Denkanstöße 2022 - Isabella Nelte - E-Book

Denkanstöße 2022 E-Book

Isabella Nelte

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Beschreibung

Wie können wir in unsicheren Zeiten vernünftig mit Risiken und Gefahren umgehen? Was können wir tun, um rassistische Strukturen zu überwinden? Wieso müssen wir Natur und Gesellschaft ganz neu denken, wenn wir der Klimakrise wirklich etwas entgegensetzen wollen? Und wie konnte es dazu kommen, dass die Bewältigung der Corona-Krise die Politik in diesem Jahr so sehr überfordert hat? Die Denkanstöße 2022 versammeln kompaktes Wissen und ausgereifte Argumente eines Jahres von bekannten Autorinnen und Autoren wie Julian Nida-Rümelin, Stefan Aust, Mohamad Amjahid, Katja Gloger und Georg Mascolo. Eine Einladung zum Mit- und Weiterdenken!

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Herausgegeben von Isabella Nelte

© Piper Verlag GmbH, München 2021Covergestaltung: semper smile, MünchenCovermotiv: Shutterstock/Profit_Image

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Inhalt

Cover & Impressum

Vorwort

ERKENNTNISSE – Aus Wissenschaft und Philosophie

Julian Nida-Rümelin, Nathalie Weidenfeld – Die Realität des Risikos. Über den vernünftigen Umgang mit Gefahren

Risiko ist kein Konstrukt

Das Covid-19-Exempel

Die Alternative: Containment und Risikostratifikation

Lehren aus der Coronakrise – nie wieder!

Fabian Scheidler – Der Stoff, aus dem wir sind. Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen

Der Stoff, aus dem wir sind

Der große Graben

Das mechanistische Weltbild und der Tod des Universums

Naturwissenschaften in der modernen Megamaschine

Die Ideologie des Getrenntseins

Planetare Krise und gesellschaftlicher Umbau

Zerfall und Reorganisation komplexer Gesellschaften

Die Epidemie der Einsamkeit

Eine Ökonomie der Verbundenheit

ERFAHRUNGEN – Aus Politik und Zeitgeschichte

Mohamed Amjahid – Der weiße Fleck. Eine Anleitung zu antirassistischem Denken

Vorsicht, zerbrechlich

Lifestyle-Tipps für Süßkartoffeln

Katja Gloger, Georg Mascolo – Ausbruch. Innenansichten einer Pandemie – Die Corona-Protokolle

Die Wahrscheinlichkeit der Unwahrscheinlichkeit

Stefan Aust – Zeitreise. Die Autobiografie

Einfach unpolitisch

Der Schock des 2. Juni

Das Jahr 1968

Eine Reise nach Prag

Das Attentat

Springer-Demonstration

Die Radikalisierung

Die Scheidung

EINSICHTEN – Aus Gesellschaft und Psychologie

Ursula Nuber – Der Bindungseffekt. Wie frühe Erfahrungen unser Beziehungsglück beeinflussen und wie wir damit umgehen können

Das Kind, das wir waren

So geht Beziehung. Oder?

Sicher oder unsicher: Wie ist die Bindung?

Doris Reisinger, Christoph Röhl – Nur die Wahrheit rettet. Der Missbrauch in der katholischen Kirche und das System Ratzinger

Missbrauch und kein Ende in Sicht

Die Festung bricht

Nils Melzer – Der Fall Julian Assange. Geschichte einer Verfolgung

Wie man einen Elefanten übersieht

Gefangen in meinen eigenen Vorurteilen

Der Nebel beginnt sich aufzulösen

Britische Folter durch Zermürbung

Willkürliche Isolation und Überwachung

Aushöhlung der Verteidigungsrechte

Assange und Pinochet – ein lehrreicher Vergleich

Die Folter zeigt ihre Wirkung

Assange in Lebensgefahr!

Die Ärzte der Welt machen mobil

Autorinnen und Autoren

Quellen

Vorwort

»Lesen ist Denken mit fremdem Gehirn«, hat der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges einmal gesagt. Wie wichtig und horizonterweiternd das Denken mit fremden Gehirnen gerade in unserer krisengebeutelten, herausfordernden Zeit ist, kann gar nicht genug betont werden. Bei der Diskussion um Maßnahmen der Pandemiebekämpfung, der aktuellen Rassismusdebatte oder der Frage nach dem richtigen Umgang mit der Klimakrise entsteht allzu oft der Eindruck, es gebe nur noch Schwarz oder Weiß. Das politische Klima polarisiert sich mehr und mehr, Teile der Bevölkerung stehen einander in scheinbar unversöhnlichen Lagern gegenüber, durch die Gesellschaft verlaufen tiefe weltanschauliche Gräben. Wie wohltuend kann es da sein, den eigenen Denkhorizont ganz bewusst zu verlassen und die eigenen Positionen mit dem Wissen und den Thesen fremder Gehirne zu bereichern.

Die hier versammelten Texte der »Denkanstöße 2022« laden Sie ein zu einer Reise weit hinaus über die Grenzen der eigenen Gedankenwelt. Julian Nida-Rümelin und Nathalie Weidenfeld erläutern, wie wir vernünftig mit Risiken und Gefahren umgehen können. Fabian Scheidler zeigt, warum unser technokratisches Weltbild, das die Natur zu einer beherrschbaren Ressource in der Hand des Menschen degradiert, ein fataler Irrtum ist. Mohamed Amjahid gibt wichtige Impulse für antirassistisches Denken und Handeln, Katja Gloger und Georg Mascolo liefern Innenansichten des politischen Geschehens in der Corona-Pandemie, und Stefan Aust nimmt uns in seiner Autobiografie mit durch eine besonders spannende Episode der bundesdeutschen Geschichte. Ursula Nuber erläutert, warum Beziehungsprobleme in Wahrheit oft Bindungsprobleme sind. Doris Reisinger und Christoph Röhl decken auf, wie der ehemalige Papst und das »System Ratzinger« sexuellen Missbrauch innerhalb der katholischen Kirche jahrzehntelang geleugnet, vertuscht und verschwiegen haben. Und der UNO-Sonderbeauftragte für Folter Nils Melzer zeigt, warum die Verfolgung von Julian Assange einen der größten Justizskandale unserer Zeit darstellt.

Die hier versammelten Autorinnen und Autoren setzen sich kritisch mit der Wirklichkeit auseinander, in der wir leben. Sie leihen uns also ihre Gehirne, damit wir unser Denken und Tun hinterfragen und gegebenenfalls neu ordnen können. Dabei wünsche ich Ihnen viel Vergnügen und erhellende Einsichten.

Isabella Nelte

ERKENNTNISSE – Aus Wissenschaft und Philosophie

Julian Nida-Rümelin, Nathalie Weidenfeld Die Realität des Risikos. Über den vernünftigen Umgang mit Gefahren

Risiko ist kein Konstrukt

In Nigeria bringt ein Taxifahrer eine blutende Patientin in ein Krankenhaus. Beim Abladen der Patientin erfährt er, dass diese an Ebola leidet. Er brüllt, rauft sich die Haare und schreit das Krankenhauspersonal an. Er weiß genau, dass bei einer so ansteckenden Krankheit wie Ebola diese Fahrt möglicherweise sein eigenes Todesurteil bedeutet.

Als New York von riesigen, eiskalten Flutwellen überschwemmt wird, bricht eine Massenpanik aus. Die Bewohner flüchten auf Hochhäuser, in U-Bahn-Schächte. Wer hätte gedacht, dass die nahende Eiszeit jetzt schon beginnt?

Nach einem Erdbeben wird ein Atomkraftwerk im Süden Koreas schwer beschädigt. Die Mitarbeiter wissen nicht, was zu tun ist. Der Cheftechniker rät dem Direktor des Werks, offiziell Alarm auszurufen und die Anwohner zu benachrichtigen, damit diese evakuiert werden können. Der aber weigert sich. Stattdessen herrscht er die Arbeiter an weiterzuarbeiten. »Es gibt überhaupt keinen Grund durchzudrehen. Gehen Sie ganz normal Ihrer Arbeit nach.« Die Mitarbeiter sehen ihn entgeistert an. Will er die Gefahr unbewusst verdrängen? Oder geht er bewusst ein Risiko ein, in der Hoffnung, dass die Folgen doch nicht so schlimm sein werden, wie eigentlich zu erwarten ist? Aber selbst der Präsident Südkoreas zögert, eine Evakuierung anzuordnen. Was, wenn eine Massenpanik ausbricht? Wären dann die Kollateralschäden nicht größer?

Szenen wie diese stammen aus Katastrophenfilmen wie 93 Days, The Day After Tomorrow und Pandora. Leider sind Situationen wie diese aber nicht nur auf Filme beschränkt – wir hatten es in der Vergangenheit sowohl mit beschädigten Atomkraftwerken wie auch mit ausbrechenden Ebola-Pandemien zu tun, auch wenn uns eine innerhalb weniger Stunden hereinbrechende Eiszeit wie in The Day After Tomorrow bislang noch erspart geblieben ist. Katastrophen sind ein Teil unserer Menschheitsgeschichte. In all diesen Situationen geschieht meist das, was in Filmen auch geschieht. Politiker versuchen, Massenpanik zu vermeiden, Risiken zu beschränken und ihr Image nicht zu beschädigen. Sie sind in der schwierigen Position, sich von der Gesamtlage ein Bild zu machen und auf dieser Basis Entscheidungen zu treffen, was vor allem angesichts sich zuweilen widersprechender Expertenmeinungen nicht einfach ist. Es droht ein Clash zwischen der Bevölkerung und der Regierung, der vorgeworfen wird, die Krise nicht gut zu bewältigen. Und dann sind da natürlich auch noch die Menschen mit ihren individuellen psychologischen Reaktionen auf Krisensituationen. Manche behalten einen kühlen Kopf, manche werden hysterisch und überschätzen die Gefahrenlage, und andere wiederum denken selbst in Krisensituationen nur an ihren eigenen ökonomischen Vorteil.

Aber es ist nicht nur das Individuum, das, konfrontiert mit Unsicherheiten und Gefahren, ratlos oder sogar kopflos werden kann, auch ganze Gesellschaften müssen sich Risiken stellen und auf diese reagieren. Ohne Verständigung über das, was gefährdet ist, und das, was eine angemessene Reaktion sein könnte, werden Gesellschaften und Kulturen in der Krise handlungsunfähig. Die Covid-19-Pandemie hat große Teile der Welt in eine anhaltende Ratlosigkeit gestürzt und nicht nur viel Leid über betroffene Familien gebracht, Todesopfer und Gesundheitsschäden verursacht, sondern auch aufgezeigt, wie vulnerabel die global vernetzte Ökonomie ist. Institutionen und Systeme wurden auf den Prüfstand gestellt, und Prüfungen solcher Art wird es auch in Zukunft geben. Daher ist es wichtig, über individuelle Risiken nachzudenken und Kriterien eines rationalen Umgangs mit diesen zu entwickeln. Dazu verbindet dieser Beitrag wissenschaftliche Erkenntnisse und philosophische Überlegungen mit lebensweltlichen Erfahrungen und fiktionalen Beispielen insbesondere aus Filmen. Die Lektüre soll zum eigenen Nachdenken anregen, aber auch Orientierung geben. Orientierung in der Welt der Werte und Normen im Umgang mit individuellen und kollektiven Risiken. Covid-19 ist nur das aktuelle Ausgangsbeispiel. Aber es steht für das Ganze eines sensiblen, aufgeklärten, vernünftigen und moralischen Umgangs mit der Realität des Risikos. Risiko ist kein Konstrukt. Es ist real. Und wir sind herausgefordert, uns mit dieser Realität zu arrangieren.

Das Covid-19-Exempel

Am Ufer von Chinas wichtigstem Strom ranken sich Ungetüme aus Glas und Stahl in den Himmel. 438 Meter misst der höchste dieser Türme, an einem weiteren, der über 600 Meter in die Lüfte ragen soll, wird gerade gebaut. Schon jetzt nimmt es Wuhans Skyline mit den weitaus bekannteren Metropolen der Welt auf. Elf Millionen Menschen leben in Chinas neuntgrößter Stadt und damit mehr als in Paris, London oder New York. Die zentralchinesische Stadt ist ein Verkehrsknotenpunkt. Der Flughafen zählt zu den größten des Landes, er ist Ausgangspunkt für Direktflüge nach Europa, konkret Rom, Paris und London. Noch bequemer sind die Anschlüsse innerhalb des Riesenreichs. Vom modernen Hauptbahnhof, einer Kathedrale aus Kuppeln und Glas, brauchen Hochgeschwindigkeitszüge gerade mal vier Stunden und zwanzig Minuten in die Hauptstadt Beijing, die 1150 Kilometer nördlich liegt. Nur ein paar Blöcke hinter dem Bahnhof tut sich aber eine andere, alte, fast schon archaische Welt auf. Auf mehr als 50 000 Quadratmetern breitet sich der Hunan-Fischgroßmarkt aus, wo an die tausend Händler an Ständen ihre Ware feilbieten. Angeboten werden neben allerlei Meerestieren auch Süßwasserfische und Reptilien. Im westlichen Teil des Marktes wirkt die Szenerie, die auf Bildern festgehalten wird, gleich einmal rauer. Dicht gedrängt stehen dort Käfige, in denen wilde Tiere gefangen sind. Was Kunden dort erwartet, ist fern von europäischen Vorstellungen. Neben Füchsen, Schlangen und etlichen Gürteltieren sind dort auch »Delikatessen« wie Wolfswelpen, Marderhunde und Fledermäuse zu haben. (…) In diesem Umfeld, inmitten des Gestanks und Lärms, der Enge zwischen Tier und Mensch, passiert im Herbst 2019 etwas, das, auch wenn es pathetisch klingen mag, der Geschichte einen neuen Verlauf gibt.

Aus: Addendum (Hrsg. Michael Fleischhacker)

Anfang Dezember 2019 kommt es in der chinesischen Metropole Wuhan zu zahlreichen Fällen einer bis dahin unbekannten Krankheit, die vor allem die Lungen angreift. Ende Dezember wird ein neues Coronavirus als Ursache identifiziert. Die lokalen chinesischen Behörden vertuschen diese Erkenntnis. Die WHO, von China informiert und involviert, kommt um den Jahreswechsel zu dem Ergebnis, dass die rätselhafte Lungenkrankheit wenig besorgniserregend sei, weil es wohl nicht zu einer Mensch-zu-Mensch-Übertragung komme. Noch in der ersten Januarhälfte 2020 kommt es zu den ersten Covid-19-Todesfällen. Ende Januar lässt sich nicht mehr verheimlichen, dass es Mensch-zu-Mensch-Übertragungen in großer Zahl gibt, auch ein Teil des medizinischen Personals ist betroffen. Die chinesische Regierung reagiert nun mit drastischen Maßnahmen: Zunächst wird die Millionenstadt Wuhan abgeriegelt, dann über die gesamte Provinz Hubei mit der Einwohnerzahl Italiens ein Lockdown verhängt.

Auch in Europa werden nun erste Fälle registriert, aber in den EU-Gremien dominiert die Einschätzung, man habe alles unter Kontrolle. Im Februar bleibt es weiterhin bei der Einschätzung, das Ansteckungsrisiko sei gering, die notwendigen Vorbereitungen auf das großflächige Übergreifen der Pandemie nach Europa unterbleiben. Grenzkontrollen werden nicht erwogen, Reisebeschränkungen auch gegenüber China abgelehnt. Zunächst gelingt es in Deutschland noch, das Aufflammen der Pandemie lokal einzuschränken (der Fall Webasto), aber kurz darauf verlieren die Gesundheitsämter auch hier die Kontrolle über das Geschehen.

Italien leidet da schon massiv in zwei nördlichen Regionen (Lombardei und Emilia-Romagna) unter der neuartigen Krankheit. In Bergamo und Umgebung fällt ihr, wie die Einheimischen sagen, eine ganze Generation von Großeltern zum Opfer. Das örtliche Gesundheitssystem bricht zusammen, und es gelingt nicht, die Ressourcen des Landes insgesamt so zu mobilisieren, dass tragische Triage-Situationen ausbleiben. Zu den Fehleinschätzungen des Risikos zu Beginn der Pandemie (statt zeitlich und regional punktueller Risikoeinschätzungen hätte es diachrone und strukturelle geben müssen, also Einschätzungen, besser noch unterschiedliche Szenarien, zur weiteren zeitlichen und räumlichen Entwicklung des Pandemie-Geschehens) gesellt sich die ausbleibende europäische Solidarität[1] gegenüber dem zunächst am stärksten betroffenen Land Italien, und es zeigen sich massive organisatorische Defizite im Land. Auch die weitgehende Privatisierung und Ökonomisierung des Gesundheitswesens unter Lega-Regierungen im Norden macht sich als Krisentreiber zunehmend bemerkbar.

Am 8. März 2020 werden in Deutschland Großveranstaltungen angesichts der nun auch hierzulande rapide zunehmenden Verbreitung verboten, am 16. März folgen Schulschließungen, und am 22. März das, was man seitdem als »Lockdown« bezeichnet, also massive Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen, die allerdings in Deutschland nicht so rigide sind wie in den Nachbarländern Österreich, Italien, Frankreich und Spanien. Die Zahl der Neuinfektionen pro Zeiteinheit geht im Laufe der zweiten Märzhälfte deutlich zurück, sodass die erwartete Überforderung der Intensivbettenkapazitäten und des Gesundheitssystems im Ganzen in Deutschland nicht eintritt.

Bis heute ist nicht abschließend geklärt, welche kausalen Wirkungen die staatlichen Maßnahmen hatten und welche anderen Faktoren eine Rolle spielten.[2] Aber selbst dann, wenn die staatlichen Maßnahmen de facto nicht erforderlich gewesen wären, um R unter 1 zu halten, würde daraus nicht folgen, dass die abgestimmte Entscheidung der Bundesländer zum Lockdown Anlass zu Kritik gebe. Sie wäre schon dann richtig gewesen, wenn sie aufgrund der zum damaligen Zeitpunkt vorliegenden Informationen gerechtfertigt war. Wenn eine genaue nachträgliche Analyse zeigen sollte, dass das Verbot von größeren Veranstaltungen die ausschlaggebende Maßnahme war, während die Schulschließungen und der allgemeine Lockdown mit seinen massiven wirtschaftlichen, sozialen und psychologischen Nebenfolgen vermeidbar gewesen wären, wüsste man es für die Zukunft einer ähnlichen pandemischen Bedrohung besser und würde dann auf einen allgemeinen Lockdown verzichten.

Die Kritik staatlichen Handelns muss an einer anderen Stelle einsetzen. Ausweislich des Pandemieplans des RKI aus dem Jahr 2012 und angesichts vorausgegangener Epidemien wie MERS, SARS, H1N1 oder Ebola war bekannt, dass es Pandemie-Risiken gab, und die Tatsache, dass die notwendigen Vorkehrungen nicht getroffen wurden, muss man als ein umfassendes Staatsversagen bezeichnen. Wie kann es sein, dass acht Jahre nach dem Vorliegen konkreter Handlungsempfehlungen vonseiten einer Bundesbehörde für Seuchenbekämpfung (darum handelt es sich beim RKI, nicht um ein wissenschaftliches Forschungsinstitut) die notwendigen Vorsorgen nirgendwo in Deutschland umgesetzt worden sind? Und wie kann es sein, dass drei Monate nach Ausbruch der Pandemie immer noch keine medizinische Schutzkleidung und Masken, Desinfektionsmittel, geschweige denn digitale Tools zum Tracking und Tracing, wie sie in Südkorea schon Wochen vor dem Ausbruch der Pandemie in Deutschland sehr erfolgreich eingesetzt wurden, zur Verfügung standen? Man kann es auch so formulieren: Die staatlichen Zwangsmaßnahmen waren nur deswegen gerechtfertigt, weil ihnen ein umfassendes Staatsversagen – langfristig über acht Jahre und kurzfristig über zwei Monate – vorausgegangen war.

Dies gilt auch für die europäische Ebene. Die Recherche-Plattform Addendum meldet für den 4. Februar 2020, dass die Mitgliedsstaaten ein Angebot der EU-Kommission, gemeinsam zusätzliches Material auf dem Weltmarkt zu besorgen, negativ beschieden und keine Notwendigkeit sahen, Corona-Testkits anzukaufen. Einen Monat später kommt es, zunächst in Italien, zu dramatischen Engpässen, Tausende aus dem medizinischen Personal infizieren sich und zwingen die Kliniken zu Quarantänen. Zahlreiche vermeidbare Todesfälle sind die Folge.[3]

Das zweite Versagen ist das weitgehende Fehlen klarer normativer Kriterien der Krisenbewältigung. Die spärlichen Auskünfte in der ersten Zeit der Krise ergeben folgendes Bild: Das RKI beriet die Bundesregierung folgendermaßen:

Die Pandemie in Deutschland – ausgebrochen an mehreren Stellen, wie man unterdessen weiß, überwiegend durch Rückkehrer aus Ischgl, aber auch angesichts offener Grenzen – könne nicht mehr eingedämmt werden. Eindämmung (Containment) heißt, dass bei einem Ausbruch jeweils lokal alle Infizierten identifiziert und isoliert werden, sodass weitere Ansteckungen effektiv unterbunden werden. Dies war beim ersten Ausbruch bei Webasto durch eine chinesische Geschäftsfrau noch weitgehend gelungen.

Es gehe nun darum, in den folgenden Monaten den Anstieg der Neuinfektionen so weit zu begrenzen, dass das Gesundheitssystem nicht überlastet werde und damit eine menschenwürdige Behandlung der Schwerkranken unmöglich werde. »Flattening the Curve« war das Schlagwort dazu.

Die Letalität von Covid-19, also der Prozentsatz der Personen, die durch eine Infektion mit Covid-19 zu Tode kommen, liege bei mindestens 1 Prozent, sei also etwa zehnmal so hoch wie bei einer saisonalen Influenza-Epidemie.

Die Pandemie komme erst dann in Deutschland zum Erliegen, wenn sich 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung infiziert hätten.

Die Entwicklung eines Impfstoffs werde mindestens 18 Monate dauern, wenn es überhaupt dazu kommen werde.

Die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten der Länder rechtfertigten ihre Maßnahmen mit der Zielsetzung, das Gesundheitssystem im Laufe der Entwicklung der Pandemie in Deutschland nicht zu überfordern. Während Boris Johnson in Großbritannien aufgrund einer Studie des Imperial College zu einem Strategiewechsel gezwungen wurde, für den vermutlich auch seine eigene Infektion eine Rolle spielte, wurde merkwürdigerweise in Deutschland nicht diskutiert, welche Folgen die eingeschlagene Strategie haben würde. Für Großbritannien hatte das Imperial College eine Todeszahl von mindestens 250 000 Personen errechnet, was in der britischen Öffentlichkeit als so inakzeptabel bewertet wurde, dass die Regierung umgehend drastische Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen verhängte. Dass die vom RKI empfohlene Strategie in Deutschland mindestens 400 000 Todesopfer zur Folge gehabt hätte, spielte merkwürdigerweise in der öffentlichen Debatte keine Rolle.

Einige Zeit später wurde jedoch stillschweigend ein Strategiewechsel vollzogen, und die Kanzlerin erklärte als neues Ziel der Maßnahmen nicht mehr »Flattening the Curve«, sondern Verlängerung des Verdoppelungszeitraums der Zahl der Infizierten. In der öffentlichen Debatte wurde meist nicht deutlich unterschieden zwischen der Zahl der insgesamt Infizierten (das ist hier gemeint) und der Zahl der Neuinfizierten und daher zu einem bestimmten Zeitpunkt Infektiösen. Die Zahl der insgesamt im Laufe der Epidemie Infizierten ist für das Risiko, sich zu infizieren, irrelevant. Vielmehr wächst mit der Zahl der Infizierten auch die Anzahl von Personen, die ganz oder weitgehend, zumindest für einen gewissen Zeitraum, immun gegenüber einer neuen Infektion sind. Das Risiko, sich zu infizieren, hängt von der Wahrscheinlichkeit ab, einer infektiösen Person zu begegnen, und hier ist der Prozentsatz der infektiösen Personen, die von ihrer Infektion nichts wissen oder die sich trotz ihrer Infektion nicht in Quarantäne begeben, mit ausschlaggebend. Wenn es allerdings effektive Möglichkeiten gibt, sich vor einer Infektion zu schützen, etwa durch Schutzkleidung oder Masken, wird dieser Kausalzusammenhang unterbrochen.

Die Bundeskanzlerin erklärte am 15. April, es sei nun das Ziel, den Verdoppelungszeitraum, der zuvor bei drei Tagen gelegen hatte, auf zehn Tage zu erhöhen. Nachdem dieses Ziel sehr rasch erreicht war, wurde als neues Ziel die Verdoppelung auf 14 Tage angegeben. Auch dieses Ziel war bald erreicht, der Verdoppelungszeitraum stieg auf über 20 Tage, worauf erneut eine Zieländerung erfolgte, nämlich den Reproduktionsfaktor R auf unter 1 zu drücken. Dies allerdings war schon vor Beginn des Lockdowns erreicht, jedenfalls wenn man den Angaben des RKI folgt.

Versuchen wir es an dieser Stelle mit einer rationalen Beurteilung. Beginnen wir mit der Frage: Ist es vernünftig, die staatlichen Maßnahmen an R < 1 zu orientieren? Die Antwort lautet klarerweise: nein. Einmal deswegen, weil auch bei R = 1 eine dauerhafte Überforderung des Gesundheitssystems die Folge sein kann. R = 1 heißt ja nur, dass die Zahl der zu einem Zeitpunkt infizierten Personen konstant bleibt. Konstanz impliziert aber nicht, dass die Gesundheitsfolgen akzeptabel sind. Ob die Gesundheitsfolgen akzeptabel sind, hängt nicht lediglich von den Kapazitäten des Gesundheitssystems ab, sondern von der Anzahl der schweren Erkrankungen, der Spätfolgen von Erkrankungen und der Todesfälle. Wenn andererseits eine Infektionskrankheit nur kleine Teile der Bevölkerung erfasst hat, sie für die allermeisten nur harmlose bis erträgliche Gesundheitsfolgen zeitigt und diejenigen, für die gravierende gesundheitliche Folgen zu erwarten sind, sich effektiv schützen können, dann ließen sich freiheitseinschränkende Maßnahmen, um R unter 1 zu halten, nicht rechtfertigen. Viel spricht dafür, dass diese Bedingungen im Falle von Covid-19 zu Beginn der Pandemie nicht erfüllt waren, dass sie aber erfüllbar gewesen wären. Die bisherigen Erfahrungen mit Covid-19 zeigen, dass die Infektion bei einem hohen Prozentsatz (zwischen 50 und 80 Prozent) harmloser verläuft als eine Influenza, dass sie allerdings für einen kleinen Prozentsatz von Personen ein hohes Risiko darstellt und hier wiederum die allermeisten dieser gefährdeten Personen durch spezifische, gravierende Vorerkrankungen identifizierbar sind. Es gibt allerdings Einzelfälle und kleine Gruppen von Erkrankten, die diesem Schema nicht entsprechen, und die Forschungen werden vermutlich im Laufe der Zeit die hier wirksamen Kausalbeziehungen eruieren.

Die Orientierung an einem Verdoppelungszeitraum ist auf keinen Fall sinnvoll, weil sich bei jedem beliebigen Verdoppelungszeitraum der Zeitpunkt bestimmen lässt, ab dem es zu einer Überforderung des Gesundheitssystems durch Covid-19 kommt. Adriano Mannino und Nikil Mukerji haben errechnet, dass bei einem Start mit 196 Personen und einer Verdoppelung in jeweils 2,5 Tagen nach zwei Monaten die gesamte Weltbevölkerung durchseucht wäre.[4] Aber auch wenn der Verdoppelungszeitraum auf 10 oder 14 Tage verlängert würde, stiege die Durchseuchung über alle Grenzen und beträfe am Ende rein rechnerisch alle Weltregionen zu 100 Prozent.

Die »Flattening the Curve«-Strategie ihrerseits ist inakzeptabel, weil auch sie eine untragbar hohe Zahl von Todesfällen zur Folge hätte – nur eben über einen langen Zeitraum gestreckt.

Ganz offenkundig ist, dass eine Strategie, die in Deutschland von staatlicher Seite nicht erwogen wurde, nicht infrage kommt, nämlich ein Laisser-faire, das heißt die Pandemie ohne Restriktionen laufen zu lassen, um eine rasche Immunisierung der Bevölkerung zu erreichen. Diese Strategie, die durchaus auch in der Fachwelt, besonders unter Epidemiologen, Befürworter hatte und hat, führt – wenn man die Erfahrungen aus der Lombardei, aus New York oder Brasilien zugrunde legt – zu inakzeptablen gesundheitlichen Folgen in der Gesamtbevölkerung, jedenfalls in den Ländern des industrialisierten Nordens mit einem großen Anteil älterer Menschen. In Afrika sind 41 Prozent der Bewohner unter 15 Jahre alt und nur 3 Prozent über 64 Jahre; in Europa sind dagegen 16 Prozent unter 15 Jahre alt und 18 Prozent über 64.

Die Untersuchung der Todesfälle mit Covid-19 in Italien hat ergeben, dass weniger als 1 Prozent unter 50 Jahre und bei den Frauen 98 Prozent, bei den Männern 96 Prozent der Verstorbenen über 70 Jahre alt waren, mit einem Durchschnittsalter von knapp über 80 Jahren. Dieses Muster gilt auch für Frankreich, Spanien, Großbritannien und Deutschland. In afrikanischen Ländern verschiebt sich die Risikoeinschätzung massiv, weil dort die Letalität von Covid-19 aufgrund der anderen Demografie sehr viel niedriger sein müsste (hier sei einmal die lebensrettende Funktion von Intensivstationen außer Betracht gelassen), vor allem aber, weil die Nebenfolgen der Krisenbekämpfung in vulnerablen sozialen Systemen selbst wiederum mit einem Anstieg an Todesfällen aufgrund von Unterernährung und mangelnder Bekämpfung anderer Infektionskrankheiten sowie Armut einhergehen. Auch in den industrialisierten Ländern sind allerdings zahlreiche Todesfälle als Folge nicht intendierter Nebenwirkungen der Krisenbekämpfung zu erwarten: So haben sich zum Beispiel die Krebsvorsorgeuntersuchungen während der Corona-Pandemie verringert. Entweder weil Ärzte diese verschoben oder weil die Patienten – aus Sorge, sich in Krankenhäusern oder Praxen anzustecken – selbst die Termine absagten. So kamen Wissenschaftler aufgrund einer Meta-Analyse zu dem Schluss, dass bereits die vierwöchige Verschiebung einer Operation das Todesrisiko – je nach Krebsart – um 6 bis 13 Prozent erhöht.[5]

In der internationalen Diskussion hat eine Strategie eine zentrale Rolle gespielt, die nicht von Experten aus der Epidemiologie, Virologie oder Risikoforschung stammt, sondern von einem Silicon-Valley-Berater, dem Datenanalysten Tomás Pueyo, der in einem locker geschriebenen Paper am 10. März 2020 in Medium (einer Fachzeitschrift für Journalisten, keiner wissenschaftlichen Publikation) die »The Hammer and the Dance«-Strategie beschrieb. Der zufolge müsste man zu Beginn einer Epidemie mit dem »Hammer«, das heißt mit drastischen Maßnahmen wie Ausgangsbeschränkungen, Kontaktbeschränkungen, Quarantäne etc., das Ausbreitungsgeschehen so weit unter Kontrolle bringen, dass man dann zur »Dance«-Phase übergehen könnte – also die Maßnahmen lockern, was wieder zu einer verstärkten Ausbreitung führte, und die Maßnahmen wieder verschärfen, sobald bestimmte Schwellen überschritten wären.

Die große Zustimmung, die dieser Strategievorschlag weltweit gefunden hat, besonders bei digital-affinen Jüngeren, gibt Anlass, an der politischen Urteilskraft in Politik und Gesellschaft zu zweifeln: Den Befürwortern ist offenbar nicht klar, dass eines jedenfalls völlig ausgeschlossen ist, nämlich dass wir Menschen über einige Wochen hinweg einem massiven psychischen Stress aussetzen, ihre Arbeitsplätze gefährden oder vernichten, Unternehmensexistenzen aufs Spiel setzen, eine Rezession herbeizwingen, internationale Lieferketten unterbrechen, Hungersnöte im globalen Süden riskieren etc., um dann nach einer Phase der Lockerung und der schrittweisen Erholung der Weltwirtschaft, der Revitalisierung des sozialen Zusammenlebens, der Wiederaufnahme des Bildungswesens einen erneuten Lockdown zu verhängen. Keine Gesellschaft der Welt würde es aushalten, die Schulen schrittweise wieder zu öffnen, um sie dann einige Wochen später wieder zu schließen, die Arbeitslosen zurück in die Erwerbstätigkeit zu holen, um sie dann wieder in die Arbeitslosigkeit zu entlassen, Unternehmen mit Milliarden aus der Existenzkrise zu holen, um sie dann wieder in die Existenzkrise zu stürzen.

Nach Wochen der Strategiewechsel, der Kommunikationsverweigerung und der zunehmenden Polemik im Umgang mit unterschiedlichen Einschätzungen kombinierten zwei Institute ihre jeweiligen Kompetenzen, das Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) und das Münchner ifo Institut für Wirtschaftsforschung. Das Ergebnis war die bis dato vernünftigste Stellungnahme in Deutschland, nämlich der Vorschlag, sich nicht an Verdoppelungszeiten oder an der Infektionsrate zu orientieren, sondern an der relativen Zahl der Neuinfektionen pro 100 000 Einwohnern. Dies ist insofern ein vernünftiger Ansatz, als er auf eine absolute Größe setzt, die, bei allen Ausstattungsschwankungen zwischen den Landkreisen, in etwa mit der Kapazität des Gesundheitssystems korreliert. Es ist eine Größe, an der sich alle orientieren können und die regional differenziertes Handeln erlaubt, zumindest wenn, wie geschehen, die Handlungskompetenz in den Ländern an die Landkreise und kreisfreien Städte delegiert wird.

Dennoch war auch diese Strategieempfehlung aus zwei Gründen irrational. Erstens, weil wir die Zahl der Neuinfizierten nicht kannten. Wir kannten nur die Zahl der registrierten infizierten Personen, und das ist etwas ganz anderes. Fachleute schätzten die Dunkelziffer auf 200 bis 900 Prozent, das heißt, die Zahl der tatsächlich Infizierten läge drei- bis zehnmal so hoch. Hier wurde regelmäßig verharmlosend von »Dunkelziffer« gesprochen, und die Leserinnen und Leser nehmen dann an, dass ein kleiner zusätzlicher Teil nicht erfasst wurde. Es ist aber genau umgekehrt, nur ein Bruchteil der tatsächlich Infizierten wird erfasst. Das Bild des Eisbergs ist passender: Wir sehen nur die Spitze des Eisbergs, also jene, die symptomatisch sind und weitere Bedingungen erfüllen, zum Beispiel mit einem nachweislich Infizierten in Kontakt waren. Die Gesundheitsämter in Deutschland hatten noch bis Ende Mai, also über zwei Monate nach Ausbruch der Pandemie in Deutschland, Testungen nur für diejenigen vorgesehen, die Symptome aufwiesen und zusätzlich aus einem Hochrisikogebiet kamen oder mit einer nachweislich infizierten Person Kontakt hatten. Diese Praxis wurde zur gleichen Zeit verfolgt, zu der immer wieder, auch vom RKI und den Gesundheitsämtern, davor gewarnt wurde, dass symptomfreie Menschen infektiös seien.

Besonders skandalös dabei ist, dass diese Praxis auf das Betreuungspersonal in Alten- und Pflegeheimen angewendet wurde, sodass es, wie nicht anders zu erwarten, auch dort bei Menschen, die sich selbst nicht schützen können, zu Covid-19-Infektionswellen kam, die vermutlich für den dramatischen Anstieg der Letalität von Covid-19 in Deutschland und Europa ganz überwiegend verantwortlich waren.[6] Während die niedrigen Letalitätszahlen in Deutschland zu Beginn mit dem triumphierenden Unterton, dass diese so weit niedriger lägen als zum Beispiel in Italien, verkündet wurden, verzichteten die Medien im weiteren Verlauf der Pandemie darauf, den jeweiligen Stand der Letalität anzugeben, sodass von der breiteren Öffentlichkeit unbemerkt blieb, dass diese sich auch in Deutschland innerhalb weniger Wochen verzehnfachte. Es ist also auch hierzulande geschehen, was die Covid-19-Tragödie in der Lombardei, in Paris, in New York und an vielen anderen Orten der Welt ausmachte, nämlich der Ausgriff der Pandemie auf die vulnerabelsten Gruppen der Bevölkerung. Intensives Testen des medizinischen und Pflegepersonals und jedes Neuzugangs hätte diese Tragödie verhindern können.

Die Orientierung der Krisenbewältigungsstrategie an einem Indikator, den wir nicht einmal annäherungsweise kennen, ist bei allen Meriten der mathematischen Modellierung ein Unding. Sie hat die merkwürdige Konsequenz, dass selbst dann, wenn sich niemand zusätzlich anstecken würde, allein die Zahl der Testungen über den Einsatz oder das Unterlassen staatlicher Maßnahmen entscheidet. Zu Recht wurde dabei befürchtet, dass Landkreise sich bei dieser Strategieempfehlung bei den Testungsaktivitäten zurückhalten würden. Man kann dies auch umgekehrt betrachten: Es ist wünschenswert, ein genaues Bild von der pandemischen Situation zu erhalten. Dafür ist es erforderlich, zumindest prozentual, besser noch individuell, das Infektionsgeschehen einschätzen zu können. Wenn aber die tatsächlich Infizierten zehnmal häufiger sind als die Registrierten, dann wäre die Strategieempfehlung um den Faktor 10 verfehlt, sie müsste auf 1/10 reduziert werden, da die Letalität von Covid-19 um den Faktor 10 geringer wäre.

Diese Überlegungen zeigen aber noch einen anderen, weit tiefer gehenden Defekt solcher Modellierungen, in diesem Fall sind es sogar zwei: die Identifikation der Zahl der registrierten Infizierten mit der Zahl der tatsächlich Infizierten und die implizite Annahme einer konstanten Morbidität und Letalität von Covid-19, das heißt die Annahme eines festen Prozentsatzes von Personen, die, wenn sie infiziert sind, erkranken beziehungsweise sterben. Genauer gesagt: Relevant ist die Zahl derjenigen, die schwer erkranken beziehungsweise sogar sterben, und derjenigen, die auf ein Intensivbett angewiesen sind. Da es sich im öffentlichen Diskurs eingebürgert hat, Infizierte mit Erkrankten gleichzusetzen, nehmen wir folgende terminologische Differenzierung vor: Infizierte Symptomfreie gelten nicht als erkrankt; erst wenn Symptome auftreten, sprechen wir von einer Erkrankung und charakterisieren diese terminologisch in Relation zu den insgesamt Infizierten als Morbidität (kurz: Wie viele der Infizierten erkranken beziehungsweise zeigen Symptome?). Davon zu unterscheiden sind diejenigen, die so schwer erkranken, dass sie stationär in einer Klinik behandelt werden müssen (Morbidität*), und diejenigen, die im Verlaufe der Erkrankung auf ein Intensivbett angewiesen sind (Morbidität**).

Es kann aufgrund der vorliegenden statistischen Daten gar kein Zweifel daran bestehen, dass das Risiko einer schweren Erkrankung oder sogar des Todes bei einer Covid-19-Infektion von Person zu Person stark variiert. Nach einer italienischen Untersuchung hatten lediglich 0,8 Prozent der mit Covid-19 Verstorbenen keine gravierenden Vor- oder Grunderkrankungen wie akuten Krebs, chronische Lungeninsuffizienz, Diabetes mellitus, vorausgegangenen Herzinfarkt oder Hirnschlag. Da sowohl Hochbetagte als auch Menschen mit solchen Grunderkrankungen einen Großteil der Insassen von Alten- und Pflegeheimen sowie von Klinikstationen ausmachen, würde der effektive Schutz dieser Einrichtungen vor Infektion einen Großteil der Todesfälle, aber auch der schweren Erkrankungen mit Covid-19 verhindern. Wenn zudem allein lebende Hochbetagte oder gesundheitlich Belastete so weit von den Kommunen versorgt würden, dass sie sich selbst keinem Risiko einer Infektion aussetzen müssten, würde die Letalität auf einen Bruchteil absinken, im Idealfall auf unter 1 Prozent der aktuellen Letalität. Daher ist die zweite Invarianz-Annahme dieser Modellierung schlicht abwegig und setzt die falschen Anreize. Es kann bei einer Pandemie diesen Ausmaßes nicht darum gehen, durch allgemeine Maßnahmen, die alle gleichermaßen betreffen, auf höchst indirektem Wege das Infektionsrisiko der vulnerablen Gruppen abzusenken, sondern es muss darum gehen, Morbidität*, Morbidität** und Letalität einer Pandemie auf ein erträgliches Maß zu reduzieren, und das kann ohne gravierende ökonomische, soziale und kulturelle Kollateralschäden nur durch spezifische Maßnahmen erfolgen.

Keine der hier genannten Strategien kann also überzeugen, aber ihre offenkundigen Defizite verweisen auf eine Alternative, die im folgenden Abschnitt erläutert wird. Hier halten wir als Zwischenergebnis fest: Um in einer Krisensituation mit Gefahren vernünftig umzugehen, bedarf es nicht nur einer differenzierten Klärung der Faktenlage (im Fall von Covid-19 die tatsächliche Morbidität*, Morbidität** und Letalität), sondern auch wohlbegründeter normativer Kriterien, die sich an empirisch überprüfbaren Indikatoren orientieren und auf einer nachvollziehbaren Werteorientierung beruhen. Nur dann kann es gelingen, auch die öffentliche Diskussion rational und inklusiv zu gestalten.

Die Alternative: Containment und Risikostratifikation

Das Wichtigste ist die Gesundheit. Danach kommen soziale Sicherheit und Arbeitsplätze.

Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Soziales

Der Grund meiner Besorgnis liegt vor allem in den wirklich unabsehbaren sozioökonomischen Folgen der drastischen Eindämmungsmaßnahmen, die derzeit in weiten Teilen Europas Anwendung finden und auch in Deutschland bereits in großem Maße praktiziert werden.

Prof. em. Dr. med. Sucharit Bhakdi, Infektionsepidemiologe

The current coronavirus disease, Covid-19, has been called a once-in-a-century pandemic. But it may also be a once-in-a-century evidence fiasco.

Prof. John Ioannidis, Gesundheitswissenschaftler

Diese drei Äußerungen sprechen für eine tiefe Aporie, in die die Covid-19-Pandemie weite Teile des öffentlichen Diskurses gestürzt hat: Der Sozialpolitiker gibt dem Gesundheitsschutz absoluten Vorrang gegenüber sozialen und ökonomischen Aspekten der Krise; der Infektionsepidemiologe dagegen sorgt sich nicht so sehr um die gesundheitlichen, sondern mehr um die ökonomischen und sozialen Begleiterscheinungen der Krisenbekämpfung; der Gesundheitswissenschaftler dagegen sieht die Grundlagen jeder wissenschaftlichen Beurteilung in Gefahr (evidence fiasco).

Unter einer Aporie versteht man eine tiefe, nicht behebbare Ratlosigkeit. Die Frühdialoge Platons gelten in folgendem Sinne als aporetisch: Sie setzen sich mit den Meinungen der Menschen zu zentralen Tugenden auseinander, um am Ende jede dieser Meinungen zu widerlegen, ohne eine konstruktive Lösung präsentieren zu können. Aporien laufen Gefahr, in einer umfassenden Skepsis oder im Nihilismus zu enden. Nichts wird mehr geglaubt, alles gleichermaßen bezweifelt, allgemeines Misstrauen greift um sich und zerstört lebensweltliche Gewissheiten. Vormalige Instanzen der Gewissheit, geistliche und weltliche Autoritäten, heilige Schriften, aber auch wissenschaftliche Befunde werden simultan infrage gestellt, und das Ergebnis ist eine um sich greifende Beliebigkeit des Urteils.

Der Kynismus war eine Reaktion auf sokratische Aporetik: Wenn man alles bezweifeln kann, bleiben lediglich die alltäglichen Bedürfnisse und der Spott gegenüber allen Wissens- und Autoritätsansprüchen. Die Reaktion Platons war dem entgegengesetzt, nun sollte ein wissenschaftlich und philosophisch fundiertes Urteil an die Stelle ungeklärter, bloßer Meinung treten, der Übergang von doxa (dem Fürwahrhalten) zu episteme (der Erkenntnis, dem Wissen) sollte dem Staat beziehungsweise der Stadtgesellschaft wieder Orientierung geben.

Die kynische Reaktion äußert sich auf sogenannten »Hygiene«-Demonstrationen; die platonische im ungebrochenen Vertrauen vieler auf Drosten, Merkel und das RKI. Die einen misstrauen zunehmend der Wissenschaft, der medizinischen Praxis, den Institutionen und der Politik, die anderen verzichten auf das kritische eigene Urteil, um verbliebene Gewissheiten nicht zu gefährden. Die einen neigen zum Selbstdenken »ohne Geländer«, für das alles Unerhörte erlaubt zu sein scheint, sie echauffieren sich über dieses und jenes, vermuten böse Absichten, wo es sich allenfalls um Irrtümer handelt, stellen kühne Thesen auf, die miteinander unvereinbar sind. Die anderen neigen zum sacrificium intellectus, gehen vorsichtshalber davon aus, dass schon alles seine Richtigkeit hat, dass die Experten schon wissen werden, was richtig und falsch ist, selbst dann, wenn unter diesen ein hohes Maß an Uneinigkeit besteht, um sich zu beruhigen. Die zentrale bürgerschaftliche Tugend politischer Urteilskraft in der Demokratie wird in beiden Fällen zu Grabe getragen. Versuchen wir, dem einige Fragen und Überlegungen entgegenzustellen. Selbstdenken, so könnte man sagen, aber mit Geländer, Deliberation statt Apodiktik, Kritik statt Apologetik.

Gab es zur Covid-19-Krisenbewältigung im nationalen und globalen Maßstab eine Alternative? Zunächst einmal kann keine Rede davon sein, dass weltweit die gleiche Strategie verfolgt worden wäre. Die ostasiatischen Staaten China, Südkorea, Taiwan, Japan verfolgten eine deutlich andere Strategie als die europäischen Länder. Um es plakativ zu fassen: Die europäischen Länder verfolgten über mehrere Monate eine Delay-Strategie, Verzögerung des Anstiegs der Infiziertenzahlen, während die ostasiatischen Staaten eine Containment-Strategie verfolgten, die darauf gerichtet war, die weitere Ausbreitung der Infektion mit teilweise drastischen Maßnahmen zu unterbinden. Zumindest in den ersten Wochen und weiter anhaltend in Debattenbeiträgen unter Experten und Laien hielt sich zudem eine dritte strategische Option, die wir als Laisser-faire charakterisieren können: die Pandemie ähnlich wie saisonale Influenza-Pandemien behandeln, keine Testungen durchführen, lediglich die Empfehlung für Vulnerable und Ältere ausgeben, eine Infektion möglichst zu vermeiden, und ansonsten keine einschränkenden Maßnahmen ergreifen.

Der internationale Vergleich zeigt keine eindeutigen Ergebnisse, aber doch einen Trend: Ostasiatischen Ländern, darunter auch Demokratien wie Taiwan und Südkorea, ist die Krisenbewältigung besser gelungen als europäischen oder amerikanischen.[7] Ostasiatische Länder setzten von Anbeginn auf die Schutzwirkung von Masken, nutzten Tracing- und Tracking-Apps, setzten aber auch im Einzelfall auf Isolation und Quarantänen. Südkorea war in der Pandemie-Bekämpfung besonders erfolgreich, trotz der Nähe zu China, einer dichten globalen Vernetzung und eines hohen Mobilitätsniveaus. Das Land kam ohne einen generellen Lockdown und ohne allgemeine Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen aus. Es setzte auf intensives Testen, Containment und Screening auch mithilfe einer hocheffektiven Tracking-App.[8] Für den Erfolg spielte offenbar das hohe Maß der Digitalisierung der ökonomischen und sozialen Praxis eine Rolle, das den effektiven Einsatz digitaler Tools zum Tracking und Tracing innerhalb kürzester Frist ermöglichte, sowie die Kooperationsbereitschaft und Disziplin der Bevölkerung, die sich im massiven Einsatz von freiwilligen Helfern und Helferinnen zeigte. Zudem hatte Südkorea aus der MERS-Epidemie 2015/16 gelernt und sein Gesundheitssystem auf Situationen dieser Art vorbereitet. Auch Taiwan, als ein weiterer Staat, der enge Wirtschaftsbeziehungen zur Volksrepublik China unterhält und daher frühzeitig von der Pandemie betroffen war, brachte die Ausbreitung der Pandemie im eigenen Land rasch unter Kontrolle. Weit weniger erfolgreich wurde diese Strategie des Containments zunächst in Japan umgesetzt, allerdings war dann doch ein positiver Trend zu verzeichnen – und das, obwohl kein Lockdown, keine App und kein generelles Social Distancing vorgeschrieben wurden. Stattdessen arbeiteten die 40 000 Mitarbeiter lokaler Gesundheitszentren daran, die Infizierten und ihre Kontaktpersonen zu lokalisieren.

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