Harmagedon - Jerry B. Jenkins - E-Book

Harmagedon E-Book

Jerry B. Jenkins

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Beschreibung

Harmagedon - die entscheidende Schlacht zwischen den Mächten der Finsternis und des Lichts - steht kurz bevor. Der Antichrist vereint die Truppen der ganzen Welt in Israel, sodass sich die Gläubigen in Petra einer Armee gegenübersehen, gegen die sie nichts werden ausrichten können. Wer wird angesichts der Gefahren seinem Glauben treu bleiben? Sollten sich die Gläubigen wirklich in die Sicherheit von Petra zurückziehen, während in Jerusalem noch Millionen von Juden ausharren und auf ihren Messias warten? Im 11. Band der "Finale"-Reihe setzen die Autoren die weltweit erfolgreichste Roman-Serie fort. Folgen Sie der Tribulation Force um die ganze Welt, während die Geschichte der Menschheit ihrem Ende entgegengeht. Begeben Sie sich auf das Schlachtfeld von Harmagedon, wenn der Antichrist seine Armeen gegen Petra und Jerusalem marschieren lässt ...

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Tim LaHaye • Jerry B. Jenkins

Harmagedon

Die letzten Tage der Erde

Roman

Die amerikanische Originalausgabe erschien im Verlag

Tyndale House Publishers, Inc., Wheaton, Illinois, USA,

unter dem Titel „Armageddon“.

© 2003 by Tim LaHaye und Jerry B. Jenkins

© der deutschen Taschenbuchausgabe 2007 by Gerth Medien GmbH, Dillerberg 1, 35614 Asslar

Aus dem Englischen von Eva Weyandt mit Genehmigung

von Tyndale House Publishers, Inc.

Left Behind © ist ein eingetragenes Warenzeichen

von Tyndale House Publishers, Inc.

Die Bibelstellen wurden der Einheitsübersetzung entnommen.

© 1980 Katholische Bibelanstalt, Stuttgart.

Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart

Taschenbuch ISBN 978-3-86591-280-0

eBook ISBN 978-3-96122-107-3

Umschlaggestaltung: Michael Wenserit; Julie Chen

Umschlagillustration: Tim O’Brien

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Zur Erinnerung an

A.W. Tozer,

der Gott nachjagte

Mit besonderem Dank an

David Allen

für seine technische Beratung

Sechs Jahre nach Beginn der Trübsalszeit – zweieinhalb Jahre nach Beginn der Großen Trübsalszeit

Die Christen

Rayford Steele, Ende 40, flog als Flugkapitän für die Fluglinie Pan-Continental und verlor bei der Entrückung Frau und Sohn. Nach den dramatischen Ereignissen wurde er Flugkapitän von Potentat Nicolai Carpathia. Er ist Gründungsmitglied der Tribulation Force. Mittlerweile ist er ein international gesuchter Flüchtling. Aufenthaltsort: Petra.

Cameron „Buck“ Williams, Anfang 30, ehemaliger Chefreporter des Global Weekly und früherer Herausgeber des Global Community Weekly. Er ist Gründungsmitglied der Tribulation Force und mittlerweile Herausgeber einer Internet-Zeitung mit dem Namen „Die Wahrheit“. Er hält sich als international gesuchter Flüchtling in San Diego auf.

Chloe Steele Williams, Mitte 20, war vor den Ereignissen Studentin an der Stanford-Universität und hat Mutter und Bruder bei der Entrückung verloren. Sie ist die Tochter von Rayford, Ehefrau von Buck und Mutter des dreieinhalbjährigen Kenny Bruce. Darüber hinaus ist sie Leiterin und Initiatorin der „Internationalen Handelsgesellschaft“, einem Untergrundnetzwerk von Christen. Auch sie ist Gründungsmitglied der Tribulation Force. Sie hält sich als international gesuchter Flüchtling in San Diego auf.

George Sebastian, Ende 20, ehemaliger Kampfhubschrauberpilot der in San Diego stationierten US-Luftwaffe. Er hält sich mit anderen Mitgliedern der Tribulation Force im Untergrund in San Diego auf.

Ming Toy, Mitte 20, Witwe, früherer Wachoffizier in einem belgischen Frauengefängnis, hat sich unerlaubt vom Dienst entfernt. Sie hält sich in San Diego im Untergrund auf.

Ree Woo, Mitte 20, Pilot der „Internationalen Handelsgesellschaft“. Er hält sich in San Diego im Untergrund auf.

Tsion Ben-Judah, Anfang 50, früher rabbinischer Gelehrter und ehemaliger israelischer Staatsmann. Er sprach im israelischen Fernsehen öffentlich über seinen Glauben an Jesus als den Messias, woraufhin seine Frau und seine beiden Kinder ermordet wurden. Einige Zeit lang war er geistlicher Führer und Lehrer der Tribulation Force, heute lehrt er die jüdischen Flüchtlinge in Petra. Über das Internet kommuniziert er täglich mit mehr als einer Milliarde Menschen.

Dr. Chaim Rosenzweig, Anfang 70, israelischer Nobelpreisträger, Botaniker und Staatsmann. Er verübte den Anschlag auf Carpathia. Er führt die jüdischen Flüchtlinge in Petra an.

Abdullah Smith, Mitte 30, war früher jordanischer Kampfflieger und danach Erster Offizier der Phoenix 216. Man nimmt offiziell an, dass er bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, in Wahrheit hält er sich aber in Petra auf.

Al B. (Albie), Anfang 50, gebürtig aus Al Basrah im Norden Kuwaits. Er ist Pilot und ein international tätiger Schwarzmarkthändler. Heute ist er Mitglied der Tribulation Force und hält sich im Untergrund in Al Basrah auf.

Mac McCullum, Anfang 60, ehemaliger Pilot Carpathias. Man nimmt offiziell an, dass er bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, in Wahrheit hält er sich im Untergrund in Long Grove, Illinois, auf.

Hannah Palemoon, Anfang 30, arbeitete als Krankenschwester in dem Krankenhaus der Weltgemeinschaft in Neu-Babylon. Auch sie saß angeblich in dem abgestürzten Flugzeug, befindet sich aber im Untergrund in Long Grove, Illinois.

Lea Rose, Anfang 40, ehemals Oberschwester im Arthur Young Memorial Hospital in Palatine, Illinois. Sie hält sich im Untergrund in Long Grove, Illinois, auf.

Lionel Whalum, Ende 40, früher Geschäftsmann, heute Pilot der „Internationalen Handelsgesellschaft“. Er befindet sich ebenfalls im Versteck in Long Grove, Illinois.

Chang Wong, 20, ist Ming Toys Bruder. Er ist Maulwurf der Tribulation Force im Hauptquartier der Weltgemeinschaft in Neu-Babylon.

Gustaf Zuckermandel jr. (Zeke oder Z.), Mitte 20, ist Urkundenfälscher und Verkleidungsspezialist. Sein Vater starb durch die Guillotine. Er hält sich in einem Untergrundversteck in Avery, Wisconsin, auf.

Die Feinde

Nicolai Jetty Carpathia, Ende 30, war während der dramatischen Ereignisse Präsident von Rumänien und wurde dann Generalsekretär der Vereinten Nationen. Carpathia war bis zu seiner Ermordung in Jerusalem selbst ernannter Potentat der Weltgemeinschaft. Drei Tage später kehrte er auf dem Palastgelände der Weltgemeinschaft in Neu-Babylon ins Leben zurück.

Leon Fortunato, Mitte 50, ist Carpathias rechte Hand. Augenblicklich ist er der allerhöchste geistliche Führer des Carpathianismus und verkündet den Potentaten als den auferstandenen Gott. Er hält sich im Palast der Weltgemeinschaft in Neu-Babylon auf.

Viv Ivins, Ende 60, ist schon lange mit Carpathia befreundet und arbeitet für die Weltgemeinschaft. Sie hält sich im Palast der Weltgemeinschaft in Neu-Babylon auf.

Suhail Akbar, Mitte 40, Carpathias Sicherheits- und Geheimdienstchef. Er hält sich im Palast der Weltgemeinschaft in Neu-Babylon auf.

Prolog

„Zum ersten Mal seit langer Zeit“, begann Nicolai, „spielen wir das Spiel wieder gleichberechtigt mit. Die Wasserwege regenerieren sich selbst und im Bereich der Infrastruktur ist einige Aufbauarbeit zu leisten. Wir wollen dazu beitragen, alle unsere loyalen Bürger wieder auf eine Stufe mit uns zu stellen. Direktor Akbar und ich haben für die Abtrünnigen einige Überraschungen parat. Wir sind wieder im Geschäft, Leute. Es ist an der Zeit, dass wir unsere Verluste wegstecken und selbst wieder austeilen.“

Die neue Stimmung dauerte drei Tage. Dann gingen die Lichter aus. Im wahrsten Sinne des Wortes. Alles wurde dunkel. Nicht nur die Sonne, sondern auch der Mond, die Sterne, Straßenlaternen, elektrische Lichter, die Scheinwerfer. Alles, was je Licht abgegeben hatte, war jetzt dunkel. Die Nummern auf den Telefonen, die Taschenlampen, alles, was schillerte, was im Dunkeln glühte. Die Notlichter, Ausgangsbeleuchtung, Alarmleuchten – alles. Es war stockdunkel.

Wie hieß noch die Redewendung? Dass man die Hand nicht vor Augen sehen könne? Das traf zu. Gleichgültig, welche Tageszeit es war – die Menschen konnten nichts sehen. Weder ihre Uhren, Armbanduhren, nicht einmal Feuer, Streichhölzer, nichts. Es schien, als sei das Licht nicht einfach nur ausgegangen. Jede Spur davon schien vom Universum verschluckt worden zu sein.

Die Menschen schrien vor Angst auf, als sie sich mit dem schlimmsten Albtraum ihres Lebens konfrontiert sahen – und es hatte bisher wirklich viele gegeben.

Sie waren blind – vollständig unfähig, irgendetwas anderes außer Dunkelheit zu sehen, 24 Stunden am Tag.

Sie tasteten sich durch den Palast, sie drängten sich nach draußen. Sie versuchten, jedes Licht und jeden Schalter anzuknipsen, an die sie sich erinnern konnten. Sie sprachen miteinander, um zu erfahren, ob nur sie das Problem hatten oder alle anderen auch. Sucht eine Kerze! Reibt zwei Stöcke aneinander! Erzeugt Reibung auf dem Teppich und statische Elektrizität. Tut alles. Alles! Irgendetwas muss doch den Hauch eines Schattens erzeugen, einen kleinen Lichtstrahl.

Aber alles war umsonst.

Chang verspürte den Drang zu lachen. Er wollte in brüllendes Gelächter ausbrechen. Er wünschte, er könnte allen Menschen überall erzählen, dass Gott erneut einen weiteren Fluch ausgesprochen hatte, ein weiteres Gericht über die Erde hatte kommen lassen, von dem nur diejenigen betroffen waren, die das Zeichen des Tieres trugen. Denn Chang konnte sehen. Es war zwar anders, da auch er keine Lichter sah. Er sah alles dunkler, als hätte jemand in einem Kronleuchter die Wattzahl heruntergedreht.

Er sah, was er sehen musste, auch seinen Computer, seinen Bildschirm, seine Uhr und seine Wohnung. Sein Essen, sein Waschbecken, seinen Herd – alles. Und das Beste war, er konnte auf seinen Gummisohlen im Palast herumschleichen, zwischen seinen Kollegen hindurch, während sie sich vorantasteten.

Schon nach wenigen Stunden passierte etwas noch Seltsameres. Die Leute starben nicht an Hunger oder Durst. Sie konnten sich den Weg zu Essen und Trinken ertasten. Aber sie konnten nicht arbeiten. Es gab nichts, über das man sprechen konnte, kein anderes Gesprächsthema als die verfluchte Dunkelheit. Und aus irgendeinem Grund fingen sie auch an, Schmerz zu empfinden.

Es juckte und sie kratzten sich. Sie hatten Schmerzen und sie rieben. Sie schrien auf und kratzten sich noch mehr. Bei vielen wurde der Schmerz so stark, dass sie auf dem Fußboden zusammensanken, sich wanden, sich kratzten und Erleichterung suchten.

Je länger es dauerte, desto schlimmer wurde es, und jetzt verfluchten die Menschen Gott und bissen sich auf ihre Zungen. Sie krochen über die Flure, suchten nach Waffen, flehten Freunde und sogar Fremde an, sie zu töten. Viele begingen Selbstmord. Der gesamte Palastkomplex wurde zu einem Heim der Schreie, des Stöhnens und des Jammerns, während in den Menschen die Überzeugung wuchs, dass dies das Ende der Welt war.

Aber sie hatten kein Glück. Wenn sie nicht den Mut aufbrachten, sich selbst zu töten, litten sie. Ihr Leid verschlimmerte sich von Stunde zu Stunde. Von Tag zu Tag. Es ging immer weiter. Und nach einer ganzen Weile hatte Chang die beste Idee seines Lebens.

Wenn es je einen guten Zeitpunkt für ihn gegeben hatte, aus dem Palast zu fliehen, dann jetzt. Er würde sich mit Rayford oder Mac in Verbindung setzen, mit irgendjemandem, der bereit und in der Lage war, ihn abzuholen. Er ging davon aus, dass es den anderen Mitgliedern der Tribulation Force, ja, sogar allen Gläubigen auf der Welt, die das Siegel Gottes trugen, genauso erging wie ihm.

Jemand würde mit einem Jet herfliegen und hier in Neu-Babylon landen. Die Angehörigen der Weltgemeinschaft würden alle in De-ckung gehen, da sie keine Ahnung hatten, wie so etwas in vollkommener Dunkelheit möglich sein sollte. Solange niemand sprach, konnte auch niemand identifiziert werden. Die Tribulation Force könnte Waffen und Flugzeuge anfordern, was immer sie wollte.

Falls jemand sie ansprach oder ihnen drohte, so hatte die Tribulation Force immer noch den Vorteil, dass sie sehen konnte. Aber da Christus in einem Jahr wiederkommen würde, dachte Chang, waren die Guten sogar noch besser dran als damals, als sie nur tagsüber ihre Arbeit hatten tun können.

Im Augenblick waren die Gläubigen im Vorteil, solange Gott es für angemessen hielt, die Rollläden heruntergezogen und die Lichter ausgeknipst zu halten.

„Gott“, betete Chang, „gib mir nur noch ein paar Tage Dunkelheit.“

1

Zum ersten Mal seit dem Start bekam Rayford Steele Bedenken wegen ihres Passagiers.

„Wir hätten sie nicht mitnehmen sollen, Smitty“, seufzte er. Er warf Abdullah, der am Steuerknüppel saß, einen verstohlenen Seitenblick zu.

Der Jordanier schüttelte den Kopf. „Das war Ihre Entscheidung, Captain, so leid es mir tut. Ich habe versucht, Ihnen klarzumachen, wie wichtig sie für Petra ist.“

Die Dunkelheit, die nur Neu-Babylon einhüllte, aber schon aus einer Entfernung von gut 100 Meilen sichtbar war, war anders als alles, was Rayford bisher in seinem Leben gesehen hatte. Als Abdullah mit der Gulfstream den Landeanflug auf Irak begann, war es 12 Uhr mittags Palastzeit.

Gewöhnlich funkelten die prächtigen Gebäude der neuen Welthauptstadt in der hellen Mittagssonne. Jetzt erhob sich, so weit das Auge sehen konnte, von Neu-Babylons ausgedehnten Grenzen eine schwarze Säule in den wolkenlosen Himmel.

Chang Wong war Rayfords Maulwurf im Inneren des Palastes. Im Vertrauen auf die Aussage des jungen Mannes, dass sie im Gegensatz zu allen anderen würden sehen und alles erkennen können, warf Rayford Abdullah einen weiteren Seitenblick zu, als dieser das Flugzeug aus der Helligkeit des wolkenlosen Tages in die Dunkelheit steuerte. Abdullah schaltete die Landescheinwerfer an.

Rayford blinzelte. „Brauchen wir das ILS?“

„Das Instrumenten-Landesystem?“, fragte Abdullah. „Ich glaube nicht, Captain. Ich habe ziemlich gute Sicht.“

Angesichts der unheimlichen Dunkelheit, die in Neu-Babylon herrschte, musste Rayford unwillkürlich an den strahlenden Sonnenschein in Petra denken. Er spähte über die Schulter zurück zu der jungen Frau. Sicher hatte sie Angst. Doch sein prüfender Blick verriet ihm, dass dies nicht der Fall war.

„Wir können immer noch umkehren“, schlug er vor. „Dein Vater schien über unseren Abflug nicht gerade begeistert gewesen zu sein.“

„Er hat sich vermutlich um Sie Sorgen gemacht“, erwiderte Naomi Tiberias. „Dass ich klarkommen werde, weiß er.“

Der Humor und Witz der noch jungen Computerexpertin waren legendär. Im Umgang mit Erwachsenen wirkte sie anfangs schüchtern und zurückhaltend, doch wenn sie jemanden besser kannte, wurde sie ihm gegenüber offener. Sie hatte Abdullah geholfen, seine Computerkenntnisse zu erweitern, und seit in Neu-Babylon die Lichter ausgegangen waren, war sie praktisch unablässig mit Chang in Kontakt geblieben.

„Warum ist es nur hier so dunkel?“, fragte Naomi. „Das ist so seltsam.“

„Ich weiß es nicht“, erwiderte Rayford. „In der Prophezeiung heißt es, die Ereignisse würden nur ‚den Thron des Tieres‘ betreffen und über sein Reich würde sich Dunkelheit legen. Mehr wissen wir auch nicht.“

Bei jedem seiner Besuche in Petra hatte Rayford festgestellt, dass Naomis Verantwortungsbereich und ihr Einfluss unter den Israeliten gewachsen waren. Schon früh hatte sie sich als Technologiespezialistin zu erkennen gegeben und ihr Wissen an andere weitervermittelt. So war sie trotz ihres Alters langsam, aber sicher zur Leiterin des umfangreichen Computerzentrums in Petra avanciert – zur Lehrerin, die die Lehrer lehrte.

Das Computerzentrum, das von Changs Vorgänger, dem verstorbenen David Hassid, geplant und eingerichtet worden war, ermöglichte es den Israeliten, die in Petra Zuflucht gesucht hatten, Tag für Tag mit den Menschen außerhalb der Felsenstadt in Kontakt zu bleiben. Mithilfe von Tausenden von Computern konnten die Mentoren über das Internet mit Tsion Ben-Judahs weltweiter Leserschar Verbindung aufnehmen. Naomi koordinierte den Kontakt zwischen Chang in Neu-Babylon und den Mitgliedern der Tribulation Force auf der ganzen Welt.

Dass sie zusammen mit den anderen nach Neu-Babylon kam, um Chang abzuholen, war dessen Idee gewesen. Rayford selbst war anfangs nicht damit einverstanden gewesen. Da der 7500 Meilen weite Flug von San Diego nach Petra sehr anstrengend gewesen war, hatte Abdullah für die letzten 500 Meilen den Steuerknüppel übernommen. Der kampferprobte George Sebastian wäre im Grunde besser geeignet gewesen, aber Rayford fand, dass dieser in letzter Zeit sehr beansprucht worden war. In San Diego gab es genug für ihn zu tun, und außerdem wollte Rayford Georges Kräfte für die „Schlacht des großen Tages Gottes, des Allmächtigen“ sparen, wie Dr. Ben-Judah sie nannte. Diese Schlacht würde in weniger als einem Jahr stattfinden.

Mac McCullum und Albie, die in Al Basrah, knapp 200 Meilen südlich von Neu-Babylon, stationiert waren, standen ebenfalls bereit. Aber für sie hatte Rayford andere Aufgaben.

Rayfords Schwiegersohn Buck Williams und seine Tochter Chloe hatten angeboten, bei der Rettung Changs aus der Höhle des Löwen zu helfen, aber Rayford war davon überzeugt, dass Buck schon bald in Israel von größerem Nutzen sein würde. Und was Chloe betraf – die Internationale Handelsgesellschaft brauchte dringend ihre Kompetenz und ihr Sachwissen. Außerdem musste sich jemand um den kleinen Kenny kümmern.

„Pack alles zusammen, was du gebrauchen kannst, Chang“, hatte Rayford diesen ermuntert. „Smitty und ich werden dich in ein paar Tagen abholen.“

Chang hatte erwidert, diese Aufgabe sei zu umfangreich, um sie alleine bewältigen zu können. Wenn Naomi ihm helfen könnte, würden sie viel schneller aufbrechen können.

„Es darf nichts zurückbleiben. Naomi könnte von großem Nutzen sein. Ich möchte den Palast von überall überwachen können.“

„Keine Sorge“, beruhigte Rayford ihn. „Du wirst sie schon bald persönlich kennen lernen.“

„Ich weiß nicht, was Sie meinen.“

„Ihr Vater gehört zu den Ältesten in Petra, weißt du?“

„Ach ja?“

„Sie sind die Einzigen, die von ihrer Familie noch übrig sind. Sein Beschützerinstinkt ist sehr stark ausgeprägt.“

„Wir haben beide viel zu erledigen.“

„Aha.“

„Ich meine es wirklich ernst, Captain Steele. Bitte bringen Sie sie mit. Es ist ja nicht so, als hätte ich sie nicht bereits auf dem Bildschirm gesehen.“

„Und, was hältst du von ihr?“

„Das habe ich Ihnen doch gesagt. Wir haben viel zu erledigen.“

Rayford spürte einen Ruck an seinem Copilotensitz. Naomi beugte sich vor. „Kann Mr Smith denn genug sehen, um diesen Flieger zu landen?“

„Das ist noch nicht sicher“, erwiderte Rayford. „Es sieht so aus, als hätte jemand unsere Fenster braun übermalt. Sieh mal zu, ob du unseren Jungen aufwecken kannst.“

Chang war sicher, dass die Landebahnen in Neu-Babylon frei waren, aber er konnte natürlich von dort aus nicht telefonieren, weil er befürchtete, jemand könnte ihn belauschen. Naomi holte einen kleinen, schmalen Computer aus einer Aluminiumhülle und tippte eifrig darauf herum.

„Meiden Sie die Landebahnen 3 links und rechts“, erklärte sie. „Und er möchte wissen, für welche Landebahn Sie sich entscheiden, damit er dort auf uns warten kann.“

Rayford entgegnete mit einem Blick zu Abdullah: „Meint er das ernst, Naomi?“

Sie nickte.

„Sag ihm, der Tower sei geschlossen und wir würden unsere Ankunft sowieso nicht melden. Von hier oben aus können wir nicht sehen, welche Landebahn es ist, darum wird er uns schon die Koordinaten geben müssen und –“

„Einen Augenblick“, unterbrach Naomi ihn und tippte wieder etwas ein. „Er hat alles durchgegeben, was Sie brauchen.“ Sie reichte Rayford den Laptop und deutete auf den Anhang der Mail. „Der Rechner ist stimmaktiviert. Sagen Sie nur, was Sie wissen möchten.“

„Die Maschine erkennt meine Stimme?“, fragte Rayford und starrte auf den Bildschirm.

„Ja“, erwiderte der Computer.

Naomi lachte.

„E-Mail-Anhang bitte“, sagte Rayford.

Ein ausführliches Raster mit einer Luftaufnahme des Flughafens von Neu-Babylon erschien auf dem Bildschirm.

„Ich werde die Koordinaten für Sie eingeben, Smitty“, bot Rayford an. Er programmierte die Daten in das Flugsystem ein.

„Dieses Teil macht alles für Sie außer kochen, Captain Steele“, sagte Naomi stolz. „Haben Sie einen Infrarotanschluss?“

„Ich denke schon. Haben wir so was, Smitty?“

Abdullah deutete auf ein Licht am Instrumentenbord.

„Hier“, erklärte Naomi. „Lassen Sie mich mal.“ Sie beugte sich über Rayfords Schulter und richtete die Rückseite des Laptops auf den Port aus. „Bereit zur Landung, Captain?“, fragte sie.

„Roger.“

„Landeanflug eingeleitet“, sagte sie und drückte auf einen Knopf.

„Landebahnwahl?“, fragte der Computer.

Naomi blickte Rayford an, der wiederum zu Abdullah hinübersah. „Erkennt das Ding sogar meinen Akzent?“, fragte der Jordanier.

„Ja“, erwiderte der Computer. „Landebahnen 3 links und 3 rechts sind belegt. Wählen Sie Landebahn 11 oder 16.“

„11“, entschied Abdullah.

„Links oder rechts?“, fragte der Computer nach.

„Links“, erwiderte Abdullah. „Warum auch nicht?“

Abdullah schaltete den linken Autopiloten ein und nahm die Hände vom Steuerknüppel. „Danke“, sagte er.

„Gern geschehen“, erwiderte der Computer.

Sechs Minuten später setzte die Gulfstream auf der Landebahn auf.

Um kurz nach ein Uhr morgens fuhr Buck in San Diego im Bett hoch.

Chloe rührte sich auch. „Schlaf weiter, Liebling“, forderte sie ihn auf. „Du hast jetzt drei Nächte Wache gehalten. Nicht heute Nacht.“

Er hob die Hand und wollte etwas einwenden.

„Du brauchst deinen Schlaf, Buck.“

„Ich dachte, ich hätte etwas gehört.“

Das kleine Funksprechgerät auf seinem Nachttisch meldete sich. Sebastians Spezialcode. Buck schnappte sich das Gerät.

„Ja, George?“

„Die Bewegungsmelder“, flüsterte Sebastian.

Jetzt fuhr auch Chloe hoch.

„Ich werde mich mit dem Periskop mal umsehen“, schlug Buck vor.

„Vorsichtig“, warnte Sebastian. „Schieb es nicht höher und dreh es auch nicht.“

„Verstanden. Hat sonst noch jemand was gemerkt?“

„Nein.“

„Also gut. Dann wollen wir mal.“

Chloe war bereits aus dem Bett gesprungen und zog sich ein Sweatshirt über. Sie schloss einen Schrank auf, holte zwei Maschinengewehre heraus und warf Buck eines davon zu, während er zu dem Periskop neben Kennys kleiner Kammer marschierte. Er lehnte die Waffe gegen die Wand, steckte das Funkgerät in die Tasche seines Schlafanzugs und sah durch das Periskop. Während sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, hörte er, dass Chloe die Tür zu Kennys Zimmer öffnete und wieder schloss. Mit seinen fast vier Jahren schlief Kenny jetzt länger, aber nicht mehr so tief wie früher.

„Ist er wach?“, fragte Buck, ohne den Blick von dem Periskop zu lösen.

„Schläft tief und fest“, erwiderte Chloe. Sie legte Buck einen Pullover über die Schultern. „Wie du es eigentlich auch tun solltest.“

„Ich wünschte, es wäre so“, seufzte Buck.

„Das glaub ich dir gern.“ Sie legte ihm die Hände auf die Schultern. „Was siehst du?“

„Nichts. George sagt, ich solle das Fernrohr nicht drehen. Im Augenblick ist es auf Bodenhöhe nach Westen ausgerichtet. Ich würde es gern sechs Zentimeter höherschieben, damit ich einen besseren Überblick bekomme.“

„Er hat recht, Schatz“, wandte sie ein. „Du weißt, dass es immer quietscht, wenn es bewegt wird. Jeder, der da draußen ist, könnte es hören.“

„Ich glaube nicht, dass jemand da ist“, erwiderte Buck. Er wandte sich ab und rieb sich die Augen.

Sie seufzte. „Möchtest du einen Stuhl?“

Er nickte und kehrte zum Periskop zurück. „Könnte natürlich ein Tier gewesen sein. Vielleicht der Wind.“

Chloe schob einen Stuhl gegen seine Knie und drückte ihn darauf. „Darum solltest du mich einfach –“

„Oh nein“, stöhnte er.

„Was ist?“

Er legte den Finger an die Lippen und zog sein Funkgerät aus der Tasche.

„George“, flüsterte er. „Sechs, sieben, acht, neun. Neun bewaffnete Soldaten der Weltgemeinschaft unmittelbar im Westen.“

„Was tun sie?“

„Nicht viel. Sie lungern rum. Sie wirken gelangweilt. Vielleicht hat im Vorbeifahren irgendetwas ihre Aufmerksamkeit erregt.“

„Irgendwelche Fahrzeuge?“

„Kann ich nicht sehen. Ich müsste das Rohr ausfahren und drehen.“

„Das geht nicht. Sind da noch mehr Soldaten?“

„Kann ich von hier aus nicht erkennen. Es kommen keine mehr dazu. Jetzt kann ich nur noch drei sehen.“

„Achte auf Motorengeräusche.“

Buck schwieg eine Weile. Dann: „Ja, ich kann einen Motor hören. Und jetzt noch einen.“

„Ich höre sie auch“, bestätigte George. „Ich glaube, sie fahren weg. Kann ich rüberkommen?“

„Sag ihm, er soll lieber nicht kommen“, flüsterte Chloe.

Die Flughafenangestellten, die Rayford durch das Cockpitfenster in der unheimlichen gelbbraunen Landschaft erkennen konnte, schienen entsetzliche Schmerzen zu erleiden. Chang hatte ihm gesagt, die Leute würden sich winden und stöhnen, aber der landende Jet hatte sie offensichtlich in Panik versetzt. Sie mussten davon ausgehen, dass das Flugzeug abstürzen würde, wie es auf den Landebahnen 3 links und rechts augenscheinlich bereits mit anderen Maschinen geschehen war.

Es war, als hätten die Menschen den Versuch aufgegeben, etwas sehen zu wollen. Jeder, der sich in der Nähe der Gulfstream IX befand, war in die Dunkelheit getaumelt, um dem Jet zu entkommen, und jetzt kauerten sie in kleinen Gruppen hier und dort am Boden.

„Das muss Chang sein“, sagte Rayford. Er deutete auf einen schlanken Asiaten, der auf sie zueilte und sie wild gestikulierend aufforderte, die Tür zu öffnen.

„Lass mich das machen, Naomi“, erwiderte Abdullah. Er löste seinen Gurt und stieg über ihre Beine hinweg. Nachdem er die Tür geöffnet und die Trittleiter heruntergelassen hatte, sah Rayford, wie Chang sich an eine kleine Gruppe von Männern und Frauen in dunklen Arbeitsoveralls wandte, die tastend hinter ihm herkamen.

„Bleibt weg!“, rief er. „Gefahr! Heiße Motoren! Und außerdem tritt Öl aus!“

Sie wandten sich um und zerstreuten sich in alle Richtungen. „Wie ist sie heruntergekommen?“, rief jemand.

„Das ist ein Wunder“, bemerkte ein anderer.

„Habt ihr auch an Schuhe mit Gummisohlen gedacht?“, fragte Chang, als er ihnen aus dem Flugzeug half.

„Ich finde es auch schön, dich zu sehen, Chang“, begrüßte Abdullah ihn grinsend.

Chang bedeutete ihm zu schweigen. „Die Leute hier sind blind“, flüsterte er. „Aber nicht taub.“

„Chang“, begann Rayford, doch der junge Mann war gerade dabei, sich mit Naomi bekannt zu machen. „Also gut, ihr zwei, ihr könnt euch später kennen lernen. Jetzt wollen wir erst mal erledigen, was wir zu tun haben, und dann hier verschwinden.“

„Soll ich mich anziehen?“, fragte Buck, als er Sebastian im Overall entdeckte.

„Nein. Den habe ich immer an, wenn ich Wache schiebe. Lass mich mal sehen.“ Er spähte durch das Periskop.

„Nichts. Soll ich es ausfahren und drehen, Buck?“

„Nur keine Scheu.“

„Alles klar. Falscher Alarm.“

Chloe schnaubte. „Das sagt ihr nur, um mich zu beruhigen. Mindestens neun Soldaten der Weltgemeinschaft waren dort draußen und vermutlich waren es sogar noch mehr. Sie kommen bestimmt zurück.“

„Hey“, wandte Sebastian ein. „Wir sollten das Beste annehmen und nicht das Schlimmste.“

„Vielleicht tue ich das ja?“, widersprach sie. „Priscilla und Beth Ann haben weitergeschlafen?“

Er nickte. „Vielleicht erzähle ich Priss lieber gar nichts davon, darum wäre ich euch dankbar, wenn –“

„Wenn ich es auch nicht tun würde? Das ist vernünftig, George. Die kleine Frau lieber nur nicht beunruhigen. Sie braucht ja nicht zu merken, dass es Zeit ist weiterzuziehen“, spottete Chloe.

„Weiterziehen?“, fragte Buck. „Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen.“

„Dann sitzen wir also einfach hier herum und warten, bis sie uns finden, was sie vielleicht sogar schon getan haben?“

„Chloe, hör mir zu“, beruhigte Buck sie. „Du hättest dir diese Jungs vielleicht einfach mal ansehen sollen. Sie waren nicht einmal misstrauisch. Vermutlich haben sie nur darüber gesprochen, dass das hier früher einmal eine Militärbasis gewesen ist. Sie wirkten überhaupt nicht angespannt, haben sich nicht einmal richtig umgesehen. Sie haben die Ventile entdeckt und sie überprüft, das war alles.“

Chloe schüttelte den Kopf und sank auf einen Stuhl. „Ich hasse es, so zu leben.“

„Ich auch“, seufzte Sebastian. „Aber welche Möglichkeiten haben wir? Die Weltgemeinschaft hat gestern in den Überresten von Los Angeles eine Enklave von Menschen gefunden, die das Zeichen nicht trugen. Sie haben mehr als zwei Dutzend hingerichtet.“

Chloe schnappte nach Luft. „Gläubige?“

„Ich glaube nicht. Normalerweise sagen sie es, wenn es sich um Judahiten handelt. Ich hatte den Eindruck, dass es eher ein Schlupfwinkel von irgendwelchen Milizgruppen gewesen ist. Etwas in der Art.“

„Das sind die Menschen, die wir erreichen wollen“, sagte Chloe. „Und wir sitzen hier herum und können unser Gesicht nicht auf der Straße zeigen, ziehen Kinder groß, die fast nie die Sonne sehen. Gibt es nicht irgendeinen Ort mitten im Nichts, wo die Weltgemeinschaft uns nicht aufstöbern kann?“

„Die beste Alternative wäre natürlich Petra“, bemerkte Buck. „Sie wissen, wer da ist, können aber nichts dagegen unternehmen.“

„Dieser Gedanke gefällt mir immer besser. Aber wie auch immer, was werden wir wegen dem unternehmen, was gerade passiert ist?“

Buck und Sebastian sahen sich an.

„Kommt schon, Jungs“, sagte Chloe. „Du denkst, Priscilla hätte nicht gemerkt, dass du weg bist, und würde nicht fragen, wo du gewesen bist?“

„Sie weiß, dass ich Wache habe.“

„Aber hierher kommst du nur, wenn etwas los ist.“

„Ich hoffe, dass sie weitergeschlafen hat.“

Chloe erhob sich und setzte sich auf Bucks Schoß. „Seht mal, ich will wirklich nicht mit euch streiten … Buck, sag es ihm.“

„Chloe Steele Williams will wirklich nicht mit uns streiten“, verkündete er.

„Okay“, murmelte Sebastian. „Sie hätte mich durchaus täuschen können.“

Chloe schüttelte den Kopf. „George, bitte. Du weißt, wie froh wir sind, dass du Teil der,Tribulation Force‘ bist. Dein Talent ist von unschätzbarem Wert für uns und mehr als einmal hast du uns vor einer Katastrophe bewahrt. Aber alle, die hier leben, haben es verdient zu erfahren, was ihr heute Nacht gesehen habt. Das den Leuten zu verschweigen, so zu tun, als sei es nie geschehen, wird nichts an der Tatsache ändern, dass wir beinahe entdeckt worden wären.“

„Aber wir wurden nicht entdeckt, Chloe“, wandte Sebastian ein. „Warum sollen wir die anderen in Aufregung versetzen?“

„Wir sind doch bereits aufgescheucht worden! Ich bin den ganzen Tag mit diesen Frauen und Kindern zusammen. Selbst ohne die Schnüffler von der Weltgemeinschaft, die mitten in der Nacht direkt über unsere Köpfe hinwegtrampeln, leben wir wie die Präriehunde. Die Kinder kommen nur dann an die frische Luft, wenn sie zufällig aufwachen, bevor die Sonne aufgeht, und jemand sie nach draußen bringt. Ihr Jungs müsst euch wegschleichen und 30 Meilen fahren, um zu euren Flugzeugen zu kommen, und das in der Hoffnung, dass ihr nicht verfolgt werdet. Ich sage nur, dass wir, wenn wir uns selbst verteidigen müssen, das Recht haben, darauf vorbereitet zu sein.“

Rayford nahm sich vor, Tsion danach zu fragen. Was war an dieser Dunkelheit so Besonderes, dass die Opfer Schmerzen litten? Er hatte von Katastrophenszenarien gehört – Zugunfällen, Erdbeben, Schlachten –, bei denen die Helfer noch jahrelang nach der Katastrophe von den Schreien und dem Stöhnen der Verletzten verfolgt wurden. Während er zusammen mit Abdullah und den beiden jungen Leuten über die Landebahn schlich, betrachtete er die sich vor Schmerzen windenden Menschen. Offensichtlich wären diese lieber tot, als so zu leiden.

Und einige waren bereits gestorben. Die Trümmer von zwei abgestürzten Flugzeugen blockierten zwei Landebahnen. Sie schwelten noch und viele verkohlte Leichen saßen noch auf ihren Sitzen.

Während er sich von den Toten zu den Leidenden bewegte, wurde Rayford von seinen Gefühlen überwältigt. Das Jammern und Klagen der Menschen drang ihm wie ein scharfes Messer ins Herz. Er verlangsamte seine Schritte, wollte so gern helfen. Aber was konnte er tun?

„Oh! Bitte!“ Das war der Schrei einer Frau mittleren Alters. „Bitte, helft mir doch! Helft mir!“

Rayford blieb stehen und starrte sie an. Sie lag auf der Seite auf dem Asphalt in der Nähe des Terminals. Andere wollten sie zum Schweigen bringen.

Ein Mann rief: „Wir sind alle genauso orientierungslos und blind, Frau! Wir brauchen genauso Hilfe wie du!“

„Ich habe Hunger!“, jammerte sie. „Hat jemand was zu essen?“

„Wir haben alle Hunger! Halt den Mund!“

„Ich möchte sterben.“

„Ich auch!“

„Wo ist der Potentat? Er wird uns retten!“

„Wann hast du den Potentaten das letzte Mal gesehen? Er hat seine eigenen Sorgen.“

Rayford konnte sich nicht von der Szene lösen. Er hob den Blick, aber auch er konnte nur etwa sechs Meter weit sehen. Er hatte die anderen verloren.

Abdullah kam wieder zurück. „Ich wollte Sie nicht mit Namen ansprechen, Captain, aber Sie müssen kommen.“

„Mein Freund, ich kann nicht.“

„Wollen Sie zum Flugzeug zurückgehen?“

„Ja.“

„Dann werden wir uns dort treffen.“

Abdullah entfernte sich wieder, aber ihre leise Unterhaltung hatte die Schreie zum Verstummen gebracht.

Jemand rief: „Wer ist da?“

Ein anderer: „Wo geht er hin?“

„Wer hat ein Flugzeug?“

„Können Sie sehen?“

„Was können Sie sehen?“

Erneut war die Stimme der Frau zu hören: „Oh Gott, rette mich.,Und ob ich schon wanderte –‘“

„Halt den Mund da drüben!“

„Gott ist groß und herrlich. Ich preise ihn mit Lobgesang –“

„Dass ich nicht lache! Wenn du nicht für Licht sorgen kannst, halt den Mund!“

„Gott! Oh Gott, rette mich!“

Rayford kniete nieder und legte der Frau die Hand auf die Schulter. Mit einem Aufschrei entwand sie sich ihm.

„Warten Sie!“, sagte er und griff erneut nach ihr.

„Oh! Der Schmerz!“

„Ich wollte Ihnen nicht wehtun“, entschuldigte er sich leise.

„Wer sind Sie?“, stöhnte sie. Er entdeckte die Zahl 6, die für die Vereinigten Europäischen Staaten stand, auf ihrer Stirn. „Ein Engel?“

„Nein.“

„Ich habe darum gebetet, dass er mir einen Engel sendet.“

„Sie haben gebetet?“

„Versprechen Sie, es niemandem zu erzählen. Ich flehe Sie an.“

„Sie haben zu Gott gebetet?“

„Ja!“

„Aber Sie tragen Carpathias Zeichen.“

„Ich verachte dieses Zeichen! Ich kenne die Wahrheit. Ich habe sie immer gekannt. Ich wollte nur einfach nichts damit zu tun haben.“

„Gott hat Sie geliebt.“

„Ich weiß, aber jetzt ist es zu spät.“

„Warum haben Sie ihn nicht um Vergebung gebeten und sein Geschenk angenommen? Er wollte Sie retten.“

Sie schluchzte. „Wie können Sie hier sein und so etwas sagen?“

„Ich bin nicht von hier.“

„Sie sind mein Engel!“

„Nein, aber ich gehöre zu den Gläubigen.“

„Und Sie können sehen?“

„Genug, um klarzukommen.“

„Oh, bringen Sie mich dahin, wo es etwas zu essen gibt. Bringen Sie mich in den Terminal zu den Snackautomaten. Bitte!“

Rayford versuchte ihr aufzuhelfen, aber sie fuhr zurück. Ihr Körper schien in Flammen zu stehen. „Bitte, fassen Sie mich nicht an!“

„Es tut mir leid.“

„Sie können mich am Ärmel halten. Sehen Sie den Terminal?“

„Nur schemenhaft“, erwiderte er. „Ich kann Sie dorthin bringen.“

„Bitte, Sir.“ Sie rappelte sich auf und nahm seinen Jackenärmel vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger. „Langsam, bitte.“ Mit kleinen Schritten trippelte sie hinter Rayford her. „Wie weit ist es?“, fragte sie.

„Keine hundert Meter.“

„Ich weiß nicht, ob ich das schaffe“, schluchzte sie. Die Tränen liefen ihr übers Gesicht.

„Ich werde Ihnen etwas holen“, schlug er vor. „Was möchten Sie?“

„Irgendetwas“, erwiderte sie. „Ein Sandwich, einen Schokoriegel, Wasser – irgendetwas.“

„Warten Sie hier bitte.“

Sie lachte erbittert auf. „Sir, ich sehe nur Dunkelheit. Ich könnte nirgendwohin gehen.“

„Ich bin sofort wieder da. Ich werde Sie schon finden.“

„Ich habe gebetet, Gott möge meine Seele retten. Und wenn er das tut, werde ich sehen können.“ Rayford wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Sie hatte selbst gesagt, dass es zu spät war. „Am Anfang …“, sagte sie. „Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt. Der Herr ist mein Hirte. Oh Gott …“

Rayford rannte zum Terminal, bahnte sich den Weg zwischen den schmerzgepeinigten Menschen hindurch. Am liebsten hätte er ihnen allen geholfen, aber er wusste, dass dies nicht möglich war. Ein Mann lag quer vor der automatischen Tür und rührte sich nicht. Rayford stellte sich vor den elektrischen Impulsgeber und die Tür öffnete sich ein paar Zentimeter. Doch der Mann blockierte sie.

„Bitte bewegen Sie sich von der Tür weg“, forderte Rayford ihn auf.

Der Mann war entweder tot oder er schlief.

Rayford drückte stärker, aber die Tür ließ sich kaum bewegen. Schließlich warf er sich mit aller Kraft dagegen. Langsam wurde der Mann von der Tür fortgeschoben. Rayford hörte sein Stöhnen.

Im Inneren fand Rayford die Verkaufsautomaten, doch als er in die Tasche griff, um ein paar Münzen herauszuholen, musste er feststellen, dass die Automaten zerstört worden waren. Einige Leute hatten sich bis hierhin vorgetastet, die Automaten mit Gewalt aufgebrochen und den gesamten Inhalt herausgeholt. Rayford suchte nach irgendetwas, das sie vielleicht übersehen hatten. Doch er fand nur leere Flaschen, Dosen und Verpackungen.

„Wer ist da?“, fragte jemand. „Wo gehen Sie hin? Können Sie sehen? Ist irgendwo Licht? Was ist passiert? Werden wir alle sterben? Wo ist der Potentat?“

Rayford eilte wieder nach draußen.

„Wo gehen Sie hin?“, rief jemand. „Nehmen Sie mich mit!“

Er fand die Frau auf dem Bauch liegend, ihr Gesicht in den Armen vergraben. Sie wurde von Schluchzern geschüttelt. Ihr Anblick zerriss ihm das Herz.

„Ich bin wieder da“, sagte er leise. „Doch es gibt nichts zu essen. Es tut mir leid.“

„Oh Gott, oh Gott und Jesus, hilf mir!“

„Madam“, sagte er und griff nach ihr. Sie schrie auf, als er sie berührte, aber er drehte ihr Gesicht zu sich herum, sodass er ihre leeren, blinden, verängstigten Augen sehen konnte.

„Ich ahnte es schon, bevor alle verschwunden sind“, schluchzte sie. „Und dann wusste ich es ganz genau. Bei jeder Plage und jedem Gericht drohte ich Gott mit der Faust. Er hat versucht, mich zu erreichen, doch ich habe mein eigenes Leben geführt. Ich wollte mich niemandem unterordnen. Aber vor der Dunkelheit habe ich immer Angst gehabt und Hunger ist mein schlimmster Albtraum. Ich habe meine Meinung geändert, möchte alles zurücknehmen …“

„Aber das geht nicht.“

„Es geht nicht! Es geht nicht! Ich habe zu lange gewartet!“

Rayford kannte die Prophezeiung. Menschen, die Gott zu oft zurückgewiesen hatten, würden nicht mehr zu ihm kommen können, selbst wenn sie es wollten. Gott hatte ihre Herzen verhärtet. Aber diese Prophezeiung zu kennen bedeutete nicht, dass Rayford sie verstand. Und ganz bestimmt bedeutete es nicht, dass sie ihm gefallen musste. Sie stimmte nicht mit dem Bild des Gottes, den er kannte, überein. Der Gott, den er kannte, war liebevoll und gnädig und suchte nach Möglichkeiten, wie er jeden im Himmel willkommen heißen konnte. Er würde niemanden vor verschlossenen Toren stehen lassen.

Rayford erhob sich und spürte, wie das Blut aus seinem Kopf wich. Und in diesem Augenblick vernahm er ein Rauschen aus den Lautsprechern.

„Hier spricht euer Potentat!“, ertönte wenig später Carpathias Stimme. „Seid guten Mutes. Habt keine Angst. Eure Qual ist bald vorüber. Folgt dem Klang meiner Stimme zum nächsten Lautsprecherturm. Essen und Getränke werden dorthin gebracht werden. Dort werdet ihr auch weitere Anweisungen bekommen.“

„Lasst uns eine Abmachung treffen“, sagte Chloe. „Ich werde den Rest der Wache übernehmen, und ihr erklärt euch bereit, morgen früh allen anderen von unserem Besuch heute Nacht zu erzählen.“

Buck blickte George an, der auf ihn deutete. „Du trägst hier die Verantwortung, wenn dein Schwiegervater fort ist, Kumpel.“

„Nur weil ich länger dabei bin. Ich beuge mich deinen militärischen Kenntnissen.“

„Das ist keine Schlacht, Mann. Hier geht es um Öffentlichkeitsarbeit. Aber wenn du meinen Rat hören willst: Ich würde sagen, tu, was du willst, aber tue es richtig. Sag ihnen: ‚Es ist nur fair, dass wir euch darüber informieren, dass wir in der Nacht Soldaten der Weltgemeinschaft hier gesehen haben, aber nach unserer Einschätzung müssen wir uns keine Sorgen machen.‘“

„Ist das fair, Chloe?“, fragte Buck.

Sie nickte. „Ich würde lieber beten und die Munition austeilen, aber ja. Behandelt alle wie Erwachsene, dann werden sie ihr Bestes geben.“

„Wenn du wirklich Wache hältst, Chloe“, sagte Sebastian, „dann gehe ich jetzt nach Hause und stelle mein Funkgerät ab.“

„Abgemacht.“

2

Wer auch immer sich darüber Gedanken gemacht hatte, wie er die verängstigten Bewohner von Neu-Babylon versammeln könnte, ging davon aus, dass die über die Lautsprecher gespielte Musik sie schon zu den Lautsprechertürmen locken würde.

Während nun Leon Fortunato, Nicolai Carpathias rechte Hand, beruhigend auf sie einredete – „Bewegt euch vorsichtig, loyale Untergebene. Helft einander. Meidet Gefahren.“ –, wurde im Hintergrund eine von einem 500 Stimmen umfassenden Chor aufgenommene Version der Hymne von „Heil dir, Carpathia“ gespielt:

Heil dir, Carpathia, unser Herr und auferstandener König.

Heil dir, Carpathia, er herrscht über alles.

Wir beten ihn an bis zum Tod;

er ist unser geliebter Nicolai.

Heil dir, Carpathia, unser Herr und auferstandener König.

Rayford hasste dieses Lied. Nahezu alle zwei Stunden wurde es von den Sendeanstalten der Weltgemeinschaft über das Radio gesendet. Carpathia bestand darauf, dass es bei jedem seiner öffentlichen Auftritte gesungen wurde. Die organisierten Paraden und Versammlungen zu seinen Ehren begannen und endeten immer mit diesem Lied.

Doch hier geschah etwas Seltsames. Zwar erhoben sich die Menschen und bewegten sich quälend langsam zu den Lautsprechertürmen, doch niemand sang mit.

„Denkt daran“, sagte Fortunato mit gepresster Stimme, und Rayford vermutete, dass auch er Schmerzen litt, „diejenigen von uns, die euch dienen, die euch Wasser und Nahrungsmittel bringen, können auch nicht sehen und sind auf die Orientierung durch die Durchsagen und die Musik angewiesen. Bitte habt Geduld und lasst die Schiebewagen durch. Wenn wir alle zusammenarbeiten, wird für jeden genug da sein. Und da das Bild unseres allerhöchsten Potentaten im Augenblick nicht sichtbar ist, lasst uns als Zeichen unserer Anbetung gemeinsam mit dem Chor die Hymne singen.“

Die Menschen in Rayfords Umgebung fühlten sich durch Fortunatos Worte augenscheinlich nicht ermutigt.

„Ich werde nicht singen“, sagte jemand. „Tod dem Potentaten!“

„Pass auf, was du sagst“, warnte ein anderer. „Du bringst dich in Teufels Küche!“

„Carpathia kann genauso wenig sehen wie wir anderen! Er weiß also nicht, wer das gesagt hat.“

„Er ist kein Sterblicher. Ich würde das Schicksal nicht herausfordern!“

„Was hat er denn in letzter Zeit für dich getan?“

Rayford nahm an, dass es den Menschen im Inneren des Palastes besser ging. Sie konnten sich wenigstens zu ihren Wohnungen, der Dusche, ihren Betten und Kühlschränken vortasten. Viele der Menschen, die sich im Freien aufhielten, fanden nicht einmal wieder den Weg hinein. Rayford konnte nur erahnen, welche Desorientierung überall herrschte, wo niemand sehen konnte. Selbst seine eingeschränkte Sehfähigkeit war schon frustrierend.

„Es gibt zwölf unterschiedliche Lautsprechertürme“, fuhr Fortunato fort. Zum Glück wurde die Musik leiser gedreht, während er redete. „Wenn die Vorräte eingetroffen sind, verhaltet euch bitte so geordnet wie möglich. Nennt euren Namen, damit unsere Mitarbeiter ihn auf Audiodisk aufnehmen können. Dann bekommt ihr eure Ration Essen und Wasser.“

„Wir wollen auch Antworten haben!“, rief jemand, als könne Fortunato ihn verstehen. „Was ist das? Wie lange wird es dauern? Warum haben wir Schmerzen?“

Chloe wusste, wie Ming Toy am folgenden Morgen auf diese neue Gefahr reagieren würde. Sie und Ree Woo würden auf der Stelle heiraten wollen. Alle außer Chloe hatten versucht, den beiden diese Sache auszureden, aber Ming hatte schon alles geplant. Tsion Ben-Judah sollte die Trauung über Video von Petra aus vornehmen.

„Ich weiß, es ist von einem so wichtigen und beschäftigten Mann viel verlangt“, vertraute sie Chloe an. „Aber die Trauung wird nur ein paar Minuten dauern.“

„Ich denke, er wird es machen“, hatte Chloe ihr geantwortet. „Wenn ich er wäre, würde ich es tun.“

Dieselben Leute, die Ming und Ree wegen der vorgerückten Stunde auf dem prophetischen Kalender von einer Heirat abrieten, hatten Chloe und Buck davor gewarnt, während der Trübsalszeit ein Kind zu bekommen. Aber bestimmte Dinge waren wirklich Privatsache. Chloe konnte sich nicht vorstellen, wie es wäre, wenn sie Buck nicht geheiratet hätte, obwohl sie wusste, wie wenig Zeit ihnen noch blieb. Und sie konnte sich auch ein Leben ohne ihren kleinen Sohn nicht mehr vorstellen.

Wenn Ming und Ree ein Jahr vor der Wiederkunft Christi heiraten wollten, dann war das doch ihre Angelegenheit. Es war ja nicht so, als wüssten sie nicht, was auf sie zukam. In dieser Phase der Menschheitsgeschichte noch eine Familie zu gründen war jedoch eine andere Sache, aber auch das ging sie nichts an, es sei denn, Ming fragte sie um Rat.

Buck schien nach ihrem Gespräch innerhalb von wenigen Sekunden wieder eingeschlafen zu sein. Sicher hatte George Sebastian recht gehabt mit seiner Annahme, dass seine Frau die Aufregung verschlafen hatte. Priscilla hatte immer etwas zu tun, war immer in Bewegung. Sie stand schon vor Tagesanbruch auf und ihre Gesundheit ließ sehr zu wünschen übrig. Häufig wirkte sie müde und in der Regel war sie schon gegen neun Uhr im Bett.

Chloe war froh, Wache halten zu können, und wenn schon aus keinem anderen Grund, dann um Buck einmal eine Nacht Ruhe zu gönnen. Drei Nächte hintereinander hatte er nun schon Wache gehalten.

Sie genoss die Routine, behielt den Bewegungsmelder im Blick und überwachte das Gelände durch das Periskop. Ihre Tagesarbeit war hektisch und verlangte ihr viel ab. Sie verbrachte fast den gesamten Tag am Computer, hielt den Kontakt zu den Lieferanten und koordinierte die Transporte der Lebensmittel und anderer Lieferungen auf der ganzen Welt. Auf diese Weise blieb sie über das Weltgeschehen auf dem Laufenden, doch die Nachrichten, die sie über ihre verborgenen Kanäle erhielt, verschlimmerten sich zusehends. Immer mehr Kontaktpersonen wurden aufgespürt, von Soldaten der Weltgemeinschaft bei nächtlichen Razzien oder an neu aufgebauten Kontrollstellen geschnappt. Sobald festgestellt wurde, dass diese Lieferanten das Loyalitätszeichen Carpathias nicht trugen, wurden sie hingerichtet.

Ein Augenzeuge berichtete, der Fahrer eines großen LKW, der mit norwegischen Ausgaben von Bucks Zeitschrift „Die Wahrheit“ beladen war, habe verhindern wollen, dass seine Ladung in die Hände der Weltgemeinschaft fiel. Er hatte die Wachen am Kontrollpunkt so lange abgelenkt, bis seinem Beifahrer die Flucht gelungen war. Dann habe er den Wagen eine Böschung hinunter in einen Fjord rollen lassen. Die Moralüberwacher hatten ihn erschossen.

Chloe hörte auch Nachrichten über Dissidenten auf der ganzen Welt – vorwiegend Juden –, die in Konzentrationslager gebracht und dort erbarmungslos gefoltert wurden. Doch man ließ sie nicht sterben; ganz bewusst wurden sie am Leben erhalten.

Gelegentlich gab es Berichte über das wundersame Eingreifen Gottes. Zum Beispiel erschien ein Engel an einer Guillotine und warnte die noch Unentschiedenen vor den Konsequenzen, die die Annahme von Carpathias Zeichen mit sich bringen würde. Abgesehen von der Tatsache, dass es mittlerweile nichts mehr nutzte, das Zeichen anzunehmen – die Nachzügler wurden in jedem Fall zu Tode gebracht –, hatte der Engel die Unentschlossenen angefleht, sich für Christus zu entscheiden und sich retten zu lassen. Und viele hatten es getan.

Chloe legte sich ein Tuch um die Schultern und spähte in Kennys Zimmer. Er atmete noch immer tief und langsam. Sie legte noch eine Decke über ihn. Er rührte sich nicht.

Sie schloss seine Zimmertür, überprüfte den Bewegungsmelder und setzte sich dann vor das Periskop. Da es keine Hinweise darauf gab, dass sich irgendjemand auf dem Gelände aufhielt, konnte sie es ausfahren und drehen. Es gefiel ihr, diese hochmoderne Vorrichtung in ihrer Wohnung zu haben. Es befriedigte ihr inneres Bedürfnis, ihre Familie und Freunde, die mehr als 200 Menschen, zu schützen – „zu kontrollieren“, hätte Buck sicher gespottet –, die jetzt in San Diego im Untergrund lebten. Alle hofften, bis zur Wiederkunft Christi zu überleben, aber mehr noch: aus ihrer beengten Behausung heraus irgendetwas bewirken zu können.

Ein besonderer Vorteil des Periskops lag darin, dass der Beobachtende sich nicht zu bewegen brauchte. Durch einen einfachen Schalter an den Handgriffen wurde die Vorrichtung ausgefahren und wieder eingezogen; auch konnte man sie dadurch in jede Richtung drehen. Chloe wollte gar nicht darüber nachdenken, wie viele Spiegel dafür benötigt wurden.

Während sie ihre Stirn an das Okular legte, sich entspannte und ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnte, bemerkte sie, dass George Sebastian das Periskop zu ebener Erde und nach Westen ausgerichtet zurückgelassen hatte. Die oberen Linsen waren mit falschen Büschen getarnt. Sie konnten fast zwei Meter ausgefahren werden, aber es war wichtig, zuvor die Umgebung zu ebener Erde zu überprüfen, um sicherzugehen, dass niemand in der Nähe war, der auf das Periskop aufmerksam werden konnte.

Das Fernrohr konnte in einer geschmeidigen Bewegung in fast jeder Geschwindigkeit gedreht werden, aber es war besser, es langsam zu drehen. Die Augen konnten sich schneller anpassen und der Benutzer bekam keine Schwindelgefühle.

Chloe drehte das Rohr immer nur etwa einen Zentimeter weiter. Mit jedem Druck auf den kleinen roten Knopf am linken Griff drehte sich die Linse um einen Zentimeter und zeigte ihr einen neuen Ausschnitt von 45 Grad; das bedeutete, dass sie mit acht Drehungen die 360 Grad abdecken konnte.

Da sie im Westen nichts wahrnehmen konnte, schwenkte Chloe das Periskop nach rechts.

In Kalifornien war es kurz nach drei Uhr morgens.

Rayford hatte sich etwa eine Viertelmeile vom Terminal entfernt. Überall traf er auf Männer und Frauen, die zwar jünger waren als er, sich aber mit dem schmerzgepeinigten Gang älterer Leute fortbewegten.

„In unseren Bemühungen, Sie über alles auf dem aktuellen Stand zu halten“, verkündete Fortunato, „möchten wir einige ermutigende Neuigkeiten weitergeben. Zwar ist es nach wie vor so, dass in Neu-Babylon kein Licht existiert, doch dieses irritierende Phänomen hat keinerlei Auswirkungen auf unsere Telefon- oder Funkübertragung. Unsere Heiz- und Kühlsysteme funktionieren weiterhin. Sogar die Herde sind betriebsbereit, solange sie nicht durch Sonnenenergie gespeist werden. Elektro- und Gasherde funktionieren und geben Hitze ab, darum seien Sie extrem vorsichtig, wenn Sie sich durch Räumlichkeiten bewegen.

Piloten, die von Neu-Babylon abgeflogen sind oder die Stadt angesteuert haben, berichten, dass diese Dunkelheit allein auf die Stadt beschränkt ist. Da wir nicht wissen, wie lange sie andauern wird, sollten Sie einem Weg folgen, der aus der Stadt hinausführt. Irgendwann werden Sie ins Licht kommen.“

Überall in seiner Umgebung vernahm Rayford entschlossene Stimmen.

„Ich gehe“, sagte jemand.

„Ich auch. Ich weiß zwar nicht, wohin, aber ich werde irgendwie ins Licht kommen.“

„Hat nicht irgendjemand einen Kompass für Blinde? Ohne so etwas werden wir im Kreis laufen.“

„Achtung, Achtung“, ertönte Fortunatos Stimme erneut, „alle Angestellten in Führungspositionen treffen sich um 15 Uhr im Büro des Potentaten.“

Rayford blickte auf die Uhr. Es ist jetzt Viertel nach eins. Wie wollen sie das bis drei Uhr schaffen?

„Verwendet Audio-Uhren“, schlug Fortunato vor. „Wir haben jetzt 13 Uhr 15. Um 14 Uhr 30 werden wir alle Lautsprecher abschalten mit Ausnahme des Lautsprechers am Westeingang des Palastes. Folgt den Geräuschen und ihr werdet den Weg zum Büro des Potentaten finden. Die Aufzüge sind in Betrieb. Der untere rechte Knopf bringt euch ins oberste Stockwerk. Die Teilnahme ist zwingend vorgeschrieben, aber auf die Mitarbeiter der höchsten Führungsebene begrenzt.“

„Ich gehe eh weg“, sagte jemand.

„Ich auch. Ich will der Sache auf den Grund gehen.“

„Herausfinden, was los ist.“

„Ich denke, er ist Mensch gewordener Gott; warum kann er nichts dagegen unternehmen?“

Rayford blinzelte, dann blinzelte er noch mal. In der Ferne glaubte er ein Licht zu erkennen. Er entfernte sich immer weiter vom Flugzeug und von Chang, Naomi und Abdullah, aber schlimmstenfalls konnte er den Menschen um halb drei zum Palasteingang folgen und von dort aus seine Leute suchen. Im Augenblick musste er jedoch nachsehen, was es mit dem Licht auf sich hatte.

Chloe hatte das Periskop mittlerweile viermal komplett geschwenkt und sah nun nach Osten. Während sie die dunkle Landschaft betrachtete, entdeckte sie zwei kleine Lichter. Sie hielt die Luft an, als diese größer wurden.

Was auch immer das war, es kam näher. Schon bald wurde deutlich, dass es sich dabei um einen Wagen oder Lastwagen handelte. Er hielt etwa einen Straßenzug von dem Gelände entfernt an und wendete. Jetzt sah sie nur die roten Rücklichter. Und dann blieb er stehen. Zehn Minuten lang, dann noch mal fünf.

Chloe schwenkte etwas eiliger weiter. Nichts. Noch einen Schwenk und sie hatte wieder die östliche Sektion und den wartenden Wagen erreicht. Auf keinen Fall würde sie deswegen Buck aufwecken. Es war ja nicht so, als ob sie mit Verkehr rechneten. Aber hier gab es nur wenig anderes und ganz bestimmt nichts, wegen dem man zu dieser Nachtzeit stehen bleiben musste.

Chloe wünschte, das Periskop hätte auch eine Teleskopfunktion, damit sie sich das Fahrzeug näher betrachten und nachsehen könnte, ob jemand ausstieg. Der Fahrzeugschacht des Bunkers wurde nur in der Nacht geöffnet, wenn sie sicher waren, dass sich niemand in der Nähe befand. Er lag nach Osten. Ob sie es wagen konnte, sich die Sache etwas näher anzusehen?

Wenn die Lichter im Inneren ausgeschaltet blieben, konnte sie durch die kleine Tür im Tor nach draußen spähen und befände sich somit 100 Meter näher an dem geheimnisvollen Lastwagen. Und es war ja nicht so, als würde sie sich tatsächlich hinauswagen.

Chloe nahm einen schwarzen Pullover mit einer Kapuze aus dem Schrank und zog ihn über ihren Schlafanzug und ihr Sweatshirt. Über ihre dicken Wollsocken schnürte sie ihre hohen Wanderstiefel. Sie nahm das Maschinengewehr mit, verzichtete jedoch auf das Funkgerät. Auf keinen Fall wollte sie sich durch irgendeinen unbeabsichtigten Funkspruch verraten. Und sie hatte auch nicht die Absicht, sich in eine Situation zu bringen, in der sie um Hilfe rufen musste. Das Gewehr war nur zu ihrer Beruhigung gedacht. Genau wie das Gebet: „Herr, hilf mir oder vergib mir, je nachdem.“

Leise öffnete Chloe noch einmal Kennys Tür. Dieser hatte sich noch immer nicht gerührt. Sie berührte seine Wange. Feucht vom Schlaf, aber angenehm warm. Sie küsste ihn auf die Stirn. Kühl und weich.

Sie zog seine Tür hinter sich ins Schloss und ging zu ihrem Bett hinüber. Buck schlief tief und fest. Sie kniete sich auf die Matratze neben seinen Bauch und beugte sich über ihn, um ihm einen Kuss zu geben. Wenn er nicht im Tiefschlaf gewesen wäre, hätte ihn das aufgeweckt. In der Dunkelheit war Chloe verblüfft über den Kontrast zwischen ihrer dunklen Kleidung und ihrer Haut, die kaum jemals an die Sonne kam.

Sie suchte Handschuhe und eine Skimaske heraus, und als sie den Korridor betrat, der an den anderen unterirdischen Quartieren vorbei zum Fahrzeugdeck führte, schwitzte Chloe bereits. Ihre Räume befanden sich in der Mitte des Komplexes. Die anderen waren in den übrigen vier Flügeln untergebracht. Sie schlich an Sebastians Unterkunft vorbei, den Räumen von drei weiteren Familien, an einer Reihe von Räumen, die von alleinstehenden Männern bewohnt wurden, unter anderem von Ree Woo und ihrem Vater, zwei weiteren Familienquartieren und dann an einem Teil, der von Familien und alleinstehenden Frauen bewohnt wurde. Dort hatte auch Ming ihr Zimmer.

Alle wussten, dass George heute Nacht Wache hielt und dass Buck Williams, der in Rayfords Abwesenheit die Verantwortung trug, ihn ablösen würde. Sicher schliefen deshalb alle so tief und fest.

Rayford löste sich von der Menge und ging auf das Licht zu. Bildete er es sich nur ein? Im Umkreis von sechs Metern verschwamm alles, und niemand in seiner Nähe schien irgendetwas sehen zu können, geschweige denn das, was er sah. Je näher er kam, desto stärker hatte er den Eindruck, das Licht sei die Silhouette einer Person, aber er konnte nichts anderes erkennen und schätzte, dass das Licht noch immer etwa 50 Meter entfernt war. Als er noch im Palast gearbeitet und in der Nähe gelebt hatte, waren in diesem Bereich die Garagen und der Wagenpool untergebracht gewesen.

Hatte jemand einen Weg gefunden, irgendwie Licht zu schaffen? Rayford hatte kleine Gruppen von humpelnden Menschen hinter sich gelassen und jetzt schien sich nichts mehr zu befinden zwischen ihm und diesem … diesem was? Dieser Erscheinung? Aus der Entfernung wirkte das Licht einfach nur hell, doch schon bald konnte er die Farbe besser erkennen. Zuerst rot, dann gelblich und schließlich ein tiefdunkles Orange. Ja, eindeutig ein Mann, groß und schlank. Und er bewegte sich.

Andere hielten sich in seiner Nähe auf, nutzten sein Licht, um an den Fahrzeugen zu arbeiten. Sie schienen wie alle anderen auch unter Schmerzen zu leiden, aber sie arbeiteten mit einem Eifer, als gäbe das Licht ihnen Kraft. Der Mann schien so weit sehen zu können, wie sein Licht strahlte, etwa einen Meter. Jeder, der Licht brauchte, musste folglich so nah an ihn herankommen.

Rayford erkannte Carpathia. Dr. Ben-Judah hatte immer wieder gelehrt, dass dieser Mensch zuerst als lügende Schlange auftreten würde, dann als brüllender Löwe und schließlich als Engel des Lichts. Rayford musste ein Lachen unterdrücken. Der Teufel in Nicolai wünschte bestimmt, er könnte mehr Licht aussenden als diesen jämmerlichen Schein, der es ihm gestattete, nur diejenigen zu erkennen, die sich in seiner unmittelbaren Nähe aufhielten.

Rayford ging weiter, bis er die kleine Gruppe außerhalb des Kreises von Mechanikern erreichte, die versuchten, einige Wagen für einen Zweck herzurichten, über den er noch nichts wusste.

„Alle Systeme betriebsbereit?“, fragte Carpathia.

„Ja, Potentat. Der Jeep ist einsatzbereit.“

„Schalten Sie die Lichter ein.“

Der Mechaniker kam seiner Aufforderung nach. „Sie hören den Fluss im elektrischen System, der Saft fließt also, Exzellenz, aber wie Sie sehen können –“

„Wie wir alle sehen können oder vielmehr nicht“, beendete Carpathia seinen Satz, „keine Lichter. Nun, wenn es sein muss, werde ich vor dem Konvoi herlaufen, bis wir auf dem Weg nach Al Hillah die Dunkelheit hinter uns gelassen haben. Mir ist egal, wie lange das dauert.“

Was für eine Strategie war das? Die Führungsebene wird sich in Carpathias Büro treffen und dann wird er sie nach Al Hillah führen? Aus welchem Grund? Und was war mit den Menschen, die in Neu-Babylon zurückblieben? Würden sie sich ihnen nicht anschließen wollen, um Erleichterung von ihren Schmerzen zu finden?

„Was ist denn in Al Hillah los?“, fragte Rayford.

„Wer fragt da?“, erwiderte Carpathia. „Und warum sprechen Sie mich nicht mit meinem Ehrentitel an?“

Nicolai sah in Rayfords Richtung, aber offensichtlich konnte dieser auch nicht weiter sehen als alle anderen, die sich innerhalb seiner höllischen Aura befanden. Während Nicolai vortrat, wich Rayford zurück und ging nach links, dann trat er hinter Carpathia.

„Ja“, wiederholte Rayford mit leicht verstellter Stimme. „Was ist in Al Hillah, oh Großer?“

Carpathia wirbelte herum und Rayford entwich erneut. „Ich habe mit dem ersten Fragesteller gesprochen! Wer hat die Frage gestellt?“

„Vielleicht ist er voller Furcht entflohen“, erklärte Rayford mit tiefer Stimme, „Exzellenz.“

Das könnte lustig werden.

Chloe wusste, dass der lange Korridor zum Fahrzeugdeck meist kalt und feucht war, und vielleicht war das auch jetzt der Fall. Aber in ihrer Erregung ging sie mit raschen Schritten zur Haupttür, vorbei an den Fahrzeugen und zu den Türen, die sich zu ebener Erde öffnen ließen. Ihr war unangenehm warm geworden. Sie zog Handschuhe und Skimaske aus und machte sich Vorwürfe, dass sie sie übergestülpt hatte, bevor sie sie brauchte. Chloe zog den Reißverschluss ihres Pullovers auf und fächelte sich Luft zu. Den Rücken an die Mauer zwischen dem großen Tor und der kleinen Tür gelehnt, blieb sie stehen, um wieder zu Atem zu kommen.

Es gab Chloe ein köstliches Gefühl der Freiheit, so dicht an der Erdoberfläche zu sein. Und es war nur noch ein knappes Jahr bis zur wahren Freiheit!

Ihre Knie brannten nach der Anstrengung, darum glitt sie zu Boden und streckte die Beine aus. Sie legte ihre Waffe zur Seite, griff nach ihrer Stiefelspitze und streckte abwechselnd das rechte und linke Bein. Trotz ihrer zahllosen ernsten Verletzungen hatte sie in Griechenland zeigen können, dass sie noch immer bemerkenswert in Form war. Darauf war sie stolz. Sie zog den Reißverschluss wieder hoch, stülpte die Skimaske über das Gesicht, schlüpfte in die Handschuhe und legte sich den Riemen des Maschinengewehrs über die Schulter, sodass die Waffe in ihrer rechten Hand lag. Dann erhob sie sich und wandte sich zur Tür.

Das Tor durfte sie nicht öffnen. Hier ging es um alles oder nichts. Die daran befestigte Erde und das Buschwerk würden sich bewegen und das Tor war entweder ganz offen oder geschlossen. Die kleine Tür war zwar genauso getarnt, doch sie konnte langsam und nur einen Spalt weit geöffnet werden, wenn sie dies wollte. Sie schaltete das Licht aus und erfasste den Türgriff.