Der Holcroft-Vertrag - Robert Ludlum - E-Book

Der Holcroft-Vertrag E-Book

Robert Ludlum

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Beschreibung

Der Architekt Noel Holcroft wird überraschend zum Testamentsvollstrecker bestimmt. Damit nimmt das Schicksal seinen Lauf, denn Holcroft ahnt nicht, dass er Teil eines teuflischen Plans ist. Vierzig Jahre später wird er von der Vergangenheit eingeholt.

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Copyright © der deutschen Übersetzung 1982 by
Hestia Verlag GmbH, Bayreuth Copyright © by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Copyright © dieser Ausgabe 2006 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Str. 28, 81673 München
ISBN 978-3-641-07209-4V003
www.heyne.de www.penguinrandomhouse.de

Inhaltsverzeichnis

Prolog1.2.3.4.5.6.7.8.9.10.11.12.13.14.15.16.17.18.19.20.21.22.23.24.25.26.27.28.29.30.31.32.33.34.35.36.37.38.39.40.41.42.43.44.45.46.EpilogCopyright

Titel der Originalausgabe:

THE HOLCROFT-COVENANT

Prolog

MÄRZ 1945

Der Rumpf des Unterseeboots war an den riesigen Pollern vertäut; sein scharf geschnittener Bug stach in das Dämmerlicht der Nordsee hinein.

Der Stützpunkt befand sich auf der Insel Scharhörn in der Deutschen Bucht, ein paar Kilometer vom Festland und der Elbemündung entfernt. Es handelte sich um eine Bunkerstation, die die alliierte Abwehr nie entdeckt hatte und die aus Sicherheitsgründen auch nur wenigen im Oberkommando des Heeres bekannt war. Die Marodeure der Meere kamen und gingen im Schutz der Nacht, tauchten wenige hundert Meter vor der Hafenanlage auf und verschwanden dort auch wieder.

Doch für dieses Boot war dieser Krieg vorbei. Aber es hatte einen Auftrag, der leicht zum nächsten Krieg führen konnte.

Zwei Männer standen im Turm. Einer trug die Uniform eines deutschen Marineoffiziers, der andere, ein hünenhafter Zivilist, hatte den Kragen seines langen, dunklen Mantels hochgeklappt, um sich vor den eisigen Nordseestürmen zu schützen, doch hatte er keinen Hut, als wollte er dem Nordseewind die Stirn bieten. Beide blickten auf die lange Reihe von Passagieren hinunter, die sich langsam auf die Laufplanke zu bewegten. Jedesmal, wenn ein Passagier die Planke erreichte, wurde ein Name auf einer Liste abgehakt, und dann wurde er oder sie an Bord des U-Boots geführt — oder getragen.

Einige wenige gingen selbst, aber das waren die Ausnahmen. Sie waren die Ältesten, etliche hatten bereits den zwölften oder dreizehnten Geburtstag hinter sich. Der Rest waren Kinder: Säuglinge in den Armen streng blickender Militärschwestern, die an der Planke ihre Schützlinge Marineärzten übergaben; Vorschulkinder und solche in den ersten Schuljahren, und alle trugen sie die gleichen Reisetaschen und hielten sich an den Händen und sahen unsicher an dem sonderbaren schwarzen Schiff empor, das in den nächsten Wochen ihr Zuhause sein sollte.

»Unglaublich«, sagte der Offizier. »Einfach unglaublich. «

»Das ist der Anfang«, erwiderte der Mann im Mantel, und seine scharf geschnittenen, strengen Züge blieben unbewegt. »Man hört es von überall. Aus den Häfen, von Gebirgspässen, den noch verbliebenen Flugplätzen im ganzen Reich. Zu Tausenden ziehen sie hinaus. In jeden Teil der Welt. Und die Leute warten auf sie. Überall.«

»Eine außerordentliche Leistung«, sagte der Offizier und schüttelte beeindruckt den Kopf.

»Das ist nur ein Teil unseres Plans. Die ganze Operation ist außerordentlich. «

»Ihr Hiersein ist mir eine Ehre.«

»Ich wollte dabei sein. Dies ist der letzte Transport.« Der hünenhafte Zivilist blickte auf den Kai hinunter. »Das Dritte Reich liegt im Sterben. Die da werden seine Wiedergeburt sein. Die da sind das Vierte Reich. Frei von Mittelmäßigkeit und Korruption. Die da sind die Sonnenkinder. Auf der ganzen Welt.«

»Die Kinder...«

»Die Kinder der Verdammten«, fiel ihm der hochgewachsene Mann ins Wort. »Sie sind die Kinder der Verdammten. So wie Millionen das sein werden. Aber die da sind auserwählt. Und sie werden überall sein.«

1.

JANUAR 197...

»Attention! Le train de sept heures à destination de Zurich partira du quai numéro douze.«

Der hünenhafte Amerikaner im dunkelblauen Regenmantel blickte in die mächtige Kuppel des Genfer Bahnhofs und versuchte, die verborgenen Lautsprecher ausfindig zu machen. Sein kantiges, scharf geschnittenes Gesicht wirkte verwirrt; die Ansage war französisch, in einer Sprache, die er kaum beherrschte und schlecht verstand. Trotzdem hörte er den Namen Zurich heraus; das war sein Stichwort. Er wischte sich die hellbraune Haarsträhne, die ihm mit irritierender Regelmäßigkeit ins Gesicht fiel, aus der Stirn und ging in Richtung Nordausgang.

Es wimmelte hier von Menschen. Von allen Seiten strebten sie an dem Amerikaner vorbei, eilten zu den Bahnsteigen. Niemand schien auf die schroff klingenden Ankündigungen zu achten, die in metallischer Monotonie durch das Bahnhofsgebäude hallten. Die Reisenden wußten alle, wohin sie zu gehen hatten. Die Woche war zu Ende; in den Bergen war Schnee gefallen, und die Luft draußen war kalt und würzig. Jeder hatte seine Ziele und eilige Verabredungen; Zeitverschwendung konnte sich keiner leisten. Alle hatten es eilig.

Der Amerikaner ging ebenfalls mit schnellen Schritten, denn auch er war verabredet. Er hatte schon vor der Ansage gewußt, daß der Zug nach Zürich von Gleis zwölf abfahren würde. Dem Plan entsprechend sollte er auf dem Bahnsteig sieben Waggons von hinten abzählen und in den siebten Wagen durch die erste Tür einsteigen. Drinnen sollte er an vier Abteilen vorbei und an die fünfte Türe zweimal klopfen. Wenn alles in Ordnung war, würde ein Direktor der Grande Banque de Genève ihn zum Eintreten auffordern und damit den Höhepunkt von zwölf Wochen der Vorbereitung signalisieren. Vorbereitungen, zu denen verschlüsselte Telegramme gehörten und Überseegespräche, die über Telefone liefen, bei denen sich der Schweizer Bankier davon überzeugt hatte, daß sie nicht abgehört wurden. Das Ganze war unter strengster Geheimhaltung abgelaufen.

Er wußte nicht, was der Direktor der Grande Banque de Genève ihm zu sagen hatte, glaubte aber immerhin zu wissen, weshalb man so strenge Vorsichtsmaßnahmen für notwendig hielt. Der Name des Amerikaners war Noel Holcroft, aber das war nicht der Name, mit dem er geboren war. Er war im Sommer 1939 in Berlin zur Welt gekommen, und der Name im Geburtsregister lautete Clausen. Sein Vater war Heinrich Clausen, einer der Baumeister des Dritten Reiches, der Zauberkünstler der Finanzen, der die verschiedensten Wirtschaftskreise in jenes Bündnis führte, das Adolf Hitler schließlich die Macht gewinnen ließ.

Dafür verlor Heinrich Clausen eine Frau. Althene Clausen war nicht nur Amerikanerin; sie war auch unbeirrbar in ihren Überzeugungen und hatte ihre eigenen Wertmaßstäbe. Ihr war bald klargeworden, daß die Nationalsozialisten weder Ethos noch Moral hatten; sie waren ein Haufen Paranoiker, angeführt von einem Verrückten und unterstützt von Finanziers, die sich einzig und allein für ihre Profite interessierten.

Althene Clausen stellte ihren Mann an einem warmen Augustnachmittag zur Rede: Du mußt dich von denen trennen, hatte sie verlangt, du mußt dich gegen die Paranoiker und den Verrückten stellen, ehe es zu spät ist. Der Mann hatte ihr ungläubig zugehört, hatte gelacht und das Ganze als das närrische Geschwätz einer jungen Mutter abgetan. Vielleicht auch als Voreingenommenheit einer Frau, die in einem schwachen, nicht mehr glaubwürdigen System aufgewachsen war, dessen Vertreter aber bald im Gleichschritt mit der neuen Ordnung marschieren oder unter ihrem Stiefel zermalmt werden würden.

In jener Nacht hatte die junge Mutter ihr Kind und einige wenige Habseligkeiten genommen und eines der letzten Flugzeuge nach London bestiegen: die erste Etappe ihrer Reise zurück nach New York. Eine Woche später brach der Blitzkrieg gegen Polen aus, und das Tausendjährige Reich hatte seine eigene Reise begonnen, eine Reise, die vom ersten Schuß an über zweitausend Tage dauern sollte.

Holcroft betrat den langen Bahnsteig. Vier, fünf, sechs, sieben... Unter dem ersten Fenster des siebten Wagens, links von der offenen Tür, war ein kleiner blauer Kreis auflackiert — das Zeichen für noch größeren Komfort als ihn die erste Klasse bot: größere Abteile für Konferenzen oder auch für verstohlene Rendezvous. Hier war man garantiert ungestört; sobald der Zug sich in Bewegung setzte, wurden die Türen rechts und links des Ganges von Bahnpolizisten bewacht.

Holcroft stieg ein. Er ging an den ersten vier Türen vorbei zur fünften. Er klopfte zweimal.

»Herr Holcroft?« Die Stimme hinter der Holzverkleidung war fest und ruhig, und obwohl die Worte als Frage gedacht waren, klang die Stimme keineswegs fragend. Sie traf eine Feststellung.

»Herr Manfredi?« fragte Noel als Antwort und war sich plötzlich bewußt, daß ein Auge ihn durch den winzigen Spion in der Tür beobachtete. Es war beunruhigend und zugleich grotesk. Er lächelte und fragte sich, ob Herr Manfredi wohl wie der finstere Conrad Veidt in einem jener englischen Filme aus den dreißiger Jahren aussah.

Im Schloß klickte es zweimal, dann wurde ein Riegel zurückgeschoben. Die Tür schwang auf, und das Bild von Conrad Veidt verschwand. Ernst Manfredi war untersetzt und rundlich, Mitte bis Ende Sechzig. Er war völlig kahl und hatte ein angenehmes, sanft wirkendes Gesicht; aber die großen blauen Augen, noch vergrößert von den Gläsern seiner Goldrandbrille, blickten kalt. Sie waren von ganz hellem Blau und kühl wie Eis.

»Kommen Sie herein, Herr Holcroft«, sagte Manfredi und lächelte. Dann veränderte sich sein Ausdruck abrupt. Das Lächeln verschwand. »Verzeihen Sie. Ich sollte Mister Holcroft sagen. Das Herr ist Ihnen vielleicht unangenehm. Ich bitte um Vergebung.«

»Nicht nötig«, erwiderte Noel und betrat das luxuriöse Abteil. Es war mit einem Tisch und zwei Sesseln ausgestattet, ein Bett war nicht zu sehen. Die Wände waren mit Holz getäfelt, und dunkelrote Samtvorhänge verdeckten die Fenster und dämpften die Geräusche der draußen Vorbeieilenden. Auf dem Tisch stand eine kleine Lampe mit einem Fransenschirm.

»Wir haben bis zur Abfahrt fünfundzwanzig Minuten Zeit«, sagte der Bankier. »Das sollte reichen. Und keine Sorge - man wird uns rechtzeitig verständigen. Der Zug wird nicht abfahren, solange Sie nicht ausgestiegen sind. Sie brauchen nicht nach Zürich zu reisen.«

»Ich bin nie dort gewesen.«

»Ich glaube, daß es dabei nicht bleibt«, sagte der Bankier rätselhaft und bedeutete Holcroft, ihm gegenüber am Tisch Platz zu nehmen.

»Damit würde ich an Ihrer Stelle nicht rechnen.« Noel setzte sich und knöpfte seinen Regenmantel auf, zog ihn aber nicht aus.

»Es tut mir leid, das war anmaßend von mir.« Manfredi nahm Platz und lehnte sich im Sessel zurück. »Ich muß noch einmal um Entschuldigung bitten. Aber ich muß Ihren Paß sehen. Und Ihren Führerschein. Und überhaupt alle Dokumente, die Ihre besonderen Kennzeichen, Impfungen und dergleichen belegen.«

Holcroft verspürte eine Aufwallung von Ärger. Ganz abgesehen davon, daß das alles lästig war, mißfiel ihm die herablassende Art des Bankiers. »Und weshalb? Sie wissen, wer ich bin. Sonst hätten Sie die Tür nicht geöffnet. Sie haben wahrscheinlich mehr Fotografien von mir und mehr Informationen über mich als das State Department.«

»Haben Sie Nachsicht mit einem alten Mann, Sir«, sagte der Bankier und zuckte die Schultern, als wolle er damit Abbitte tun. »Sie werden es bald verstehen.«

Noel griff widerstrebend in die Jackentasche und holte die Brieftasche heraus, in der sein Paß, das Impfzeugnis, der internationale Führerschein und zwei Briefe der Architektenkammer steckten, die seine Qualifikation als Architekt auswiesen. Er reichte Manfredi die Brieftasche. »Da haben Sie alles. Bedienen Sie sich.«

Mit scheinbar noch größerem Widerstreben klappte der Bankier die Brieftasche auf. »Ich komme mir vor wie ein Schnüffler, aber ich denke...«

»Das sollten Sie«, unterbrach ihn Holcroft. »Ich habe nicht um dieses Zusammentreffen gebeten. Offen gestanden, kommt es für mich sogar zu einer sehr ungelegenen Zeit. Ich möchte so schnell wie möglich nach New York zurück.«

»Ja. Ja, ich verstehe«, sagte der Schweizer ruhig und überflog dabei die Papiere. »Sagen Sie, was war Ihr erster Auftrag als Architekt, den Sie außerhalb der Vereinigten Staaten übernommen haben?«

Noel unterdrückte ein Gefühl der Gereiztheit. Er war schon so weit gegangen; es hatte wenig Sinn, sich jetzt zu sperren. »Mexiko«, erwiderte er. »Für die Alvarez-Hotelkette. Im Norden von Puerto Vallarta.«

»Und der zweite?«

»Costa Rica. Ein Regierungsauftrag. Ein Postgebäude. Das war 1973. «

»Wie hoch war das Bruttoeinkommen Ihres Büros in New York im letzten Jahr? Ohne Abzüge.«

»Das geht Sie einen Dreck an.«

»Ich kann Ihnen versichern, daß wir es wissen.«

Holcroft schüttelte zornig resigniert den Kopf. »Hundertdreiundsiebzigtausend und ein paar Zerquetschte.«

»In Anbetracht der Büromiete, der Gehälter, der Einrichtung und Ihrer Kosten ist das keine besonders eindrucksvolle Zahl, oder?« fragte Manfredi, der immer noch auf die Papiere in seiner Hand blickte.

»Das Büro gehört mir allein, und ich hab’ nur wenige Mitarbeiter. Ich hab’ keine Partner, keine Frau, keine großen Kredite. Es könnte schlimmer sein.«

»Es könnte besser sein«, sagte der Bankier und blickte zu Holcroft auf. »Besonders für jemanden, der so talentiert ist.«

»Es könnte besser sein.«

»Ja, das dachte ich auch«, meinte der Schweizer und steckte die Papiere in die Brieftasche zurück und reichte sie Noel. Dann beugte er sich vor. »Wissen Sie, wer Ihr Vater war?«

»Ich weiß, wer mein Vater ist. Richard Holcroft, Wohnort New York, der Ehemann meiner Mutter. Er ist sehr lebendig. «

»Und pensioniert«, fügte Manfredi hinzu. »Ein Bankkollege, aber nicht gerade ein Bankier nach Schweizer Art. «

»Man hat ihn respektiert. Man respektiert ihn noch.«

»Wegen des Vermögens seiner Familie oder wegen seiner beruflichen Fähigkeiten?«

»Wegen beidem, würde ich sagen. Ich liebe ihn. Wenn Sie ihm gegenüber Vorbehalte haben, dann behalten Sie sie für sich.«

»Sie sind sehr loyal: das ist eine Eigenschaft, die ich bewundere. Holcroft war da, als Ihre Mutter—übrigens eine außergewöhnliche Frau—einen Menschen brauchte. Aber um Holcroft geht es nicht. Ich meinte Ihren leiblichen Vater.«

»Natürlich. «

»Vor dreißig Jahren hat Heinrich Clausen gewisse Vorkehrungen getroffen. Er reiste häufig zwischen Berlin, Zürich und Genf hin und her, unter Umgehung der offiziellen Überprüfungen selbstverständlich. Ein Schriftstück wurde aufgesetzt, gegen das wir als...« — Manfredi hielt inne und lächelte — »... als voreingenommene Neutrale keine Einwände vorbringen konnten. Dem Schriftstück ist ein Brief beigefügt, den Clausen im April 1945 geschrieben hat. Er ist an Sie adressiert. An seinen Sohn.« Der Bankier griff nach einem dicken Umschlag, der auf dem Tisch lag.

»Einen Augenblick«, sagte Noel. »Betrafen diese gewissen Vorkehrungen Geld?«

»Ja.«

»Daran bin ich nicht interessiert. Übergeben Sie es gemeinnützigen Institutionen. Er war es der Allgemeinheit schuldig. «

»Wenn Sie den Betrag hören, denken Sie vielleicht anders. «

»Wieviel ist es?«

»Siebenhundertundachtzig Millionen Dollar.«

2.

Holcroft starrte den Bankier ungläubig an; alles Blut war ihm aus dem Gesicht gewichen. Draußen mischten sich die Geräusche des weitläufigen Bahnhofs zu einer Kakophonie von gedämpften Akkorden, die kaum die dicken Wände des Waggons durchdrangen.

»Versuchen Sie erst gar nicht, das alles auf einmal in sich aufzunehmen«, sagte Manfredi und legte den Brief beiseite. »Es gibt da gewisse Bedingungen, von denen übrigens keine unzumutbar ist. Zumindest keine, die uns bekannt ist.«

»Bedingungen... ?« Holcroft wußte, daß er kaum zu hören war; er gab sich Mühe, seine Stimme wiederzufinden. »Was für Bedingungen?«

»Die sind ganz klar und deutlich aufgeführt. Diese riesigen Beträge sollen zum Nutzen der Menschen überall verwendet werden. Und dann gibt es da natürlich auch gewisse Vorteile für Sie persönlich.«

»Was soll das heißen, keine der Bedingungen sei unzumutbar, die Ihnen >bekannt< ist?«

Die vergrößerten Augen des Bankiers blinzelten hinter seinen Brillengläsern; er wandte kurz den Blick ab, und sein Gesichtsausdruck wirkte einen Moment lang gequält. Dann griff er in seine braunlederne Aktentasche auf dem Tisch und entnahm ihr einen langen, dünnen Umschlag mit seltsamen Zeichen auf der Rückseite: eine Reihe von vier Kreisen — dort, wo das Kuvert zugeklebt war, schienen vier dunkle Münzen befestigt zu sein. Manfredi hielt den Umschlag über den Tisch, unter die Lampe. Die dunklen Kreise waren keine Münzen, sondern Siegel. Alle waren intakt.

»Gemäß den Instruktionen, die man uns vor dreißig Jahren erteilt hat, sollte dieser Umschlag — im Gegensatz zum Brief Ihres Vaters, den ich hier habe — nicht von den Direktoren in Genf geöffnet werden. Er hat nichts zu tun mit dem Schriftstück, das wir aufgesetzt haben, und Clausen hat nach unserem besten Wissen keine Ahnung davon gehabt. Was er Ihnen in seinem Brief sagt, dürfte das bestätigen. Der Umschlag ist uns wenige Stunden, nachdem der Kurier den Brief Ihres Vaters gebracht hatte, übergeben worden. Und dieser Brief sollte eigentlich unsere letzte Nachricht aus Berlin sein. «

»Was ist in dem Umschlag?«

»Das wissen wir nicht. Sein Inhalt soll von einigen Männern verfaßt worden sein, die von den Aktivitäten Ihres Herrn Vaters wußten. Männer, die mit Leib und Seele an seine Sache glaubten und die in ihm in mannigfacher Hinsicht einen Märtyrer Deutschlands sahen. Wir hatten Anweisung, Ihnen den Umschlag mit unverletzten Siegeln zu übergeben. Sie sollten ihn vor dem Brief Ihres Vaters öffnen.« Manfredi reichte den Umschlag herüber. Auf der Vorderseite war ein Vermerk in deutscher Schrift. »Sie müssen hier unten unterschreiben, daß Sie den Umschlag in unversehrtem Zustand erhalten haben.«

Noel nahm den Umschlag entgegen und las die Worte, die er nicht verstand.

DIESER BRIEF IST MIR MIT UNVERSEHRTEN SIEGELN ÜBERGEBEN WORDEN. WIEDERAUFBAU ODER TOD.

»Was heißt das?«

»Daß Sie sich davon überzeugt haben, daß die Siegel nicht erbrochen worden sind.«

»Wie kann ich da sicher sein?«

»Junger Mann, Sie sprechen mit einem Direktor der Grande Banque de Genève.« Der Schweizer sprach, ohne die Stimme zu heben, aber die Zurechtweisung war deutlich. »Sie haben mein Wort. Und, davon abgesehen, welchen Unterschied macht es eigentlich?«

Keinen, überlegte Holcroft. Aber der springende Punkt beschäftigte ihn doch. »Wenn ich unterschrieben habe, was machen Sie dann mit dem Umschlag?«

Manfredi schwieg einige Augenblicke, als überlege er, ob er antworten solle. Dann nahm er die Brille ab, holte ein seidenes Taschentuch aus der Brusttasche und reinigte die Gläser. Schließlich sagte er: »Es handelt sich hier um einen vertraulichen Vorgang...«

»Wenn ich jetzt unterschreibe«, unterbrach Noel, »ist das auch ein vertraulicher Vorgang.«

»Lassen Sie mich ausreden.« Der Bankier setzte sich die Brille wieder auf. »Ich wollte gerade sagen, daß es sich um eine vertrauliche Sache handelt, die unmöglich noch von Belang sein kann. Nicht nach so vielen Jahren. Der Umschlag soll an ein Schließfach in Sesimbra in Portugal geschickt werden. Das liegt südlich von Lissabon am Kap Espichel.«

»Warum ist die Sache jetzt nicht mehr von Belang?«

»Das Schließfach existiert nicht mehr. Der Umschlag wird zunächst in die Abteilung für unzustellbare Briefe gebracht und schließlich wieder an uns zurückgeschickt werden.«

»Da sind Sie sicher?«

»Das glaube ich, ja.«

Noel griff in die Tasche nach seiner Füllfeder und drehte den Umschlag, um sich die Siegel noch einmal anzusehen. Sie waren in der Tat unversehrt; und, dachte Holcroft, welchen Unterschied machte es tatsächlich? Er legte den Umschlag vor sich und unterschrieb.

Manfredi hob die Hand. »Seien Sie versichert: nichts, was sich in diesem Umschlag befindet, kann etwas ändern an unserer Einstellung zu dem Schriftstück, das La Grande Banque de Genève aufgesetzt hat. Man hat uns weder konsultiert, noch über den Inhalt informiert.«

»Und doch scheinen Sie sich Sorgen zu machen. Ich dachte, es mache keinen Unterschied. Es sei doch so lange her.«

»Fanatiker beunruhigen mich immer, Mr. Holcroft. Da spielen die Umstände im einzelnen keine Rolle. Das ist die natürliche Vorsicht des Bankiers.«

Noel begann die Siegel aufzubrechen; der Siegellack hatte sich im Lauf der Jahre verhärtet, und er brauchte eine Weile, bis die Siegel in Stücken abfielen. Er riß den Umschlag auf, nahm das eine Blatt heraus, das er enthielt, und faltete es auseinander.

Die Jahre hatten das Papier brüchig gemacht, und das ursprüngliche Weiß war zu einem fahlen, bräunlichen Gelb verfärbt.

Das Blatt war in englischer Sprache und mit Blockbuchstaben beschrieben. Die Tinte war verblaßt, aber noch lesbar. Holcroft sah unten auf die Seite und suchte eine Unterschrift. Doch da war keine. Er begann zu lesen.

Es war eine makabre Botschaft, vor dreißig Jahren aus der Verzweiflung geboren. Es war so, als hätten fassungslose Männer in einem abgedunkelten Raum gesessen und Schatten an der Wand studiert, um daraus Zeichen für die Zukunft zu lesen, Zeichen, die einem Mann und einem Leben galten, die sich noch nicht geformt hatten.

VON DIESEM AUGENBLICK AN SOLL DER SOHN VON HEINRICH CLAUSEN NICHT AUS DEN AUGEN GELASSEN WERDEN. Es IST DAMIT ZU RECHNEN, DASS EINIGE VOM GENFER UNTERNEHMEN ERFAHREN UND VERSUCHEN WERDEN, IHN ZU STOPPEN, UND DEREN LEBENSZIEL ES SEIN WIRD, IHN ZU TÖTEN UND DAMIT DEN TRAUM ZU ZERSTÖREN, DER VON DEM RIESEN ERDACHT WURDE, DER SEIN VATER WAR.

DIES DARF NICHT GESCHEHEN, DENN MAN HAT UNS BETROGEN-UNS ALLE - UND DIE WELT MUSS ERFAHREN, WAS WIR WIRKLICH WAREN, DENN DAS, ALS WAS DIE BETRÜGER UNS DARSTELLEN, WAREN DIE BILDER VON VERRÄTERN, NICHT WIR. UND GANZ BESONDERS NICHT HEINRICH CLAUSEN.

WIR SIND DIE ÜBERLEBENDEN DER WOLFSSCHANZE. WIR WÜNSCHEN, DASS UNSERE NAMEN REINGEWASCHEN WERDEN, WÜNSCHEN, DASS UNS DIE EHRE ZURÜCKGEGEBEN WERDE, DIE MAN UNS GESTOHLEN HAT. DESHALB WERDEN DIE MÄNNER DER WOLFSSCHANZE DEN SOHN SO LANGE BESCHÜTZEN, BIS DER SOHN DEN TRAUM DES VATERS ERFÜLLT UND UNS UNSERE EHRE ZURÜCKGIBT. SOLLTE ABER DER SOHN DEN TRAUM BEGRABEN, DEN VATER VERRATEN UND UNS UNSERE EHRE VORENTHALTEN, WIRD ER KEIN LEBEN MEHR HABEN. ER WIRD ZEUGE WERDEN DER ANGST DERER, DIE ER LIEBT, DER FAMILIE, DER KINDER, DER FREUNDE. NIEMAND WIRD VERSCHONT WERDEN.

NIEMAND DARF SICH EINMISCHEN. GIB UNS UNSERE EHRE. DAS IST UNSER RECHT, UND WIR FORDERN ES.

Noel schob den Stuhl zurück und stand auf. »Was, zum Teufel, soll das?«

»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Manfredi leise. Seine Stimme blieb ruhig dabei, aber seine großen, kalten blauen Augen ließen erkennen, wie unruhig er war. »Ich sagte Ihnen doch, man hat uns nie in Kenntnis gesetzt...«

»Nun, dann holen Sie sich diese Kenntnis!« schrie Holcroft. »Da, lesen Sie! Wer waren diese Clowns? Verrückte, reif für ein Irrenhaus?«

Der Bankier las. Dann antwortete er, ohne aufzublicken. »Die Vettern von Verrückten. Männer, die die Hoffnung verloren hatten.«

»Was heißt Wolfsschanze? Was bedeutet das?«

»Das war der Name von Hitlers Hauptquartier in Ostpreußen, Schauplatz des Attentats vom 20. Juli 1944. Stauffenberg, Kluge, Höpner und viele andere Offiziere waren in die Verschwörung verwickelt. Man hat sie viehisch an Fleischerhaken aufgehängt. Rommel mußte Selbstmord begehen.«

Holcroft starrte das Papier an, das Manfredi noch immer in der Hand hatte. »Sie meinen, das da ist vor dreißig Jahren geschrieben worden, von solchen Leuten?«

Der Bankier nickte. Seine Augen hatten sich vor Erstaunen verengt. »Ja, aber das ist nicht die Sprache, die man von ihnen hätte erwarten können. Dies ist nichts anderes als eine Drohung; unvernünftig. Jene Männer waren nicht unvernünftig. Andererseits, die Zeit damals war ohne Sinn und Verstand. Anständige Männer, tapfere Männer wurden an den Rand des Wahnsinns getrieben. Sie durchlebten eine Hölle, die sich heute keiner von uns ausmalen kann.«

»Anständige Männer?« fragte Noel ungläubig.

»Haben Sie eine Ahnung, was es bedeutete, zu den Verschwörern zu gehören? Dem Attentat folgte ein Blutbad. Tausende wurden umgebracht, und die meisten hatten mit dieser Verschwörung gar nichts zu tun. Das war auch eine Endlösung, ein Vorwand, um in ganz Deutschland jede Kritik zum Schweigen zu bringen. Was als ein Akt begonnen hatte, die Welt von einem Verrückten zu befreien, endete im Massensterben. Die Überlebenden in der Wolfsschanze sahen das mit an.«

»Diese Überlebenden«, erwiderte Holcroft, »haben dem Wahnsinnigen lange Zeit Gefolgschaft geleistet.«

»Sie müssen das begreifen. Und Sie werden es auch. Das waren verzweifelte Menschen, Gefangene ohne Ausweg. Für sie brach eine Welt zusammen. Die Welt, an deren Erschaffung sie mitgeholfen hatten, erwies sich als eine ganz andere Welt als die ihrer Visionen. Schrecken, von denen sie sich nie hätten träumen lassen, kamen ans Tageslicht, und doch konnten sie sich nicht von der Verantwortung dafür lossagen. Sie waren erschüttert von dem, was sie sahen, konnten aber die Rolle nicht verleugnen, die sie gespielt hatten.«

»Die Nazis, die es gut meinten«, sagte Noel. »Von denen habe ich gehört. Eine Spezies, die sich nirgends einordnen läßt.«

»Man müßte ziemlich weit in der Geschichte zurückgehen, zu den Wirtschaftskatastrophen, dem Versailler Vertrag, dem Pakt von Locarno, den Übergriffen der Bolschewiken — zu einem Dutzend verschiedenster Ursachen -, um das zu verstehen. «

»Ich verstehe das, was ich gerade gelesen habe«, sagte Holcroft. »Ihre armen, mißverstandenen Nazis zögerten keinen Augenblick, jemanden zu bedrohen, den sie überhaupt nicht kannten! >...wird er kein Leben mehr haben... Niemand wird verschont werden... Familie, Kinder, Freunde. < Das alles klingt nach Mord. Kommen Sie mir bloß nicht mit Killern, die es gut meinen.«

»Das sind die Worte alter, kranker, verzweifelter Menschen. Heute haben sie keine Bedeutung mehr. Das war ihre Art, die eigene Angst auszudrücken, Vergebung zu suchen. Jetzt sind sie nicht mehr. Lassen Sie sie in Frieden. Lesen Sie den Brief Ihres Vaters...«

»Er ist nicht mein Vater!« unterbrach Noel.

»Lesen Sie Heinrich Clausens Brief. Dann wird Ihnen vieles klarer sein. Lesen Sie ihn. Wir haben noch einiges zu besprechen, und die Zeit ist knapp.«

Ein Mann in einem braunen Tweedmantel und mit einem dunklen Tirolerhut stand gegenüber Wagen sieben an einer Säule. Auf den ersten Blick war in seinem leicht zu vergessenden Gesicht nichts, das ihn von der Menge unterschied, einzig vielleicht seine dichten Augenbrauen, in denen sich schwarzes und hellgraues Haar wie Pfeffer und Salz mischte.

Wenn man aber genauer hinsah, konnte man die derben, wenn auch nicht groben Züge eines sehr entschlossenen Menschen erkennen. Trotz der Windstöße, die immer wieder über den Bahnsteig fegten, blieben seine Augen unbewegt und blinzelten nicht. Er konzentrierte sich völlig auf Wagen sieben.

Durch diese Türe würde der Amerikaner herauskommen, dachte der Mann an der Säule, und dann wäre er ein ganz anderer Mensch als jener, der hineingegangen war. In den letzten paar Minuten war sein Leben auf eine Art verändert worden, wie sie nur wenige Menschen je erleben. Und doch war dies erst der Anfang; die Reise, die anzutreten er im Begriffe war, ging über alles hinaus, was sich die heutige Welt auch nur im entferntesten vorstellen konnte. Und deshalb war es wichtig, seine erste Reaktion zu beobachten. Mehr als wichtig. Lebensnotwendig.

»Attention! Le train des sept heures ... «

Das war jetzt die letzte Ansage, die über die Lautsprecher kam. Gleichzeitig rollte auf dem Nebengleis ein Zug aus Lausanne ein. In wenigen Augenblicken würde der ganze Bahnsteig von Touristen wimmeln, die für das Wochenende nach Genf strebten, so wie die Leute aus den Midlands in den Charing-Cross-Bahnhof strömten, um sich ein paar interessante Tage in London zu machen, dachte der Mann an der Säule.

Jetzt hielt der Zug aus Lausanne. Aus den Türen quoll ein Menschenstrom und überschwemmte den Bahnsteig.

Plötzlich war die Gestalt des großen Amerikaners im Vorraum von Wagen sieben zu sehen. Ein Gepäckträger, der die Koffer eines Reisenden trug, versperrte ihm an der Tür den Weg. Unter normalen Umständen hätte das vielleicht einen Wortwechsel ausgelöst. Aber die Umstände waren für Holcroft nicht normal. Er ließ keinerlei Ärger erkennen; sein Gesicht war gefaßt, reagierte nicht auf die Umgebung, die seine Augen zwar wahrnahmen, die ihn aber nicht zu betreffen schien. Es war, als wäre er von der Gegenwart völlig losgelöst; ein tiefes Erstaunen hielt ihn in Bann. Das zeigte auch die Art und Weise, wie er den dicken Umschlag an sich drückte, wie die Hand sich um seinen Rand bog, wie seine Finger sich mit solcher Gewalt in das Papier preßten, daß sie eine Faust bildeten.

Dieses Schriftstück, vor einem Menschenleben verfaßt, war die Ursache seiner Betroffenheit. Es war das Wunder, auf das sie gewartet hatten, für das sie gelebt hatten — der Mann an der Säule und jene, die ihm vorangegangen waren. Mehr als dreißig Jahre der Erwartung. Jetzt war es endlich ans Licht des Tages gekommen!

Die Reise hatte begonnen.

Holcroft reihte sich in den Strom aus Menschenleibern ein, der sich auf den Aufgang zu bewegte. Obwohl er von allen Seiten angerempelt wurde, nahm er die Masse überhaupt nicht zur Kenntnis, und seine Augen blickten geistesabwesend nach vorn. Ins Leere.

Plötzlich erschrak der Mann an der Säule. Jahre der Ausbildung hatten ihn gelehrt, nach dem Unerwarteten Ausschau zu halten, dem winzigen Bruch im normalen Ablauf der Dinge. Und diesen Bruch sah er jetzt. Zwei Männer, deren Gesichter ganz anders waren als die rings um sie, freudlos, ohne Neugierde oder Erwartung, nur von feindseliger Absicht erfüllt.

Sie drängten sich hintereinander durch die Menge. Ihre Augen waren auf den Amerikaner gerichtet; sie waren hinter ihm her! Der Mann vorn hatte die rechte Hand in der Tasche. Der Mann dahinter verbarg seine linke Hand an seiner Brust unter dem aufgeknöpften Mantel. Die unsichtbaren Hände umklammerten Waffen! Davon war der Mann an der Säule überzeugt.

Er löste sich mit einem Satz von dem Betonpfeiler und warf sich in die Menge. Es galt jetzt, keine Sekunde zu verlieren. Die beiden Männer rückten Holcroft näher. Sie hatten es auf den Umschlag abgesehen! Das war die einzige Erklärung ihrer Zielstrebigkeit. Und das bedeutete, daß die Nachricht von dem Wunder irgendwo durchgesickert war! Das Schriftstück in jenem Umschlag hatte einen unschätzbaren Wert. Im Vergleich damit war das Leben des Amerikaners von solcher Belanglosigkeit, daß die beiden keinen Gedanken daran verschwenden würden, dieses auszulöschen. Die Männer, die Holcroft immer näherkamen, würden ihn, ohne zu denken, um des Umschlags willen töten, so als entfernten sie ein lästiges Insekt von einem Goldbarren. Und das war gedankenlos! Was sie nicht wußten, war, daß das Wunder ohne den Sohn Heinrich Clausens nicht geschehen würde!

Sie waren jetzt nur noch wenige Meter von ihm entfernt! Der Mann mit den schwarzweiß gesprenkelten Augenbrauen stürzte sich wie ein wildes Tier durch den Strom der Touristen. Er stieß mit Leuten und Gepäck zusammen, fegte alles und jeden beiseite. Als er den Killer, dessen Hand immer noch unterm Mantel verborgen war, erreichte, schob er die Hand in die Tasche. Er griff nach seiner Pistole und brüllte:

»Du suchst Clausens Sohn! Das Genfer Dokument!«

Der Killer hatte bereits die Hälfte des Aufgangs hinter sich, nur noch wenige Meter trennten ihn von dem Amerikaner. Er hörte die Worte, die ein Fremder ihm zubrüllte, und fuhr herum, die Augen vor Schrecken geweitet.

Der Menschenstrom schob sich schnell in Richtung Bahnsteigsperre, floß um die zwei offensichtlichen Feinde herum. Angreifer und Beschützer standen jetzt wie in einer Miniaturarena, standen sich gegenüber. Der Beschützer betätigte den Abzug der Waffe in seiner Tasche, drückte dann noch einmal ab. Die spuckenden Laute waren kaum zu hören, als das Tuch des Mantels zerriß. Zwei Kugeln bohrten sich in den Körper des Mannes, der Holcroft hatte angreifen wollen, eine in den Unterleib und die andere in den Hals. Die erste ließ den Mann sich zusammenkrümmen, die zweite riß seinen Kopf zurück, fetzte seine Kehle auf.

Das Blut schoß mit solcher Gewalt aus der Halswunde, daß es die Gesichter der Menschen um ihn besudelte wie auch ihre Kleider und Koffer. Es spritzte auf den Boden, bildete Pfützen und Rinnsale zwischen ihren Schuhen. Schreckensschreie erfüllten die Luft.

Der Beschützer spürte, wie eine Hand ihn an der Schulter packte, sich in sein Fleisch bohrte. Er fuhr herum; der zweite Angreifer bedrohte ihn jetzt, aber er hielt keine Pistole in der Hand: die Klinge eines Jagdmessers zuckte auf ihn zu.

Ein Amateur, dachte der Beschützer, während seine Reaktionen - Instinkte, in Jahren der Ausbildung entwickelt — automatisch abliefen. Blitzschnell trat er zur Seite — wie ein Stierkämpfer, der den Hörnern ausweicht — und umklammerte mit der linken Hand das Handgelenk des Angreifers, riß die Rechte aus der Tasche und packte die Finger, die sich um den Messergriff krampften. Er bog das Handgelenk nach unten, quetschte die Finger wie im Schraubstock fest, daß die Haut aufplatzte, und drückte die Klinge nach innen. Er stieß sie dem Mann in das weiche Fleisch seines Unterleibs und zog den scharfen Stahl schräg nach oben gegen den Brustkasten, trennte die Herzarterien ab. Das Gesicht des Mannes verzerrte sich; ein schrecklicher Schrei hob an und wurde vom Tod erstickt.

Der Höllenlärm steigerte sich zum Chaos. Das viele Blut überall scheuchte die Menschen in Hysterie auseinander. Der Beschützer wußte genau, was zu tun war. Er warf wie in Panik die Hände hoch, wie außer sich über den Anblick von Blut auf seinen Kleidern, und mischte sich unter die hysterische Menge, die wie eine Herde erschreckter Schafe nach allen Seiten davonstob.

Er rannte den Aufgang hinauf, an dem Amerikaner vorbei, dessen Leben er gerade gerettet hatte.

Holcroft hörte die Schreie. Sie durchdrangen die betäubenden Nebel, von denen er sich eingehüllt fühlte: Dunstwolken, die um ihn herumwirbelten, sich wie Schleier vor seine Augen legten und ihm das Denken unmöglich machten.

Er versuchte, zum Zentrum des Schreckens vorzudringen, aber die hysterische Menge hinderte ihn daran. Er wurde den Aufgang hinaufgeschoben und gegen eine Betonmauer gedrückt, die als Geländer diente. Er hielt sich daran fest und blickte zurück, konnte sich aber kein Bild davon machen, was passiert war. Er sah, wie ein Mann dort unten sich nach hinten bog, sah das Blut aus seiner Kehle hervorschießen, sah, wie ein zweiter Mann vorwärts stürzte, den Mund vor Schmerz verzerrt, und dann konnte Noel nichts mehr erkennen, weil die Flut der Leiber ihn weiter nach oben spülte.

Ein Mann rannte an ihm vorbei, rempelte ihn an der Schulter an. Holcroft drehte sich herum und fing gerade noch einen verschreckten Blick unter einem Paar dichter, schwarzweiß gesprenkelter Brauen auf.

Eine Gewalttat hatte sich ereignet. Aus einem versuchten Raub war mehr geworden, Körperverletzung, vielleicht sogar Totschlag. Das friedliche Genf war ebensowenig gegen Gewalt gefeit wie die wilden Straßen des nächtlichen New York oder die armseligen Gassen von Marrakesch.

Aber Noel konnte sich nicht mit solchen Gedanken aufhalten. Er durfte sich da nicht hineinziehen lassen. Für ihn galt es jetzt, andere Dinge zu bedenken. Die Nebel der Benommenheit kehrten zurück. Und durch die Nebel begriff er vage, daß sein Leben nie wieder so wie zuvor sein würde.

Er umfaßte den Umschlag fester und ließ sich von der schreienden Masse mitreißen, der Bahnsteigsperre entgegen.

3.

Die riesige Düsenmaschine überflog die Kap-Breton-Insel und kippte dann leicht nach links ab, wechselte auf die neue Höhe und Flugroute. Der Kurs ging jetzt nach Südwesten, auf Halifax und Boston zu und dann nach New York.

Holcroft hatte die meiste Zeit in der Lounge über dem Passagierraum verbracht, in einem Sessel für sich in der rechten hinteren Ecke, wo sein schwarzer Aktenkoffer an der Wand lehnte. Es war dort leichter, sich zu konzentrieren, und dort war es auch unwahrscheinlich, daß der Blick eines Mitreisenden auf die Papiere fiel, die er las und immer wieder las.

Er hatte mit dem Brief von Heinrich Clausen angefangen, diesem unglaublichen Dokument. Die Information, die der Brief enthielt, war so alarmierend, daß Manfredi ihm gegenüber den Wunsch des gesamten Direktoriums der Grande Banque zum Ausdruck gebracht hatte, er solle vernichtet werden. Er enthüllte nämlich pauschal die Herkunft der Millionen, die vor drei Jahrzehnten in Genf angelegt worden waren. Obwohl die meisten Mittelsmänner juristisch nicht mehr belangt werden konnten — Diebe und Mörder, die den Staatsschatz einer Regierung stahlen, die selbst von Dieben und Mördern geleitet wurde -, gab es doch noch einige, die dem Zugriff der Behörden keineswegs entzogen waren. Während des ganzen Krieges hatte Deutschland geplündert, innerhalb und außerhalb seiner Grenzen.

Innerhalb der Grenzen hatte man konfisziert; die Besiegten außerhalb unbarmherzig bestohlen. Wenn diese Räubereien jetzt ans Licht gezerrt wurden, konnte der Internationale Gerichtshof in Den Haag die Mittel auf Jahre hinaus einfrieren, während endlose Prozesse geführt wurden.

»Vernichten Sie den Brief«, hatte Manfredi in Genf gesagt. »Er sollte Ihnen nur die Gründe seines Handelns begreiflich machen. Die Kenntnis seiner Methoden bringt Ihnen überhaupt nichts. Aber es gibt Leute, die möglicherweise versuchen, Ihnen in die Quere zu kommen. Schließlich geht es hier um Hunderte von Millionen.«

Noel las den Brief jetzt vielleicht zum zwanzigstenmal. Jedesmal versuchte er, sich dabei ein Bild von dem Mann zu machen, der ihn geschrieben hatte. Sein leiblicher Vater. Er hatte keine Ahnung, wie Heinrich Clausen ausgesehen hatte; seine Mutter hatte sämtliche Fotografien vernichtet, alle Briefe und Aufzeichnungen, jeglichen Hinweis auf den Mann, den sie mit ihrem ganzen Wesen haßte.

Berlin, 20. April 1945

MEIN SOHN

Ich schreibe diese Zeilen, während an allen Fronten die Armeen des Reiches zusammenbrechen. Berlin wird bald fallen, eine Stadt, in der überall das Feuer lodert und der Tod wütet. So seies. Ich will keinen Augenblick auf das verschwenden, was war oder was hätte sein können. Ich will nicht reden von korrumpierten Ideen und dem Triumph des Bösen über das Gute infolge des Verrats moralisch bankrotter Führer. Vorwürfe, die in der Hölle geboren werden, sind verdächtig, und nur zu leicht schreibt man sie dem Teufel zu.

Statt dessen sollen meine Taten für mich sprechen. Vielleicht findest Du in ihnen einen Rest von Stolz. Darum bete ich.

Wir müssen für Wiedergutmachung sorgen, davon bin ich jetzt fest überzeugt. Ebenso wie meine zwei liebsten Freunde, die in dem beigefügten Schriftstück genannt werden. Wiedergutmachung für unser Vernichtungswerk, für so ruchlose Taten, daß die Welt sie nie vergessen wird. Und nie verzeihen. Wir haben das, was wir inzwischen getan haben, getan, um wenigstens teilweise Vergebung zu finden.

Vor fünf Jahren hat Deine Mutter eine Entscheidung getroffen, die ich nicht begreifen konnte, so blind war ich damals der Bewegung und der neuen Ordnung ergeben. Vor zwei Wintern—im Februar 1943—erwiesen sich die Worte, die sie im Zorn sprach und die ich hochmütig als Lügen abtat, die jene ihr eingeflößt hatten, die das Vaterland verachteten, erwiesen sich jene Worte als wahr. Man hatte uns getäuscht, uns, die wir in den höchsten Kreisen der Finanz und der Politik tätig waren. Seit zwei Jahren schon ist es klar, daß Deutschland besiegt werden wird. Wir redeten uns ein, es werde anders kommen, aber in unserem Herzen wußten wir, daß es so war. Andere wußten es auch. Das Schreckliche trat ans Licht, die Täuschung wurde immer deutlicher.

Vor fünfundzwanzig Monaten ersann ich einen Plan und sicherte mir die Hilfe meiner lieben Freunde im Finanzministerium. Sie unterstützten mich bereitwillig. Unser Ziel war es, riesige Geldbeträge in die neutrale Schweiz umzulenken, Mittel, die eines Tages dazu eingesetzt werden konnten, jenen Tausenden und Abertausenden Hilfe und Unterstützung zuteil werden zu lassen, deren Leben durch gemeine Verbrechen zerstört worden waren, die Tiere im Namen Deutschlands begangen hatten, Tiere, die nichts von deutscher Ehre wußten.

Jetzt wissen wir um die Lager. Ihre Namen werden wie Fanale des Bösen in die Geschichte eingehen. Belsen, Dachau, Auschwitz.

Wir haben von den Massenexekutionen gehört, von den hilflosen Männern, Frauen und Kindern, die man vor Gräben stellte, die sie mit eigenen Händen hatten graben müssen, und die dann hingeschlachtet wurden.

Wir haben von den Öfen gehört —o Gott im Himmel—, Öfen für menschliches Fleisch! Von den Duschen, aus denen nicht reinigendes Wasser, sondern tödliches Gas sprühte. Von schrecklichen, obszönen Experimenten, die Wahnsinnige an menschlichen Wesen bei vollem Bewußtsein durchführten, Wahnsinnige, die sich einer Medizin verschrieben hatten, wie sie Menschen unbekannt ist. Unser Herz blutet bei dieser Vorstellung und unsere Augen drohen zu bersten, aber unsere Tränen können nichts bewirken. Doch unser Geist ist nicht so hilflos. Wir können Pläne machen.

Wir müssen für Wiedergutmachung sorgen.

Leben können wir nicht wiederherstellen. Wir können das nicht zurückbringen, was so brutal, so bösartig genommen wurde. Aber wir können all jene suchen, die überlebten, und die Kinder jener, ob sie nun überlebten oder hingeschlachtet worden sind, und können dann tun, was wir können. Auf der ganzen Welt muß man sie suchen und ihnen zeigen, daß wir nicht vergessen haben. Wir empfinden tiefe Scham und wollen helfen. Auf jede nur mögliche Weise. Zu diesem Zweck haben wir das getan, was wir getan haben. Ich glaube keinen Augenblick lang, daß unser Handeln uns von unseren Sünden reinwaschen kann, von jenen Verbrechen, an denen wir, ohne es zu wissen, beteiligt waren. Und doch tun wir, was wir können — ich tue, was ich kann -, jeden Augenblick von der Einsicht Deiner Mutter geplagt. Warum, o ewiger Gott, warum habe ich nicht auf jene große, gute Frau gehört?

Doch zurück zu unserem Plan.

Unter Zugrundelegung des amerikanischen Dollars als Währungsparität war ein Betrag von zehn Millionen monatlich unser Ziel, eine Zahl, die überhöht erscheinen mag, es aber nicht ist, bedenkt man, welch ungeheuere Kapitalmengen im Krieg durch das Labyrinth des Finanzministeriums flossen. Wir haben unser Ziel übertroffen.

Durch das Finanzministerium beschafften wir unsere Mittel aus Hunderten von Quellen im Reich und außerhalb des Reiches, überall eben innerhalb der sich stets ausweitenden Grenzen Deutschlands. Steuergelder wurden in andere Kanäle gelenkt, riesige Ausgaben seitens des Reichsministeriums für Bewaffnung und Munition für nicht existente Kaufverträge getätigt, Löhnung für Soldaten wurde umgeleitet, und Gelder, die in die besetzten Gebiete geschickt wurden, verschwanden einfach, gingen verloren. Gelder von enteigneten Anwesen und aus den großen Vermögen, den Fabriken und den Privatgesellschaften fanden ihren Weg nicht in den Wirtschaftskreislauf des Reiches, sondern wanderten auf unsere Konten. Erlöse aus den Verkäufen von Kunstgegenständen aus Dutzenden von Museen überall in den besetzten Gebieten wurden unserer Sache zugeführt. Es war ein meisterhafter Plan, der auch meisterhaft durchgeführt wurde. Alles Risiko, das wir auf uns nahmen, all das Schreckliche, das wir fürchteten — und das täglich -, war belanglos im Vergleich zu unserem unerschütterlichen Glauben: wir müssen für Wiedergutmachung sorgen.

Und doch darf kein Plan als erfolgreich bezeichnet werden, solange sein Ziel nicht endgültig erreicht ist. Eine militärische Strategie, die zur Einnahme eines Hafens führt, der dann einen Tag darauf einer Invasion über See zum Opfer fällt, ist überhaupt keine Strategie. Man muß alle nur möglichen Angriffspunkte bedenken, alle Störmöglichkeiten, die die eigene Strategie scheitern lassen könnten. Man muß die Veränderungen, die die Zeit mit sich bringen wird, vorhersehen, so gründlich und so sorgfältig dies möglich ist, und muß das bis dahin erreichte Ziel schützen. Im Grunde genommen muß man die Zeit dazu benutzen, seine Strategie zu sichern. Wir haben uns vermittels der in dem beigefügten Dokument näher geschilderten Umstände darum bemüht.

Möge der allmächtige Gott es erlauben, daß wir den Opfern oder den sie Überlebenden früher helfen können, als unsere Vorherschau verspricht, aber dies zu tun, hieße die Aufmerksamkeit auf die Summen lenken, die wir uns angeeignet haben. Und dann könnte alles verloren sein. Ein Menschenalter muß vergehen, damit unsere Strategie Erfolg haben kann. Selbst dann ist es noch riskant, aber die Zeit wird das Risiko bis dahin gemindert haben.

Die Luftschutzsirenen heulen ihr ewiges Lied. Weil ich gerade von Zeit spreche, davon bleibt jetzt nur noch sehr wenig. Denn ich und meine zwei Kollegen, wir warten nur noch auf die Bestätigung, daß dieser Brief Zürich über einen Kurier im Untergrund erreicht hat. Nach Erhalt dieser Nachricht haben wir unsere eigene Vereinbarung. Unseren Pakt mit dem Tod von eigener Hand.

Erhöre mein Gebet. Hilf uns Buße tun. Wir müssen für Wiedergutmachung sorgen.

Dies ist unser Vertrag, mein Sohn. Mein einziger Sohn, den ich nie gekannt habe, dem ich aber so viel Leid gebracht habe. Befolge jetzt meinen Wunsch, respektiere ihn, denn was ich von Dir verlange, ist etwas Ehrenwertes.

Dein Vater

HEINRICH CLAUSEN

Holcroft legte den Brief mit der Schrift nach unten auf den Tisch und blickte zum Fenster hinaus in den blauen Himmel über den Wolken. In weiter Ferne waren die Kondensstreifen eines anderen Flugzeugs zu erkennen; er folgte mit den Augen dem Streifen, bis er den winzigen silbernen Schimmer sehen konnte, der das andere Flugzeug war.

Er dachte über den Brief nach. Erneut. Die Worte klangen sentimental, es waren Worte aus einer anderen Zeit, melodramatische Formulierungen. Das schwächte den Brief nicht ab, keineswegs, es verlieh ihm eher eine gewisse Überzeugungskraft. Clausens Redlichkeit stand außer Zweifel; seine Empfindungen waren echt.

Was die Zeilen jedoch nur teilweise vermittelten, war die Brillanz des Planes selbst. Brillant in seiner Einfachheit, außergewöhnlich in seinem Ausnützen der Zeit und der Gesetze der Bankwelt, um gleichzeitig die Durchführung des Plans und den Schutz der Beute sicherzustellen. Denn die drei Männer begriffen, daß Summen Geldes von der Größenordnung, wie sie sie gestohlen hatten, nicht einfach in einem See versenkt oder in einem Panzerschrank vergraben werden konnten. Die Hunderte von Millionen mußten auf dem Finanzmarkt existieren, mußten frei sein von der Gefahr irgendwelcher Währungsänderungen oder von Maklern, die fallende Papiere verkaufen mußten.

Also galt es, das Geld in harter Währung zu deponieren, und die Verantwortung für seine Sicherheit mußte einer der am höchsten geschätzten Institutionen der Welt übertragen werden.

La Grande Banque de Genève. Eine solche Institution würde nicht — konnte einfach nicht — zulassen, daß die Liquidität gefährdet wurde. Sie war gleichsam ein Fels im wogenden Meer der internationalen Wirtschaft. Alle Bedingungen ihres Vertrages mit den Depositären würden auf den Buchstaben genau befolgt werden. Alles mußte in den Augen der Schweizer Gesetze streng legal sein. Geheim —wie es in diesem Gewerbe üblich war -, aber in bezug auf existierende Vorschriften niet- und nagelfest, und damit auch zeitgemäß. Die Zielsetzung des Vertrages — des Dokuments —durfte nicht in Gefahr geraten, mußte getreulich erfüllt werden.

Korruption oder Mißbrauch waren auszuschließen. Dreißig Jahre... fünfzig Jahre ... in der Zeitrechnung der Finanzwelt war das in der Tat eine sehr kurze Spanne.

Noel beugte sich vor und öffnete seinen Aktenkoffer. Er schob den Brief hinein und holte das Dokument der Grande Banque de Genève heraus. Es befand sich in einer Ledermappe, geborgen wie ein Letzter Wille, ein Testament — was es schließlich auch war — und noch einiges mehr. Er löste die Lasche, so daß er den Deckel aufklappen konnte und die erste Seite des Dokuments vor sich hatte.

Sein »Vertrag«, überlegte Holcroft.

Er überflog die Worte und Paragraphen, die ihm jetzt so vertraut waren, legte die Seiten dabei um und konzentrierte sich auf das Wesentliche.

Clausens zwei Kollegen bei dem riesigen Diebstahl hießen Erich Kessler und Wilhelm von Tiebolt. Die Namen waren wichtig, weniger um die zwei Männer selbst zu identifizieren, als vielmehr darum, das älteste Kind eines jeden ausfindig zu machen und mit ihm Kontakt aufzunehmen. Das war die erste Bedingung des Schriftstücks. Obwohl der einstweilen eingetragene Besitzer des Nummernkontos ein gewisser Noel C. Holcroft, amerikanischer Staatsbürger, war, durften Mittel nur nach Unterschrift aller drei ältesten Kinder herausgegeben werden. Und auch dann nur, wenn jedes Kind die Direktoren der Grande Banque davon überzeugte, daß er oder sie die Bedingungen und Ziele akzeptierte, die die Väter des Vertrags für die Zuweisung der Gelder getroffen hatten.

Wenn hingegen diese Abkömmlinge die Schweizer Direktoren nicht zufriedenstellten oder von ihnen für geschäftsunfähig gehalten wurden, sollten ihre Brüder und Schwestern unter die Lupe genommen und beurteilt werden. Kam man bezüglich aller Kinder zu dem Schluß, sie seien der Verantwortung nicht gewachsen, dann würden die Millionen noch ein Menschenalter liegenbleiben, und danach würden die Testamentsvollstrecker und die jetzt noch ungeborenen leiblichen Nachkommen der beiden Familien weitere versiegelte Instruktionen öffnen. Holcroft lief es eisig über den Rücken: noch ein Menschenalter.

DER LEGITIME SOHN VON HEINRICH CLAUSEN IST JETZT ALS NOEL HOLCROFT BEKANNT, EIN KIND, DAS BEI SEINER MUTTER UND EINEM STIEFVATER IN AMERIKA LEBT. GENAU ZU DEM ZEITPUNKT, DEN DIE DIREKTOREN VON LA GRANDE BANQUE DE GENÈVE GEWÄHLT HABEN — NICHT WENIGER ALS DREISSIG JAHRE UND NICHT MEHR ALS FÜNFUNDDREISSIG — IST MIT BESAGTEM LEGITIMEN SOHN VON HEINRICH CLAUSEN VERBINDUNG AUFZUNEHMEN UND IHM SEINE VERANTWORTUNG ZU ERKLÄREN. ER SEINERSEITS MUSS SEINE MITERBEN UND DAS KONTO GEMÄSS DEN FESTGELEGTEN BEDINGUNGEN AKTIVIEREN. ER SOLL AUCH DER MITTELSMANN SEIN, DURCH DEN DIE GELDER AN DIE OPFER DES MASSENSTERBENS AUSGEGEBEN WERDEN SOLLEN. SIE UND IHRE FAMILIEN UND ALLE ÜBERLEBENDEN NACHKOMMEN ...

Die drei Männer begründeten, weshalb sie Clausens Sohn als Vermittler ausgewählt hatten. Das Kind gehörte jetzt einer wohlhabenden Familie von gesellschaftlichem Rang an... einer amerikanischen Familie, die über jedem Verdacht stand. Alle Hinweise auf die erste Ehe seiner Mutter und ihre Flucht aus Deutschland waren von dem ihr ergebenen Richard Holcroft vertuscht worden. Man wußte, daß in diesem Sinne in London für einen männlichen Säugling namens Clausen unter dem Datum vom 17. Februar 1942 ein Totenschein ausgestellt worden war und dann anschließend in New York City eine Geburtsurkunde für das männliche Kind Holcroft. Die folgenden Jahre würden das Ihre dazu tun, die Ereignisse immer mehr verblassen zu lassen und schließlich ganz auszulöschen. Der männliche Säugling Clausen würde eines Tages der Mann Holcroft werden, ohne sichtbare Beziehung zu seinem Ursprung. Und doch konnte man diesen Ursprung nicht leugnen, und deshalb war er die perfekte Wahl. Er erfüllte sowohl die Voraussetzungen als auch die Zielsetzungen des Dokuments.

Eine internationale Agentur sollte in Zürich eingerichtet werden und als Zentrale für die Verteilung der Mittel dienen. Die Herkunft der Mittel sollte für immer geheim bleiben. Sollte es sich als notwendig erweisen, daß jemand als Sprecher auftrat, so sollte diese Aufgabe Holcroft zufallen, denn die anderen durften nie namentlich erwähnt werden. Niemals. Sie waren die Kinder von Nazis, und wenn das ruchbar wurde, so würde dies unzweifelhaft zu Forderungen führen, das Konto zu überprüfen und die verschiedenen Quellen, aus denen es gespeist worden war, bekanntzugeben. Und wenn es dazu kam, wenn auch nur Andeutungen auf die Herkunft der Gelder nach außen drangen, würde man sich an vergessene Konfiskationen und Räubereien erinnern. Die internationalen Gerichte würden von einer Flut von Prozessen überschwemmt werden.

Aber wenn der Sprecher ein Mann ohne den Makel des Nazis war, gab es keinen Anlaß zur Unruhe, keine Untersuchungen, keine Forderungen, in der Vergangenheit herumzuwühlen oder gar Prozesse anzustrengen. Er würde im Einklang mit den anderen handeln, und jeder besäße in allen Entscheidungen eine Stimme, aber er allein wäre sichtbar. Die Kinder von Erich Kessler und Wilhelm von Tiebolt sollten anonym bleiben.

Noel fragte sich, was für Menschen Kesslers und von Tiebolts Kinder wohl sein mochten. Er würde es bald erfahren.

Die Bedingungen am Ende des Dokuments waren nicht weniger erstaunlich als alles Vorangegangene. Alle Gelder sollten binnen sechs Monaten nach Freigabe des Kontos zugeteilt werden. Diese Auflage würde den vollen Einsatz aller drei Nachkommen erfordern, und genau das war es auch, was die Depositäre forderten: vollen Einsatz für die Sache. Das aber war ein Eingriff in die Lebensläufe der Ausführenden und würde Opfer verlangen. Dieser Einsatz mußte bezahlt werden. Deshalb sollte am Ende der sechs Monate und nach der erfolgreichen Zuteilung der Mittel an die Opfer des Naziregimes die Zürcher Agentur ihre letzte Aufgabe erfüllen und an jeden der drei Nachkommen die Summe von zwei Millionen Dollar auszahlen.

Sechs Monate. Zwei Millionen Dollar.

Zwei Millionen.

Noel überlegte, was das persönlich und beruflich für ihn bedeutete. Das hieß Freiheit. Manfredi hatte in Genf gesagt, er sei talentiert. Er war talentiert, aber sein Talent ging häufig im Endprodukt unter. Er hatte Aufträge annehmen müssen, die er lieber abgelehnt hätte, hatte in seiner Arbeit Kompromisse eingehen müssen, wo der Architekt in ihm anders gehandelt hätte; und umgekehrt war er gezwungen gewesen, Aufträge, an denen ihm gelegen war, aus finanziellen Gründen abzulehnen. Er war im Begriff, zum Zyniker zu werden.

Nichts war von Dauer; die Amortisation ging Hand in Hand mit Wertminderung. Niemand wußte das besser als ein Architekt, der einmal ein Gewissen gehabt hatte. Vielleicht würde er sein Gewissen wiederfinden. Wenn er frei war. Mit den zwei Millionen.

Holcroft staunte über den Weg seiner Gedanken. Er hatte seine Entscheidung getroffen, was er eigentlich erst nach gründlicher Überlegung vorgehabt hatte. Alles hatte er bedenken wollen. Und doch wollte er jetzt ein abhanden gekommenes Gewissen mit Geld zurückhaben, das von sich weisen zu können er überzeugt gewesen war.

Was für Menschen waren sie, die ältesten Kinder von Erich Kessler und Wilhelm von Tiebolt? Das eine war eine Frau; das andere ein Mann, ein Wissenschaftler. Aber abgesehen von diesen Unterschieden in Geschlecht und Beruf: sie waren Teil von etwas gewesen, das er nie gekannt hatte. Sie waren dabeigewesen, hatten es gesehen. Keiner von beiden war zu jung gewesen, um sich nicht daran zu erinnern. Beide hatten sie in jener fremdartigen, dämonischen Welt des Dritten Reiches gelebt. Da gab es so viele Fragen, die er ihnen würde stellen müssen.

Fragen?

Er hatte seine Entscheidung getroffen. Er hatte Manfredi gesagt, er brauche Zeit — mindestens ein paar Tage -, ehe er sich entscheiden konnte.

»Haben Sie denn wirklich eine Wahl?« hatte ihn der Schweizer Bankier gefragt.

»Selbstverständlich habe ich die«, hatte Noel geantwortet. »Ich stehe nicht zum Verkauf, gleichgültig, wie die Umstände auch liegen. Und Drohungen, die vor dreißig Jahren von Verrückten ausgestoßen wurden, machen mir keine Angst.«

»Das sollen sie auch nicht. Sprechen Sie mit Ihrer Mutter darüber. «

»Was?« Holcroft staunte. »Sie haben doch gesagt...«

»Völlige Geheimhaltung? Ja, aber Ihre Mutter ist die einzige Ausnahme.«

»Warum? Ich hätte geglaubt, sie wäre die Letzte... «

»Sie ist die Erste. Und die Einzige. Sie wird schweigen. «

Manfredi hatte recht gehabt. Wenn er sich für ein Ja entschied, mußte er die Arbeiten seines Büros auf eine Weile unterbrechen und herumreisen, um Verbindung mit den Nachkommen Kesslers und von Tiebolts aufzunehmen. Das würde die Neugierde seiner Mutter wecken; und sie war nicht die Frau, ihre Neugierde zu unterdrücken. Sie würde Erkundigungen einziehen, und wenn sie zufällig — auch wenn die Wahrscheinlichkeit gering war — auf Informationen über die Millionen in Genf und Heinrich Clausens Rolle in dem gigantischen Diebstahl stieß, würde sie sehr heftig reagieren. Ihre Erinnerung an die paranoiden Verbrecher des Dritten Reiches waren ihrem Bewußtsein unauslöschbar eingeprägt. Wenn sie mit irgendwelchen Verlautbarungen an die Öffentlichkeit trat, würden die internationalen Gerichte die Gelder auf Jahre blockieren.

»Und wenn sie sich nicht überzeugen läßt?«

»Sie müssen sich eben Mühe geben. Der Brief ist überzeugend. Und wenn es nötig sein sollte, schalten wir uns ein. Jedenfalls ist es besser, wenn wir ihre Haltung von Anfang an kennen.«

Was für eine Haltung mochte das sein? Althene war alles andere als die typische Mutter, zumindest nach seiner eigenen Vorstellung von Müttern. Er hatte schon sehr früh im Leben erkannt, daß Althene anders war. Sie paßte nicht in das Schema einer wohlhabenden New Yorker Matrone. Die Äußerlichkeiten waren alle vorhanden oder waren es gewesen: die Pferde, die Boote, die Weekends in Aspen und in den Hamptons; aber es fehlte ihr das krampfhafte Bemühen, von immer mehr Leuten akzeptiert zu werden und gesellschaftliche Macht auszuüben.

Sie hatte das alles schon hinter sich. Sie hatte in den turbulenten dreißiger Jahren in Europa gelebt, eine junge, sorglose Amerikanerin, deren Familie nach der Depression noch etwas übrig hatte und sich fern ihrer weniger glücklichen Landsleute wohler fühlte. Sie hatten den englischen Hof ebenso wie die Emigranten-Salons in Paris gekannt ... und die schneidigen jungen Erben Deutschlands. Und aus jenen Jahren, die von Liebe, Erschöpfung, Abscheu und Wut geprägt waren, stammte ihre heitere Gelassenheit.

Althene war ein ganz besonderer Mensch, Freundin ebenso wie Mutter, wobei ihre Freundschaft nicht der dauernden Beteuerung bedurfte. Tatsächlich, dachte Holcroft, war sie ihm mehr Freundin als Mutter, eine Rolle, in der sie sich nie ganz wohl fühlte.

»Ich habe zu viele Fehler gemacht, mein Lieber«, hatte sie einmal lachend zu ihm gesagt, »um eine Autorität zu übernehmen, die nur auf Biologie beruht.«

Jetzt würde er sie bitten, sich dem Andenken eines Mannes zu stellen, den zu vergessen sie sich während eines großen Teils ihres Lebens alle Mühe gegeben hatte. Würde sie Angst davor haben? Das war unwahrscheinlich. Würde sie an den Zielen des Dokumentes zweifeln, das Ernst Manfredi ihm gegeben hatte? Doch wie konnte sie das, wenn sie den Brief von Heinrich Clausen gelesen hatte? Woran auch’immer sie sich erinnerte, seine Mutter war eine intelligente, einsichtige Frau. Alle Menschen konnten sich ändern, konnten Gewissensbisse bekommen. Das würde sie akzeptieren müssen, wie widerwärtig ihr das auch in diesem speziellen Fall sein mochte. Das Weekend hatte begonnen, morgen war Sonntag. Seine Mutter und sein Stiefvater verbrachten die Wochenenden in ihrem Landhaus in Bedford Hills. Er würde gleich morgen hinfahren und das notwendige Gespräch führen.

Und am Montag würde er die ersten Schritte tun auf einer Reise, die ihn wieder in die Schweiz zurückführte. Zu einer bis jetzt unbekannten Agentur in Zürich. Am Montag beginne die Jagd.

Noel rief sich den letzten Teil seines Gesprächs mit Manfredi ins Gedächtnis zurück.

»Die Kesslers hatten zwei Söhne. Der älteste, Erich — der nach dem Vater benannt wurde —, ist Professor für Geschichte an der Universität in Berlin. Der jüngere Bruder, Hans, ist Arzt in München. Nach allem, was wir wissen, genießen beide in ihrer Umgebung einen ausgezeichneten Ruf. Sie stehen sich sehr nahe. Wenn Erich von der Sache erfährt, besteht er vielleicht darauf, daß sein Bruder auch mit ins Vertrauen gezogen wird.«

»Ist das erlaubt?«

»In dem Dokument steht nichts, was es verbietet. Aber die Vergütung bleibt dieselbe, und jede Familie hat in allen Entscheidungen nur eine Stimme.«

»Was ist mit den von Tiebolts?«

»Das ist eine andere Geschichte, fürchte ich. Die könnten für Sie problematisch sein. Die Mutter und zwei Kinder flohen nach dem Krieg nach Rio de Janeiro. Vor fünf oder sechs Jahren sind sie verschwunden. Buchstäblich. Die Polizei verfügt über keinerlei Informationen. Keine Adresse, keine Geschäftsverbindungen und keine Eintragungen in irgendeiner größeren Stadt. Und das ist ungewöhnlich; die Mutter war eine Zeitlang recht erfolgreich. Niemand scheint zu wissen, was geschehen ist, oder wenn es jemand weiß, ist er nicht bereit, es zu sagen.«

»Sie sagten zwei Kinder. Wer sind sie?«

»Tatsächlich gibt es drei Kinder. Das jüngste, eine Tochter, Helden, ist nach dem Krieg in Brasilien geboren, offensichtlich in den letzten Tagen des Reiches gezeugt. Das älteste ist ebenfalls eine Tochter, Gretchen. Das mittlere Kind ist Johann, der Sohn.«

»Sie sagen, sie seien verschwunden?«

»Vielleicht ist das zu dramatisch formuliert. Wir sind Bankiers, keine Detektive. Unsere Nachforschungen waren nicht allzu gründlich. Und Brasilien ist ein großes Land. Ihre Nachforschungen müssen gründlich sein. Die Nachkommen beider Männer müssen gefunden und gründlich überprüft werden. Das ist die erste Bedingung in dem Dokument; wenn die nicht erfüllt wird, wird das Konto nicht freigegeben.«

Holcroft schloß die Ledermappe mit dem Dokument und schob sie in seinen Aktenkoffer. Dabei berührte seine Hand das Blatt mit dem Text in Blockschrift, den die Überlebenden der Wolfsschanze vor dreißig Jahren verfaßt hatten. Manfredi hatte recht. Es waren kranke, alte Männer, die versuchten, ihre letzte, verzweifelte Rolle in einem Drama der Zukunft zu spielen, die sie kaum verstanden. Wenn sie sie verstanden hätten, dann hätten sie an den >Sohn Heinrich Clausens< appelliert, nicht ihn bedroht. Die Drohung war das Rätselhafte. Warum die Drohung? Zu welchem Zweck? Aber auch hier mochte Manfredi recht haben. Das seltsame Papier hatte heute keine Bedeutung mehr. Es galt, andere Dinge zu überlegen.

Holcroft fing den Blick der Stewardeß auf, die an einem Tisch mit zwei Männern plauderte, und bedeutete ihr mit einer Handbewegung, daß er noch einen Scotch wolle. Sie lächelte freundlich, nickte und gab zu verstehen, daß sein Drink gleich komme. Er wandte sich wieder seinen Gedanken zu.

Die unvermeidlichen Zweifel drängten an die Oberfläche. War er bereit, praktisch ein Jahr seines Lebens einem Projekt zu widmen, das so ungeheuerlich war, daß er sich zuerst vergewissern mußte, ob er das Zeug dazu hatte, ehe er daran denken konnte, die Kinder Kesslers und von Tiebolts zu überprüfen — falls er die letzteren überhaupt fand. Manfredis Worte hallten in seinem Ohr. Haben Sie denn wirklich eine Wahl? Diese Frage ließ sich ebenso mit Ja wie mit Nein beantworten. Die zwei Millionen, die Freiheit für ihn bedeuteten, stellten eine Versuchung dar, der schwer zu widerstehen war, aber er würde das schaffen. Er war unzufrieden, ohne Zweifel, aber beruflich liefen die Dinge gut. Allmählich verbreitete sich sein Ruf. Immer mehr Auftraggeber anerkannten seine Fähigkeiten und erzählten möglichen neuen Auftraggebern von ihm. Was geschähe, wenn er plötzlich aufhörte? Welche Wirkung hätte es, wenn er sich Knall auf Fall von einem Dutzend Projekten zurückzog, um die er sich beworben hatte? Auch das waren Fragen, die es gründlich zu überlegen galt; er war kein Mensch, der nur ans Geld dachte.

Und doch begriff Noel, während seine Gedanken schweiften, wie nutzlos diese Gedanken waren. Verglichen mit seinem >Vertrag< waren diese Fragen belanglos. Ganz gleich, wie seine persönlichen Lebensumstände sein mochten, die Verteilung von Millionen an die Überlebenden einer Unmenschlichkeit, wie sie die Geschichte bisher nicht gekannt hatte, war seit langem überfällig; das war eine Verpflichtung, die man nicht so einfach von sich schieben konnte. Eine Stimme hatte über die Jahre hinweg nach ihm gerufen, die Stimme eines Mannes, den sein Gewissen folterte und der der Vater war, den er nie gekannt hatte. Aus Gründen, die er sich selbst nicht erklären konnte, konnte er sich dieser Stimme nicht verschließen; er konnte den gequälten Mann nicht einfach im Stich lassen. Er würde morgen früh nach Bedford Hills fahren und mit seiner Mutter sprechen.

Holcroft blickte sich nach der Stewardeß mit seinem Drink um. Sie stand an der schwach beleuchteten Theke, die in der Lounge der B-747 als Bar diente. Die beiden Männer vom Tisch hatten sich zu ihr gestellt, und bei ihnen war noch ein dritter. Weiter hinten saß ein vierter Mann still in einem Sessel und las Zeitung. Die zwei Männer, mit denen sich die Stewardeß