Die Entweihung - Jerry B. Jenkins - E-Book

Die Entweihung E-Book

Jerry B. Jenkins

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Beschreibung

Nicolai Carpathia zeigt sein wahres Gesicht. Er gibt nicht länger vor, ein pazifistischer Weltregent zu sein, sondern beauftragt eine Behörde mit der Sicherung der Loyalität aller Menschen, die nicht bereit sind, sein Zeichen unverzüglich anzunehmen. Schließlich tut er das Unaussprechliche: Er entweiht den Jerusalemer Tempel, indem er dort Blut vergießt. Die jüdischen Christen fliehen nach Petra, um dort vor Carpathia in Sicherheit zu sein. Doch der Antichrist spielt jetzt alle seine Karten aus...

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Tim LaHaye • Jerry B. Jenkins

Die Entweihung

Die letzten Tage der Erde

Roman

Die amerikanische Originalausgabe erschien im Verlag

Tyndale House Publishers, Inc., Wheaton, Illinois, USA,

unter dem Titel „Desecration“.

© 2001 by Tim LaHaye und Jerry B. Jenkins

© der deutschen Taschenbuchausgabe 2007 by Gerth Medien GmbH, Dillerberg 1, 35614 Asslar

Aus dem Englischen von Eva Weyandt mit Genehmigung

von Tyndale House Publishers, Inc.

Left Behind © ist ein eingetragenes Warenzeichen

von Tyndale House Publishers, Inc.

Die Bibelstellen wurden der Einheitsübersetzung entnommen.

© 1980 Katholische Bibelanstalt, Stuttgart.

Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart

Taschenbuch ISBN 978-3-86591-278-7

eBook ISBN 978-3-96122-100-4

Umschlaggestaltung: Michael Wenserit; Julie Chen

Umschlagfoto: Brian MacDonald

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Für Murf, Timmy Mac und Mary.

Mit Dank.

42 Monate nach Beginn der Trübsalszeit – drei Tage nach Beginn der Großen Trübsalszeit

Die Christen

Rayford Steele, Mitte 40, flog als Flugkapitän für die Fluglinie Pan-Continental und verlor bei der Entrückung Frau und Sohn. Nach den dramatischen Ereignissen wurde er Flugkapitän der Weltgemeinschaft und gehörte zu den ersten Mitgliedern der Tribulation Force. Mittlerweile ist er ein international gesuchter Flüchtling. Er wird verdächtigt, das Attentat auf Nicolai Carpathia begangen zu haben, und hält sich im neuen Versteck der Tribulation Force, im Strong-Gebäude in Chicago, verborgen.

Cameron „Buck“ Williams, Anfang 30, ehemaliger Chefreporter des Global Weekly und früherer Herausgeber des Global Community Weekly, gehörte zu den ersten Mitgliedern der Tribulation Force. Mittlerweile ist er Herausgeber einer Internet-Zeitung mit dem Namen „Die Wahrheit“. Augenblicklich ist er ein international gesuchter Flüchtling und hält sich zusammen mit den anderen Mitgliedern der Tribulation Force im Strong-Gebäude in Chicago auf.

Chloe Steele Williams, Anfang 20, war vor den Ereignissen Studentin an der Stanford-Universität und hat Mutter und Bruder bei der Entrückung verloren. Sie ist die Tochter von Rayford, Ehefrau von Buck und Mutter des 14 Monate alten Kenny Bruce. Darüber hinaus ist sie Leiterin und Initiatorin der „Internationalen Handelsgesellschaft“, einem Untergrundnetzwerk von Christen. Auch sie gehörte zu den ersten Mitgliedern der Tribulation Force und hat im Strong-Gebäude in ChicagoUnterschlupf gefunden.

Tsion Ben-Judah, Ende 40, ist Rabbi und ehemaliger israelischer Staatsmann. Er sprach im israelischen Fernsehen öffentlich über seinen Glauben an Jesus als den Messias, woraufhin seine Frau und seine beiden Kinder ermordet wurden. Danach floh er in die USA und wurde zum geistlichen Führer der Tribulation Force. Über das Internet kommuniziert er täglich mit mehr als einer Milliarde Menschen. Auch er hält sich zusammen mit den anderen Mitgliedern der Tribulation Force im Strong-Gebäude in Chicago verborgen.

Dr. Chaim Rosenzweig, Ende 60, israelischer Nobel-Preis-Gewinner, Botaniker und Staatsmann und vom Global Weekly zum „Mann des Jahres“ gekürt. Er verübte den Anschlag auf Carpathia und hält sich inkognito im „König David“-Hotel in Jerusalem auf.

Lea Rose, Ende 30, war bis vor kurzem Oberschwester im Arthur Young Memorial Hospital in Palatine. Sie befindet sich zusammen mit einigen Mitgliedern der Tribulation Force auf dem Weg nach Mizpe Ramon.

Hattie Durham, Anfang 30, war Flugbegleiterin der Pan Continental. Nach der Entrückung wurde sie Assistentin und Geliebte von Carpathia. Sie ist in einer Mission der Tribulation Force in Israel unterwegs.

Al B. (Albie), Ende 40, gebürtig aus Al Basrah im Norden Kuwaits. Er ist Pilot und ein international tätiger Schwarzmarkthändler. Er unterstützt Rayford bei dessen Auftrag in Mizpe Ramon.

David Hassid, Mitte 20, ist hochrangiger Angestellter der Weltgemeinschaft. Vor den Augen vieler Menschen kam er vermeintlich bei einem Flugzeugabsturz ums Leben, doch in Wahrheit befindet er sich auf dem Weg nach Mizpe Ramon.

Mac McCullum, Ende 50, ist der Pilot Carpathias. Viele Menschen waren Zeuge, als sein Flugzeug abstürzte. Er selbst befindet sich auf dem Weg nach Mizpe Ramon.

Abdullah Smith, Anfang 30, war früher jordanischer Kampfflieger und ist heute Erster Offizier der Phoenix 216. Auch er saß vermeintlich in dem abgestürzten Flugzeug, befindet sich aber in Wahrheit auf dem Weg nach Mizpe Ramon.

Hannah Palemoon, Ende 20, arbeitete als Krankenschwester in dem Krankenhaus der Weltgemeinschaft in Neu-Babylon. Auch sie saß angeblich in dem abgestürzten Flugzeug, befindet sich aber eigentlich auf dem Weg nach Mizpe Ramon.

Ming Toy, Anfang 20, frühere Wachoffizierin in einem belgischen Frauengefängnis, hält sich im Strong-Gebäude in Chicago auf.

Chang Wong, 17, ist Ming Toys Bruder. Er wurde gerade im Hauptquartier der Weltgemeinschaft in Neu-Babylon eingestellt.

Lukas (Laslos) Miklos, Mitte 50, ist Besitzer einer Lignitmine in Griechenland. Er verlor seine Frau, seinen Pastor und dessen Frau bei den von Nicolai Carpathia angeordneten Hinrichtungen durch die Guillotine. Er hält sich in Griechenland, Vereinigte Carpathiatische Staaten, verborgen.

Gustaf Zuckermandel jr. (Zeke oder Z), Anfang 20, ist Urkundenfälscher und Verkleidungsspezialist. Sein Vater starb durch die Guillotine. Er hält sich als Flüchtling im Strong-Gebäude in Chicago auf.

Steve Plank (Pinkerton Stephens), Mitte 50, war früher Herausgeber des Global Weekly und arbeitete nach der Entrückung für Carpathia als Leiter der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit. Informationen zufolge ist er bei dem großen Erdbeben ums Leben gekommen; er arbeitet jedoch unter falschem Namen bei den Friedenstruppen der Weltgemeinschaft.

Unbekannter Junge, 15, entkam mit Albies und Bucks Hilfe in Ptolemais, Griechenland, der Hinrichtung durch die Guillotine. Sein Aufenthaltsort ist unbekannt.

Unbekanntes Mädchen, 16, entkam mit Albies und Bucks Hilfe in Ptolemais, Griechenland, der Hinrichtung durch die Guillotine. Ihr Aufenthaltsort ist unbekannt.

Die Feinde

Nicolai Jetty Carpathia, Mitte 30, war während der dramatischen Ereignisse Präsident von Rumänien und wurde dann Generalsekretär der Vereinten Nationen. Carpathia war bis zu seiner Ermordung in Jerusalem selbst ernannter Potentat der Weltgemeinschaft. Drei Tage später kehrte er auf dem Palastgelände der Weltgemeinschaft in Neu-Babylon ins Leben zurück. Er hält sich zu einem Besuch in Jerusalem auf.

Leon Fortunato, Anfang 50, ist Carpathias rechte Hand. Augenblicklich ist er der allerhöchste geistliche Führer des Carpathianismus und verkündet den Potentaten als den auferstandenen Gott. Er hält sich zusammen mit Carpathia in Jerusalem auf.

„Weh aber der Erde und dem Meer. Denn der Teufel kommt zu euch hinab und hat einen großen Zorn und weiß, dass er wenig Zeit hat.“

Offenbarung 12,12

Prolog

„Wir können nur die Daumen drücken, dass es klappt“, merkte Mac an. „Ich habe schon erlebt, dass diese Quasis erstaunliche Dinge vollbringen können, je nachdem, was der Bordcomputer ihnen sagt. Aber es ist ein langer Flug und ich habe einige sehr interessante Dinge einprogrammiert.“

„Die Daumen drücken?“, fragte Hannah. „Nur Gott kann dafür sorgen, dass der Plan funktioniert. Sie sind der Experte, Captain McCullum, und wenn dieses Ding woanders abstürzt als im tiefsten Mittelmeer, dann wird es nicht lange dauern, bis jemand entdeckt, dass niemand an Bord war.“

Das Flugzeug stürzte nicht einfach im freien Fall ins Mittelmeer. Nein, das viele Millionen Dollar teure Wunder der Technik beschleunigte noch einmal und zog eine lange Rauchfahne hinter sich her. In einem seltsamen Winkel raste die Maschine auf die Küste zu, etwa eine drei viertel Meile südlich der Menge.

Die Quasi schlug zusammen mit ihrer zweiköpfigen Besatzung und den Passagieren fast senkrecht auf dem Strand auf. Das Brüllen der Motoren klang den Zuschauern noch in den Ohren, als die Maschine bereits zerborsten war, umhüllt von einer Rauchwolke und züngelnden schwarzen und orangefarbenen Flammen. Eine unheimliche Stille legte sich auf die Zuschauer, weniger als eine halbe Sekunde später gefolgt von dem Übelkeit erregenden Geräusch des Aufschlags, einer donnernden Explosion, begleitet von dem Gebrüll und dem Zischen des wütenden Feuers.

Buck eilte zu seinem Wagen und rief Rayford an. „Das Schiff ist an der Küste untergegangen. Niemand hätte darin überleben können. Bin auf dem Rückweg zur Stimme des Rufers in der Wüste.“

Buck war ungewöhnlich aufgewühlt, als er sich auf dem Weg zur alten Stadt in den Verkehr einfädelte. Er fühlte sich, als seien seine Gefährten tatsächlich zusammen mit dem Flugzeug abgestürzt. Buck wusste, dass die Maschine leer gewesen war, und doch hatte in dieser Inszenierung eine so dramatische Endgültigkeit gelegen. Er wünschte, er wüsste, ob es das Ende oder der Beginn von etwas war. Konnte er hoffen, dass die Weltgemeinschaft zu beschäftigt war, um die Absturzstelle genauer zu untersuchen? Die Chancen dafür standen gut.

Buck wusste nur, dass das, was sie in den vergangenen dreieinhalb Jahren erlebt hatten, ein Spaziergang war im Vergleich zu dem, was sie noch erwartete.

Auf der Rückfahrt betete er stumm für alle Menschen, die er liebte, und für jedes Mitglied der Tribulation Force. Buck zweifelte nicht daran, dass der vom Satan besessene Antichrist nicht zögern würde, jede Möglichkeit zu nutzen, um die Rebellion, die am folgenden Tag gegen ihn ausbrechen würde, bereits im Keim zu ersticken.

Buck war nie besonders ängstlich gewesen, war angesichts tödlicher Gefahren nie zurückgewichen. Aber Nicolai Carpathia war das personifizierte Böse, und am folgenden Tag würde Buck an der vordersten Front stehen, wenn die Schlacht der Jahrhunderte zwischen Gut und Böse um die Seelen der Menschen losbrechen würde, wenn die himmlischen Heerscharen und die Mächte der Hölle gegeneinander antreten würden.

„Dann hörte ich, wie eine laute Stimme aus dem Tempel den sieben Engeln zurief: Geht und gießt die sieben Schalen mit dem Zorn Gottes über die Erde!

Der erste ging und goss seine Schale über das Land. Da bildete sich ein böses und schlimmes Geschwür an den Menschen, die das Kennzeichen des Tieres trugen und sein Standbild anbeteten.“

Offenbarung 16,1–2

1

Rayford Steele schlief tief und fest, eingewickelt in eine kratzende Wolldecke, die Knie an die Brust gezogen und die Fäuste unter dem Kinn geballt. Als er erwachte, sprang er von seiner Pritsche auf und spähte aus seinem winzigen provisorischen Quartier in der Nähe von Mizpe Ramon in der Negev-Wüste.

Die Sonne warf einen unheimlichen, orangefarbenen Schein auf die Landschaft, doch schon bald würden ihre sengenden Strahlen unbarmherzig auf Felsen und Sand herunterbrennen. Das Thermometer würde am Mittag auf über 38 Grad Celsius ansteigen. Ein weiterer normaler Tag in den Vereinigten Carpathiatischen Staaten.

Bei dieser riskantesten Unternehmung seines Lebens hatte Rayford sein Schicksal Gott und dem Wunder der Technologie anvertraut. Es gab keine Möglichkeit, die Landebahn auf dem Wüstenboden zu verbergen. Die Satelliten der Weltgemeinschaft, die die Erde im All umkreisten, sahen alles. Rayford und sein Team, das aus flüchtigen Rebellen aus der ganzen Welt bestand, hatten ein sehr wagemutiges Unternehmen begonnen.

Ihr Mann in der Höhle des Löwen hatte in den Zentralrechner der Weltgemeinschaft eingegeben, dass es sich bei dem Treiben in Mizpe Ramon um eine Übung der Weltgemeinschaft handelte. Solange die Sicherheitskräfte und der Geheimdienst der Weltgemeinschaft diese Lüge glaubten, würden Rayford und seine erweiterte Tribulation Force die „Operation Adler“ fortsetzen können. Der Name war von der Prophezeiung in Offenbarung 12, Vers 14 inspiriert, in der es heißt: „Aber der Frau wurden die beiden Flügel des großen Adlers gegeben, damit sie in die Wüste an ihren Ort fliegen konnte. Dort ist sie vor der Schlange sicher und wird eine Zeit und zwei Zeiten und eine halbe Zeit lang ernährt.“

Dr. Tsion Ben-Judah, geistlicher Mentor der Tribulation Force, war der Meinung, dass die „Frau“ in der Bibel Gottes auserwähltes Volk und die „beiden Flügel“ Land und Luft seien; „ihr Zufluchtsort“ war seiner Meinung nach Petra – die Stadt aus Stein, in der das Volk dreieinhalb Jahre lang vor der „Schlange“, dem Antichristen, sicher sein sollte.

Die Tribulation Force war fest davon überzeugt, dass sich der Zorn des Antichristen und seiner Handlanger schon bald gegen die Juden richten würde, die zum Glauben an Jesus Christus gekommen waren. Wenn sie fliehen mussten, würden Rayford und seine Mitstreiter ihnen bei ihrer Flucht helfen.

Er zog ein Kakihemd und Shorts an und machte sich auf die Suche nach Albie, der mit ihm zusammen das Kommando führte. Die Helfer, die von Rayfords Tochter Chloe von dem Versteck in Chicago aus über das Internet zusammengerufen worden waren, hatten gerade die Landebahn fertig gestellt. Sie hatten in Schichten gearbeitet; einige wurden von den Leuten, die ihre Personalien aufgenommen und das Zeichen Gottes auf der Stirn überprüft hatten, in die Flugpläne eingewiesen, während andere das schwere Gerät bedienten oder sich beim Bau der Landebahn abplagten.

„Hier, Chef“, sagte Albie zu Rayford, der die langen Reihen von Hubschraubern, Jets und sogar gelegentlich eine Propellermaschine am hinteren Ende der Landebahn betrachtete. „Der erste Teil der Mission ist abgeschlossen.“

Der kleine dunkelhaarige ehemalige Schwarzmarkthändler, der nach seiner Heimatstadt Al Basrah „Albie“ genannt wurde, trug die Uniform eines stellvertretenden Befehlshabers der Weltgemeinschaft. Er hatte einen jungen Mann im Schlepptau, der, wie Rayford erfuhr, aus Kalifornien kam.

„George Sebastian“, stellte sich der große blonde Mann vor und streckte ihm die Hand entgegen.

„Rayf–“

„Oh, ich weiß, wer Sie sind, Sir“, unterbrach ihn George. „Ich bin ziemlich sicher, dass alle hier Sie kennen.“

„Hoffen wir nur, dass niemand von außerhalb mich kennt“, meinte Rayford. „Sie hat Albie also als Leiter der Hubschrauberflotte ausgewählt.“

„Nun, er, äh, er hat mich gebeten, ihn als Commander Elbaz anzureden, aber ja, Sir.“

„Warum wollen wir, dass er diese Position einnimmt?“, fragte Rayford an Albie gewandt.

„Er hat Erfahrung, ist klug, weiß mit so einem Vogel umzugehen.“

„Von mir aus geht das in Ordnung. Ich wünschte, ich hätte Zeit, noch ein wenig mit Ihnen zu plaudern, George, aber –“

„Wenn Sie noch eine Minute Zeit hätten, Captain Steele …“

Rayford blickte auf die Uhr. „Begleiten Sie uns ein Stück, George.“

Sie gingen zum südlichen Ende der neuen Landebahn. Immerzu lauschte Rayford auf verdächtige Geräusche am Himmel. „Ich werde es kurz machen, Sir. Es ist nur, dass ich den Menschen gern erzähle, wie es bei mir passiert ist.“

„‚Es‘?“

„Sie wissen schon, Sir.“

Rayford liebte diese Geschichten, aber alles hatte seine Zeit, und im Augenblick war nicht der richtige Zeitpunkt.

„Nichts Dramatisches, Captain. Ich hatte einen Hubschrauberlehrer, Jeremy Murphy, der mich immer darauf hingewiesen hat, dass Jesus wiederkommen würde, um die Christen in den Himmel zu holen. Natürlich hielt ich ihn für verrückt, und ich habe ihn sogar verpetzt, weil er versucht hat, mich während der Arbeitszeit zu bekehren. Aber er hörte nicht auf damit. Er war ein guter Lehrer, doch mit dieser anderen Sache wollte ich nichts zu tun haben. Ich liebte das Leben – frisch verheiratet, Sie wissen schon.“

„Sicher.“

„Er hat mich in die Kirche eingeladen und alles. Ich bin nie hingegangen. Und dann kam der große Tag. Überall wurden Millionen von Menschen vermisst. Klug wie ich war, versuchte ich sogar, ihn anzurufen, um zu erfahren, ob meine Stunde für diesen Tag wegen des ganzen Chaos abgesagt sei. Später am Abend fand jemand seine Kleider auf einem Stuhl vor seinem Fernsehgerät.“

Rayford blieb stehen und betrachtete George. Gern hätte er mehr gehört, aber die Zeit war knapp. „Danach haben Sie nicht mehr lange gebraucht, stimmt’s?“

George schüttelte den Kopf. „Ich bekam einen Riesenschrecken. Ich war so froh, dass ich in dem ganzen Chaos nicht umgekommen war. Ich betete, ich meine, sofort und auf der Stelle, dass ich mich an den Namen seiner Gemeinde erinnern würde. Und er fiel mir tatsächlich ein, aber es war kaum jemand dort. Auf jeden Fall fand ich ein paar Leute, die wussten, was los war. Sie erzählten mir noch einmal, was Murphy mir immer schon gesagt hatte, und sie beteten mit mir. Seither glaube ich an Christus. Meine Frau auch.“

„Meine Geschichte ist fast identisch“, erwiderte Rayford, „und vielleicht werde ich Sie Ihnen irgendwann einmal erzählen. Aber –“

„Sir“, unterbrach ihn der junge Mann, „ich brauche noch eine Minute.“

„Ich möchte nicht unhöflich sein, aber –“

„Sie sollten sich anhören, was er zu sagen hat“, meinte auch Albie.

Rayford seufzte.

George deutete zum anderen Ende der Landebahn. „Ich habe Proben der Ware mitgebracht, die hier eintreffen wird, sobald die Landebahn einsatzfähig ist.“

„Ware?“

„Waffen.“

„Dafür haben wir kein Geld.“

„Diese sind kostenlos.“

„Trotzdem –“

„Unsere Einheit wurde für den Kampf ausgebildet“, erklärte George. „Sie können sich vorstellen, wie das über die Bühne ging, als Carpathia die Nationen aufforderte, 90 Prozent ihrer Waffen zu zerstören und ihm die anderen 10 Prozent zu übergeben.“

„Die Vereinigten Staaten haben den größten Teil der Waffen abgeliefert“, erwiderte Rayford.

„Aber ich wette, wir hatten noch mehr in der Hinterhand.“

„Was haben Sie?“

„Vermutlich mehr als Sie brauchen. Möchten Sie die Proben sehen?“

David Hassid saß auf dem Beifahrersitz des gemieteten Vans, seinen mit Sonnenenergie betriebenen Laptop auf dem Schoß. Lea Rose fuhr den Wagen. Hinter ihr saß Hannah Palemoon neben Mac McCullum; Abdullah Smith hatte sich auf den dritten Sitz gelegt. Die Nacht hatten sie versteckt hinter einer Felsformation etwa eine Meile abseits der Hauptstraße verbracht, irgendwo zwischen dem jordanischen Flughafen in Amman und Mizpe Ramon. Auf keinen Fall wollten sie die Soldaten der Weltgemeinschaft zur „Operation Adler“ führen.

Über das Internet erfuhr David, dass er, Hannah, Mac und Abdullah noch immer für tot gehalten wurden. Man ging davon aus, dass sie am Vortag Opfer des Flugzeugabsturzes in Tel Aviv gewesen waren, doch die Sicherheitskräfte und der Geheimdienst untersuchten dennoch das Wrack.

„Wann werden sie feststellen, dass wir gar nicht an Bord waren?“, fragte Hannah.

Mac schüttelte den Kopf. „Ich hoffe, sie gehen davon aus, dass wir bei der Explosion verbrannt sind. Betet dafür, dass sie verbrannte Überreste von Schuhen oder anderen Dingen finden, die sie davon überzeugen.“

„Ich kann Chang einfach nicht erreichen“, klagte David. Er war sehr ungehalten darüber, was er die anderen aber nicht merken ließ.

„Vermutlich ist der Junge beschäftigt“, beruhigte Mac ihn.

„Aber doch nicht so lange! Er weiß doch, dass wir uns Sorgen um ihn machen.“

„Sich Sorgen zu machen bringt uns jetzt auch nicht weiter“, meinte Mac. „Seht euch nur Smitty an.“

David drehte sich auf seinem Platz herum. Abdullah schlief tief und fest. Hannah und Lea hatten die anderen davon überzeugt, dass es sinnvoll sei, ein mobiles Erste-Hilfe-Zentrum an der Landebahn zu errichten.

„Wenn die Operation vorüber ist, fliegen wir alle zurück in die Staaten“, sagte Lea.

„Ich nicht“, widersprach David. Er spürte den Blick der anderen auf sich. „Ich werde nach Petra fahren, bevor die anderen dort eintreffen. Die Flüchtlinge werden ein Hightech-Zentrum brauchen und Chang und ich haben bereits einen Satelliten in eine geosynchrone Umlaufbahn gebracht.“

Sein Handy klingelte. Er nahm es vom Gürtel ab. „Hey“, vernahm er eine Stimme. „Sie wissen, wo ich mich aufhalte, denn ich bin im Zeitplan.“

„Sie brauchen nicht verschlüsselt zu reden, Buck. Nichts ist sicherer als diese Telefone.“

„Das ist die Macht der Gewohnheit. Hört zu, jemand hat sein Rendezvous verpasst.“

„Sagen Sie nur, wer, Buck. Falls derjenige vorhatte, uns zu verraten, dann ist es bereits geschehen.“

„Hattie.“

„Sie war doch mit Lea zusammen in Tel Aviv. Dann sollte sie –“

„Ich weiß, David“, unterbrach ihn Buck. „Sie sollte sich heute bei Tagesanbruch mit mir in Jerusalem in Verbindung setzen.“

„Aber der alte Mann ist da und es geht ihm gut?“

„Er ist schrecklich verängstigt, aber ja, es geht ihm gut.“

„Sagen Sie ihm, dass wir an ihn denken.“

„Das soll keine Beleidigung sein, David, aber er weiß das, und Hattie ist ein viel größeres Problem.“

„Sie hat aber doch gefälschte Ausweispapiere, oder?“

„David! Verstehen Sie denn die Tragweite des Problems nicht? Sie sollte hier sein, aber ich habe nichts von ihr gehört. Ich kann mich nicht auf die Suche nach ihr machen. Sagen Sie allen anderen Bescheid. Wenn sie sich bei einem meldet, soll er ihr einschärfen, dass sie mich unbedingt anruft.“

„Ist sie für Ihre Aufgabe wichtig?“

„Nein“, erwiderte Buck. „Aber wenn wir nicht wissen, wo sie steckt, können wir uns nicht sicher fühlen.“

„Die Weltgemeinschaft hält sie für tot, genau wie uns.“

„Sie könnte uns das auch nur vormachen.“

„Einen Augenblick“, sagte David und wandte sich an Lea. „Was sollte Hattie tun, nachdem Sie sich getrennt haben?“

„Sie sollte sich als Israelin verkleiden, sich in die Menge in Tel Aviv mischen, nach Jerusalem fahren und sich dort mit Buck treffen. Weiterhin sollte sie aufpassen, ob es Hinweise darauf gibt, dass Carpathias Leute Buck oder Dr. Rosenzweig erkannt haben.“

„Und dann?“

„In Jerusalem in Deckung gehen, bis alles in die Luft fliegt, und dann nach Tel Aviv zurückkehren. Jemand von der Operation sollte sie aufsammeln und nach Chicago zurückfliegen, solange das Hauptaugenmerk der Behörden noch auf Jerusalem gerichtet ist.“

David sprach wieder in sein Handy. „Vielleicht sitzt sie irgendwie in Tel Aviv fest und ist gar nicht nach Jerusalem gekommen.“

„Aber sie muss mir Bescheid geben, David. Ich muss noch eine Weile Chaims Hand halten. Es wäre nett, wenn Sie allen Bescheid geben könnten, David.“

Ein paar Minuten nach Mitternacht Chicagoer Zeit kniete Dr. Tsion Ben-Judah vor seinem großen geschnitzten Schreibtisch im Strong-Gebäude und betete für Chaim. Das Vertrauen des ehemaligen Rabbis in die Fähigkeiten seines alten Mentors, den modernen Mose zu spielen, war nicht besonders stark ausgeprägt. Und obwohl Chaim sich als gelehriger Schüler erwiesen hatte, hatte er die Vereinigten Nordamerikanischen Staaten doch nur mit großem Widerwillen verlassen.

Tsions Gedankengänge wurden von dem leisen Piepen seines Computers unterbrochen. Nur eine Handvoll Leute, die den richtigen Code kannten, konnten sich mit ihm über den Computer in Verbindung setzen. Er rappelte sich auf und blickte zum Bildschirm.

„Dr. Ben-Judah, ich hoffe, Sie sind da“, lautete die Nachricht von Chang Wong, dem Teenager, den David an seiner Stelle im Hauptquartier der Weltgemeinschaft in Neu-Babylon zurückgelassen hatte. „Ich bin vollkommen verzweifelt.“

Tsion stöhnte und zog seinen Stuhl heran. Er setzte sich und begann zu tippen. „Ich bin hier, mein junger Bruder. Ich weiß, dass du dich jetzt sehr allein fühlen musst, aber verzweifle nicht. Der Herr ist bei dir. Seine Engel werden über dir wachen. Du hast viel zu tun, da du die unterschiedlichen Aktivitäten der‚Tribulation Force‘weltweit koordinieren und ihnen den Weg ebnen musst. Ja, es stimmt, vermutlich ist das von einem so jungen Menschen, der dazu noch so jung im Glauben ist, wirklich zu viel verlangt, aber wir alle müssen die Aufgaben erledigen, die wir bekommen. Sag mir, wie ich dir helfen und dir Mut machen kann, an deine Aufgabe zurückzukehren.“

„Ich möchte mich selbst töten.“

„Chang! Wenn du nicht bewusst unsere Mission in Gefahr gebracht hast, dann gibt es dafür doch gar keinen Grund. Wenn du einen Fehler gemacht hast, sprich darüber, dann überlegen wir gemeinsam, wie wir ihn korrigieren können. Aber deine Aufgabe ist es, Satelliten zu manipulieren und zu überwachen. Du musst die Eingaben in den Zentralrechner anpassen, für den Fall, dass der Feind die unterschiedlichen falschen Identitäten und Operationen überprüft. Jetzt ist es bald so weit, also verliere nicht den Mut. Du schaffst das.“

Changs Rückantwort lautete: „Ich befinde mich in meinem Zimmer im Palast. Alles läuft nach Plan. Meine Eingaben werden durch einen Zerhacker gefiltert. Das Sicherheitssystem ist so gut, dass es wirklich keine Lücke gibt. Ich könnte meinem Leben jetzt ein Ende setzen, das würde die‚Tribulation Force‘nicht beeinträchtigen.“

„Hör auf mit diesem Gerede, Chang! Wir brauchen dich. Du musst bleiben, wo du bist, und die Eingaben im Computer immer wieder korrigieren. Und jetzt sag mir mal, wo das Problem liegt.“

„Das Problem ist der Spiegel, Dr. Ben-Judah! Ich dachte, ich würde es schaffen. Ich dachte, die Tatsache, dass mir das Zeichen aufgezwungen wurde, sei vielleicht von Vorteil. Aber es verspottet mich und ich hasse es! Ich möchte eine Rasierklinge nehmen und es aus meiner Haut schneiden, mir dann die Pulsadern öffnen und Gott über mein Schicksal bestimmen lassen.“

„Gott hat bereits entschieden, mein Freund. Du trägst das Siegel Gottes, wie mir deine Brüder erzählt haben. Du hast das Zeichen des Antichristen nicht angenommen und wirst ihn auch nicht anbeten.“

„Aber ich habe Ihre Schriften gelesen, Doktor! Das Zeichen des Tieres bedeutet Verdammnis, und in der Bibel steht, dass wir nicht beide Zeichen tragen können!

„Dort steht, dass wir nicht beide annehmen können.“

„Aber die Helden, die Märtyrer, haben lieber um der Wahrheit willen den Tod gewählt. Sie sagen, ein wahrer Christ würde den Mut bekommen, im Angesicht der Klinge für seinen Glauben einzustehen.“

„Hast du dich etwa nicht gewehrt? Gott ist kein Lügner. Ich habe den Menschen gesagt, sie könnten Gottes Siegel nicht verlieren. Sie brauchten sich keine Sorgen zu machen, sie würden trotz ihrer menschlichen Schwäche den Mut nicht verlieren, und Gott würde ihnen Frieden und den Mut schenken, ihr Schicksal anzunehmen.“

„Das beweist doch, dass ich verloren bin! Ich habe diesen Frieden und diesen Mut nicht! Ich habe mich gewehrt, ja, aber ich habe mich nicht auf Gottes Seite gestellt. Ich habe wie ein Baby geweint. Mein Vater hat das mit meiner Furcht vor der Nadel erklärt. Als klar wurde, dass sie das tatsächlich tun würden, wollte ich für meinen Glauben sterben! Ich hatte vor, mich bis zum Ende zu wehren, obwohl ich wusste, mein Vater würde dann erfahren, dass auch meine Schwester Christ ist, und auch sie verraten. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie mich schließlich überwältigt haben, war ich bereit, nein zu sagen und mich zu meinem Glauben an Christus zu bekennen.“

Tsion sackte auf seinem Stuhl zusammen. Konnte es wahr sein? War es möglich, dass Gott Chang nicht die Kraft gegeben hatte, bis zum Tod zu widerstehen? Und wenn das der Fall war, musste man dann nicht daran zweifeln, dass er wirklich an Gott glaubte?

„Ich bitte dich um einen Gefallen“, tippte er langsam ein. „Tu in den folgenden 24 Stunden nichts Übereiltes. Wir brauchen dich und es muss eine Antwort geben. Ich möchte deine Bedenken nicht einfach vom Tisch fegen, denn ich gestehe, mich verwirrt das Ganze auch. Wirst du an deiner Aufgabe dranbleiben und gegen die Versuchung ankämpfen, bis ich mich wieder mit dir in Verbindung setze?“

Tsion starrte mehrere Minuten lang den Bildschirm an. Er machte sich Sorgen, dass es bereits zu spät sein könnte.

Rayford stockte der Atem, als er sah, was George Sebastian Albie offensichtlich bereits gezeigt hatte. „Wir sind keine Soldaten“, meinte er. „Wir sind Piloten.“

„Und deshalb können Sie auch Soldaten sein“, erwiderte George. „Aber das ist Ihre Mission.“

„Ich wünschte, es wäre meine Mission“, seufzte Albie. „Wenn Carpathias Truppen nicht unsere Todfeinde wären …“

George reichte Rayford eine eineinhalb Meter lange Waffe mit einem eingebauten Zielfernrohr, die mindestens 35 Pfund wog. Rayford konnte sie kaum gerade halten. „Nehmen Sie sie mit dem Lauf nach oben hoch“, schlug George vor.

„Ich werde sie überhaupt nicht hochheben“, erklärte Rayford. „Was um alles in der Welt wird darin als Munition verschossen?“

„Kaliber 50, Captain“ erwiderte George und holte aus seiner Tasche einige sechs Zentimeter lange Patronen. „Jede wiegt mehr als 140 Gramm, aber denken Sie nur, sie haben eine Reichweite von mehr als vier Meilen.“

„Kann nicht sein!“

„Ich würde Sie doch nicht anlügen. Eine Kugel fliegt 1000 Meter in der Sekunde, aber es dauert ganze sieben Sekunden, um ein Ziel zu treffen, das zwei Meilen entfernt liegt, weil Windgeschwindigkeit, Verzögerung und solche Dinge mit eingerechnet werden müssen.“

„Aber dann ist eine Zielgenauigkeit doch gar nicht gegeben –“

„Ein Mann hat aus 1000 Metern Entfernung fünf runde Scheiben, die drei Zentimeter voneinander entfernt standen, getroffen. Bei 200 Metern kann man eine dieser Patronen durch ein ein Zentimeter langes Stück gerollten Stahls schießen.“

„Der Rückschlag muss doch –“

„– enorm sein. Und das Geräusch? Ohne Ohrstöpsel könnte das Gehör geschädigt werden. Wollen Sie mal probieren?“

„Nicht um alles in der Welt. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie uns diese Monstrositäten von Nutzen sein könnten, und ganz bestimmt möchte ich nicht einen solchen Lärm verursachen, dass die Weltgemeinschaft alarmiert wird, bevor der Spaß beginnt.“

George presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. „Ich hätte zuerst mit Ihnen sprechen sollen. 100 von diesen Dingern sind unterwegs, zusammen mit der notwendigen Munition und einigen Anleitungen.“

„Zum Beispiel?“

„Eine Zündvorrichtung bewirkt, dass sich das Gehäuse abtrennt, wenn weiches Material getroffen wird.“

„Wie Fleisch zum Beispiel?“

George nickte.

Rayford schüttelte den Kopf. „Meine Piloten würden diese Dinger niemals von der Luft aus einsetzen können.“

„Wir werden sie einfach irgendwo lagern. Man kann nie wissen.“

„Wollen Sie das andere sehen?“, fragte George.

„Nicht, wenn es so was ist wie das hier“, lehnte Rayford ab.

„Das ist es nicht.“ Vorsichtig legte George das 50-Kaliber-Gewehr wieder in den Kasten. „Diese Waffen sind vom Flugzeug oder von Bodenfahrzeugen aus einzusetzen“, erklärte er. Er holte ein Leichtgewichtgewehr hervor und warf es Rayford zu. „Und das Beste: Es gibt keine Projektile.“

„Und womit –?“

„Das ist ein DEW, eine Frequenzwaffe. Aus einer Entfernung von knapp einer halben Meile kann man konzentrierte Strahlen losschicken, die Kleidung durchdringen und in nur wenigen Sekunden die Flüssigkeit auf der Haut auf 130 Grad erhitzen.“

„Und welchen Schaden richtet sie beim Menschen an?“

„Keinen. Diese Waffe ist nicht tödlich.“

Rayford gab sie ihm zurück. „Eindrucksvoll“, sagte er. „Und wir wissen das zu schätzen. Mein Problem ist, dass ich keine Kampftruppen habe, und selbst wenn das so wäre, könnten wir es mit der Weltgemeinschaft nicht aufnehmen.“

George zuckte die Achseln. „Aber falls Sie sie brauchen sollten, dann wissen Sie, dass wir sie bereits besitzen …“

Wären die Aussichten nicht so düster gewesen und hätte sich Buck nicht solche Sorgen um Hattie gemacht, dann hätte er beim Anblick von Dr. Rosenzweig vielleicht gelacht. Als der alte Mann auf Bucks Klopfen hin die Tür öffnete, trug er weite Boxershorts, ein ärmelloses T-Shirt und die Sandalen, die er zusammen mit dem braunen Gewand tragen sollte. „Cameron, mein Freund, verzeihen Sie, kommen Sie herein, kommen Sie nur herein.“

Buck war an Rosenzweigs normales Aussehen gewöhnt: drahtig, ordentlich rasiert, schlank, Ende 60, für einen Israeli sehr blass, mit haselnussbraunen Augen und abstehenden weißen Haaren. In seinem Äußeren erinnerte er an Albert Einstein. Normalerweise trug der mehrfach ausgezeichnete Staatsmann und Nobelpreisträger eine Nickelbrille, weite Pullover, sackartige Hosen und bequeme Schuhe.

Buck fiel es schwer, sich an den Anblick seines alten Freundes zu gewöhnen. Seine Haut war jetzt dunkel gebräunt, die Haare trug er kurz und schwarz gefärbt, er hatte dunkelbraune Kontaktlinsen eingesetzt und sich einen buschigen Bart stehen lassen. Dank einer kleinen Prothese an den Backenzähnen stand sein Kinn nun etwas vor.

„Zeke hat wirklich gute Arbeit geleistet“, lobte Buck, der wusste, dass der verheerende Flugzeugabsturz auch bei Chaim seine Spuren hinterlassen hatte.

Dr. Rosenzweig setzte sich auf einen Stuhl am Tisch, auf dem seine Bibel und zwei Bibelkommentare lagen. Auf dem Flug von den Vereinigten Nordamerikanischen Staaten nach Israel hatte er sie in seinem Gepäck versteckt. Ein halb leeres Glas Wasser stand ebenfalls auf dem Tisch. Sein weites, an eine Mönchskutte erinnerndes Gewand mit der Kapuze lag auf dem Bett.

„Warum sind Sie nicht angezogen, Bruder?“

Der alte Mann seufzte. „Ich bin noch nicht bereit für die Uniform, Cameron. Ich bin nicht bereit für die Aufgabe“, erwiderte Chaim. Auch seine Aussprache hatte sich durch die eingesetzte Prothese verändert.

Buck sah im Schrank nach und holte einen hoteleigenen Bademantel hervor. „Ziehen Sie doch den hier an“, schlug er vor. „Wir haben noch ein paar Stunden Zeit.“

Nur zu gern ließ sich Dr. Rosenzweig in den Bademantel helfen. Der Kontrast zwischen dem weißen Mantel und seiner neuen Hautfarbe und der Saum, der sich, als er sich wieder hinsetzte, auf dem Boden bauschte, ließen ihn nicht weniger komisch aussehen.

Chaim senkte den Kopf und entdeckte den auf der Brusttasche aufgestickten Namen des Hotels. „‚König David‘“, sagte er. „Denken Sie, wir hätten ‚Patriarch Mose‘ auf das braune Gewand nähen sollen?“

Buck lächelte. Der Druck, der auf seinem Freund lastete, musste enorm sein. „Gott wird bei Ihnen sein, Doktor“, sagte er.

Plötzlich erschauderte Rosenzweig und ließ sich auf den Boden sinken. Er drehte sich um und kniete nieder, die Ellbogen auf den Stuhl gestützt. „Oh Gott, oh Gott“, betete Chaim, dann riss er sich die Sandalen von den Füßen und warf sie beiseite.

Überwältigt von einem Gefühl, das er nicht erklären konnte, spürte auch Buck den Drang niederzuknien. Kurz bevor er die Augen schloss, bemerkte er durch den Spalt zwischen den Vorhängen die aufgehende Sonne. Auch er zog seine Schuhe aus, dann barg er sein Gesicht in den Händen und legte sich flach auf den Boden.

Chaims Stimme klang schwach. „Wer bin ich, dass ich losgehen und die Kinder Israel herausführen sollte?“

Trotz der Hitze fror Buck und zitterte. Er war überwältigt von der Überzeugung, dass er Chaim antworten sollte, aber wer war er, dass er für Gott sprechen konnte? Er hatte die Lehren von Dr. Ben-Judah verfolgt und mit angehört, was dieser Chaim geraten hatte. Aber ihm war nicht klar gewesen, dass sich der Dialog in sein Gedächtnis eingebrannt hatte.

Stille lag auf dem Raum. Buck öffnete kurz die Augen, bevor er sie schnell wieder schloss. Im Zimmer war es so hell, dass das grelle Licht ihm auch mit geschlossenen Lidern vor Augen stand, so wie Chaims Frage noch immer im Raum hing. Der alte Mann weinte laut.

„Gott wird ganz bestimmt mit dir sein“, flüsterte Buck und Chaim hörte auf zu beten. „Und dies soll ein Zeichen für dich sein, dass Gott dich aussendet: ‚Wenn du das Volk herausgeführt hast, werdet ihr mir ein Opfer darbringen und mich anbeten‘.“

Der alte Mann erwiderte: „Und wenn ich zu den Leuten von Israel komme und sage: ‚Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt‘, und sie mich fragen: ‚Wie ist sein Name?‘ – was soll ich ihnen antworten?“

Buck presste die Finger an seine Schläfen. „Wie Gott zu Mose gesagt hat“, erwiderte er, „‚Ich bin der ich bin.‘ Und so sollst du den Kindern Israels sagen: ‚Der ‚Ich bin da‘ hat mich zu euch gesandt. Der Gott eurer Väter, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs, hat mich zu euch gesandt.‘ Dies ist Gottes Name für immer und so wird man ihn nennen in allen Generationen. ‚Jahwe, der Gott eurer Väter, hat gesehen, was euch angetan worden ist, und wird euch aus dem Elend hinausführen zu einer Zufluchtsstätte, wo ihr in Sicherheit seid.‘ Sie werden auf deine Stimme hören und du wirst gehen zu dem König dieser Welt und ihm sagen: ‚Jahwe, der Gott der Hebräer, ist uns begegnet. Und jetzt wollen wir in die Wüste ziehen und Jahwe, unserem Gott, Schlachtopfer darbringen.‘ Aber der König wird euch nicht gehen lassen, darum wird Gott seine Hand ausstrecken und diejenigen schlagen, die sich dir widersetzen.“

„Was aber, wenn sie mir nicht glauben und nicht auf mich hören?“, fragte Chaim so leise, dass Buck ihn kaum verstehen konnte. „Was, wenn sie sagen: ‚Jahwe ist dir nicht erschienen‘?“

Buck rollte sich auf den Rücken und setzte sich auf. Er war plötzlich frustriert und ungeduldig mit Chaim. Er starrte den alten Mann an, der vor seinem Stuhl kniete. Buck wurde schwindelig, die Farben im Raum wurden immer heller. Seit er miterlebt hatte, wie Dr. Ben-Judah mit Moishe und Eli an der Klagemauer gesprochen hatte, hatte Buck sich Gott nicht mehr so nahe gefühlt. „Strecke deine Hand aus und nimm das Wasser“, sagte er mit plötzlicher Autorität.

Chaim drehte sich um und starrte ihn an. „Cameron, ich wusste ja gar nicht, dass Sie Hebräisch sprechen.“

Buck wollte ihm lieber nicht widersprechen, obwohl er kein Hebräisch konnte und davon überzeugt war, Englisch gesprochen zu haben. „Das Wasser“, verlangte er erneut.

Chaim hielt seinem Blick stand, dann drehte er sich um und nahm das Glas. Das Wasser wurde zu Blut, und Chaim stellte es so schnell wieder auf den Tisch, dass ein Teil überschwappte und auf seinen Handrücken floss.

Buck fuhr fort: „Dies geschieht, damit sie glauben, dass Gott, der Herr, dir erschienen ist. Nimm das Wasser erneut.“

Chaim griff vorsichtig nach dem Glas, und als er es berührte, wurde das Blut – sogar das auf seiner Hand – wieder zu Wasser.

„Und jetzt strecke deine Hand Gottes Diener entgegen“, fuhr Buck fort. Chaim stellte das Glas auf den Tisch und richtete fragend seine Hand auf Buck. Und Buck war gelähmt, unfähig selbst seine Lippen zu bewegen.

„Cameron, geht es Ihnen gut?“

Buck konnte nicht antworten. Ihm war schwindelig, weil er keine Luft mehr bekam. Er versuchte, Chaim mit den Augen ein Zeichen zu geben, aber der Mann war vollkommen verängstigt. Er zog seine Hand zurück, entsetzt von seiner Macht, und Buck sank keuchend zu Boden. Nachdem er nach Luft geschnappt hatte, sagte er: „Wenn sie dir nicht glauben und sich durch das erste Zeichen nicht überzeugen lassen, werden sie auf das zweite Zeichen hin glauben.“

„Cameron, es tut mir so leid! Ich –“

Aber Buck fuhr fort: „Glauben sie aber selbst nach diesen beiden Zeichen nicht und lassen sie sich nicht überzeugen, dann nimm etwas Wasser aus dem Fluss und schütte es auf trockenen Boden! Das Wasser, das du aus dem Fluss geholt hast, wird auf dem Boden zu Blut werden.“

Buck setzte sich auf die Fersen und legte die Hände erschöpft auf die Oberschenkel.

„Aber bitte, Herr, ich bin keiner, der gut reden kann, nicht einmal jetzt, wo Gott zu mir gesprochen hat. Mein Mund und meine Zunge sind schwerfällig“, wandte Chaim ein.

„Wer hat dem Menschen den Mund gegeben und wer macht taub oder stumm, sehend oder blind?“, fragte Buck. „Doch wohl ich, der Herr? Geh also! Ich bin mit deinem Mund und weise dich an, was du reden sollst.“

Chaim wandte sich wieder um und kniete am Stuhl nieder. „Aber bitte, Herr, schick doch einen anderen!“, rief er.

Buck kannte die Geschichte. Aber es gab keinen Aaron. Tsion befand sich im Versteck; er hatte von Gott nicht den Auftrag bekommen, selbst herüberzukommen. Das einzige andere Mitglied der Tribulation Force mit jüdischem Blut, obwohl in Polen aufgewachsen, war David Hassid, und er hatte seine eigenen Gaben und seinen eigenen Auftrag. Außerdem war keine Zeit mehr, ihn zu verkleiden. Wenn er auf einmal in der Öffentlichkeit erschiene, würde er die anderen verraten, die angeblich bei dem Flugzeugunglück ums Leben gekommen waren – zumindest im Augenblick.

Buck wartete darauf, dass Gott ihm eine Antwort für Chaim gab, aber nichts geschah.

2

Als es kurz vor neun Uhr morgens war und sie etwa eine Stunde von Mizpe Ramon entfernt waren, bat David Lea, an den Straßenrand zu fahren und anzuhalten.

„Tut mir leid“, entschuldigte er sich, „aber ich habe gerade eine Nachricht von Tsion bekommen, die ihr hören müsst, und außerdem muss ich mich unbedingt mit Chang in Verbindung setzen. Das geht nicht, wenn dieses Ding auf meinem Schoß hin und her wackelt.“

„Wir verstecken den Van lieber“, schlug Mac vor. „Wenn wir hier einfach so stehen bleiben, wirkt das ziemlich verdächtig.“

Lea sah in den Rückspiegel, schaltete den Allradantrieb ein und fuhr von der Straße hinunter in den Sand. Abdullah setzte sich auf, legte seinen Sicherheitsgurt an und sagte: „Man könnte meinen, dies sei das Ende der Welt.“

„Sehr lustig“, kommentierte Mac. „Ich habe noch etwas anderes auf dem Herzen. Wir kennen uns alle jetzt schon so lange und haben schon so viel durchgemacht, und ich würde vorschlagen, dass wir zum Du übergehen. Was haltet ihr davon?“

Keiner der Insassen des Wagens erhob Einwände.

Lea blieb in guter Entfernung von der Straße im Schatten eines kleinen Felsens und zwei kümmerlicher Bäume stehen. David stellte seinen Laptop auf den Sitz und stieg aus. Auch die anderen verließen den Wagen, streckten sich und traten dann hinter ihn, um Tsions Kommunikation mit Chang zu lesen.

„Das klingt aber gar nicht gut“, meinte Abdullah Minuten später. „Was sollen wir jetzt tun?“

„Ich werde mir den Jungen mal zur Brust nehmen“, sagte Mac.

„Genau das hatte ich vor“, warf David ein. „Jemand sollte Rayford auf den neuesten Stand bringen, während ich hier beschäftigt bin.“

„Ich mache das schon“, erbot sich Mac und klappte sein Telefon auf.

David schrieb:

„Du hast Zeit, Dr. Ben-Judah in seiner Arbeit zu stören, aber keine Zeit, dich mit deinem unmittelbaren Vorgesetzten in Verbindung zu setzen? Was ist denn aus dem schlauen Besserwisser geworden, der alles im Schlaf erledigen kann? Niemand nimmt Dir deine Bedenken und Deine geistlichen Ängste übel, aber Du akzeptierst besser die Tatsache, dass Du diese Aufgabe übernommen hast. Um es genau zu sagen, Chang, Du hast jetzt gar keine Zeit für so etwas. Zu viele Menschen verlassen sich auf Dich, und der Erfolg einer Operation, bei der es um Leben und Tod geht, liegt in Deinen Händen. Wenn Du Dir selbst etwas antust, weil Du Dir nicht vorstellen kannst, warum Gott etwas Bestimmtes zugelassen hat, wäre das wirklich äußerst selbstsüchtig.

Bitte informiere mich sofort darüber, ob Du noch am Ball ist. Wenn ich nichts von Dir höre, bin ich gezwungen, die Codes zu aktivieren, die Deine Anlage zerstören und alles, was ich dort aufgebaut und Dir erklärt habe. Du weißt, wir können es nicht riskieren, dass Du Dir selbst etwas antust und die Beweise zurücklässt. Wir müssen Suhail Akbars Pläne in Bezug auf eine Untersuchung des Flugzeugwracks erfahren. Du musst Dich in Sandras Terminkalender hacken und uns über Carpathias Termine auf dem Laufenden halten. Und falls irgendwo Sitzungen stattfinden, die Du abhören kannst, musst Du diese Mitschnitte nach Chicago, Mizpe Ramon und an mich schicken. Wo befindet sich die 216, wer fliegt sie und hält Carpathia Besprechungen darin ab?

Hör mir zu, Chang. Ein Satz Deiner Kommunikation mit Dr. Ben-Judah hat mich an etwas erinnert, das Du über dieses doppelte Zeichen einmal zu mir gesagt hast. Ich weiß, dass Du es nicht willentlich angenommen hast, obwohl Du mich glauben lassen wolltest, Du hättest Dich sofort daran gewöhnt und könntest die Vorteile darin erkennen. Aber so einfach ist es nicht, nicht, wo wir alle noch so neu im Glauben stehen. Und wenn Dir selbst Dr. Ben-Judah als der Experte nicht weiterhelfen kann, kann auch ich nicht so tun, als hätte ich eine Antwort für Dich. Aber offensichtlich stimmt etwas nicht, und niemand nimmt Dir übel, dass Du gern wissen willst, wie Gott darüber denkt.

Ich zweifle nicht daran, dass nichts uns trennen kann von Gott und seiner Liebe, aber Du wirst keinen Frieden finden, bis Du ganz sicher weißt, was an diesem Morgen tatsächlich geschehen ist. Ich möchte es noch einmal klarstellen: Das ist nicht Deine dringlichste Aufgabe. Wichtig ist, die Aufgaben zu erledigen, die ich eben aufgezählt habe, und dafür zu sorgen, dass wir unentdeckt bleiben. Nach unserer letzten Information wird Carpathia sich heute um 11 Uhr carpathiatischer Zeit in Jerusalem in der Öffentlichkeit zeigen.

Aber wenn Du sichergestellt hast, dass alles unter Kontrolle ist und wir uns keine Gedanken zu machen brauchen, probiere den Code aus, den ich unten angebe. Es handelt sich um eine lange Zahlenreihe. Ich habe einen Code eingegeben, der uns vielleicht Zugang zu Überwachungsgeräten verschafft, die ich selbst nicht installiert habe. Es ist immerhin möglich, dass es eine Video- oder Audioaufzeichnung oder sogar beides gibt über das, was an diesem Tag geschehen ist. Leider ist Gebäude D eine Wartungseinrichtung, die von den oberen Bonzen nur selten, falls überhaupt betreten wird. Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, dort Wanzen anzubringen, aber soweit ich weiß, war irgendetwas bereits dort installiert.

Du hast mir persönlich und Dr. Ben-Judah gerade eben gesagt, dass Du Dich gegen das Zeichen gewehrt hast und sogar bereit warst, die Wahrheit zu sagen, bis sie dich ‚lahmgelegt‘ haben. Ich habe das so verstanden, dass Du meintest, bis zum Zeitpunkt, wo du das Zeichen bekommen hast. Lahmgelegt ist nicht gerade ein Ausdruck, den die meisten Menschen für den Empfang des Zeichens und das Einpflanzen des Chips verwenden würden. Ich weiß nicht. Vielleicht greife ich ja auch nach Strohhalmen. Aber vielleicht ist dort noch irgendetwas anderes passiert. Du hast nichts darüber erzählt, was in der Zeit zwischen deinem Eintreffen im Keller des Gebäudes D und Deinem Besuch in meinem Büro geschehen ist. Erinnerst Du Dich? Und wenn nicht, warum nicht?

Also sage mir zuerst, dass Du noch da bist und Deinen Aufgaben nachkommst. Gib uns alle Informationen, die wir brauchen. Und dann suche nach Aufzeichnungen aus Gebäude D. Antworte sofort, nachdem Du das gelesen hast.“

David schickte diese Mitteilung los, dann zeigte er sie Mac, bevor sie sich wieder nach Mizpe Ramon auf den Weg machten. Mac nickte. „Wie viel Zeit gibst du ihm?“

David zuckte die Achseln. „Nicht viel, aber ich möchte auch nicht das System zerstören, nur weil er gerade auf der Toilette sitzt.“

Sobald sie die Straße erreicht hatten, erhielt David eine Antwort von Chang. „Ich werde Ihre Anweisungen befolgen. Und, Mr Hassid, ich dachte, das Zeichen sei im Keller des Palastes verteilt worden. Auf den Plänen sehe ich, dass Gebäude D mehrere hundert Meter von hier entfernt liegt. Ich kann mich nicht erinnern, dort gewesen zu sein. Und mit ‚lahmgelegt‘ meinte ich die Betäubung, die ich vor der Prozedur bekommen habe. Ich dachte, sie sei mir im Palast gegeben worden.“

Rayford freute sich zu hören, dass die vier aus der Quasi Two bald in Mizpe Ramon eintreffen würden. Er erzählte Mac von den Waffen, die George Sebastian einfliegen ließ.

„Smitty will sie sehen“, erklärte Mac. „Er war beim Militär, bevor er die Kampfflugzeuge übernahm, müssen Sie wissen.“

„Albie kann auch mit Gewehren umgehen“, erklärte Rayford. „Aber ich habe genug davon. Außerdem brauche ich ihn und Abdullah in der Luft.“

Er war froh, von Leas und Hannahs Plänen zu hören, wurde jedoch schweigsam, als er erfuhr, dass David vorhatte, allen voraus nach Petra zu fahren. Doch als Rayford darüber nachdachte, musste er zugeben, dass dieser Plan vernünftig klang. David sollte ruhig Petra für Chaim und die israelischen Gläubigen vorbereiten. Dann erkundigte er sich bei Mac nach seinen Informationen über Carpathias neueste Pläne. Mac berichtete ihm von den Schwierigkeiten mit Chang.

„Ich muss so bald wie möglich Bescheid wissen“, erklärte Rayford. „Die Show oder wie man das auch nennen mag, die Entweihung und der Angriff, all dies könnte sich noch in dieser Woche ereignen.“

Buck hatte seinen Ausweis dabei, der ihn als Korporal Jack Jensen von den Friedenstruppen der Weltgemeinschaft auswies, aber er trug Zivilkleidung. Seine neue Haar- und Augenfarbe und vor allem sein vernarbtes Gesicht würden verhindern, dass ihn jemand erkannte. Er und Chaim fuhren um 9 Uhr 30 vom Hotel „König David“ los und kämpften sich durch den dichten Verkehr zur Altstadt durch. Chaims Gewand wurde in der Taille durch ein geflochtenes Band zusammengehalten, der Saum streifte über den Boden und verbarg seine Füße. Es hatte den Anschein, als würde er gleiten.

Schon bald wurden die beiden von den Menschenmassen entlang der Via Dolorosa verschluckt, wo Carpathia eine Stunde vor Mittag erwartet wurde. Buck war über die große Menschenmenge erstaunt, die trotz der sinkenden Bevölkerungszahlen erschienen war. In der Stadt lagen überall noch Trümmer des Erdbebens, das ein Zehntel des Stadtgebiets dem Erdboden gleichgemacht hatte, doch das konnte die Anhänger Carpathias nicht aufhalten. An jeder Straßenecke priesen Straßenhändler ihre Carpathia-Andenken an, wozu auch Palmwedel gehörten, echte und solche aus Plastik, die während seines triumphalen Einzugs vor ihn auf den Weg gelegt werden sollten.

Es hatte den Anschein, als gab es den Pazifisten Nicolai Carpathia nicht mehr. Konvois von Panzern, Militärfahrzeugen, Kampfflugzeugen und Bombern auf Transportern, ja, sogar Raketen rollten langsam durch die Straßen. Sie würden gar nicht durch die kleinen Gassen der Altstadt passen, aber sie waren überall präsent.

Buck hielt Ausschau nach Hattie. Er hatte sein Handy eingesteckt, aber den Versuch, eine vernünftige Erklärung für Hatties Verschwinden zu finden, hatte er schon lange aufgegeben. Er versuchte, nicht das Schlimmste anzunehmen, aber es wäre ihr ein Leichtes gewesen, sich mit ihm oder einem anderen Mitglied der Tribulation Force in Verbindung zu setzen, wenn sie gewollt hätte.

Chaim trottete neben ihm her, in sich zusammengesunken, die Hände tief in den Falten seines braunen Gewandes vergraben, den fast kahlen Kopf unter der Kapuze verborgen. Seit dem Erlebnis im Hotelzimmer hatte er noch kein Wort gesprochen. Schweigend hatte er den Hotel-Bademantel gegen dieses grob aussehende, jedoch weiche Flanellgewand getauscht und war in seine Sandalen geschlüpft.

Wie es schien, gab es in der Stadt zu wenige Friedenstruppen. Viele Schaufenster waren vernagelt, und alles, was vier Räder hatte, wurde als Taxi eingesetzt, sogar alte klapprige Privatwagen. In den wenigen geöffneten Geschäften plärrten die Fernsehgeräte in den Schaufenstern. Die Fußgänger blieben davor stehen und sahen sich die Übertragungen an. Buck legte Chaim die Hand auf die Schulter und deutete mit dem Kopf zu einem Geschäft hinüber. Sie stellten sich in die Menge und verfolgten im Fernsehen einen Bericht über den Absturz der Quasi Two. Im Anschluss daran wurden Techniker gezeigt, die mit ihren Gummihandschuhen die Trümmer durchsuchten, und noch einmal die Erklärungen von Potentat Carpathia, dem Allerhöchsten Geistlichen Leon Fortunato, dem Supreme Commander Walter Moon und schließlich vom Direktor des Geheimdienstes und der Sicherheitskräfte, Suhail Akbar, wiederholt.

„Zwar laufen die Untersuchungen noch“, erklärte Letzterer, „aber bisher haben wir keinerlei menschliche Überreste finden können. Natürlich ist davon auszugehen, dass die vier loyalen Patrioten der Weltgemeinschaft in der Explosion verbrannt sind. Die medizinischen Fachkräfte versichern uns, dass sie keinerlei Schmerzen haben erdulden müssen. Nachdem ihr Tod bestätigt wurde, werden unsere Gebete für ihr ewiges Seelenheil zum auferstandenen Potentaten aufsteigen, und wir werden ihren Familien und Angehörigen unser tief empfundenes Mitgefühl aussprechen.“

Der Nachrichtensprecher erklärte, weitere Untersuchungen hätten ergeben, dass das Unglück auf einen Fehler des Piloten Captain Mac McCullum zurückzuführen sei. Ein Lademeister in Neu-Babylon habe die Mannschaft vor einer Überladung der Maschine gewarnt und ihn gebeten, den Start zu verschieben.

Eigentlich hätte Buck Angst verspüren müssen vor dem, was ihm bevorstand, doch nachdem er die Gegenwart Gottes im Hotel „König David“ so hautnah erlebt hatte, fühlte er neuen Mut in sich. Er wusste nicht, wie er und Chaim sich vor einer Enttarnung schützen sollten oder was passieren würde, nachdem Carpathia seine scheußliche Tat begangen hatte. Er wünschte nur, er würde Hinweise darauf finden, dass Chaim nach ihrer Erfahrung dieselbe Zuversicht empfand wie er.

David und die anderen Reisenden im Van hörten sich Suhail Akbars Ausführungen an, während Lea der Wegbeschreibung folgte und schließlich die Landebahn vor Mizpe Ramon erreichte. David rührte das Entsetzen und die Traurigkeit in der Stimme von Tiffany, seiner Assistentin, als sie nach ihm gefragt wurde. Wie gern hätte er ihr versichert, dass es ihm gut ging, aber er fürchtete, dass einige bereits Verdacht hegten.

Er umarmte Rayford, begrüßte Albie und stellte Hannah vor. Während die anderen über die Pläne in Kenntnis gesetzt wurden, die vollkommen von dem unberechenbaren Verhalten Carpathias abhängig waren, wurde David in Rayfords Quartier geführt, wo er seinen Computer aufstellte, um zu hören, was Chang in Bezug auf die Pläne Carpathias in Erfahrung gebracht hatte.

Dem jungen Mann war es gelungen, Einblick in Carpathias Terminplan zu bekommen. Eine Sitzung war für zehn Uhr anberaumt worden. Teilnehmen sollten NC, LF, WM, SA, und LH in der FX.

„Das ist mir jetzt wirklich peinlich“, berichtete Chang, „aber ich weiß nur, wer sich hinter den ersten vier Initialen verbirgt. Können Sie mir helfen?“

„LH kenne ich auch nicht“, schrieb David zurück, „aber komm schon, kluger Junge. Geht man von der Phonetik aus, müsste FX die Phoenix sein. Also versuchen wir es dort einmal.“

„Ich habe Akbars Pressekonferenz auf einer Leitung. Wollen Sie die zuerst haben?“

„Wir müssen Prioritäten setzen! Die Pressekonferenz wurde bereits weltweit ausgestrahlt.“

David suchte in seiner Tasche nach Kopfhörern und setzte sie auf. In der Zwischenzeit hatte Chang die Verbindung zur Phoenix hergestellt. Er konnte die gespannte Atmosphäre regelrecht spüren, die in dem luxuriösen Flugzeug herrschte. Chang übermittelte eine Liste der Ersatzpersonen für David, Mac und Abdullah. „A. Figueroa für Sie“, schrieb Chang. „Kennen Sie ihn? Offensichtlich wird Schwester Palemoon nicht ersetzt. Ich habe noch immer keine Ahnung, wer LH ist.“

„Es ist nicht nötig, dieses Treffen mit Hut hinauszuschieben.“ Das war eindeutig Carpathias Stimme. „Machen Sie weiter.“

„Sofort, Exzellenz“, sagte Moon. „Leon, äh, Reverend Fortunato würde Sie gern in Bezug auf das Bild und das Tier auf den neuesten Stand bringen.“

„Ich habe ihn gerade gesehen. Wo ist er?“

„Der Kopf, Sir. Er fühlt sich unpässlich.“

„Wo liegt das Problem?“

„Ich weiß es nicht.“

„Er hat doch gerade noch hier gesessen, Walter.“

„Er hat sich gewunden.“

„Weshalb?“

„Es tut mir leid, Sir, ich –“

„Finden Sie es heraus, ja? Und schaffen Sie sofort Akbar und Hut herbei.“

David hörte, dass Moon in ein Walkie-Talkie sprach. „Lassen Sie Akbar und Hut an Bord“, wies er jemanden an. „Und jemand soll nach Reverend Fortunato sehen.“

„Wie bitte?“

„Fortunato. Oberste Führungsliga.“

Im Hintergrund brach Carpathia in brüllendes Gelächter aus. „Eine passende Beschreibung, Mr Moon!“

„Das meinte ich nicht, Sir. Ich wollte nur –“

„Können wir jetzt weitermachen, Walter? Falls Fortunato nicht den Weg hierher zurückfindet: Was wollte er mir denn über das Bild und das Tier erzählen?“

„Das hat er nicht gesagt, Exzellenz, aber er wirkte aufgeregt.“

„Bis er wegen Unpässlichkeit im Bad verschwand.“

„Genau.“

Nach ein paar Sekunden Schweigen brüllte Carpathia: „Walter, sagen Sie Suhail, wenn er nicht in 30 Sekunden seinen neuen Mann an Bord hat –“

„Supreme Potentat Carpathia, Sir, Sicherheits- und Geheimdienstchef Suhail Akbar aus Pakistan und der Leiter der Abteilung Loyalitätsüberwachung Loren Hut aus Kanada.“

„Verzeihen Sie die Verzögerung, Potentat“, entschuldigte sich Akbar, „aber –“

„Setzen Sie sich doch, Sie beide. Direktor Akbar, wo haben Sie diese groß gewachsene Spezies gefunden und warum arbeitet er nicht mehr als Rodeo Cowboy in Calgary?“

David fiel auf, dass Carpathia den Namen der Stadt auf der zweiten Silbe betont hatte, genau wie die Einheimischen dies taten.

„Mir macht es mehr Spaß, umherstreunenden Dissidenten hinterherzujagen“, erwiderte der junge Mann.

Carpathia lachte. „Ich habe nicht von Ihnen gesprochen, Chief Hut, aber –“

„Tut mir leid.“

„– Sie haben sich mit dieser Antwort gerettet. Haben Sie alles, was Sie brauchen?“

„Ja, Sir.“

„Ja, Potentat“, korrigierte Carpathia. „Die Anrede ‚Sir‘ ist nicht angemessen, wenn Sie Ihren auferstandenen –“

„Absolut, Exzellenz, Euer Lordschaft, Potentat. Das wurde mir gesagt. Ich habe mich nur versprochen.“

„Sie wollen sich über mich lustig machen?“

„Nein, Sir! Potentat!“

„Ich habe Ihnen eine Frage gestellt.“

„Ich würde es nicht wagen, mich lustig zu machen –“

„Ob Sie haben, was Sie brauchen, Sie Dummkopf! Ehrlich, Direktor Akbar, ist das das Beste, was wir kriegen konnten?“

„Er ist ausgesprochen erfahren und fähig, Exzellenz. Aber Ihre Gegenwart hat ihn eingeschüchtert, sodass er seine Loyalität, für die er bekannt ist, nicht zeigen kann.“

„Tatsächlich?“

„Ja, Sir, Potentat. Ich bin Ihnen gegenüber immer loyal gewesen.“

„Und Sie beten mich an?“

„Wann immer ich kann.“

Carpathia lachte. „Ist jeder Loyalitätsüberwacher bewaffnet, Hut?“

„Hier in Israel schon. Und Ende der nächsten Woche auch überall sonst.“

„Warum die Verzögerung?“

„Die riesige Anzahl der Sicherheitskräfte. Aber wir haben die Waffen. Es ist nur eine Sache der Verteilung.“

„Diese Sache hat oberste Priorität, Hut. Das wissen Sie sicher.“

„Natürlich.“

„Und dann geht es darum, jedes Mitglied Ihrer Truppen zu bewaffnen.“

„Ja.“

„Wie ist das Verhältnis zwischen Männern und Frauen bei den Loyalitätsüberwachern?“

„Etwa 60 Männer auf 40 Frauen, Exzellenz.“

„Etwa?“

„Es sind genau 58 auf 42.“

„Ausgezeichnet. Leon! Sie sind wieder da!“

„Verzeihen Sie, Exzellenz.“

„Nehmen Sie doch Platz. Darf ich Ihnen –“

„Ich würde lieber stehen bleiben, falls Sie nichts dagegen haben, Exzellenz. Und ich habe Mr Hut bereits kennengelernt. Ein beeindruckender junger Mann.“

„Ja, nun, ich bin froh, dass Sie so denken. Ich werde mir am Ende der kommenden Woche ein Urteil bilden, wenn mir berichtet wird, dass er seine Aufgabe erfüllt hat. Und mit großem Interesse warte ich darauf zu erfahren, wie er hier mit Menschen verfahren wird, die nicht bereit waren, sich eines Besseren belehren zu lassen.“

„In Israel, Sir, Potentat?“, fragte Hut.

„Das habe ich mit ‚hier‘ gemeint, ja.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihnen hier jemand Probleme bereiten wird, aber falls das der Fall sein sollte –“

David hörte, wie Carpathia scharf den Atem einzog. „Ja!“, zischte der Potentat. „Sagen Sie mir, Hut, was Sie mit den Menschen tun werden, die so unklug sind, sich mir hier in der Heiligen Stadt zu widersetzen.“

„Sie würden natürlich sofort gefangen genommen und ins Gefängnis geworfen!“

„Falsch!“, rief Carpathia. „Das war die falsche Antwort! Akbar, ich schwöre, wenn Sie nicht –“

David hörte Akbar aufgeregt flüstern. Dann ergriff wieder Loren Hut das Wort. „Ich würde sie töten lassen, Potentat. Auf der Stelle. Oder ich würde sie selbst töten!“

„Und wie würden Sie das tun?“

„Ich würde sie vermutlich erschießen.“

„Wo?“

„Auf der Straße. In der Öffentlichkeit. Vor allen Menschen.“

„Ich meine, wohin würden Sie zielen?“

„Zielen?“

„Wo würden Sie sie erschießen?“ Carpathia sprach jetzt schnell, seine Worte kamen flüssig, so als würde er allein den Gedanken daran genießen.

„Ins Herz oder in den Kopf, Potentat, damit er auch bestimmt tot ist.“

„Ja! Nein! Wie viele Kugeln sind in Ihrem Magazin?“

„Ich? Ich habe eine halbautomatische Pistole mit einem Magazin für neun Patronen.“

„Verschießen Sie alle!“

„Alle?“