Der Bergpfarrer 319 – Heimatroman - Toni Waidacher - E-Book

Der Bergpfarrer 319 – Heimatroman E-Book

Toni Waidacher

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Beschreibung

Mit dem Bergpfarrer hat der bekannte Heimatromanautor Toni Waidacher einen wahrhaft unverwechselbaren Charakter geschaffen. Die Romanserie läuft seit über 10 Jahren, hat sich in ihren Themen stets weiterentwickelt und ist interessant für Jung und Alt! Unter anderem gingen auch mehrere Spielfilme im ZDF mit Millionen Zuschauern daraus hervor. Sein größtes Lebenswerk ist die Romanserie, die er geschaffen hat. Seit Jahrzehnten entwickelt er die Romanfigur, die ihm ans Herz gewachsen ist, kontinuierlich weiter. "Der Bergpfarrer" wurde nicht von ungefähr in zwei erfolgreichen TV-Spielfilmen im ZDF zur Hauptsendezeit ausgestrahlt mit jeweils 6 Millionen erreichten Zuschauern. Toni Waidacher versteht es meisterhaft, die Welt um seinen Bergpfarrer herum lebendig, eben lebenswirklich zu gestalten. Er vermittelt heimatliche Gefühle, Sinn, Orientierung, Bodenständigkeit. Zugleich ist er ein Genie der Vielseitigkeit, wovon seine bereits weit über 400 Romane zeugen. In Spannungsreihen wie "Irrlicht" und "Gaslicht" erzählt er von überrealen Phänomenen, markiert er als Suchender Diesseits und Jenseits mit bewundernswerter Eleganz. Sigrun Hallermeier, die die zusammen mit ihrer Nichte Melissa Stiegler einen zweiwöchigen Urlaub in St. Johann verbrachte, war glücklich, dass Gerhard Aumann und zwei weitere Geschädigte, die sie aus Frust und Langeweile bestohlen hatte, von einer Anzeige abgesehen hatten. Den pensionierten Lehrer Gerhard Aumann, der den Winter über in St. Johann bleiben wollte und der – wie auch Sigrun – im 'Gästehaus Wachnertaler Hof' wohnte, hatte sie zur Wiedergutmachung zu einem gemütlichen Abend im Biergarten des Hotels 'Zum Löwen' eingeladen. Nun sollte Sigruns Urlaub und der ihrer Nichte in zwei Tagen enden. Die Sechsundsechzigjährige aber wollte in St. Johann bleiben. Nicht nur, weil sie sich in den Ort und das Tal regelrecht verliebt hatte, sondern auch, weil es ihr der siebzigjährige Gerhard angetan hatte. Das war allerdings noch ihr Geheimnis, das sie wohl zu hüten verstand. Wenn sie entspannt am Pool des Gästehauses im Liegestuhl lag oder am Achsteinsee auf ihrer Luftmatratze, erschien Gerhards Bild immer wieder vor ihrem inneren Auge, und sie stellte sich vor, wie es wäre, die Zeit bis zum Frühling hier im Wachnertaler Hof in seiner Nähe, oder vielleicht sogar mit ihm, zu verbringen. Beim Gedanken daran wurde sie regelrecht sentimental. Sie wusste, dass Gerhard verwitwet war. Sie selbst hatte sich nach einer großen Enttäuschung in jungen Jahren nie wieder auf einen Mann eingelassen. Aber nun, so schien es, hatte sie auf ihre alten Tage ein Pfeil Amors getroffen. Melissa telefonierte viel und oft mit ihrer neuen Liebe. Sie hatte Jonas Loreth am Achsteinsee kennengelernt. Jonas' Urlaub war allerdings schon zu Ende, und er war nach Freudenstadt im Schwarzwald zurückgekehrt. Es war jedoch beschlossene Sache, dass er so bald wie möglich zu Melissa nach Heilbronn ziehen würde, da er nicht an Freudenstadt gebunden war – weder privat noch beruflich. Ihre Herzen haben sich gefunden, dachte Sigrun des Öfteren. Und dann: Warum sollten sich nicht meins und Gerhard Aumanns auch finden?

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Der Bergpfarrer – 319 –

Alter schützt vor Liebe nicht

Wird sich Gott Amor für Sigrun einsetzen?

Toni Waidacher

Sigrun Hallermeier, die die zusammen mit ihrer Nichte Melissa Stiegler einen zweiwöchigen Urlaub in St. Johann verbrachte, war glücklich, dass Gerhard Aumann und zwei weitere Geschädigte, die sie aus Frust und Langeweile bestohlen hatte, von einer Anzeige abgesehen hatten. Den pensionierten Lehrer Gerhard Aumann, der den Winter über in St. Johann bleiben wollte und der – wie auch Sigrun – im ‚Gästehaus Wachnertaler Hof‘ wohnte, hatte sie zur Wiedergutmachung zu einem gemütlichen Abend im Biergarten des Hotels ‚Zum Löwen‘ eingeladen.

Nun sollte Sigruns Urlaub und der ihrer Nichte in zwei Tagen enden. Die Sechsundsechzigjährige aber wollte in St. Johann bleiben. Nicht nur, weil sie sich in den Ort und das Tal regelrecht verliebt hatte, sondern auch, weil es ihr der siebzigjährige Gerhard angetan hatte. Das war allerdings noch ihr Geheimnis, das sie wohl zu hüten verstand.

Wenn sie entspannt am Pool des Gästehauses im Liegestuhl lag oder am Achsteinsee auf ihrer Luftmatratze, erschien Gerhards Bild immer wieder vor ihrem inneren Auge, und sie stellte sich vor, wie es wäre, die Zeit bis zum Frühling hier im Wachnertaler Hof in seiner Nähe, oder vielleicht sogar mit ihm, zu verbringen.

Beim Gedanken daran wurde sie regelrecht sentimental. Sie wusste, dass Gerhard verwitwet war. Sie selbst hatte sich nach einer großen Enttäuschung in jungen Jahren nie wieder auf einen Mann eingelassen. Aber nun, so schien es, hatte sie auf ihre alten Tage ein Pfeil Amors getroffen.

Melissa telefonierte viel und oft mit ihrer neuen Liebe. Sie hatte Jonas Loreth am Achsteinsee kennengelernt. Jonas‘ Urlaub war allerdings schon zu Ende, und er war nach Freudenstadt im Schwarzwald zurückgekehrt. Es war jedoch beschlossene Sache, dass er so bald wie möglich zu Melissa nach Heilbronn ziehen würde, da er nicht an Freudenstadt gebunden war – weder privat noch beruflich.

Ihre Herzen haben sich gefunden, dachte Sigrun des Öfteren. Und dann: Warum sollten sich nicht meins und Gerhard Aumanns auch finden? Daraus, dass Gerhard sie sympathisch fand, hatte dieser kein Geheimnis gemacht. Sie war zwar nicht mehr die Jüngste, aber ihr Leben war noch längst nicht zu Ende. Warum sollte ihr nicht noch ein gewisses Maß an Glück beschieden sein?

Es war Mittagszeit. Melissa befand sich auf dem gemeinsamen Zimmer und telefonierte. Sigrun hatte es sich auf der Terrasse des Gästehauses gemütlich gemacht, von der aus man freien Ausblick in den parkähnlichen, gepflegten Garten hatte, der zur Pension gehörte. Vor ihr stand eine Tasse Kaffee auf dem kleinen runden Tisch. Sie beobachtete einige Pensionsgäste, die sich in dem großen Garten aufhielten.

Ein Auto fuhr vor, wurde geparkt, und Mareile Frischholz, die zusammen mit dem Bauunternehmer Roland Wiedermann die Pension betrieb, stieg aus. Einer jähen Eingebung folgend, erhob sich Sigrun und rief: »Frau Frischholz! Hallo, Frau Frischholz! Hätten Sie ein paar Minuten Zeit für mich?«

Mareile bemerkte Sigrun, lächelte, betrat den Garten und stieg die fünf Stufen zur Terrasse zu ihr hinauf. Sie hatte Sigrun großmütig verziehen, dass sie wegen der Diebstähle die Pension um ein Haar in Verruf gebracht hätte. Die ganze Angelegenheit hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst, und so war auch Mareile besänftigt worden.

»Was kann ich denn für Sie tun, Frau Hallermeier?«, erkundigte sie sich. Die schöne Frau hatte vor einiger Zeit sämtliche Brücken in Frankfurt hinter sich abgebrochen und sich mit dem Erwerb und dem Ausbau der Pension einen Traum erfüllt. Ganz nebenbei hatte sie sich unsterblich in Roland Wiedermann verliebt, der als stiller Teilhaber in die Finanzierung des Projekts eingestiegen war.

Mareile war sich sicher, das ganz große Los gezogen zu haben. Und jeder, der sie und Roland kannte, musste sich dieser Meinung anschließen. Man konnte bei den beiden ruhigen Gewissens von Seelenverwandtschaft sprechen.

»Bitte, Frau Frischholz, setzen Sie sich doch ein bisschen zu mir«, antwortete Sigrun und schaute Mareile geradezu verschwörerisch an. »Ich habe nämlich ein Anliegen.«

Mareile ließ sich nieder und musterte die Sechsundsechzigjährige fragend und abwartend zugleich. »Ich möchte gerne den Winter hier verbringen«, brachte Sigrun ihr Anliegen sofort auf den Punkt. »Es ist natürlich fraglich, ob Sie mir ein Zimmer vermieten können. Wenn ich mich recht erinnere, dann hat die junge Dame an der Rezeption mal geäußert, dass die Pension über einen längeren Zeitraum ausgebucht wäre.«

»Gefällt es Ihnen bei uns so gut?«, fragte Mareile.

»Ich würde am liebsten für immer hierbleiben«, erwiderte Sigrun.

Mareile lächelte. Es war ein freudiges und zugleich stolzes Lächeln. »Wenn das so ist … Sie haben Glück, Frau Hallermeier. Gestern hat ein älteres Paar abgesagt, weil die Frau schwer erkrankt ist. Ich kann ihnen das Zimmer, das für das Ehepaar vorgesehen war, gerne zur Verfügung stellen.«

»Das ist ja wunderbar«, freute sich Sigrun und klatschte impulsiv in die Hände. »Ich nehme das Zimmer natürlich. Ist es möglich, dass ich bis zum März bleibe?«

Mareile nickte. »Wenn Sie so lange bleiben möchten – gerne.«

»So ein Glück«, jubelte Sigrun. »Ich kann es kaum fassen.«

»Wenn es definitiv ist, dass Sie sich bis zum Frühjahr einmieten möchten, Frau Hallermeier«, sagte Mareile, »dann werde ich Angie gleich Bescheid sagen, damit sie das Zimmer auf Ihren Namen bucht.«

»Ja, bitte. Ich bin fest entschlossen zu bleiben.«

»Angie wird Ihnen auch den Preis nennen und sie über die Leistungen informieren, die in dem Preis enthalten sind.« Mareile erhob sich. »Angie wird auf Sie zukommen, Frau Hallermeier. Was sagt denn Ihre Nichte zu Ihrem Entschluss?«

Sigrun lächelte verschmitzt. »Die weiß noch nichts davon. Besonders erbaut wird sie nicht sein, wenn sie alleine nach Hause fahren muss.«

»Wollen Sie nicht erst mit Frau Stiegler ihre Absicht besprechen?«, fragte Mareile. »Ich bin auch gerne bereit, das Zimmer freizuhalten, bis Ihre Entscheidung endgültig ist.«

»Befürchten Sie, dass mich Melissa noch umstimmen könnte?«

»Ich schließe es zumindest nicht aus«, versetzte Mareile lächelnd. »Und immerhin fungiert Ihre Nichte nicht ausschließlich als Ihre Urlaubsbegleitung und Gesellschafterin, sondern ein wenig auch als Ihre Betreuerin.«

»Sie haben, wenn Sie das sagen, mein Hüft- und Knieleiden im Hinterkopf, nicht wahr?«, fragte Sigrun. »Ja. Das ist leider nicht wegzudenken«, versetzte Mareile.

»Das habe ich im Griff«, behauptete die Sechsundsechzigjährige. »Es ist in Wirklichkeit auch bei Weitem nicht so gravierend, wie es möglicherweise aufgrund der hilfsbereiten Art meiner Nichte den Anschein hat. Ich denke, Frau Frischholz, ich bin bei Ihnen hier im Wachnertaler Hof gut aufgehoben. Nicht umsonst spricht man …«, Sigrun schmunzelte, »… von der ‚Pension mit Herz‘.« Sie sprach mit leicht gesenkter Stimme weiter: »Sie müssen auch nicht befürchten, dass ich noch einmal rückfällig werde. Ich weiß ja selber nicht, was mich geritten hat, als ich …, na, Sie wissen schon. So etwas wird nicht mehr vorkommen.«

»Dessen bin ich mir völlig sicher, Frau Hallermeier«, erklärte Mareile. »Okay, Frau Hallermeier, ich sage Angie Bescheid. Sie wird Ihnen dann die Buchungsunterlagen zur Unterschrift vorlegen.«

»Danke, Frau Frischholz. Ich bin richtig glücklich, weil das so reibungslos über die Bühne geht. Für das Ehepaar, das absagen musste, tut mir zwar sehr leid, für mich aber hat sich dies als Glücksfall erwiesen.«

»Ich muss mich bedanken, Frau Hallermeier«, erwiderte Mareile. »Mit Ihrer Absicht, die nächsten Monate in der Pension zu leben, beweisen Sie mir großes Vertrauen.«

»Das hatte ich vom ersten Tag an«, versicherte Sigrun, und es war kein Lippenbekenntnis, sondern kam von Herzen.

*

Wenig später erschien Melissa und setzte sich auf den Stuhl, auf dem vor einigen Minuten noch Mareile Frischholz gesessen hatte.

»Und?«, fragte Sigrun. »Ich vermute, deinem Jonas geht es gut, außer dass er vielleicht vor Sehnsucht nach dir vergeht und es kaum erwarten kann, dich wieder in die Arme zu nehmen.«

Melissa lachte hell auf. Sie war bester Laune und ausgesprochen beschwingt. »Ich soll dir schöne Grüße von ihm bestellen. Wir sollen die zwei Tage, die wir noch haben, voll und ganz auskosten, hat er mir aufgetragen.«

Eine Bedienung kam durch die Terrassentür, eine allenfalls zwanzigjährige, hübsche Frau, die von Mareile als Servicekraft eingestellt worden war. »Kann ich den Damen etwas bringen?«, fragte sie freundlich. »Kaffee, Tee, oder etwas Erfrischendes?«

»Eine Tasse Kaffee, bitte«, antwortete Melissa. »Möchtest du euch noch eine, Tante?«

»Ja, bitte.«

Die Bedienung nahm die leere Tasse vom Tisch und entfernte sich.

Sigrun schlug die Augen nieder. »Ich habe mich anders entschieden, Melissa-Schatz«, murmelte sie und es klang fast ein wenig schuldbewusst, als ahnte sie, dass Melissa ihre Entscheidung nicht für gut befinden würde.

»Wie? Was?« Ziemlich verständnislos musterte die junge Frau das Gesicht ihrer Tante, versuchte darin zu lesen und kam nicht drauf, in welcher Hinsicht sich Tante Sigrun anders entschieden haben könnte. »Was hast du anders entschieden, Tante?«

»Ich bleibe bis zum März hier in St. Johann«, erwiderte Sigrun und versuchte, ihrer Stimme Festigkeit zu verleihen. Irgendwie verspürte sie ihrer Nichte gegenüber ein schlechtes Gewissen, sagte sich aber gleichzeitig, dass es dafür keinen Grund gab.

Melissa zeigte sich betroffen, schluckte und wiederholte: »Du bleibst bist zum März in St. Johann?«

»Du hast richtig gehört, Kindchen«, erwiderte Sigrun. »Mir gefällt es hier ausnehmend gut, und die Pension bietet die Möglichkeit, ähnlich wie manche Hotels auf den Balearen oder Kanaren, zu einem erschwinglichen Preis für einen längeren Zeitraum zu buchen. Ich stelle mir den Winter hier richtig idyllisch vor. Am Geld soll es nicht scheitern, und verpflichtet bin ich auch niemandem. Warum also sollte ich die Gelegenheit nicht nutzen?«

»Haben sie hier überhaupt ein Zimmer für dich?«, erkundigte sich Melissa, noch immer ziemlich perplex.

»Ja, ich habe mich mit Frau Frischholz schon besprochen«, antwortete Sigrun. »Ein älteres Ehepaar hat krankheitshalber abgesagt. Ich habe das Zimmer sofort gemietet.«

»Hast du dir das auch gut überlegt? Ich werde in zwei Tagen meine Zelte hier abbrechen, Tante. Du aber wirst alleine zurückbleiben. Hast du deine Handicaps bedacht? Die Hüften, die Knie …« Sorgenvoll musterte Melissa ihre Tante.

»Habe ich. Ich komme ganz gut ohne Hilfe zurecht, Kindchen. Und sollte sich irgendein Zipperlein verschlimmern, dann haben sie einen Arzt und eine Klinik hier, wo ich mich behandeln lassen kann. Mach dir keine Gedanken deswegen. Hier, in der Pension, ist man auch hilfsbereit und zuvorkommend. Man kann sich, falls man ein Problem hat, vertrauensvoll an Angie oder Frau Frischholz wenden. Es wird mir gut gehen hier, Kindchen. Wir können ja jeden Tag miteinander telefonieren.«

»Ich bin skeptisch«, murmelte Melissa. »Du wirst dich tödlich langweilen. Am Ende geschieht wieder etwas Ähnliches, wie das, worüber ich eigentlich nicht mehr sprechen wollte.«

»Du meinst, dass ich wieder zu klauen anfange, nicht wahr?« Sigrun winkte ab. »Von dieser Art der Freizeitgestaltung bin ich geheilt, Kindchen«, beteuerte sie. »Beim nächsten Mal würde ich wahrscheinlich nicht mehr mit einem blauen Auge davonkommen. Nein, nein, am Eigentum anderer vergreife ich mich nicht mehr. Darauf gebe ich dir Brief und Siegel.«

»Mir scheint, du meinst es wirklich ernst, Tante«, murmelte Melissa, die sich noch immer nicht so recht mit dem Gedanken anfreunden wollte, dass sie die Heimfahrt in zwei Tagen alleine antreten sollte.

»Natürlich. Meinen Entschluss bringt nichts mehr ins Wanken. Angie bereitet schon die Buchungsunterlagen vor. Ich muss dann nur noch meinen Namen daruntersetzen.«

»Hoffentlich machst du keinen Fehler, Tante.« Melissa schien immer noch nicht völlig überzeugt zu sein. »So ganz alleine in einem Bergdorf, in dem du niemand kennst …«

»Ich werde Bekanntschaften schließen, Kindchen, glaube mir. Die Pension hat zehn Zimmer, und den Winter überleben hier um die zwanzig Menschen, die vom Alter her zu mir passen werden. Gerhard Aumann ist auch hier, das habe ich dir ja erzählt. Er ist so ein angenehmer Mensch: unterhaltsam, er kann zuhören, hat Humor und ist für sein Alter noch sehr, sehr aktiv.«

»Du gerätst ja regelrecht ins Schwärmen, wenn du von ihm sprichst, Tante«, entfuhr es Melissa, und im nächsten Moment glitt der Schimmer des Begreifens über ihre regelmäßigen Gesichtszüge. »Ist er etwa der Grund, aus dem du diese Entscheidung getroffen hast?«

Jetzt wurde Sigrun leicht verlegen, ihr Blick irrte ab, schließlich aber schüttelte sie den Kopf und erwiderte: »I wo, Kindchen, ich tu mir doch keinen Mann an. Habe ich es mein ganzes Leben lang ohne geschafft, werde ich es auf meine alten Tage auch noch zuwege bringen.« Sie lachte etwas gekünstelt auf. »Du weißt doch, ich bin ein gebranntes Kind und scheue das Feuer.«

»Ja, ja, ich kenne die Geschichte von Günther Moller und dir, Tante. Ich erinnere mich auch an deine Worte, als ich dir erzählt habe, dass ich in Jonas verliebt bin. Sie lauteten in etwa so: ‚Du musst höllisch auf der Hut sein. Vertraue keinem Mannsbild, auch wenn es noch so treue Dackelaugen hat.‘ – Du könntest ein Lied davon singen, und nach der Sache mit Moller wärst du geheilt. Das waren deine Worte.« Sekundenlang forschte Melissa in Sigruns faltigem Gesicht, Skepsis im Blick. »Ich glaube dir kein Wort, Tante«, verlieh sie schließlich ihren Zweifeln Ausdruck. »Es ist Aumann«, stieß sie hervor. »Du kannst mir nichts vormachen.«

Jetzt schaute die alte Dame ihre Nichte streng an und antwortete: »Selbst wenn es so wäre, Melissa: Habe ich dir vielleicht dreingeredet, als du dich in Jonas verliebt hast? Es ist doch mein Leben. Und wenn ich der Meinung bin, dass ich für einen Mann Platz in meinem Herzen hab‘, dann muss man mir doch die Freiheit zugestehen, meinen Gefühlen nachzugeben. Meinst du nicht?«

»Natürlich, Tante. Ich würde dir nie dreinreden. In dein Gefühlsleben mische ich mich nicht ein. Ich bin allerdings ziemlich überrascht …«

»Tut mir leid, wenn ich soeben ein bisschen harsch reagiert habe, Kindchen«, lenkte Sigrun ein. »Mein Verhältnis zu Gerhard Aumann ist ein rein kameradschaftliches.« Alles in der ältlichen Dame sträubte sich, Melissa gegenüber zuzugeben, dass sie sich in Gerhard Aumann verliebt hatte. Immerhin war sie sechsundsechzig Jahre alt, und Melissa war möglicherweise der Auffassung, dass es in diesem Alter nicht mehr üblich sei, sich zu verlieben. Sie verspürte das Bedürfnis, ihre Aussage zu begründen und so von ihren wahren Gefühlen abzulenken. Also sprach sie weiter:

»Er war ausgesprochen nachsichtig, als er mich nicht angezeigt hat, nachdem ich ihm den Ring und die Uhr gestohlen hatte, und dafür bin ich ihm dankbar. Im Grunde meines Herzens war ich sogar froh darüber, dass ich reinen Tisch machen konnte. Ein gewisses Unrechtsbewusstsein war nämlich bei mir durchaus vorhanden, als ich die Dinge an mich nahm. Du kennst den kindischen Grund, aus dem ich es getan habe. Es war eine große Geste von Gerhard Aumann, als er die Anzeige zurück- und meine Entschuldigung annahm. Warum sollte ich mich ihm nicht freundschaftlich verbunden fühlen?«

Wieder ein prüfender Blick Melissas, dann sagte die Zwanzigjährige: »Du bist natürlich dein eigener Herr, Tante, und kannst tun und lassen, was du willst. Vielleicht ist es wirklich gut, wenn du dich hier einige Zeit unter deinesgleichen aufhältst und bewegst. Es kann nur von Vorteil sein, wenn du Leute kennenlernst, Freundschaften schließt und dich rundherum wohlfühlst. Ich hatte im ersten Moment lediglich Bedenken, dass es dir langweilig werden könnte. Aber bei deiner positiven Lebenseinstellung muss ich mir deshalb gewiss keine Sorgen machen.«

»Du kannst mich ja mal besuchen kommen, Melissa. Ich bin schließlich nicht aus der Welt. Zu Hause bin ich mehr alleine als hier. Ich habe kaum Kontakte, denn ich habe mich nie bemüht, welche zu knüpfen. Hier aber ist alles ganz anders. In mir ist eine Stimmung, ein wahres Hochgefühl, wie ich es zu Hause noch nie erlebt habe. Ich habe mich in St. Johann verliebt, ich liebe den Wachnertaler Hof, ich glaube, ich kann hier rundherum glücklich sein und das Leben genießen.«