Schlaganfallpatient, der mit seinem Rollstuhl vier Meter tief auf Beton aufschlug? Buck befürchtete, dass Chaim den Sturz nicht überlebt hatte. Aber wer hätte ihn fortbringen können?

Ein Hubschrauber landete auf der anderen Seite der Plattform und Sanitäter eilten auf die Bühne. Die Sicherheitskräfte schwärmten aus und stiegen die Stufen hinab, um das Stadion zu räumen.

Vier Notärzte kümmerten sich um Carpathia und Fortunato, während die anderen sich der anderen Opfer der Massenhysterie annahmen. Jacov wurde in einen Leichensack gelegt. Buck weinte beinahe, weil er ihn so hatte liegen lassen müssen, doch Jacov war nun an einem anderen Ort.

Buck schloss sich der Menge an, die sich nun vom Stadion fortbewegte.

Jacov war tot. Der Wunde an Carpathias Hinterkopf nach zu urteilen, war auch Nicolai tot oder würde es bald sein. Und er musste annehmen, dass auch Chaim diesen Sturz nicht überlebt hatte.

Buck sehnte sich nach dem Ende all dieser Ereignisse und der Wiederkunft Christi. Aber das würde erst in dreieinhalb Jahren geschehen.

Rayford kam sich vor wie ein Narr, als er mit der Menge davonrannte, den Saum seines Rockes in der Hand, damit er nicht stolperte. Er hatte die Pistole mitsamt der Schachtel fallen gelassen und wollte sich mit den Armen den Weg frei räumen, damit er schneller vorankam. Aber sein langer Rock behinderte ihn. Ein Adrenalinstoß trieb ihn voran. Wie gern hätte Rayford den Umhang und den Turban abgelegt, aber keinesfalls durfte er jetzt als Westler zu erkennen sein.

Hatte er Carpathia ermordet? Er hatte es versucht, es beabsichtigt, aber er hatte den Abzug nicht drücken können. Und dann war er angestoßen worden und die Pistole war losgegangen, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass er getroffen hatte. Hatte die Kugel tatsächlich das Rednerpult durchschlagen und Carpathia durchbohrt? Konnte sie durch ihn hindurchgegangen sein und noch die Dekoration im Hintergrund durchschlagen haben? Das schien ihm unmöglich zu sein.

Falls er den Potentaten ermordet hatte, dann brachte ihm dies bestimmt keine Genugtuung, keine Erleichterung und auch nicht das Gefühl, eine große Tat vollbracht zu haben. Während er weitereilte und die Schreie und das Stöhnen von Carpathias Anhängern um sich herum hörte, hatte Rayford das Gefühl, vor einem Gefängnis davonzulaufen, das er sich selbst geschaffen hatte.

Als die Menge sich zerstreute, blieb er stehen und beugte sich, die Hände an die Hüften gelegt, vor, um nach Luft zu schnappen. Ein vorübereilendes Ehepaar sagte: „Ist das nicht schrecklich? Sie glauben, dass er tot ist!“

„Schrecklich“, keuchte Rayford, aber er sah sie nicht an.

Da er annahm, dass die Fernsehkameras alles aufgezeichnet hatten, vor allem ihn und die erhobene Pistole, würde es nicht lange dauern, bis nach ihm gefahndet wurde. Sobald er die überfüllten Straßen hinter sich gelassen hatte, zog er sein Gewand aus und steckte es in eine Mülltonne. Er rannte zu seinem Wagen und konnte es gar nicht erwarten, nach Tel Aviv zu kommen und Israel zu verlassen, bevor es unmöglich sein würde.

Mac stand ganz hinten im Stadion, so weit von dem Schützen entfernt, dass er den Schuss erst hörte, als sich die riesige Menge in Bewegung setzte. Während die Menschen neben ihm zu schreien begannen und wissen wollten, was los war, hielt er den Blick fest auf die Bühne gerichtet. Erleichterung machte sich in ihm breit. Er würde sich und Abdullah also nicht opfern müssen, um sicherzugehen, dass Carpathia auch wirklich den Tod fand. Auf den riesigen Übertragungswänden konnte er sehen, dass Nicolai auf dem Boden lag, und der Unruhe auf der Bühne entnahm er, dass der Potentat die tödliche Kopfwunde erlitten hatte, von der die Christen annahmen, dass sie seinen Tod herbeiführen würde.

Mac wusste genau, was von ihm erwartet wurde. Er holte sein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer des Towers in Tel Aviv. „Haben Sie einen Piloten, der die 216 nach Jerusalem bringen könnte?“

„Ich bin bereits auf der Suche, Sir. Das ist ja eine schreckliche Tragödie.“

„Ja.“

Mac wählte die Nummer von Abdullah. Dem Lärm im Hintergrund konnte er entnehmen, dass sein Erster Offizier sich nicht auf der Gala befand. „Haben Sie’s gehört, Ab?“

„Ja. Soll ich die Phoenix holen?“

„Ist nicht nötig. Sie versuchen, sie herzubringen. Ich habe gesehen, wie Sie das Hotel verlassen haben. Wo stecken Sie?“

„Bei Doktor Pita. Vermutlich mache ich mich verdächtig, weil ich in aller Seelenruhe meine Mahlzeit beende, während der große Boss stirbt und alle anderen auf der Suche nach einem Fernsehgerät auf die Straßen gestürzt sind.“

„Stecken Sie den Rest Ihres Essens ein, und wenn Sie nichts mehr von mir hören, treffen wir uns in einer Stunde auf dem Flughafen in Jerusalem.“

Mac kämpfte sich nach vorne durch, während alle anderen in panischer Hast zu den Ausgängen des Stadions drängten. Wenn notwendig, zückte er seinen Ausweis, und als er die Bühne erreicht hatte, war offensichtlich, dass Carpathia in den letzten Zügen lag. Seine blutenden Handgelenke lagen an seinem Kinn, Blut tropfte auch aus Ohren und Mund und seine Beine zitterten heftig.

„Oh, er ist tot! Er ist tot!“, jammerte Leon. „Kann denn niemand etwas tun?“

Die vier Notärzte knieten an Carpathias Seite. Ihre tragbaren Monitore piepten. Sie wischten seinen Mund aus, um ihm Sauerstoff zu geben, überprüften seinen Blutdruck und versuchten, die Blutung an seinem Kopf zum Stillstand zu bringen. Carpathia lag in einer Blutlache, die so groß war, dass man sich kaum vorstellen konnte, noch mehr Blut könne in einem Körper fließen.

Mac warf einen Blick auf den auf dem Boden liegenden Körper. Carpathias normalerweise gebräunten Hände und sein Gesicht waren bereits leichenblass. Eine solche Verletzung konnte niemand überleben, und Mac fragte sich, ob die Körperbewegungen vielleicht nur posthume Körperreflexe waren.

„Ganz in der Nähe befindet sich ein Krankenhaus, Commander“, sagte einer der Notärzte. Dieser Vorschlag brachte Fortunato in Rage. Er hatte gerade Blickkontakt mit Mac aufgenommen und schien etwas sagen zu wollen, als er sich an den Arzt wandte.

„Sind Sie verrückt? Diese – diese Leute sind nicht qualifiziert! Wir müssen ihn nach Neu-Babylon bringen.“

Er wandte sich an Mac. „Ist die 216 bereit?“

„Auf dem Weg von Tel Aviv hierher. Wir müssten in einer Stunde startklar sein.“

„Eine Stunde?! Sollten wir ihn nicht lieber mit dem Hubschrauber nach Tel Aviv bringen?“

„Zum Flughafen nach Jerusalem geht es schneller“, widersprach Mac.

„In einem Hubschrauber können wir ihn nicht stabilisieren, Sir“, gab der Notarzt zu bedenken. „Es ist einfach nicht genug Platz!“

„Wir haben keine Wahl!“, entschied Fortunato. „Ein Rettungswagen ist zu langsam.“

„Aber ein Rettungswagen verfügt über die notwendige Ausrüstung, die –“

„Bringen Sie ihn in den Hubschrauber!“, bestimmte Fortunato.

Der Notarzt wandte sich ungehalten ab. Seine Kollegin sah zu ihm hoch. Carpathia lag ganz reglos da. „Keine Funktionen mehr“, erklärte sie. „Er ist tot.“

„Nein!“, schrie Leon. Er stieß die Ärztin zur Seite und kniete in Carpathias Blut nieder. Er beugte sich über ihn, barg sein Gesicht an der leblosen Brust und schluchzte laut.

Sicherheitschef Walter Moon entließ die Notärzte mit einem Kopfnicken. Als sie ihre Ausrüstung zusammenpackten und sich entfernten, zog er Leon sanft von Carpathias Leichnam fort. „Wir wollen den Leichnam nicht zudecken“, schlug er vor. „Wir bringen ihn jetzt in den Hubschrauber. Sagen Sie nichts über seinen Zustand, bis wir wieder zu Hause sind.“

„Wer hat das getan, Walter?“, jammerte Fortunato. „Haben wir ihn schon gefasst?“

Moon zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf.

Buck rannte den ganzen Weg zu seinem Hotel. Erneut wählte er Chaims Nummer, wie er es schon unterwegs immer wieder getan hatte. Noch immer besetzt. Die Leute in Chaims Haus, Stefan, der Diener, Jacovs Frau Hannelore und Hannelores Mutter, hatten sich bestimmt die Übertragung im Fernsehen angesehen und telefonierten nun miteinander, um herauszubekommen, ob einer von den anderen Informationen über das Wohlergehen ihrer Lieben hatte.

Endlich nahm Hannelore den Hörer ab. „Jacov!“, rief sie.

„Nein, Hannelore, hier spricht Greg North.“

„Buck!“, jammerte sie. „Was ist passiert? Wo –“

„Hannelore!“, warnte Buck. „Ihr Telefon ist nicht abhörsicher!“

„Das ist mir jetzt egal, Buck! Wenn wir sterben, dann sterben wir halt! Wo ist Jacov? Was ist mit Chaim geschehen?“

„Wir müssen uns irgendwo treffen, Hannelore. Falls Chaim nach Hause kommt –“

„Chaim geht es gut?“

„Ich weiß es nicht. Ich habe ihn nicht mehr gesehen nach –“

„Haben Sie Jacov gesehen?“

„Wir sollten uns treffen, Hannelore. Rufen Sie mich von einem anderen Telefon aus an und –“

„Buck, sagen Sie es mir! Haben Sie ihn gesehen? Ist er noch am Leben?“

„Hannelore –“

„Buck, ist er tot?“

„Es tut mir leid. Ja.“

Sie begann zu jammern und im Hintergrund hörte Buck einen Schrei. Hannelores Mutter? Hatte sie aus dem Gespräch geschlossen, was passiert war?

„Buck, sie sind hier!“

„Was? Wer?“

Er hörte das Schlagen einer Tür, einen Schrei, dann einen weiteren Schrei.

„Die Leute von der Weltgemeinschaft!“, flüsterte sie eindringlich. Dann war die Leitung tot.

An Bord der Phoenix 216 wurde Nicolai Carpathia von seinem persönlichen Arzt untersucht und für tot erklärt.

„Wo haben Sie gesteckt?“, fragte Leon vorwurfsvoll. „Sie hätten vielleicht etwas tun können.“

„Ich war genau da, wo ich sein sollte, Commander“, rechtfertigte sich der Doktor, „in dem Wagen 100 Meter hinter der Bühne. Die Sicherheitskräfte wollten mich nicht herauslassen, weil sie weitere Schießereien fürchteten.“

Während die 216 zur Startbahn rollte, kam Leon ins Cockpit und sagte zu Abdullah: „Stellen Sie eine Verbindung zu Direktor Hassid im Palast her. Auf der abhörsicheren Leitung.“

Abdullah nickte und warf Mac einen Blick zu, nachdem Fortunato das Cockpit verlassen hatte. Der Erste Offizier stellte die Verbindung her und informierte Leon über die Gegensprechanlage. Schnell legte er den Hebel um und gestattete Mac mitzuhören, ohne dass im Cockpit etwas davon zu hören war.

„Sie haben die schrecklichen Nachrichten bereits gehört, David?“, fragte Leon.

„Jawohl, Sir“, erwiderte David. „Wie geht es dem Potentaten?“

„Er ist tot, David …“

„Oh, nein!“

„… aber das soll auf Anweisung von Sicherheitschef Moon bis auf Weiteres noch streng geheim gehalten werden.“

„Ich verstehe.“

„Oh David, was sollen wir nur machen?“

„Wir alle blicken auf Sie, Sir.“

„Vielen Dank für so freundliche Worte in einer solchen Zeit, aber ich brauche noch etwas anderes von Ihnen.“

„Jawohl, Sir.“

„Schalten Sie die Satelliten ab, damit diejenigen, die dies getan haben, nicht mehr per Telefon miteinander sprechen können. Ist das möglich?“

„Ja“, erwiderte er langsam. „Das ist natürlich möglich. Ich hoffe, Sie sind sich über die Auswirkungen im Klaren …“

Mac flüsterte Abdullah zu: „Rufen Sie Buck, Rayford und die anderen im Versteck an. Leon wird jegliche Kommunikation unterbinden lassen. Falls sie miteinander sprechen müssen, dann sollten sie das jetzt tun.“

„Erklären Sie sie mir“, forderte Leon.

„Wir hängen alle am selben System“, erklärte David. „Darum sind wir auch nicht in der Lage gewesen, die Übertragungen der Anhänger Ben-Judahs ins Internet zu blockieren.“

„Das heißt also, wenn sie nicht miteinander kommunizieren können, dann können wir es auch nicht?“

„Genau.“

„Tun Sie es trotzdem. Die Leitungen über Land in Neu-Babylon bleiben doch in Funktion, oder?“

„Ja, und die Abschaltung betrifft auch nicht die Fernsehübertragung, aber alle Ihre Ferngespräche laufen über Satelliten.“

„Also werden wir nur noch innerhalb Neu-Babylons miteinander kommunizieren können?“

„Richtig.“

„Das wird ausreichen. Ich sage Ihnen Bescheid, wenn Sie alles wieder in Ordnung bringen können.“

Zwei Minuten später rief Leon David erneut an. „Wie lange wird das dauern?“, fragte er. „Eigentlich dürfte ich Sie gar nicht erreichen.“

„Drei Minuten“, beruhigte ihn David.

„Ich werde mich in vier Minuten noch einmal melden.“

„Sie werden mich nicht erreichen, Sir.“

„Das hoffe ich!“

Doch vier Minuten später sprach Leon gerade mit dem Doktor. „Ich will eine Autopsie“, sagte er, „aber über die Todesursache darf nichts durchsickern.“ Über die Abhöranlage hörte Mac mit, was in der Kabine gesprochen wurde. „Und ich möchte, dass dieser Mann von den fähigsten Leuten für die Aufbahrung hergerichtet wird. Verstanden?“

„Natürlich, Commander. Wie Sie wünschen.“

„Keinesfalls will ich diesem Metzger im Palast die Aufgabe übertragen. Wen schlagen Sie also vor?“

„Jemanden, der diesen Auftrag gebrauchen könnte.“

„Wie abscheulich! Dies wäre ein Dienst für die Weltgemeinschaft!“

„Aber sicherlich wollen Sie die Arbeit doch entlohnen, oder?“

„Natürlich, aber nicht, wenn es dabei nur ums Geld geht …“

„So ist es nicht, Commander. Ich weiß zufällig, dass Dr. Eikenberrys Bestattungsinstitut personell sehr unterbesetzt ist. Sie hat mehr als die Hälfte ihrer Angestellten verloren und muss ihr Geschäft neu organisieren.“

„Und sie kommt aus Neu-Babylon?“

„Aus Bagdad.“

„Ich möchte nicht, dass Nicolai nach Bagdad gebracht wird. Kann sie in den Palast kommen?“

„Sie wird sicher gern …“

„Gern?“

„Bereitwillig, Sir.“

„Ich hoffe, sie kann Wunder vollbringen.“

„Zum Glück wurde sein Gesicht nicht in Mitleidenschaft gezogen.“

„Trotzdem“, meinte Leon mit belegter Stimme, „wie soll man diese … diese schreckliche Wunde verbergen?“

„Ich bin sicher, dass das möglich ist.“

„Er muss vollkommen aussehen, würdevoll. Die ganze Welt wird um ihn trauern.“

„Ich werde sie sofort anrufen.“

„Ja, bitte versuchen Sie es. Ich möchte gern wissen, ob Sie es schaffen durchzukommen.“

Aber es gelang ihm nicht. Die weltweite Telefonkommunikation war unterbrochen. Und auch Abdullah hatte niemanden erreichen können.

Mac wollte gerade die Abhöranlage abschalten, als Leon aufseufzte. „Doktor?“, fragte er. „Kann Ihre Leichenbestatterin, äh –“

„Dr. Eikenberry.“

„Richtig. Kann sie einen Abdruck vom Körper des Potentaten anfertigen?“

„Einen Abdruck?“

„Sie wissen schon, eine Art Plastik oder so etwas, die seine genauen Körpermaße und Gesichtszüge wiedergibt?“

Der Arzt zögerte. „Nun“, meinte er schließlich, „Totenmasken sind nichts Neues. Ein ganzer Leichnam wäre ein enormes Unterfangen, verzeihen Sie den Ausdruck.“

„Aber es ist zu schaffen?“

Eine weitere Pause. „Ich denke, der Leichnam müsste eingetaucht werden. In der Bestattungsabteilung des Palasts gibt es einen Behälter, der groß genug ist.“

„Dann ist das also möglich?“

„Alles ist möglich, Exzellenz. Tut mir leid, ich meine natürlich Commander.“

Fortunato räusperte sich. „Ja, natürlich, Doktor. Nennen Sie mich nicht ‚Exzellenz‘. Zumindest noch nicht. Und bereiten Sie alles für einen Abdruck des Körpers des Potentaten vor.“

2

David stand neben Annies Schreibtisch im Hangar und hielt ihre Hände.

„Ich dachte, du würdest zittern“, erwiderte er. „Du hast nicht so große Angst wie ich?“

„Mindestens“, entgegnete sie. „Was ist los?“

Er seufzte. „Ich habe gerade einen Anruf von einer Leichenbestatterin in Bagdad bekommen. Sie sagt, man habe ihr aufgetragen, sich mit mir in Verbindung zu setzen, weil sie größere Mengen einer Gipslösung brauche. Diese soll so schnell wie möglich in den Palast geliefert werden.“

„Wozu?“

„Ich kann nur raten. Mit diesem Zeug werden Abdrücke von Gesichtern, Körperteilen, Reifenspuren und so weiter gemacht. Aber sie will so viel, dass eine ganze Wanne in der Größe eines Whirlpools damit gefüllt werden kann.“

„Sie will einen Abdruck von Carpathias gesamtem Körper machen?“

Er zuckte die Achseln. „Das nehme ich an.“

„Wozu denn nur?“

„Sie schien es selbst nicht so genau zu wissen. Immer wieder fragte sie, wie viel Wasser auf wie viel von der Lösung käme und ob dies den Stahlbehälter füllen würde. Darüber hinaus wollte sie auch wissen, wie lange es meiner Meinung nach dauern würde, bis diese Masse getrocknet sei, und wie lange sie vor dem Trocknen biegsam bliebe und solche Dinge.“

Annie legte ihre Arme um Davids Taille und schmiegte sich an ihn. „Das hat ihr jemand aufgetragen. Vielleicht wollen sie eine Kopie der Leiche anfertigen, damit er besser aussieht, wenn er aufgebahrt liegt?“

David dachte über diese Vermutung nach. „Ich frage mich, ob sie von der Prophezeiung in Bezug auf seine Auferstehung wissen und den richtigen Leichnam irgendwo in greifbarer Nähe behalten wollen, für den Fall.“

„Aber sie glauben doch nicht an Prophezeiungen.“

„Wie könnte jemand in einer Zeit wie dieser seine Augen davor verschließen?“

Sie sah kopfschüttelnd zu ihm auf. „Was wird nur hier passieren, wenn, du weißt schon …“

„Wenn es passiert?“

„Ja.“

„Das wird nicht gerade angenehm werden. Ich kann es kaum erwarten zu hören, was Dr. Ben-Judah über Du-weißt-schon-wen zu sagen hat, wenn dieser nicht mehr er selbst ist.“

„Glaubst du, dann wäre noch irgendetwas von dem Menschen Carpathia übrig?“

David legte den Kopf zur Seite. „Sein Körper, natürlich. Vielleicht wird er auch genauso klingen und dieselben Verhaltensweisen an den Tag legen, aber er wird vom Satan besessen sein. Als ich befördert wurde, bin ich doch in das Quartier gezogen, das der Direktor bewohnt hat, der nach Österreich versetzt worden ist, erinnerst du dich noch?“

„Ja.“

„Es ist dasselbe Zimmer. Dieselben Wände, dasselbe Bett, dasselbe Waschbecken, alles. Es sieht genauso aus, aber es ist nicht dasselbe. Ich bin der neue Bewohner.“

Sie drückte ihn fester an sich. „Ich möchte den neuen Bewohner des Potentaten gar nicht kennenlernen.“

„Nun, er wird auf jeden Fall nicht mehr Mr Freundlich sein.“

„Das ist nicht witzig“, ermahnte sie ihn.

„Sie werden jeden Augenblick hier sein, Schatz.“

„Ich weiß. Meine Ohren sind auf die 216 getrimmt. Ich weiß, wie lange es dauert, die Hangartüren zu öffnen und den Gabelstapler und die Winde vorzubereiten. Ich hoffe, die Sicherheitskräfte halten Abstand. Hast du sie dort draußen gesehen? Hast du die Anweisungen gehört?“

„Allerdings! Man könnte meinen, der Leichnam des Königs der Welt würde entladen.“

Sie schnaubte. „Um ehrlich zu sein, ich würde den Sarg gern fallen lassen und mit dem Gabelstapler drüberfahren. Dann wollen wir mal sehen, wie er dann wieder lebendig wird.“

David zog sie zur Tür. „Und wenn er wieder zum Leben erwacht, während du den Sarg transportierst?“

Sie blieb stehen und schloss die Augen. „Als ob ich nicht auch so schon außer mir vor Angst wäre. Na ja, in diesem Fall wirst du mich im Himmel wiedersehen.“ Ein Brummen drang durch das Bürofenster. „Du solltest jetzt besser gehen. Sie werden in drei Minuten da sein.“

Rayford konnte kaum glauben, dass er am Flughafen in Tel Aviv so viel Glück hatte. Er eilte an den überfüllten Schaltern vorbei und nahm einen Seitenausgang zu den Hangars für die Kleinflugzeuge. Die Gulfstream stand in Hangar drei.

Ein bewaffneter Wachposten, der gleichzeitig die Koordination übernommen hatte, strich Marv Berry von seiner Liste und sagte: „Warten Sie einen Augenblick, ich muss Sie noch etwas fragen. Ach, ja, Sie haben Ihren Flugplan mit dem Tower abgestimmt?“

„Darauf können Sie wetten“, erwiderte Rayford, „aber die da oben waren gar nicht zufrieden damit, wie langsam die kleineren Flugzeuge abgefertigt werden, darum erspare ich Ihnen Ärger, wenn ich so schnell wie möglich starte.“

„Das würde ich sehr zu schätzen wissen“, erwiderte der Wachposten, der sich ganz eindeutig mit der Waffe in der Hand sehr viel wohler fühlte als in seiner Rolle als Kontrolleur. „Sie rechnen damit, dass viele große Maschinen noch heute Abend starten, und wollen die kleineren aus dem Weg haben.“

„Verständlich“, erwiderte Rayford. „Ich werde mein Bestes tun.“

„Ich wünschte, ich wäre heute Abend in Jerusalem gewesen“, sagte der Wachposten, während Rayford die Gulfstream überprüfte.

„Ach ja?“

„Ich hätte jemanden getötet, egal, ob er schuldig ist oder nicht.“

„Tatsächlich?“

„Peng, mitten ins Herz. Jemand wird dafür bezahlen. Wer hat denn ein Interesse daran, unsere einzige Hoffnung zu ermorden?“

„Keine Ahnung.“

„Sie sind Amerikaner, oder, Mr Berry?“

„Das haben Sie gehört?“

„Sicher, ich bin auch Amerikaner.“

„Was Sie nicht sagen.“

„Aus Colorado“, berichtete der junge Mann stolz. „Fort Collins. Und Sie?“

„Was machen Sie hier?“

„Ich wollte bei der Gala dabei sein. Näher bin ich nicht herangekommen. Ich hatte gehofft, als Leibwächter für den Potentaten eingesetzt zu werden, aber ich schätze, das ist eher eine politische Angelegenheit.“

„Wie alles andere auch“, meinte Rayford. Er öffnete die Tür des Flugzeugs und ließ die Treppe herunter.

„Brauchen Sie Hilfe, Mr Berry?“

„Nein, danke, es geht schon.“

„Woher, sagten Sie, kommen Sie?“

Ich habe gar nichts gesagt, dachte Rayford. „Kalamazoo“, erwiderte er, als er die Treppe hochstieg und seine Tasche ins Flugzeug warf.

„Und wo ist das? Im Mittelwesten?“