Denkanstöße 2024 - Isabella Nelte - E-Book

Denkanstöße 2024 E-Book

Isabella Nelte

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Beschreibung

Kluge Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit Die Denkanstöße 2024 bieten – übersichtlich und kompakt – die wichtigsten Analysen, Erkenntnisse und Kontroversen eines gesamten Jahres. Hanno Sauer begibt sich auf die Suche nach dem Ursprung von Gut und Böse und hinterfragt unsere Moralvorstellungen. Elmar Theveßen wirft einen umfassenden Blick auf das politische Weltgeschehen, in dem wir Europäer Spielball im Kampf der Supermächte sind. Sandra Konrad geht psychologischen Machtgefügen auf den Grund und erklärt, warum uns die Abgrenzung innerhalb der Familie oft so schwer fällt. Ein wichtiges Buch zum Mitdenken und Mitreden! »Eine wertvolle Orientierungshilfe.« FAZ Online 

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Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Vorwort

ERKENNTNISSE

Aus Philosophie und Wissenschaft

Hanno SauerMoral. Die Erfindung von Gut und Böse

Alles, was uns wichtig war

Das Leben der anderen

Wer wir sind

Moralischer Fortschritt?

Die Banalität des Bösen

Stille Revolution

Der schnöde Mammon

Die moralische Krise der Gegenwart

Madlen ZiegeDie unglaubliche Kraft der Natur. Wie Stress Tieren und Pflanzen den Weg weist

Glückliche Stadtkaninchen

Kaninchenparadies in Mainhattan

Macht Stress Magengeschwüre?

Das Geschäft mit dem Stress

Stress, die große Unbekannte

Im Haus, das Gestresste macht

Stress ist die Lösung, nicht das Problem

Was schon die alten Griechen wussten

Jede Herausforderung ist eine Chance

Wie fit bist du?

Martin JannerDer Wald der Zukunft. Ein Förster berichtet vom Kampf um unsere Bäume

Dürrejahre und ihre Folgen

Alarmsignale: Waldbrände und Versteppung

Wo kein Wald mehr wächst

Klimaprojektionen: Welchem Pfad folgen wir?

ERFAHRUNGEN

Aus Gesellschaft und Psychologie

Ananda KlaarNehmt uns endlich ernst! Ein Aufschrei gegen die Übermacht der Alten

Wie die Politik uns übergeht

Wie die Gesellschaft uns ausschließt

Warum die Sintflut für uns mehr als ein Spruch ist

Lieber Klimaschutz als Zukunftsplanung

Von Besserwisserinnen und Klimaleugnern

Susanne Götze und Annika JoeresKlima außer Kontrolle. Fluten, Stürme, Hitze. Wie sich Deutschland schützen muss

Wir sind verwundbar

Die Katastrophen sind bekannt – die Prävention nicht

Niemand fühlt sich verantwortlich

Homo insipiensDer uneinsichtige Mensch

Die Prometheus-Falle

Technik täuscht Sicherheit vor

Resilienz und Klimakrise: Ultrakomplex und abstrakt

Der Mensch – unvernünftig seit Jahrtausenden

Besser klare Entscheidungen als ständiges Grübeln

So schön sieht die angepasste Welt aus

Sandra KonradNicht ohne meine Eltern. Wie gesunde Ablösung all unsere Beziehungen verbessert – auch die zu unseren Eltern

Die größte Aufgabe unseres Lebens

Inneren Frieden finden

Müssen wir unseren Eltern verzeihen?

Die zwei Seiten des Mitgefühls

EINSICHTEN

Aus Politik und Zeitgeschehen

Elmar TheveßenKampf der Supermächte. Amerika und China auf Konfrontationskurs

Amerikas bester Feind

Die Lehre aus Putins Krieg

Tödliche Spirale: Wie Supermächte für den großen Krieg rüsten

Gefährliche Vernetzung

Alles nur harmlos?

Jahrtausendealte Strategie

Was geschah in Wuhan?

Amerika verliert

Kann China siegen

Die größte Marine

Drohungen per Funk

Bündnis der Demokratien

Matthias Quent, Christoph Richter und Axel SalheiserKlimarassismus. Der Kampf der Rechten gegen die ökologische Wende

Klimarassismus und Kapitalismus

Das Klima wird feindlicher

Fakten zählen mehr als Meinungen

Kippelemente

»Schaut einfach nicht hin«

Der Klimawandel in Deutschland

Andreas Frank und Markus ZydraDreckiges Geld. Wie Putins Oligarchen, die Mafia und Terroristen die westliche Demokratie angreifen

Wer hat die Geldwäsche erfunden?

Wie kommt die Mafia nach Deutschland?

Dreißig Jahre unbehelligt

Nicht gegen, sondern mit der Gesellschaft

Alles wird genutzt – auch Finanzkrise und Pandemie

Wie rechtsextreme Gruppen von der Mafia lernen

Autorinnen und Autoren

Quellen und Anmerkungen

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Literaturverzeichnis

Vorwort

Viele werden in letzter Zeit ratlos und überfragt den Kopf geschüttelt haben. Wie ist es möglich, dass mitten in Europa ein entsetzlicher Krieg tobt, der zahllose Opfern fordert und Millionen aus ihrer Heimat vertreibt, obwohl so etwas im 21. Jahrhundert ausgeschlossen schien? Wie kann es sein, dass wir die zunehmende Erderwärmung billigend in Kauf nehmen, auch wenn wir damit den Fortbestand von Pflanzen und Tieren – und von uns Menschen – aufs Spiel setzen? Wie konnte es so weit kommen, dass ein hoch technologisiertes, fortschrittliches Land wie Deutschland in eine Energiekrise schlittert? Wieso hat unsere alternde Gesellschaft immer noch keine überzeugenden Ideen gegen die Bildungsmisere und den Fachkräftemangel? Und warum öffnet sich die Schere zwischen Arm und Reich in unserem Sozialstaat immer weiter?

Die renommierten Autorinnen und Autoren der »Denkanstöße 2024« haben sich der schwierigen Aufgabe verschrieben, Antworten auf diese und andere drängende Fragen zu finden. Als Wissenschaftlerinnen, Forscher, Journalistinnen und Experten beleuchten sie die unterschiedlichsten Felder und lassen uns in diesem Band teilhaben an ihrem Wissen, ihren Überlegungen und Schlussfolgerungen.

So geht Hanno Sauer der Frage nach, wie Gut und Böse auf die Welt kamen und wo unsere Moral ihren Ursprung hat. Madlen Ziege schildert die erstaunliche Anpassungsfähigkeit von Tieren und Pflanzen und legt dar, dass Stress keine rein negative Empfindung, sondern ein wichtiger Motor der Evolution ist. Von der Widerstandsfähigkeit der Bäume berichtet der Förster Martin Janner und davon, wo sie ihre Grenzen hat und warum wir handeln müssen, wenn wir die Gesundheit unserer Wälder nicht dauerhaft gefährden wollen. Ananda Klaar setzt sich dafür ein, dass auch die jungen Menschen in diesem Land gehört werden, und fordert die ältere Generation zum Umdenken auf. In einem dringlichen Appell führen uns Susanne Götze und Annika Joeres vor Augen, dass die Klimaveränderungen unaufhörlich voranschreiten, und zeigen auf, was wir tun müssen, um die Klimakrise zu überleben. Sandra Konrad widmet sich der Frage, was ein selbstbestimmtes Erwachsenwerden ausmacht, und erklärt, wie wir Kränkungen aus der Kindheit und belastende familiäre Machtverhältnisse hinter uns lassen können. Den Machtverhältnissen auf der politischen Weltbühne wendet sich Elmar Theveßen zu, der den aufziehenden Konflikt zwischen Amerika und China unter die Lupe nimmt. Matthias Quent, Christoph Richter und Axel Salheiser decken auf, wie weltweit rechte Parteien und Netzwerke einen effektiven Klimaschutz blockieren und so eine ökologische Wende verhindern. Die Käuflichkeit unserer Demokratie prangern Andreas Frank und Markus Zydra an, indem sie aufzeigen, dass Korruption und illegale Finanzgeschäfte auch hierzulande an der Tagesordnung sind und dass Deutschland von schmutzigem Geld unterwandert wird.

Mit ihren fundierten Analysen leisten die Autorinnen und Autoren dieses Bandes einen wertvollen Beitrag zu aktuellen Diskussionen und ebnen den Weg auf der schwierigen Suche nach Antworten.

Denn wenn uns die zurückliegenden Monate eines gelehrt haben, dann wohl, dass es mehr Fragen als Antworten gibt. Dennoch sollten wir hoffnungsvoll nach vorne blicken und umso mehr versuchen, Zusammenhänge zu verstehen, neue Denkwege zu beschreiten und aufgeschlossen zu bleiben. Nur so werden wir wichtige Antworten finden.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine gute und aufschlussreiche Lektüre!

Isabella Nelte

ERKENNTNISSE

Aus Philosophie und Wissenschaft

Hanno SauerMoral. Die Erfindung von Gut und Böse

Alles, was uns wichtig war

Lassen Sie mich eine Geschichte erzählen. Werden wir uns, wenn sie zu Ende ist, noch lieben können?

Es ist eine lange Geschichte, denn sie handelt von allem, was uns wichtig war: unseren Werten, unseren Prinzipien, den Quellen unserer Identität, den Fundamenten unserer Gemeinschaft, vom Mit- und vom Gegeneinander, von den zwei Seiten des Verurteilens und Verurteiltwerdens und davon, dass wir nicht immer auf der Seite aufwachen, auf der wir uns schlafen gelegt haben.

Woran können wir uns orientieren? Wie wollen wir leben? Wie können wir miteinander auskommen? Wie ist es uns früher gelungen, und wie wird es in Zukunft möglich sein? Dies sind moralische Fragen, und die Geschichte, die ich erzählen will, ist eine Geschichte der Moral. Moral – das klingt nach Hemmung und Zwang; nach Einschränkung und Aufopferung; nach Inquisition, Geständnis und schlechtem Gewissen; nach Keuschheit und Katechismus: freudlos, klaustrophobisch und mit erhobenem Zeigefinger.

Und dieser Eindruck ist auch nicht falsch; er ist nur unvollständig und ergänzungsbedürftig. Meine Geschichte zeichnet die fundamentalen moralischen Transformationen der Menschheit nach, von unseren frühesten, noch nicht menschlichen Vorfahren in Ostafrika bis zu den jüngsten Konflikten um Identität, Ungleichheit, Unterdrückung und die Deutungshoheit über die Gegenwart, die online in den Metropolen der modernen Welt ausgetragen werden. Sie erzählt davon, wie sich unsere Gesellschaft über die Zeitalter hinweg veränderte, davon, wie neue Institutionen, Technologien, Wissensbestände und Wirtschaftsformen sich parallel zu unseren Werten und Normen entwickelten, und davon, dass jede dieser Veränderungen mehr als eine Seite hat: Denn wer in einer Gemeinschaft lebt, grenzt andere aus; wer Regeln versteht, will diese überwachen; wer Vertrauen schenkt, macht sich abhängig; wer Wohlstand erzeugt, schafft Ungleichheit und Ausbeutung; wer Frieden will, muss manchmal kämpfen.

Jeder Wandel hat eine Dialektik, jede willkommene Entwicklung hat eine harte, dunkle, kalte Seite, jeder Fortschritt hat einen Preis. Unsere frühe Evolution machte uns kooperativ, aber auch feindselig gegenüber allen, die nicht zu unserer Gruppe gehörten – wer »wir« sagt, sagt bald auch »die«; die Entwicklung des Strafens domestizierte uns, machte uns freundlich und verträglich, stattete uns aber auch mit mächtigen punitiven, also strafenden Instinkten aus, mit denen wir die Einhaltung unserer Regeln überwachten; unsere Kultur gab uns neues Wissen und neue Fähigkeiten, die wir von anderen erlernten – und machte uns dadurch von diesen anderen abhängig; die Entstehung von Ungleichheit und Herrschaft brachte nie da gewesenen Reichtum und ein neues Ausmaß der Hierarchie und Unterdrückung; die Moderne setzte das Individuum frei, das die Natur mit Wissenschaft und Technologie unter seine Kontrolle brachte; dabei entzauberten wir unsere Welt, in der wir jetzt heimatlos sind, und schufen die Bedingungen für Kolonialismus und Sklaverei; das 20. Jahrhundert wollte mithilfe globaler Institutionen eine friedliche Gesellschaft schaffen, in der alle den gleichen moralischen Status genießen, brachte uns die atemberaubendsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte und manövrierte uns an den Rand des ökologischen Kollapses; seit kurzer Zeit versuchen wir, jenes Erbe der Willkür und Diskriminierung, des Rassismus und Sexismus, der Homophobie und Exklusion endgültig abzustreifen; es wird sich lohnen, aber irgendeinen Preis werden wir auch dafür zahlen.

Unsere Moral ist ein Palimpsest: ein mehrfach beschriebenes, oft unleserliches Pergament, das schwer zu entziffern ist. Aber was ist Moral? Wie definiert man sie? Am besten: gar nicht, denn »definirbar ist nur Das, was keine Geschichte hat«.[1] Unsere Moral hat aber eine Geschichte, und die ist zu vielschichtig und unhandlich für die sterilen Formeln, die wir uns im Lehnstuhl ausdenken. Dass sich nur schlecht definieren lässt, was Moral ist, heißt aber nicht, dass sich nicht klar sagen ließe, was sie ist. Es lässt sich nur nicht kurz sagen.

Eine Geschichte der Moral ist keine Geschichte der Moralphilosophie. Wir denken schon seit Langem über unsere Werte nach, aber erst seit kurzer Zeit schreiben wir unsere Gedanken auch auf. Der Codex Hammurapi und der Dekalog, die Bergpredigt, Kants kategorischer Imperativ und Rawls’ Schleier des Nichtwissens spielen in meiner Geschichte eine Rolle, aber sie ist vergleichsweise gering. Es ist die Geschichte unserer Werte, Normen, Institutionen und Praktiken. Unsere Moral ist nicht in unserem Kopf, sondern in unseren Städten und Dämmen, Gesetzen und Gewohnheiten, in unseren Festen und Kriegen.

Die Geschichte, die ich erzählen werde, will einen Beitrag zum Verständnis der Gegenwart leisten. Moderne Gesellschaften stehen aktuell unter einem moralischen Druck, die Möglichkeit ihres eigenen Fortbestehens mit den unangenehmsten Wahrheiten ihrer Existenz zu vereinen. Wie können wir die Umbauten unserer moralischen Infrastruktur, die wir gerade erleben, so kartografieren, dass Licht über dem Ganzen aufgeht? Woher kommt die Unversöhnlichkeit der Polarisierung, die wir aktuell beobachten? Was ist der Zusammenhang zwischen kultureller Identität und sozialer Ungleichheit? Am Ende werden diese Elemente so verbunden, dass sich eine Zeitdiagnose der moralischen Krise der Gegenwart ergibt. Die Diagnose, die ich vorschlage, ergibt sich aus der Geschichte unserer Moral, die ich im Lauf des Buches erzähle. Um die Gegenwart zu verstehen, muss man sich der Vergangenheit zuwenden.

Das Leben der anderen

Wir fragen uns oft, ob wir allein im Universum sind. Dabei haben wir nur vergessen, dass wir es erst seit Kurzem sind.

Gibt es intelligentes Leben außer uns? Nicht mehr jedenfalls. Dass wir die Neandertaler unterschätzen, wird oft moniert: Ihr robust-muskulöser Körperbau, eine wülstige, von verfilztem Haar eingerahmte Physiognomie, ungelenke Hände, die in klobige Finger mit splittrigen Nägeln münden, und unser eigener Hang zur Borniertheit ließen uns unsere menschlichen Verwandten zu lange als tumbe Wilde und brutale Kretins abtun; der Ausdruck »Neandertaler« entwickelte sich schließlich vom biologischen Taxon zur abschätzigen Bezeichnung für Artgenossen, die man als unkultivierte Grobiane beleidigen wollte.

Ihre reale Existenz ließ sich nur schwer leugnen, kategorial galt es sie daher umso dringender und bestimmter auf Distanz zu halten. So groß war der Unwille, die Möglichkeit einer anderen, lange ausgestorbenen Menschenart im Herzen Europas einzuräumen, dass selbst ein so bedeutender zeitgenössischer Naturforscher wie Rudolf Virchow hinter den eigentümlichen Fragmenten einer Schädelkalotte, die ihm 1872 präsentiert wurden, die durch Arthritis, diverse Frakturen und Knochenerweichung deformierten Überreste eines gewöhnlichen Menschen vermutete. Eines einsamen russischen Kosaken vielleicht, den es einst vor langer – zugegeben erstaunlich langer – Zeit irgendwie in die Kleine Feldhofer Grotte bei Düsseldorf verschlagen haben musste.

Hier hatte – laut Apple Maps ungefähr zwölf Kilometer von meinem Schreibtisch entfernt – Johann Carl Fuhlrott, der als Gründungsvorsitzender des ortsansässigen Naturkundevereins zu Besuch gekommen war, die intellektuelle Kühnheit besessen, den merkwürdigen Knochenfund, zu dessen Inspektion er im Spätsommer 1856 aus Neugierde angereist war, als menschlich zu identifizieren. Fuhlrott führte ihn bald dem Bonner Anatomen Hermann Schaaffhausen vor, mit dem gemeinsam er die erschütternde Entdeckung ein Jahr später auf einer Tagung des Naturhistorischen Vereins der preussischen Rheinlande und Westphalens präsentierte. Die Arbeiter in jenem folgenreichen Kalksteinbruch im Neandertal hatten inzwischen bestätigt, dass die Knochen einen halben Meter tief im unberührten Sandstein verborgen gelegen hatten. Sie mussten also alt sein – sehr alt, überraschend alt, unerklärlich alt sogar.[2]

Die Entwicklung einer Kultur lässt sich daran ablesen, wie sie ihre Toten begräbt. Nach diesem Kriterium beurteilt, dürfen wir dem Innenleben der Neandertaler einen subjektiven Reichtum zuschreiben, den man bis vor Kurzem – sicher aber damals vor 150 Jahren – für ein unantastbares Prärogativ unserer selbst gehalten hätte. Der US-amerikanische Archäologe Ralph Solecki entdeckte 1960 in der Shanidar-Höhle im kurdischen Zagrosgebirge das Grab eines erwachsenen Neandertalermannes, dessen Bestatter es dem ihnen anvertrauten Leichnam offenbar hatten bequem machen wollen: In kindlicher Seitenlage von seinen Gefährten niedergelegt, zärtlich-heikel mit Garben von Getreide und Büscheln heilender Blumen bedeckt, hatte man den Vater, Freund und Mitstreiter der Ewigkeit übergeben.

Die Steinkreise von Bruniquel verraten einen ähnlichen Geschmack fürs Transzendente. Niemand weiß, welche Funktion die vom Schüler Bruno Kowalczewski Anfang der 1990er-Jahre Hunderte Meter tief in einer Tropfsteinhöhle in der südfranzösischen Aveyron-Schlucht entdeckten Aufbauten damals hatten. Aber wer wollte ausschließen, dass es sich bei jenen aus abgebrochenen Stalagmiten aufgeschichteten Arrangements um Stätten rituellen Tanzes, Gesanges und Rausches gehandelt haben könnte, in denen unsere Verwandten die in ihnen erwachende Ahnung einer Welt jenseits des sinnlich Wahrnehmbaren zu artikulieren begannen?

Neandertaler waren durch und durch menschlich. Ihre Zähne waren von Zahnstochern, der Bearbeitung von Tierhäuten und der Herstellung von Seilen abgenutzt. Ihre Gehirne waren größer als unsere, und es gelang ihnen, Hunderttausende von Jahren in einer unwirtlichen, mal stark abkühlenden und zunehmend von Gletschern bedeckten, mal rasch sich aufheizenden Umgebung ganz Europa zu besiedeln, dessen Eichen- und Lindengehölz damals nicht nur von den heute noch heimisch anmutenden Steinböcken und Auerochsen, sondern auch von riesigen Waldelefanten, Flusspferden und Berbermakaken bevölkert war. Sie stellten zweischneidige Keilwerkzeuge aus Feuerstein her, die sie mit anderen, kleineren Werkzeugen scharf und in Form hielten, trugen Schmuck aus Adlerfedern und Jakobsmuscheln,[3] Perlenketten, in kunstvoll geometrischen Mustern ineinander verflochten, und die in gerader Linie aufgereihten Löcher, die in manchen Tierknochen gefunden wurden, deuten darauf hin, dass diese als Flöteninstrumente gedient haben könnten. Sie bauten fantastische, mit Tierfellen bedeckte Häuser aus den größten Mammutknochen, deren Eingänge von enormen Stoßzähnen offen gehalten wurden. Ihre Rachen- und Gaumenanatomie ließ die Produktion menschlicher Sprache zu und der Aufbau ihrer Ohren deren Verständnis.

Vor ungefähr 50 000 Jahren begannen die Neandertaler zu verschwinden. Dass wir unsere gutmütigen Vettern ausgerottet haben könnten, wird immer wieder gern vermutet. Andererseits ist es für keine Spezies ungewöhnlich, irgendwann einfach auszusterben; wir lebten in verschiedenen Regionen Eurasiens viele Zehntausend Jahre lang parallel, ohne einander vernichtet zu haben. Wahrscheinlich sind es mehrere Faktoren, die schließlich zum Untergang jener ersten Europäer führten: Die klimatischen Umwälzungen der letzten Kälteperiode, die weite Teile Nordeuropas unter Hunderten Metern trostlosen Eises vergrub; die darauf folgende Flucht großer Säugetiere, die sich zur Jagd geeignet hätten; neue Krankheiten; himmelverdunkelnde Vulkanausbrüche. Die letzten Spuren der Neandertaler, die sich in der Gorham-Höhle auf Gibraltar finden, sind 30 000 Jahre alt. Jetzt ist unsere Zeit gekommen.

Wer wir sind

Wir finden uns selbst ganz fabelhaft, wir letzten Menschen. Aber für viele andere Arten stellte unsere Ankunft meist eine albtraumhafte Heimsuchung dar: »Als wir mit unseren Wurfgeschossen vor ungefähr 50 000 Jahren zum Jagen und Sammeln in Eurasien ankamen, vernichteten wir beinahe jedes Raubtier der Eiszeit.«[4] Unsere grauenvolle Überlegenheit hatte Gründe: »Die Periode ab vor ungefähr 50 000 Jahren markiert eine spürbare Umwälzung in der Qualität und Quantität von Waffen, Werkzeugen, Schmuck und Kunsthandwerk in einem bis dahin unbekannten Ausmaß und Beschaffenheit, ganz zu schweigen von Zelten, Lampen und einer Reihe noch substanziellerer Gerätschaften, unter anderem Booten.« Aber woher kamen diese Gerätschaften?

Der Zeitraum, um den es mir hier geht, koinzidiert mit der Ausbreitung von Homo sapiens über die sogenannte südliche Route von Ostafrika über die Arabische Halbinsel nach Europa und Asien, die heute als Out of Africa II bekannt ist. Zu dieser Zeit verfügten wir bereits über eine einzigartige Kombination von Eigenschaften und Fähigkeiten, die uns – den inzwischen anatomisch modernen Menschen – allen anderen großen Säugetieren und vor allem allen anderen menschlichen Spezies, mit denen wir damals noch die Erde teilten, überlegen machten. Neben fortgeschrittenen kognitiven Kapazitäten, zu denen auch eine grammatisch strukturierte Sprache gehörte, sind für die Evolution der Moral vor allem unsere Hypersozialität und unsere Fähigkeit zu sozialem Lernen interessant.[5] Unsere ultrakooperativen Dispositionen machten uns ein Leben in immer größeren Gruppen möglich; diese Gruppen schafften gleichzeitig die Bedingungen für die Entstehung eines Reservoirs an kulturellem Know-how, das wir peinlich genau – Anthropologen sprechen hier von high fidelity learning, also hoher »Wiedergabetreue« – zu absorbieren lernten.

Unsere Moral ist die Nische, die wir uns selbst konstruiert haben. Sie ermöglichte es uns, ein zuvor unerreichtes Ausmaß globaler ökologischer Dominanz zu etablieren, das viele Wissenschaftler vom aktuellen Erdzeitalter schlicht als dem Anthropozän sprechen lässt: dem Zeitalter des Menschen. Die meisten Tiere sind uns an Schnelligkeit, Kraft und Können weit überlegen (jedenfalls relativ zu den Anforderungen, mit denen sie konfrontiert sind). Unsere Stärke liegt darin, unsere internen Mängel mithilfe von externen Technologien auszugleichen. Moralische Normen, Werte und Praktiken sind eine solche Technologie.

Dieses von unserer selbst konstruierten Umwelt bereitgestellte »Gerüst«[6] – unsere Sprache, Städte, Erfindungen und Institutionen – wird durch unsere Hypersozialität ermöglicht. Die Dominanz des Mängelwesens Mensch hängt wesentlich von der Fähigkeit ab, in großen Gruppen zu kooperieren. Ohne Moral wäre dieser Grad erfolgreicher Zusammenarbeit undenkbar. Moralische Normen und Werte sind die Art und Weise, mit der ansonsten kläglich ausgestattete Mängelwesen wie wir ein Level an Kooperation erreichen, das in der nicht menschlichen Tierwelt außer bei manchen sozialen Insektenarten nirgendwo zu finden ist – mit dem Unterschied, dass diese rigiden genetischen Programmen folgen, während wir flexible Kooperationsstrukturen errichten können. Damit wird unsere Moral zu einem – sogar dem – entscheidenden Faktor in der Evolution unserer menschlichen Natur und der Kultur, in der diese eingebettet ist.

Die Suche nach dem, was uns Menschen einzigartig macht, galt lange als gescheitert. Seit Jahrtausenden hatte man versucht, das Wesen des Menschen auf die Formel Tier + X zu reduzieren.[7] Aber jeder neue Versuch, ein solches X zu finden, das wir Menschen, und nur wir Menschen, besitzen, sollte sich stets als irreführend herausstellen.

Ist der Mensch Homo faber, das einzige Tier, das Werkzeuge gebrauchen kann? Nussknackende Schimpansen und Raben, die mit Zweigen nach Insekten fischen, haben diese Idee schon lange widerlegt. Oder Homo ludens, das spielende Tier? Wer je eine Katze mit Wollknäuel oder einen Wurf junger Füchse beobachtet hat, wird auch das Spielen nur schwer als exklusives Privileg des Menschen ansehen können. Oder bleibt es bei Homo sapiens, dem vernünftigen Tier, dem Tier, das denken kann und Intelligenz hat?[8] Ich weiß nicht, wie Sie die Spreu vom Weizen trennen, aber es so wie die japanischen Makaken zu tun, die die Körner in Meerwasser waschen, um den leichteren, genießbaren Teil dann von der Wasseroberfläche abschöpfen zu können, scheint mir ziemlich clever zu sein. Auch intelligentes Problemlösen scheidet damit als Alleinstellungsmerkmal der statussüchtigsten aller Tierarten aus.

Ein weiteres Problem ist, dass eine Definition des Begriffs des Menschen nicht bloß, wie Philosophen gerne sagen, »extensional adäquat« sein muss: Es muss ihr nicht nur gelingen, Merkmale zu finden, die einzig und allein auf den Menschen zutreffen. Auf die Frage danach, was der Mensch sei, soll der antike Philosoph Platon einst geantwortet haben, der Mensch sei ein zweibeiniges, federloses Tier – eine Definition, die jedes bisschen Spott verdient, das man ihr über die vergangenen 2500 Jahre hat angedeihen lassen. Einzigartig zu sein ist außerdem billig: Jedes Wesen ist auf seine Weise einzigartig, ohne deshalb besonders interessant zu sein. Wenn Gottfried Wilhelm Leibniz recht hat, ist schlechthin alles einzigartig; zwei Gegenstände, die sich in keiner Hinsicht unterscheiden, sind überhaupt nicht zwei Gegenstände, sondern einer.

Die gesuchte »anthropologische Differenz«, die den Menschen auszeichnen soll, muss etwas herausgreifen, was seine (angebliche) Sonderstellung erklärt, und noch mehr: Sie muss uns uns selbst verständlich machen. Wer erfährt, dass kein Lebewesen außer dem Menschen sowohl zweibeinig als auch federlos ist, hat nichts über das Rätsel Mensch – und damit sich selbst – gelernt.

Wenig später wagte Aristoteles einen erneuten Versuch und entwickelte die bekannteste und einflussreichste Definition des Menschenbegriffs aller Zeiten: Der Mensch sei das sprachbegabte Wesen, das zoon logon echon, von der lateinischen Scholastik schließlich folgenreich als animal rationale übersetzt. Aristoteles’ Version des Tier + X folgt der klassischen Doktrin, nach der etwas durch die nächsthöhere Gattung und die spezifische Differenz innerhalb dieser Gattung definiert wird – definitio fit per genus proximum et differentiam specificam. Der Mensch ist das Tier (nächsthöhere Gattung), das Sprache hat (spezifische Differenz).

Auch dieser Vorschlag musste inzwischen revidiert werden, denn wenn unsere Redseligkeit auch konkurrenzlos sein mag, scheinen menschliche Sprache und das Zwitschern und Singen, das Rufen und Gestikulieren vieler Tierarten doch auf demselben Kontinuum symbolischer Kommunikation zu liegen. Immanuel Kant rief mit seinem eigenen Definitionsversuch zu etwas mehr Bescheidenheit auf, indem er uns zum bloß vernunftbegabten Wesen (animal rationabile) degradierte.[9] Die Vernunft ist ein Potenzial, das zwar allen Menschen innewohnt; ausgeschöpft wird es aber nur von manchen, und auch von diesen nur gelegentlich und unvollkommen.

So wurde die Suche nach dem, was uns einzigartig macht, irgendwann für aussichtslos erklärt. Der Mensch ist das Tier, das seine Natur sucht – und sie nie findet.

Moralischer Fortschritt?

Eine mögliche Geschichte der letzten Jahrzehnte geht so: Das 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert moralischen Fortschritts. Unsere moralische Grundorientierung sollte sich von nun an vor allem den Schwachen und Entrechteten verpflichtet fühlen, denen wir einen besonderen Schutz vor den Übergriffen dominanter Mehrheiten angedeihen lassen sollten. Minderheiten und marginalisierte Gruppen begannen, die Einlösung des Versprechens von Freiheit und Gleichheit zu fordern, von dessen Annehmlichkeiten sie bis dahin – und natürlich auch heute noch – zu Unrecht ausgeschlossen geblieben waren. Das 20. Jahrhundert wagte den Versuch echten moralischen Fortschritts, der die Privilegien gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht nur denen zugesteht, die ohnehin schon die Macht haben.

All das klingt bestenfalls nach Naivität, vielleicht sogar nach Zynismus und einer Apologie des Status quo, schlimmstenfalls nach gefährlicher Ideologie, wie ein Schlaflied für Passagiere auf einem sinkenden Schiff. Wo, bitte, soll dieser Fortschritt heute zu finden sein? Im faschistoiden Flirt autokratischer Regime mit der ethnisch-identitär bereinigten Volksgemeinschaft? Im galoppierenden Klimawandel, der uns rösten oder ersäufen wird oder beides? In der globalen Pandemie, die uns politisch entzweite, während sie Millionen Todesopfer forderte?

Die Fortschrittsthese wird gerne als »panglossianisch« verspottet, und in intellektuellen Zirkeln gibt es kaum einen schlimmeren Vorwurf: Viele würden es wohl vorziehen, als Päderast denn als Panglossianer denunziert zu werden, denn der Intellektuelle hat vor allem kritisch zu sein, und diese Haltung verträgt sich nicht gut mit dem Zugeständnis, dass manche Dinge heute besser sind als damals. In Voltaires Candide von 1759 ist Pangloss der Lehrer der Hauptfigur und als loyaler Leibnizianer davon überzeugt, dass diese unsere Welt nicht nur einigermaßen hinnehmbar, sondern die beste aller logisch möglichen Welten sei. Der Roman, der Candide von einem Missgeschick ins nächste schickt, soll diesen närrisch-weltfremden Hyperoptimismus satirisch widerlegen. Und in der Tat: Dass eine bessere Welt nicht einmal denkbar sein solle, gehört zu dem baren Unsinn, den zu produzieren die großen Philosophen immer schon ein besonderes Talent hatten. Schopenhauer kam der Wahrheit schon näher, als er feststellte: »Wer die Behauptung, dass in der Welt der Genuss den Schmerz überwiegt oder wenigstens sie einander die Waage halten, in der Kürze prüfen will, vergleiche die Empfindung des Tieres, welches ein anderes frisst, mit der dieses anderen.«[10] Aber selbst ein beachtlicher mic drop wie dieser zeigt nicht, dass die Welt, so schlecht sie auch sein mag, nicht vergleichsweise besser werden kann. Und die Fortschrittsthese sagt nicht mehr – und nicht weniger – als genau das.

Eine gewisse Skepsis gegenüber dem Fortschrittsglauben ist berechtigt, denn die Idee, dass die Weltgeschichte ein Ziel hat, wird oft als metaphysisch überkandidelte Kryptoreligion verworfen, die Gott durch Hegels Weltgeist als den Marionettenspieler der Geschichte ersetzt hat. Hegel hatte in seiner Rechtsphilosophie die Position vertreten, die Geschichte der Menschheit sei nicht bloß eine Geschichte der blinden Zufälle und des Rechts des Stärkeren, sondern laufe nach vernünftigen Prinzipien ab, die die historische Verwirklichung eines sittlichen Gemeinwesens garantierten. Diese Weltsicht ist ambivalent: Wenn uns nur noch ein kurzer Gewaltmarsch vom Ende der Geschichte trennt, wenn die Utopie moralischer Vollkommenheit und unerschöpflichen Glücks schon zum Greifen nah ist, dann scheinen selbst die größten Opfer gerechtfertigt zu sein, um dieses Paradies auf Erden endlich – endlich! – zu errichten. Und die Rechnung geht auf: Wer die Unendlichkeit gewinnen kann, darf sich ruhig die Hände schmutzig machen, selbst wenn die Chancen gering sind. Der Wunsch nach Gerechtigkeit, so Albert Camus in Der Mensch in der Revolte, kann für Frieden und Solidarität sorgen; ein überhitztes Denken aber, das sich an der Sehnsucht nach der perfekten Gesellschaft besäuft, führt zu »Sklavenpferche[n] unter dem Banner der Freiheit, [und] Massenmorde[n], gerechtfertigt durch Menschenliebe oder den Hang zum Übermenschen«.[11]

Warum also überhaupt kämpfen? Wenn der Lauf der Geschichte, von ehernen Gesetzen in seine unvermeidliche Bahn gelenkt, schon für sich selbst sorgt, kann mein schlechtes Gewissen ruhen, und ich kann meine Hände entspannt in den Schoß legen. Wofür Opfer bringen, wofür sich anstrengen, wenn das Uhrwerk der Zukunft schon aufgezogen ist und dessen Realisierung nur noch abgewartet werden muss? Fortschritt, so könnte man meinen, gestattet Passivität, ja Resignation.

Der Glaube an moralischen Fortschritt scheint einer moralischen Kaltherzigkeit zu entspringen, die sich lieber auf die Gewinne der Gewinner konzentriert, statt die Verluste der Verlierer angemessen zu berücksichtigen. »Darf der Unglückliche den Glücklichen stören, in dessen Glück?«, heißt es auf dem Vordach einer Buchhandlung nicht weit von meinem Zuhause, und die Antwort der Fortschrittsgläubigen lautet offenbar: Nein! Doch welche Prioritäten verraten sich darin, das Entkommen der entwickelten Welt aus Armut und Krieg zu beweihräuchern, während jährlich Millionen von Kindern an Durchfall und Malaria krepieren und durch Flussblindheit ihr Augenlicht verlieren?

Die Möglichkeit moralischen Fortschritts bleibt dennoch eine nützliche Idee. Fast alle Gesellschaften sind konservativ und innovationsscheu. Sie bleiben sogar dann bei einer überlieferten Lebensweise, Praxis oder Norm, wenn diese offensichtlich schädlich ist. Die nigerianischen Ijaw hatten großes Interesse daran, durch Kinder ihr Populationswachstum zu fördern. Dennoch töteten sie grundsätzlich alle Zwillinge, einfach weil dies Tradition hatte. Fast alle Gesellschaften akzeptieren enorme Kosten, um komplexe Rituale, lähmenden Aberglauben und dysfunktionale Normen aufrechtzuerhalten.[12] Trotz ihrer Nachteile gibt es oft kaum eine Kraft, die eine Gesellschaft aus einem solchen toxischen Gleichgewicht bringen kann. Genau hier setzt die Idee moralischen Fortschritts an: Heute funktioniert sie wie ein Meme, das Gesellschaften für die Vorzüge sozialen Wandels und technischer Innovation empfänglich macht. »Das haben wir immer so gemacht!« wird durch »Was können wir hier noch verbessern?«, Tradition durch Innovation ersetzt.

Die Banalität des Bösen

Als Hannah Arendt 1961 nach Israel flog, um für den New Yorker einen Bericht über Adolf Eichmann anzufertigen, dem vor dem Jerusalemer Bezirksgericht der Prozess gemacht werden sollte, fieberte die intellektuelle Welt dem Porträt eines satanischen Unholds entgegen. Stattdessen bekam sie die Larmoyanz eines Verwaltungsangestellten, der das groteskeste Verbrechen der Moderne mit der sorgfältigen Kleingeistigkeit eines Sachbearbeiters organisiert hatte; Arendt prägte dafür eine der beeindruckendsten und treffendsten Phrasen der Moralphilosophie überhaupt: die Banalität des Bösen.[13]

Mit der Banalität des Bösen widerspricht Arendt nicht nur der christlichen Idee einer Erbsünde, sondern auch einem Großteil der philosophischen Tradition. Noch Kant war der Meinung, der Mensch sei aus so »krummem Holze« gemacht, dass aus ihm »nichts ganz Gerades gezimmert werden«[14] könne; vielmehr sei der Mensch »radikal böse«, weil er von Natur aus dazu neige, seine vom moralischen Gesetz geforderten Pflichten zu verletzen.[15]

Ein wichtiger Unterschied zwischen dem radikalen und dem banalen Bösen besteht darin, dass Ersteres einer Logik der Selbstbeherrschung folgt: Unsere Verderbtheit und Gefallenheit, so die Idee, lässt sich nur durch Selbstkontrolle, Disziplin und Willenskraft überwinden. Im 20. Jahrhundert setzt sich dagegen zunehmend die Einsicht durch, dass sich die Mangelhaftigkeit der menschlichen Natur kaum beheben und überwinden, sondern nur umgehen und einhegen lässt. Der Fokus verschiebt sich vom Aufruf an das Individuum, sich endlich zusammenzureißen und in Tugend zu üben, zum Aufruf an die Gesellschaft, ihre Strukturen, Praktiken und Institutionen so einzurichten, dass der externe Situationsdruck gar nicht erst entstehen kann, gegen dessen toxische Wirkung kein Mensch immun ist. Wenn wir unter diesem Druck nicht zu Kollaborateuren des Unheils werden, ist dies meist nur Glück. Worauf es ankommt, ist also, die Gelegenheit zur Kollaboration gar nicht erst entstehen zu lassen.

In der Sozialpsychologie etabliert sich ab den späten 1960er-Jahren das Paradigma des »Situationismus«.[16] So etwas wie robuste, situationsübergreifend konsistente Charakterzüge scheint es nicht zu geben: Wenn man nach ihnen sucht, findet man sie nicht. Niemand ist mutig, schüchtern oder geizig per se; niemand ist entweder gut oder böse, anständig oder verkommen. Unsere Persönlichkeit ist viel fragmentarischer, viel stärker an die konkrete Situation gebunden. Wir sind geizig, wenn mit Freunden auf dem Flohmarkt, aber großzügig beim Dinner mit Fremden. Seit ungefähr fünfzig Jahren arbeitet die Sozialpsychologie daran zu zeigen, dass es solche externen, situationsbedingten Faktoren sind, die den bei Weitem größten Einfluss auf unser Verhalten haben. Ob eine Person einer anderen hilft, heruntergefallene Papiere aufzuheben, hing in einer bekannten Studie vor allem davon ab, ob jene Person zuvor eine (dort absichtlich platzierte) Münze in einer Telefonzelle gefunden hatte.[17] Zahllose weitere Experimente demonstrieren die Macht, die externe Umstände auf uns ausüben.

Die Banalität des Bösen hat etwas Tröstliches. Die Welt zerfällt nicht in radikal böse und radikal gute Menschen, deren ewig gleicher Kampf auf dem Schauplatz der Geschichte ausgetragen wird, aber nie ganz gewonnen werden kann. Sie besteht aus Menschen, einfach nur Menschen, die wie der Rest der Natur auch von ihren Umständen geformt werden, mit diesen fertigwerden müssen und an ihnen scheitern. Das heißt nicht, dass es keine schlechten Menschen gibt, die Haarsträubendes tun; aber es bedeutet, dass wir Menschen – jedenfalls grundsätzlich – reformierbar sind und dass es keine Masse teuflischer Schurken »unter uns« gibt, mit deren intrinsischer Verkommenheit der Rest der Gesellschaft einfach irgendwie fertigzuwerden hat.

Aber gerade diese Banalität hat auch etwas Beunruhigendes: »Und mit dem Element der selbst verantworteten Regression tut sich das auf, was wir im 20. Jahrhundert als den eigentlichen Zivilisationsbruch erfahren haben: alles andere als einen ›Rückfall in die Barbarei‹, sondern die absolut neue und von nun an jederzeit gegenwärtige Möglichkeit des moralischen Zerfalls einer ganzen Nation, die sich nach den Maßstäben der Zeit als ›zivilisiert‹ betrachtet hatte.«[18] Der Holocaust und der Gulag, die kambodschanischen Killing Fields der Roten Khmer und der Völkermord an den ruandischen Tutsi, das Massaker von Srebrenica oder die Vorkommnisse in Abu Ghuraib haben endgültig bewiesen, dass mit uns Menschen immer zu rechnen ist, dass die Instinkte, die uns zu Hass und Gewalt befähigen, nie ganz schlafen und dass auch eine, wie Adorno und Horkheimer es einst ausdrückten, »vollends aufgeklärte«[19] Gesellschaft jederzeit am Rande der moralischen Implosion steht.

Eine grundlegende moralische Transformation des 20. Jahrhunderts besteht in dem Versuch, soziopolitische Bedingungen zu schaffen, die unsere zerstörerischen Tendenzen so gut wie möglich einhegen, moderieren und kanalisieren – damit der Kindertraum einer Menschheit, die aus Brüdern und Schwestern besteht, die unter dem sanften Flügel des Friedens weilen, vielleicht eines Tages doch noch Wirklichkeit wird. Die Ausgangslage ist bekannt: Noch um die Mitte des Jahrhunderts herum haben wir unsere kühnsten Befürchtungen mit apokalyptischer Sorgfalt übertroffen. Jetzt geht es darum, vorzusorgen und institutionelle Dämme zu bauen, die der grausamen Versuchung der Menschenfeindlichkeit widerstehen. Auch wenn solche Maßnahmen nicht immer oder durch und durch erfolgreich waren: Ab dieser Zeit wurde zum ersten Mal der ernsthafte, umfassende und lang anhaltende Versuch unternommen, den destruktivsten Kräften unserer Psychologie institutionell Einhalt zu gebieten. Damit dies gelingen konnte, musste man diesen Tendenzen einmal ins Auge sehen, um zu verstehen, wie es zu jenem moralischen Ruin überhaupt erst kommen konnte.

Stille Revolution

Worin besteht moralischer Fortschritt, und wie kommt es dazu? In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beginnt ein Prozess moralischer Transformation, bei dem moderne Gesellschaften schrittweise von konservativen auf progressive Strukturen umstellten.