Denkanstöße 2023 - Isabella Nelte - E-Book

Denkanstöße 2023 E-Book

Isabella Nelte

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Beschreibung

Die »Denkanstöße 2023« vereinen kompaktes Wissen, stichhaltige Argumente und spannende Positionen eines Jahres. Julian Nida-Rümelin und Nathalie Weidenfeld untersuchen die Geschlechterbeziehungen der Gegenwart, Stefan Aust und Adrian Geiges enthüllen den lächelnden Unbekannten Xi Jinping, und Ulrich Eberl blickt hinter die Kulissen der Technologien, die unser Überleben sichern sollen. Wer die Welt von heute verstehen will, muss wissen: Wer hat eigentlich die Macht? Dieses Buch gibt spannende Antworten und lädt ein zum Mit- und Weiterdenken!

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Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Vorwort

ERKENNTNISSE

Aus Wissenschaft und Zukunftsforschung

Ulrich EberlUnsere Überlebensformel. Neun globale Krisen und die Lösungen der Wissenschaft

Der Wind des Wandels

Das wichtigere Datum als die Mondlandung

Der sechste Zyklus:Gesundheit von Mensch und Umwelt

In Umbruchzeiten brauchen wir Ziele und Vorbilder

Die Kippelemente des sozialen Wandels

Klimaneutrales Europa:Entwarnung für Kosten und Jobs

Die Überlebensformel

Bernhard PötterDie Grüne Null. Der Kampf um Deutschlands Zukunft ohne Kohle, Öl und Gas

Der große kleine Unterschied

»CO2-neutral« umfasst nur einen Teil des Problems

Die Ölstaaten wehren sich gegen den Begriff »Dekarbonisierung«

Kann es einen Grünen Kapitalismus geben?

»Grüner Kapitalismus«: Lösung oder Verschlimmbesserung?

Was darf wachsen? Was muss schrumpfen?

Konservative und Wirtschaft scheuen die Systemfrage

Postwachstum oder Rationierung von knappen Ökogütern?

Der ganz lange Atem

Vom Hobbyjogger zum Profirunner

Die Politik als Streckenposten und Cheerleader

Der kleine Unterschied in der alltäglichen Realpolitik

Bei jedem Gesetz und jeder Maßnahme: Ans Klima denken!

Applaus ist wichtig, Zähne zusammenbeißen auch

ERFAHRUNGEN

Aus Gesellschaft und Philosophie

Heike SpechtDie Ersten ihrer Art. Frauen verändern die Welt (1918 bis heute)

Einsame Spitze

Macherin des Machbaren

Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer

Julian Nida-Rümelin und Nathalie WeidenfeldErotischer Humanismus. Zur Philosophie der Geschlechterbeziehung

Von erotischen Kugelwesen, oder: Was ist »Erotischer Humanismus«?

»Eine einzige Ohrfeige für uns Frauen« – Kulturkampf vs. Sozialkampf

»Würdest du mir Pralinen auf die Station bringen?« – Paradoxien der Identität

Tobias HaberlDer gekränkte Mann. Verteidigung eines Auslaufmodells

Der neue Mann?

EINSICHTEN

Aus Politik und Zeitgeschehen

August Zirner und Ana ZirnerElla und Laura. Von den Müttern unserer Väter

Vom Gegenstand zur Person

August

Die kroatischen Wälder

August

Die Realität außerhalb des Paradieses

Ana

Manieren und Verdrängung

August

Unverortet oder Immer im Exil

Ana

Ronen SteinkeVor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz

»Die Angeklagte verteidigt sich selbst«: Ein guter Witz

Mother’s little helper: Die Highs der gehobenen Gesellschaft

13 Vorschläge, wie es besser gehen könnte

1. Eine gut ausgestattete Justiz ist gerechter

2. Pflichtverteidiger für alle!

3. Pflichtverteidiger schon im Ermittlungsverfahren

4. Armenanwälte genauso unabhängig machen wie Reichenanwälte

5. Auch Topanwälte müssen Arme verteidigen

6. Einkommen von Tätern nicht »schätzen«, sondern aufklären

7. Faire Geldstrafen für Arme

8. Schwarzfahren entkriminalisieren

9. »Ersatzfreiheitsstrafe« nur auf richterliche Anordnung

10. Keine Steuerprivilegien mehr für Wirtschaftsdelinquenten

11. »Strafbefehle« abschaffen

12. Drogen entkriminalisieren

13. Bettler endlich, endlich in Ruhe lassen

Jan Philipp BurgardMensch, Amerika! Unterwegs in einem Land im emotionalen Ausnahmezustand

Lebe wohl, Amerika!

Autorinnen und Autoren

Quellen und Anmerkungen

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Vorwort

Im Frühjahr 2022, während der Entstehung dieses Bandes, hält die Corona-Pandemie die Welt schon seit zwei Jahren fest im Griff. Die meisten Menschen sind erschöpft – Ungewissheit und Angst prägen ihren persönlichen und politischen Alltag. Mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine werden diese Gefühle auf die Spitze getrieben und damit viele von uns an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Es scheint, als jagte eine Krise die nächste. Wer möchte da nicht lieber den Kopf in den Sand stecken?

Obwohl es Kraft kostete, gab es auch in den letzten dunklen Monaten immer wieder Lichtblicke: Spendeninitiativen unterstützten unter den Folgen der Pandemie leidende Künstlerinnen und Künstler, unzählige Freiwillige versorgten Flüchtende aus der Ukraine an den Bahnhöfen und boten ihnen Schutz in den eigenen vier Wänden. Es sind diese Momente, an die wir uns erinnern müssen, wenn all die gegenwärtigen und bevorstehenden Krisen unüberwindbar scheinen – der Mensch ist auch zu Gutem fähig. Und er überrascht uns, immer wieder.

Genau das zeigen die hier versammelten Texte. Sie werden sehen, dass es sich immer lohnt, nicht aufzugeben. Auch die Autorinnen und Autoren dieses Bandes geben nicht auf, denn sie schreiben über das, was sie erleben, und das, was sie denken, ob es schmerzt oder nicht. Sie teilen ihr Wissen und ihre Einsichten mit uns und helfen so, neue Perspektiven zu eröffnen.

Den Anfang macht Ulrich Eberl mit einer Überlebensformel für die Menschheit, die verdeutlicht, welche Chancen wir haben. Darüber, wie es uns in Deutschland gelingen kann, in eine grüne Zukunft zu steuern, denkt Bernhard Pötter nach – und so viel sei verraten: Auch er glaubt, dass wir es schaffen können. Wie es um die Zukunft und die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern bestellt ist, zeigt ein Blick in die Vergangenheit: Heike Specht porträtiert mit den »Ersten ihrer Art« Frauen, die in die männlich geprägten Machtzentren dieser Welt vordrangen und damit den Weg für viele andere Frauen bereiteten. Dass Frauen und Männer heute noch immer nicht komplett gleichberechtigt sind, belastet das Miteinander – Julian Nida-Rümelin und Nathalie Weidenfeld plädieren deshalb für einen erotischen Humanismus. Den humanistischen Umgang zwischen Mann und Frau fordert auch Tobias Haberl, der sich auf eine ganz persönliche Suche nach einer neuen Männlichkeit begibt. Ana Zirner und August Zirner suchen wiederum nach den Spuren ihrer Großmütter, deren Leben von den Ungerechtigkeiten der Kriege des 20. Jahrhunderts geprägt waren. Dass wir Ungerechtigkeiten längst nicht überwunden haben, zeigt Ronen Steinkes scharfer Blick auf die neue Klassenjustiz, denn er weiß: Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Durch eine ungleiche Gesellschaft reist schließlich auch Jan Philipp Burgard. Er gibt uns einen Einblick in ein zerrüttetes Amerika, das sich an einem Scheideweg befindet. Doch schon in US-amerikanischen Reisepässen heißt es: »Kommt eine neue Welt? Wir werden sie den Hoffnungen des Menschen beugen.«

Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes setzen sich ein weiteres Mal kritisch, aber auch voller Zuversicht mit der Wirklichkeit auseinander, und dabei fördern sie kluge Gedanken und erhellende Einsichten zutage. Ich wünsche Ihnen eine gute und vor allem stärkende Lektüre!

Isabella Nelte

ERKENNTNISSE

Aus Wissenschaft und Zukunftsforschung

Ulrich EberlUnsere Überlebensformel. Neun globale Krisen und die Lösungen der Wissenschaft

Der Wind des Wandels

Binnen Minuten ist der strahlend blaue Himmel verschwunden. Die Wipfel der Bäume schwingen mit dem plötzlich aufkommenden Wind; dunkle Wolkenberge türmen sich, wo gerade noch die Sonne brannte. Die Luft kühlt spürbar ab. Gewitter, Sturm und Hagel drohen. Der heiße Sommer am See endet mit einem Donnerschlag – und im Radio spielen sie »Wind of Change« von den Scorpions. Wie lange habe ich diese Rockballade nicht mehr gehört! Vor 30 Jahren war sie unsere Hymne der Wende gewesen – im Taumel der Freude, nachdem die Mauer gefallen war, als die beiden Deutschlands eins wurden und der Kalte Krieg für immer zu Ende schien.

Wind of Change. Das passt auch heute wieder. Die Luft knistert von den Unwettern, die uns bevorstehen. Der Ost-West-Konflikt ist wieder da, nur dass diesmal China im Fokus steht, das mit Wirtschaftskraft und Machtpolitik dem 21. Jahrhundert seinen Stempel aufdrücken will. Politische Brandherde überall, Nationalisten und Populisten kommen und gehen, Fakten werden verzerrt und ins Gegenteil verkehrt – doch noch heftigere Stürme ballen sich in der Natur zusammen. In Kalifornien, Südeuropa, Brasilien, Indonesien, Australien und sogar in Sibirien brennen die Wälder. Hitzewellen erreichen Temperaturen, wie sie noch nie gemessen wurden. Gletscher schmelzen in unfassbarem Tempo, Wirbelstürme und Überschwemmungen sind heftiger als je zuvor, ganze Orte versinken im Schlamm. Dürren vernichten Ernten, Korallenriffe sterben noch rascher als Regenwälder – und ein Virus verursacht eine Pandemie, die rund um den Globus nicht nur die Gesundheit von Millionen Menschen attackiert, sondern auch Wirtschaft und Gesellschaft extremen Stresstests aussetzt.

Kein Wunder, dass viele raunen: Die Natur schlägt zurück. Sie hätte auch allen Grund dazu. An Warnungen hat es nicht gefehlt. Vor genau 50 Jahren, im März 1972, veröffentlichten Donella Meadows, Dennis Meadows und Jørgen Randers im Auftrag des Club of Rome – einer Vereinigung von Wirtschaftlern, Wissenschaftlern und Politikern – eine Studie mit dem Titel The Limits to Growth(Die Grenzen des Wachstums).[1] Bis heute ist dieses Werk mit Dutzenden von Millionen Exemplaren eines der erfolgreichsten Bücher aller Zeiten – und eines der umstrittensten. Denn die Autoren prophezeien der Menschheit den Kollaps. Nach ihren Simulationen würden Weltbevölkerung und Industrieproduktion noch einige Zeit wachsen, aber dann käme ein abrupter Absturz: verursacht durch knapper werdende Rohstoffe und Nahrungsmittel sowie durch die Umweltverschmutzung. Dieser Zusammenbruch, so ihre Prognose, würde vermutlich zwischen 2030 und 2050 liegen, aber ziemlich sicher fände er vor dem Jahr 2100 statt.

Die Computerleistung, die den Autoren der Studie zur Verfügung stand, war zwar sehr begrenzt, aber auch Berechnungen, die die Forscher in den 1990er- und 2000er-Jahren durchführten, zeigten ähnliche Ergebnisse. Nur massive Maßnahmen zum Umweltschutz, zum Umbau der Wirtschaft sowie die Wiederverwendung von Rohstoffen, hohe landwirtschaftliche Erträge und niedrige Geburtenraten ergaben Szenarien, unter denen die Weltbevölkerung und der Wohlstand langfristig konstant bleiben können. In einem Interview, das wir für das von mir gegründete Zukunftsmagazin Pictures of the Future bereits vor zwölf Jahren mit Dennis Meadows führten,[2] zeigte er sich jedoch wenig zuversichtlich, dass die Menschheit den Wandel schafft: »Ich rechne mit schweren Verwerfungen«, prophezeite er. »Meine Modelle zeigen Spannungen wie in einer Erdbebenzone: Man weiß nicht genau, wann etwas passiert. Aber es ist klar, dass es ein Beben mit schlimmen Folgen geben wird.« Natürlich kann man über Details seiner Modelle streiten. Dennoch scheinen gerade jetzt seine Kassandrarufe aktueller denn je. Haben wir überhaupt eine Chance, dieses Erdbeben noch zu verhindern?

In meiner Jugend hätte ich die Frage mit einem klaren Ja beantwortet. Als kleiner Bub saß ich gebannt vor dem Fernseher, während die Helden der Apollo-Missionen den Mond betraten. »Ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein riesiger Sprung für die Menschheit« – als Neil Armstrong in der Nacht zum 21. Juli 1969 etwas ungelenk aus der Mondlandefähre Eagle kletterte, schien alles möglich. Wenn Menschen zum Mond fliegen können, was sollte uns aufhalten? Diese Begeisterung für Naturwissenschaft und Technik brachte mich später dazu, Physik zu studieren und selbst im Labor zu forschen. Doch schon 1969 hätte man auch alles ganz anders sehen können. Selbst Neil Armstrong sagte, als er gefragt wurde, ob er nicht ein Gefühl der Größe gespürt habe, als er auf dem Mond mit seinem Daumennagel die ferne Erde verdecken konnte: »Nein, im Gegenteil – ich fühlte mich in dem Moment verloren und klein.« Und der Astrophysiker Carl Sagan schrieb, als er das Foto unseres Planeten mit der dünnen Hülle der Atmosphäre sah, das die Apollo-Astronauten geschossen hatten: »Dieses Foto zeigt uns, dass von außen keine Hilfe kommen wird, um uns vor uns selbst zu retten.« Auf dieser kleinen, wunderbaren, blauen Murmel existiert alles Leben, das wir kennen – und die Menschheit ist gerade dabei, vieles davon radikal zu zerstören.

Das wichtigere Datum als die Mondlandung

Denn während wir die technischen Großleistungen bewunderten, übersahen wir ein aus heutiger Sicht wichtigeres Datum: Genau zur Zeit der Mondlandungen übertraf nach Berechnungen des Global Footprint Network der ökologische Fußabdruck des Menschen erstmals die Biokapazität der Erde.[3] Seitdem leben wir auf Pump. Heute nutzen wir die Ressourcen des Planeten 1,7-mal schneller, als sie sich regenerieren können. Wir bräuchten bereits 1,7 Erden – und wenn wir so weitermachen wie bisher, müssten wir 2050 drei Erden zur Verfügung haben. Die Gründe für den Raubbau sind offensichtlich: Seit 1970 hat sich die Weltbevölkerung mehr als verdoppelt. 2050 könnten sogar dreimal so viele Menschen auf der Erde leben wie 1962, zur Zeit meiner Geburt.

Noch schneller als die Weltbevölkerung sind die Wirtschaftsdaten gestiegen. Laut einem 2021 erschienenen Bericht des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP)[4] hat sich die Weltwirtschaft von 1970 bis 2020 fast verfünffacht und der Welthandel verzehnfacht. Unser Rohstoffverbrauch hat sich in dieser Zeit – wie der Energieverbrauch – nahezu verdreifacht, die Herstellung von Kunststoffen sogar verzwanzigfacht. Heute stößt die Menschheit jedes Jahr doppelt so viele Treibhausgase in die Luft wie vor 50 Jahren. Übertroffen werden diese Hiobsbotschaften nur vom Artensterben: Seit 1970 sind laut dem World Wide Fund for Nature mehr als zwei Drittel aller Wirbeltiere – Säugetiere, Vögel, Fische, Reptilien und Amphibien – von der Erde verschwunden.

Viele Wissenschaftler nennen unsere Zeit das Anthropozän, weil der Mensch zur bestimmenden Kraft des Planeten geworden ist. Laut dem UNEP-Bericht verursachen wir massive Veränderungen bei zwei Dritteln der Ozeane und drei Vierteln des eisfreien Landes – bei den Meeren vor allem durch Überfischung und Vermüllung, beim Land, indem wir große Teile in Ackerland, Weideflächen, Nutzwälder, Siedlungen, Straßen und andere Infrastrukturen umwandeln. Doch schon in den 1980er-Jahren waren negative Seiten des technisch Machbaren deutlich sichtbar: 1984 kam es im Pestizidwerk im indischen Bhopal zum schwersten Chemieunfall der Geschichte mit Tausenden von Toten und Hunderttausenden Verletzten. In Deutschland diskutierten wir zur gleichen Zeit vor allem über Waldsterben und sauren Regen. 1985 wurde das Ozonloch über der Antarktis entdeckt, 1986 explodierte der Kernreaktor von Tschernobyl – und das sind nur ein paar drastische Beispiele.

Dennoch schien vieles noch beherrschbar: Grüne Parteien entstanden, Umweltministerien wurden gegründet. Kraftwerke mussten Anlagen zur Rauchgasentschwefelung installieren, für Autos wurden Abgasnormen verschärft und Katalysatoren vorgeschrieben. 1989 trat ein Übereinkommen in Kraft, das die Emission von ozonschädlichen Chemikalien verhinderte, darunter vor allem die als Kühlmittel verwendeten Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) – es wurde von allen Staaten der Vereinten Nationen ratifiziert und gilt bis heute als einer der größten Erfolge des Umweltvölkerrechts. Und nach Tschernobyl und vor allem nach der Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima 2011 beschloss Deutschland, bis Ende 2022 alle Kernkraftwerke abzuschalten.

Als Teile der radioaktiven Wolke von Tschernobyl über Bayern abregneten, arbeitete ich gerade im Garten meiner Eltern in Regensburg. Noch gab es offiziell gar keine Warnungen, aber am Tag darauf überprüfte ich mit einem Messgerät, das uns Physikstudenten der Technischen Universität München in Garching zur Verfügung stand, meine Kleidung und Schuhe: Das rasende Knattern habe ich noch heute im Ohr; der Zeiger war am Anschlag, die Radioaktivität um ein Vielfaches über der natürlichen Strahlung. Kurz danach war das ganze Land in Aufregung: die Böden verstrahlt; Milch, Gemüse, Beeren, Wild – vieles durfte nicht mehr verzehrt und musste vernichtet werden. Mir gab diese Erfahrung den letzten Anstoß, in die Erforschung neuer Energien einzusteigen. Während meiner Diplom- und Promotionsarbeit untersuchte ich die ersten Schritte der Photosynthese, die Umwandlung von Licht in elektrochemische Energie – meine Vision war, neue Erkenntnisse für künftige biologische Solarzellen beitragen zu können.

Auch als ich danach einige Jahre bei Daimler arbeitete und 20 Jahre lang bei Siemens die Kommunikation über Forschung, Innovationen und Zukunftstrends leitete, standen Ressourcenschonung und erneuerbare Energien immer im Fokus. Nachhaltige Mobilität, Brennstoffzellen, Wasserstoff, Wind und Solar, Energieeffizienz bei Gebäuden, Kraftwerken und Industrien, die Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch und die Entwicklung »grüner« Städte – das waren neben Gesundheitsfragen die wesentlichen Themen unserer Zukunftsmagazine HighTechReport und Pictures of the Future. Seit 1992 bei der UN-Konferenz in Rio de Janeiro der Begriff der Nachhaltigkeit wieder ins Bewusstsein gerückt war, war mir klar, dass dies die Aufgabe unserer Generation werden musste: Nachhaltigkeit im umfassenden Sinn, ökologisch, ökonomisch und sozial, also Schutz der Umwelt, Überwindung der Armut und gesellschaftlicher Ausgleich.

1994 konnte ich am Amazonas im Dreiländereck zwischen Brasilien, Kolumbien und Peru noch rosa Flussdelfine, Piranhas, Brüllaffen und Aras erleben, doch beim Flug über den Regenwald sah ich immer wieder dunkle Rauchwolken und Kahlschläge. Ein Jahr später erklärten mir Biologen beim Tauchen am Great Barrier Reef in Australien den ökologischen Reichtum dieser Regenwälder unter Wasser – und zugleich diskutierten sie bereits verheerende Effekte von Umweltverschmutzung und Klimawandel auf die Korallenriffe. Als ich dann im Sommer 1995 in der Süddeutschen Zeitung einen Artikel mit dem Titel »Der bleiche Tod in den Oasen der Meere« veröffentlichte, war dies in den Medien einer der ersten Beiträge über die Zusammenhänge zwischen Klimawandel und Korallensterben. Inzwischen gehört es zum Allgemeinwissen, dass der Tod der Korallen eine der unmittelbarsten Auswirkungen des Klimawandels darstellt. Seit 1995 hat die Menschheit so viel Kohlendioxid in die Luft geblasen wie in allen Jahren vor 1990 zusammengenommen. Wenn die Emissionen nicht drastisch sinken, sagen Wissenschaftler, könnten heutige Kinder noch eine Welt erleben, die heißer ist, als sie jemals ein Homo sapiens erfahren hat.

Wind of Change. Wir müssen den Umschwung schaffen, denn die Indizien sind eindeutig: Im Anthropozän ist nicht nur die Vielfalt des Lebens auf der Erde bedroht, sondern das Überleben unserer Zivilisation. Wie aber kann der Wandel noch gelingen? Seit 35 Jahren erforsche ich Zukunftstrends. Manches ist gar nicht so schwer vorherzusagen, denn viele Weichenstellungen, die wir heute treffen, prägen die Welt, in der unsere Kinder leben werden. Die Häuser, die jetzt gebaut werden, stehen in Jahrzehnten noch. Viele Kraftwerke werden auch 2050 noch Energie liefern. Die Zahl unserer Kinder legt fest, wie die Alterspyramiden und damit die Sozial- und Gesundheitssysteme aussehen und welche Mengen an Nahrung und Rohstoffen benötigt werden – und was wir jetzt an Treibhausgasen ausstoßen, wird auch 2050 noch das Klima der Erde beeinflussen. Auch Megatrends sind klar zu erkennen: Dabei geht es nicht um schnelle Entwicklungen wie Smartphones oder Hypes wie in der Internetkultur, sondern um langfristige Trends wie Globalisierung, Verstädterung oder den demografischen Wandel, die praktisch unumkehrbar sind.

Als ich vor zwölf Jahren mein Buch Zukunft 2050schrieb, beschäftigte ich mich zudem mit den sogenannten Kondratieff-Zyklen.[5] Der russische Wissenschaftler Nikolai Kondratieff hatte in den 1920er-Jahren herausgefunden, dass große Wirtschaftszyklen in langen Wellen von 40 bis 60 Jahren ablaufen – beginnend bei Basisinnovationen über den daraus entstehenden Wohlstandszuwachs, bis sie stagnieren und von der nächsten Welle abgelöst werden. Dieses natürlich stark vereinfachte Konstrukt beschreibt sehr anschaulich, was die Welt in den vergangenen 200 Jahren prägte. Ab 1800 waren es die Dampfmaschine und die Textilindustrie, und um 1870 befand sich der zweite Zyklus auf seinem Höhepunkt: mit den Basisinnovationen Eisenbahn und Stahlindustrie.

Von 1900 bis 1950 drehte sich viel um die Elektrotechnik: Kraftwerke und Stromnetze, elektrisches Licht und Straßenbahnen, Radio, Kühlschrank und Fernseher. Die Jahre 1950 bis 1990 waren dann geprägt von der Boomphase des Automobils und der Petrochemie, des Öls und der Kunststoffe. Derzeit befinden wir uns nahe dem Scheitelpunkt des fünften Zyklus, der etwa 1990 startete und durch die Informations- und Kommunikationstechnik geprägt ist: mit Computern, Internet, Mobilfunk und der Künstlichen Intelligenz, die ich im Buch Smarte Maschinen[6] beschrieb, als ich mich 2016 als Wissenschaftsautor, Vortragsredner und Zukunftsforscher selbstständig machte.

Der sechste Zyklus:Gesundheit von Mensch und Umwelt

Den sechsten Kondratieff-Zyklus, der nun langsam hochfährt und der nach meiner Einschätzung die Jahrzehnte zwischen 2030 und 2060 prägen könnte, hat der Forscher Leo Nefiodow schon vor 25 Jahren prognostiziert: Darin sollen die Themen Bio- und Medizintechnik sowie Umweltschutz eine wesentliche Rolle spielen. Ich nenne das Gesundheit im weitesten, ganzheitlichen Sinn: Gesundheit des Menschen ebenso wie Gesundheit der Umwelt. Für unser Überleben ist das der entscheidende Zyklus, und er startet vielleicht gerade noch rechtzeitig!

Wir müssen die beiden Gesundheitstrends zusammendenken und umsetzen. Kaum etwas könnte das deutlicher machen als die Corona-Pandemie und der Klimawandel: Bei der Pandemie dreht sich alles um die Gesundheit des Menschen, beim Klimawandel um die Gesundheit der Umwelt. Beide sind nicht unabhängig voneinander: Der Klimawandel wirkt nicht nur über Hitzewellen auf unser Wohlbefinden, sondern auch über die Änderung von Vegetationszonen und die Ausbreitung von Krankheiten. Und die Pandemie zeigte, wie schnell Politik, Wirtschaft, Finanzwesen und die Gesellschaft reagieren können, wenn alles auf dem Spiel steht. Es bleibt nur zu hoffen, dass nun ein Großteil der billionenschweren Nach-Corona-Aufbauhilfen wirklich in die New Green Deals fließt, die gegen den Klimawandel in Stellung gebracht werden.

Die epochalen Krisen, vor denen wir stehen, erstrecken sich auf viele Gebiete. Wie können wir das weltweite Energiesystem auf eine neue, kohlenstofffreie Grundlage stellen – ohne dass die Energieversorgung leidet und die Preise explodieren? Wie können wir mobil sein, ohne Öl zu nutzen, wie heizen ohne Erdgas und Kohle? Wie sehen lebenswerte Städte aus? Wie schaffen wir nachhaltige Industrien? Wie bauen wir mit möglichst wenig Zement und Beton? Oder nehmen wir die Kunststoffe. Sie waren einst die Verheißung des 20. Jahrhunderts, doch heute verpesten sie Flüsse und Meere und finden sich noch an den entlegensten Stränden und in den Körpern vieler Lebewesen. Wie holen wir das Plastik aus den Gewässern? Wie schaffen wir umweltfreundliche Materialien und eine echte Kreislaufwirtschaft? Wie können wir die Vielfalt der Arten und die Wälder schützen und zugleich bis zu zehn Milliarden Menschen gesund ernähren? Und wie begegnen wir den Herausforderungen der Medizin: den neuen Krankheiten, den Multiresistenzen gegen Antibiotika, den Demenzerkrankungen, die sich bis 2050 verdreifachen könnten? Wie berechtigt ist die Angst mancher, dass die Intelligenz smarter Maschinen die Menschheit gefährden könnte? Und eine der wichtigsten Fragen überhaupt: Wie überwindet man Beharrungskräfte und gewinnt die Menschen für den Wandel?

Genau darum geht es: um neun globale Krisen und die Lösungen der Wissenschaft. Ich bin überzeugt davon, dass wir Antworten finden können. Denn gerade jetzt ballen sich nicht nur die Unwetter zusammen, sondern es häufen sich auch die Durchbrüche: bei mRNA-Impfstoffen gegen die Corona-Pandemie, in der Synthetischen Biologie, bei lernenden Maschinen, Neurochips und Quantencomputern. Wind- und Solarstrom kosten nun weniger als der aus Kohle, Batterien für Elektroautos sind so leistungsstark, wie es vor 20 Jahren niemand für möglich gehalten hätte, und »grüner« Wasserstoff wird plötzlich eine realistische Option. Kurz: Die 2020er-Jahre könnten das Goldene Jahrzehnt des technologischen Wandels werden, so wie die 1920er-Jahre mit der Quantenphysik, der Entdeckung des Penicillins und des Grabs von Tutanchamun als Goldenes Jahrzehnt der Wissenschaft bezeichnet werden. Es wird jetzt auch wirklich Zeit. Die 2020er-Jahre werden nach allem, was wir wissen, unsere letzte Chance sein, noch umzusteuern und das Ruder herumzureißen – aber ich habe die Hoffnung, dass es gelingen kann.

In den vergangenen Jahren habe ich mit vielen Forscherinnen und Wissenschaftlern gesprochen, sie in ihren Laboren besucht und ihre Publikationen gelesen. Ich habe von Start-up-Unternehmern, Managerinnen und Wirtschaftsführern gelernt, wie aus Entdeckungen echte Innovationen entstehen und was die Hürden sind, die es zu überwinden gilt. Denn Erfindungen, die zwar technisch funktionieren, aber nie den Weg aus dem Labor in die Märkte finden, werden die Welt nicht verändern.

Wir brauchen Ideen und Erfindungskraft und müssen als Gesellschaft entscheiden, welche Technologien wir auf welche Weise nutzen wollen. Solche Entscheidungen dürfen nicht vertagt werden, denn jedes Tun birgt zwar ein Risiko in sich, aber genauso auch jedes Nichtstun. Angesichts der enormen Herausforderungen ist Nichtstun keine Option. Es macht Spaß, neu zu denken, selbst aktiv zu werden und mit der richtigen Idee die Welt zu verändern – auch dazu möchte ich mit diesem Text auffordern. Denn es geht um die entscheidenden Weichenstellungen – oder um es plakativ und pathetisch auszudrücken: unsere Überlebensformel.

In Umbruchzeiten brauchen wir Ziele und Vorbilder

Wenn die Welt immer weiter schrumpft und man Probleme nicht einfach auslagern kann, wäre es dann nicht dringend Zeit für eine Weltmoral? Für die Erkenntnis, dass wir nur gemeinsam die Krisen bewältigen oder gar nicht? Die Gruppe, aus der wir künftig unser Selbstwertgefühl beziehen müssten, wäre dann nicht der lokale Sportverein oder das Team in der Firma, nicht eine Partei und auch keine Nation, sondern die gesamte Menschheit. Ist so etwas denkbar? Rücksichtnahme, Hilfsbereitschaft, Loyalität zu Milliarden von Menschen, von denen wir die meisten gar nicht kennen? Im Großen ist es das, was die UN mit ihren 17 SD-Zielen bezweckt; aber dafür muss man kleiner anfangen, bei jedem Einzelnen. In Umbruchzeiten brauchen Menschen eine »Erzählung«, ein Narrativ, wohin die Reise gehen soll, und Persönlichkeiten, die den Wandel glaubhaft verkörpern, denen man vertraut und gerne folgt. Das Ziel der Reise ist klar: eine Welt, die für uns und unsere Nachkommen lebenswert ist, mit größtmöglicher Bewahrung der Umwelt und der Vielfalt des Lebens.

Aber wo sind die moralischen Vorbilder? Diejenigen, die die Welt zu einem besseren Ort machen? In Zeiten des Umbruchs gab es sie immer: Menschen wie Martin Luther King, Mahatma Gandhi, Nelson Mandela – ihr Wirken hat viele inspiriert, auch weil ihre Geschichte mit persönlichen Opfern verbunden war. In heutiger Zeit[7] gehören dazu ebenso Frauen wie Malala Yousafzai, die für ihr Eintreten für Kinderrechte und die Schulbildung junger Mädchen im Alter von 17 Jahren den Friedensnobelpreis erhielt, nachdem sie Schüsse in Kopf und Hals durch pakistanische Taliban knapp überlebt hatte. Oder Greta Thunberg: Als die 15-Jährige im Sommer 2018 mit ihrem Schild »Skolstrejk för klimatet« (»Schulstreik fürs Klima«) vor dem Reichstag in Stockholm demonstrierte, hätte sie sich nicht träumen lassen, dass sie damit binnen weniger Monate die weltweite Klimaschutzbewegung Fridays for Future (FFF) begründen würde. Doch die furchtlose und konsequent ihr Ziel verfolgende junge Schwedin, die ihr »Spezialinteresse« mit ihrem Asperger-Syndrom – einer milden Form des Autismus – in Verbindung bringt, war die richtige Person zur richtigen Zeit. Der FFF-Bewegung folgen heute weltweit Millionen Menschen, nicht nur in Schulen und Universitäten, sondern auch viele weitere Gruppen, von Scientists for Future bis Parents for Future.

Damit wurde das Klimathema nicht nur in die Politik, sondern auch in die Familien getragen. Nachdem Fachleute jahrzehntelang diskutiert hatten, beginnen nun erstmals gesellschaftliche Mehrheiten zu begreifen, dass Umdenken und Handeln dringend nötig sind. So entsteht Wandel. Authentische, charismatische Menschen begeistern andere, die sich engagieren und ihrem Leben Richtung und Sinn geben. Ob das die MeToo-Bewegung ist mit ihrem Einsatz gegen sexuellen Machtmissbrauch oder The Giving Pledge, die Kampagne, die Milliardäre dazu bringt, einen Großteil ihres Vermögens an Stiftungen für Bildung, Gesundheit, Kultur oder Naturschutz zu spenden – am Anfang richten Einzelpersonen den Kompass aus, dem dann viele folgen. So können große Organisationen entstehen wie Ärzte ohne Grenzen, UNICEF oder das Welternährungsprogramm, in denen Zehntausende von Mitarbeitern Verletzten in Krisengebieten, Kindern oder Hungernden selbstlos helfen. Aber auch Helden des Alltags können Vorbilder sein: wenn sie etwa Mobbingopfern beistehen, Menschen in Seenot retten oder unter Einsatz ihres Lebens Regenwälder und indigene Völker schützen.

All diese Menschen machen die Welt mitfühlender – und das zeigt Wirkung: Immer mehr wollen sich einbringen. Umweltschutz und Klimawandel stehen jetzt im Fokus, ebenso Achtsamkeit – was man isst, wie man wohnt und reist, wie man Ressourcen schont und faire Arbeitsbedingungen fördert. Der Philosoph Immanuel Kant hätte vielleicht den »kategorischen Imperativ« einer universellen Ethik formuliert: »Handle stets so, dass auch die nächsten Generationen noch eine lebenswerte Welt vorfinden werden.«

Doch das kann man auch plakativer sagen: So wie man nicht für Firmen arbeiten will, die Landminen oder Splitterbomben herstellen, so sollte künftig ein Job bei Umweltsündern tabu sein. Und so, wie wohl niemand seinen Müll einfach in Nachbars Garten kippt, so verwerflich muss es sein, Plastikmüll in der Natur zu hinterlassen. Moralisch keineswegs besser ist der Kauf eines 1-Euro-T-Shirts, eines 1-Euro-Burgers oder eines 20-Euro-Flugs nach Mallorca. Denn die wahren Kosten bezahlen andere und die Umwelt. Es gibt kein Menschenrecht auf Auswüchse einer nicht nachhaltigen Konsumgesellschaft. Sie zu ächten muss im Zentrum jeder Bildung stehen. Zwar ist es natürlich richtig, dass eine Einzelperson mit ihren Konsumentscheidungen nicht die Welt rettet oder sie untergehen lässt, aber Milliarden von Individuen tun das wohl.

Die Bildung ist der Schlüssel – wie auch bei der Erziehung zu Menschlichkeit statt Hass und der Bekämpfung von Armut, Korruption und Unterdrückung. Denn das Grundübel, das zu vielen Konflikten führt, sind die Verhältnisse, in denen Menschen in vielen Regionen der Welt leben müssen. Der Wert von Bildung ist dabei kaum zu überschätzen. Sie fördert das Selbstbewusstsein und den Wunsch nach politischer Mitsprache, sie macht unabhängig, bringt mehr Geld und ist einer der stärksten Hebel zur Senkung der Geburtenraten – was im Übrigen auch hilft, die Umweltbelastungen zu reduzieren.

Eltern, die in extremer Armut leben, brauchen Kinder als Arbeitskräfte und für ihre eigene Alterssicherung. Doch sobald vor allem Frauen über eine gewisse Bildung und ein relativ sicheres Einkommen verfügen sowie Zugang zu Verhütungsmitteln und einer grundlegenden Gesundheitsversorgung haben, sinkt die Zahl ihrer Kinder erheblich.[8] Dann wollen die Eltern weniger, aber gut ausgebildete Kinder, in deren Erziehung sie mehr investieren, was wiederum zu deren besseren Bildung führt – ein Win-win-Kreislauf, von dem alle profitieren.

So hatten Frauen noch vor 50 Jahren in Bangladesch und Mexiko im Mittel fast sieben und in der Türkei mehr als fünf Kinder, heute sind es in allen diesen Ländern zwischen 2,1 und 2,3 – Werte, bei denen die Bevölkerung kaum noch wächst. Viele Länder wie Deutschland, Spanien und Italien schrumpfen sogar, hier liegt die Zahl der Kinder pro Frau unter 1,6. Nur in den ärmsten Staaten mit unzureichenden Bildungssystemen wie Niger, Mali, Somalia, Südsudan und Afghanistan bringen Frauen heute noch fünf bis sieben Kinder zur Welt.

China, das wegen seiner Bevölkerungsexplosion 1980 die Ein-Kind-Politik einführte, hat das gegenteilige Problem: Seit Neuestem sind zwar wieder drei Kinder pro Familie erlaubt, aber inzwischen haben sich das Arbeitsleben und die Geschlechterrollen so stark gewandelt, dass kaum jemand mehr als ein, zwei Kinder haben will. Daher steht China vor einer demografischen Zeitbombe: Es altert rapide. Wie immer weniger Berufstätige künftig Eltern und Großeltern versorgen sollen, ist eine ungelöste Frage, denn weder sind die Rentensysteme darauf vorbereitet, noch gibt es genug Pflegeplätze – zumal es in China ohnehin als unethisch gilt, die Senioren in ein Heim zu geben.

Doch zurück zur Bildung. Zu einer guten Bildung muss künftig gehören, Kindern den Wert ihrer Umwelt beizubringen und den Wert des rationalen Denkens. Bei »Unite behind the science!«, dem »Folgt der Wissenschaft!«, das die FFF-Bewegung propagiert, geht es nicht darum, »der Wissenschaft« alles zu glauben, sondern zu lernen, wie Wissenschaftler zu denken. Das heißt, nach Belegen für Behauptungen zu fragen und diese auf Glaubwürdigkeit zu prüfen. Dann lassen sich Fake News von Fakten unterscheiden, Desinformationen von seriösen Quellen – eine wichtige Fähigkeit in der unübersichtlichen Welt des Internets und der sozialen Medien.

Außerdem müssen junge Menschen lernen, Interessen auszugleichen und den Ängsten anderer Menschen gerecht zu werden, denn nur so lassen sich breite Mehrheiten gewinnen. Und sie müssen erkennen, dass globale Krisen nur global zu lösen sind, mit Kooperation, nicht mit Abschottung. In einer Welt voller Egoisten verliert jeder. Dieser Wandel vom anthropozentrischen zum ökozentrischen Denken, so sagen Sozialpsychologen, ist wichtig für die höhere Entwicklung von Gesellschaften. Denn diese werden, wie Individuen, immer komplexer und differenzierter – wenn sie überleben wollen, müssen sich ihre Werte und Normen wandeln, hin zu Nachhaltigkeit und der Gleichstellung sozialer Gruppen, zu Diversität, Inklusion und der Einbindung unterschiedlichster Bedürfnisse und Perspektiven.

Die Kippelemente des sozialen Wandels

Spannend ist in diesem Zusammenhang eine 2020 erschienene internationale Studie unter Leitung des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), die darauf hinweist, dass nicht nur im Klimasystem der Erde Kippelemente wie Dominosteine miteinander verbunden sind. Es gibt auch soziale Kippmechanismen, die Umbrüche beschleunigen.[9] Ein gutes Beispiel sind die Ereignisse, die zum Fall der Berliner Mauer und der Wiedervereinigung Deutschlands geführt haben, und das in einem atemberaubenden Tempo von wenigen Monaten nach jahrzehntelangem Stillstand. Die PIK-Wissenschaftler haben in ihrer Studie nun soziale Kippelemente identifiziert, die eine Wende beim Klimaschutz bringen können.