Der japanische Garten - Marie Louise Fischer - E-Book

Der japanische Garten E-Book

Marie Louise Fischer

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Beschreibung

Marie Louise Fischer vereint in diesem Buch vier Geschichten von Gefühlen und Leidenschaften, von Liebe und Ehe. Dr. Malthaus lebt sein Leben vor sich hin. Wie unzufrieden er mit seinem Leben eigentlich ist, erfährt er erst, als er Anja, die Frau mit dem kleinen japanischen Garten, kennenlernt. In einer anderen Geschichte ahnt ein Mann mit bereits ergrauten Schläfen nicht, dass dies kein Nachteil ist und welch sagenhafte Anziehungskraft ein alleinstehender, nicht mehr ganz junger Mann mit zwei Kindern auf das weibliche Geschlecht haben kann.Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-

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Marie Louise Fischer

Der japanische Garten

Roman

Originalausgabe

SAGA Egmont

Der japanische Garten

Der japanische Garten

Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof A/S

Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de) represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)

Originally published 1967 by F. Schneider, Germany

All rights reserved

ISBN: 9788711718537

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

Der japanische Garten

Er wußte nicht, wie unzufrieden er mit seinem Leben war, bevor er sie kennenlernte.

Um genau zu sein: es überkam ihn nicht im ersten Augenblick, sondern erst nach und nach. Je öfter er ihr begegnete, desto nagender wurde sein Gefühl von innerer Leere und Verdrossenheit. Bis es ihm bewußt wurde, dauerte es eine Weile. Es ging ihm, so diagnostizierte er sich selber, wie einem Menschen, der über Monate, ja, vielleicht sogar über Jahre hinaus an einer Blinddarmreizung leidet, ohne besonders darauf zu achten, bis es dann, eines Tages, zur Appendizitis kam, die nicht mehr wegzuleugnen war.

Der Vergleich mag etwas seltsam anmuten, aber Doktor Karl Malthaus war Arzt, praktischer Arzt, und er pflegte in medizinischen Terminologien zu denken. Seit acht Jahren war er verheiratet, und das Schicksal hatte ihn in diese trostlose kleine Industriestadt verschlagen, die ihm allerdings erst so trostlos erschien, seit Anja in sein Leben getreten war. Seinerzeit, als er eben geheiratet hatte und Renate ihr erstes Kind erwartete, war es ihnen beiden als ein Glücksfall erschienen, daß er hier diese gutgehende Praxis übernehmen konnte. Er liebte seine Frau, und er freute sich auf das Kind, und es war ihm nicht schwergefallen, seine Träume von einer Karriere als Facharzt oder gar als Wissenschaftler an den Nagel zu hängen. Aber jetzt, nach all den Jahren der Ehe und dem täglichen Umgang mit ungewaschenen, uneinsichtigen und unbelehrbaren Patienten, stellte sich ihm die Frage, ob es das wert gewesen war. Bald würde er vierzig sein, und sein Leben war ihm unter den Händen zerronnen. Jedenfalls kam es ihm so vor.

Zum erstenmal war er kurz nach dem Tod ihres Mannes zu Anja Miller gerufen worden. Anja war auf der Beerdigung zusammengebrochen. Ihre Schwester, eine unansehnliche, aber freundliche Person, hatte ihn holen lassen. Anja hatte nicht geweint und nicht eine Spur von Hysterie gezeigt, wie Dr. Malthaus es erwartet hatte. Sie war nur totenblaß gewesen und hatte am ganzen Leib gezittert. Ihre Augen, tiefdunkel und riesengroß in dem sehr weißen kleinen Gesicht, hatten ihn mit einem hilflosen und verletzlichen Ausdruck angesehen, der ihn sehr berührt hatte. Sie hatte zu sprechen versucht, ja, sogar zu lächeln, aber sie war unfähig gewesen, ein Wort hervorzubringen. Die Schwester hatte ihm berichtet, daß sie am offenen Grab in Ohnmacht gefallen war, aus der sie erst erwacht war, als man sie zu Hause auf ihr Bett gelegt hatte.

»Es war ein solcher Schreck!« sagte sie. »Ich dachte schon, sie wäre…« Aber sie hatte sich beherrscht und nicht ausgesprochen, daß sie Anjas Tod gefürchtet hatte.

Dr. Malthaus hatte versucht sie zu beruhigen, »Machen Sie sich nicht zu große Sorgen! Eine Kreislaufstörung. So etwas kommt vor. Wahrscheinlich waren die letzten Tage sehr strapaziös für die Patientin. Helfen Sie mir, bitte, sie freizumachen.«

Gemeinsam hatten sie die sehr schmale, zarte junge Frau aus ihrem schwarzen Gewand gepellt.

»Sie war so tapfer«, hatte die Schwester weiter berichtet, »sie ist immer so. Sie wollte sich nichts anmerken lassen, hat noch alle Formalitäten selbst erledigt, wollte keinen Trost entgegennehmen. Eigentlich wollte sie mich gar nicht hierhaben. Ich bin nur froh, daß ich trotzdem gekommen bin.«

Er hatte Herz und Lungen abgehorcht, ohne andere Symptome zu finden als jene, die in einer solchen Situation zu erwarten waren. »Jedenfalls sollten Sie sie in der nächsten Zeit nicht allein lassen.«

»Ich bleibe natürlich, obwohl mein Mann…« Wieder hatte die Schwester sich unterbrochen. »Aber er muß es eben einsehen.«

Dr. Malthaus hatte der Patientin eine Spritze gegeben und ein Rezept für Beruhigungs- und Stärkungsmittel aufgeschrieben. »Warten Sie, bis sie eingeschlafen ist«, hatte er gesagt, »das sollte sie wieder auf die Beine bringen.«

»Aber Sie kommen doch wieder, Herr Doktor?«

»Morgen nachmittag werde ich noch einmal nach ihr schauen.«

Aber damit war der Fall, der ihn anfangs kaum beeindruckt hatte, noch keinesfalls für ihn erledigt gewesen. Es zeigte sich, daß die Patientin an Anämie, Appetitlosigkeit und einer leichten Störung des Herzrhythmus litt. Normalerweise hätte er sie an einen Facharzt überwiesen, und er versuchte es auch.

Aber dagegen sträubte sie sich. »Ich kann es nicht, Herr Doktor«, sagte sie flehend, »ich kann es wirklich nicht!«

»Aber man wird Ihnen doch nicht weh tun, Frau Miller. Ich möchte einfach, daß Sie einmal gründlich untersucht werden.«

»Wozu? Ich weiß doch selber, was mir fehlt, und Sie wissen es auch!« Ihre Stimme war sanft und melodisch, aber sie hatte sie immer noch nicht ganz in der Gewalt; das Sprechen machte ihr deutlich Schwierigkeiten.

»Ich verstehe, daß der Tod Ihres Mannes Sie sehr erschüttert hat. Aber es gibt auch Anzeichen für eine gesundheitliche Störung, die…«

»Mein Mann ist untersucht worden! So oft. Und er hat Wochen in der Klinik gelegen. Aber es war alles vergebens. Sie wollen mir dasselbe doch nicht auch antun?«

»Ich bitte Sie, Frau Miller, das ist doch kein Vergleich!« Er wußte inzwischen, daß Egon Miller, sehr viel älter als seine junge Frau, an einer Leberzirrhose zugründe gegangen war. »Dann kommen Sie wenigstens demnächst in meine Praxis!«

Sie lächelte nur, und er wußte, daß sie das nicht tun würde. Er selber konnte sie sich auch nur schlecht in seinem nüchternen Wartezimmer unter seinen gewöhnlichen Patienten vorstellen, nicht einmal in seiner Ordination. Sie schien nur hierher zu gehören, in das gepflegte kleine Schlafzimmer mit den hellen Farben, zu dem ihre tiefdunklen Augen und das rabenschwarze Haar einen so auffallenden und sonderbaren Kontrast bildeten.

»Ich bin in Sorge um Sie«, sagte er also nur noch und merkte selber, daß es lahm klang.

»Das brauchen Sie nicht. Ich werde schon wieder ganz gesund werden. Wenn Sie mich nur nicht im Stich lassen.«

Das konnte er um so leichter versprechen, da sie privatversichert war. Ihr Mann war offenbar recht wohlhabend gewesen und hatte sie ohne materielle Sorgen zurückgelassen.

Als er das nächste Mal kam, führte ihre Schwester ihn in ein anderes Zimmer, das er zuvor noch nie betreten hatte. Danach verschwand sie sehr still, wie es ihre Art war.

Anja saß zwischen einem Berg bunter Kissen auf einer Couch und blickte ihm mit sanftem Lächeln entgegen. »Sie sehen, es geht mir schon viel besser!« sagte sie, und als sie ihm die Hand gab, rutschte der weite Ärmel ihres schwarzen Kimonos zurück und gab ihren schlanken weißen Arm bis zum Ellenbogen frei.

»Freut mich«, erwiderte er und kam sich vor wie ein Tölpel.

»Nehmen Sie doch Platz!« bat sie.

»Erst möchte ich Sie untersuchen.«

Folgsam stand sie auf, und jetzt erst, als sie die Augen von ihm abwandte, nahm er den Raum, in dem sie ihn empfangen hatte, wirklich wahr. Er war sehr hell, die Wände weiß und schmucklos, die Möbel, schlicht und modern, schienen aus Schweden zu stammen. Blickpunkt des Zimmers aber war die Fensterbank. Sie war fast einen Meter breit und sicher doppelt so lang und mit satter, dunkler Erde bedeckt. Auf ihr standen winzige Bäume, Eichen, Fächerahorn, Kiefern, ein kleines Birkenwäldchen und ein blühendes Mandelbäumchen. Sie waren so gepflanzt, daß der Eindruck einer harmonischen Landschaft entstanden war. Dazwischen gab es winzige Blumen, Moos und Steine, die wie Felsen wirkten, und durch die Anlage schlängelte sich ein Bach, der, unterirdisch gespeist, frisches Wasser über Kieselsteine plätschern ließ. Ein kunstvoll gedrechseltes hölzernes Brückchen führte von einem Ufer zum anderen. Die Illusion war vollkommen.

Anja hatte sein Staunen gespürt, ja, wohl auch erwartet. »Gefällt Ihnen mein japanischer Garten?« fragte sie, sich an der Tür umwendend. »Ich liebe ihn sehr.«

»Er ist wunderbar!«

»Ja, nicht wahr? Die Bäume sind Bonsais. Ich beschneide sie selber.« Mit einem leichten Schulterzucken fügte sie hinzu: »Das ist eine der wenigen Kunstfertigkeiten, die ich beherrsche.«

Er fragte nicht danach, wie der Bach zustande gekommen war; er konnte sich vorstellen, daß er von einer Pumpe betrieben wurde, die möglicherweise ihr verstorbener Mann installiert hatte.

Wie immer führte er ihre Untersuchung im Schlafzimmer durch, wobei von keiner Seite ein persönliches Wort fiel. Sie waren jetzt nur Arzt und Patientin. Als sie noch bettlägerig gewesen war, hatte er danach immer noch eine Weile bei ihr gesessen und, um sie zu entspannen, ein wenig mit ihr geplaudert. So folgte er ihr jetzt, nachdem sie wieder in ihren Kimono geschlüpft war, ganz selbstverständlich in das Zimmer mit dem japanischen Garten.

»Darf ich Ihnen etwas anbieten?« fragte sie und dann, fast im gleichen Atemzug, einen erschrockenen Ausdruck in den tiefdunklen Augen: »Oder haben Sie keine Zeit?«

Er lächelte beruhigend. »Ich werde sie mir nehmen!« Tatsächlich hatte er sie als letzte auf die Liste seiner Hauspatienten gesetzt, so daß nur seine Familie auf ihn warten mußte.

»Was möchten Sie?«

Er wäre nicht überrascht gewesen, wenn sie jetzt mit einer rituellen Teezeremonie begonnen hätte. Aber sie öffnete die Klappe eines niedrigen Schranks aus Eschenholz, und eine gut ausgestattete kleine Bar kam zum Vorschein.

»Einen Sherry?« fragte sie. »Nein, Sie ziehen sicher einen Scotch vor. Es ist auch Eis und Wasser da!«

Nach einem Blick auf seine Armbanduhr – es war schon sechs vorbei –, nahm er den verlockenden Vorschlag an, ließ sich den Whisky aber stark verdünnen. Sie selber trank nicht. Der Sessel, in dem er sich niederließ, war bequem. Er streckte die Beine von sich, trank in kleinen Schlucken und fühlte sich wohl. Sie sprachen wenig und beobachteten, wie sich sachte die Dämmerung über die kunstvolle Fensterlandschaft senkte.

Es war sehr still. Die Schwester, die er jeweils nur beim Eintritt zu Gesicht bekam, verstand es lautlos zu hantieren. Es schien weder Radio noch einen Fernseher zu geben. Er wußte nicht, ob es die Stille war, die ihn verzauberte, oder der Anblick des japanischen Gartens. Jedenfalls hätte er stundenlang so sitzen bleiben können und raffte sich erst auf, als es beinahe vollends dunkel geworden war und sie die eine Leuchte anknipste, die den Garten illuminierte. Das Licht brach den Zauber keineswegs, und es kostete ihn Willensanstrengung sich zu verabschieden.

In seinem eigenen Haus war es dann ganz wie immer. Die Zwillinge, Jockel und Hinkel, schon in ihren Schlafanzügen, tobten und zeterten, weil sie noch nicht zu Bett wollten. Karla, die Älteste, saß vor dem Fernseher und schrie, daß sie endlich Ruhe haben wollte. Seine Frau versuchte die Zwillinge zu bändigen, für die es jetzt, da sie den Vater heimkommen hörten, kein Halten mehr gab. Sie stürmten auf nackten Füßen die hölzerne Treppe hinunter, rannten gegen ihn an und klammerten sich an seine Beine, um Aufmerksamkeit für ihre Heldentaten des verflossenen Tages zu erlangen.

Renate kam ihnen nachgelaufen, die Pantöffelchen in der Hand und rief: »Zieht wenigstens eure Pantoffeln an! Ihr erkältet euch sonst noch! Ja, ja, wenn ihr brav seid, könnt ihr noch ein Viertelstündchen aufbleiben und Vati erzählen!« Erst als sie die Füßchen in das Schuhwerk gezwängt hatte, richtete sie sich auf, wandte das erhitzte Gesicht mit dem blonden, zerzausten Haar ihrem Mann zu und gab ihm einen raschen Kuß. »Oh, Whisky?« fragte sie ein wenig erstaunt.

»Ich habe mir einen kleinen Aperitif erlaubt«, erklärte er steif.

»Warum auch nicht?« gab sie vergnügt zurück. »Bitte, kümmere dich um die beiden! Wenn du sie dabei ins Bett bekommst, bist du ein Zaubermann. Ich muß in die Küche!« Dann rief sie, sehr laut, um den Fernseher zu übertönen: »Karla! Vati ist da! Willst du ihn nicht begrüßen? Mach endlich den Kasten aus!«

»Ja, ja, gleich!« ertönte die Stimme seiner Tochter. »Hört bloß auf mich zu stören! Es ist ja sowieso gleich aus.«

Renate verzog sich in die Küche, aus der kurz darauf die Klänge eines Transistorradios erschallten.

Karl Malthaus blieb nichts anderes übrig, als sich Jockel und Hinkel links und rechts unter den Arm zu klemmen und sie die Treppe hinauf in ihr Zimmer zu tragen. Niemand kümmerte sich darum, ob er dazu in Stimmung war oder nicht. Bisher hatte er sich immer gern mit den beiden Kleinen beschäftigt, wann immer er Zeit für sie hatte. Aber heute fand er ihre Schreierei schier unerträglich.

Oben angekommen stellte er sie unsanft auf den Boden, schüttelte sie und herrschte sie an: »Wollt ihr wohl endlich den Mund halten?«

Die Buben, ganz bestürzt, weil sie einen solchen Ton nicht gewohnt waren, wurden tatsächlich still und starrten den Vater an, als hätte er sich vor ihren Augen in ein Ungeheuer verwandelt.

Diese Blicke konnte er nicht etragen. »Na, na, na, ist ja schon gut«, sagte er, »war nicht so gemeint. Aber müßt ihr denn wirklich immer so laut sein? Wenn man den ganzen Tag schwer gearbeitet hat, will man am Abend seine Ruhe haben.«

Aus Hinkels Auge kullerte ein Tränchen.

Aber Jockel stemmte die Arme in die Hüften und erklärte trotzig: »Is ja gar nich wahr!«

»Was ist nicht wahr?«

»Daß du schwer arbeiten tust. Bist doch ein Doktor!«

»Du glaubst, nur Steine heben ist schwere Arbeit?«

»Und Häuser bauen und Kranfahren und … und … und…« Jockel gingen die Vergleiche aus.

»Das ist ein Irrtum, mein Sohn. Auch ein Doktor muß schuften. Das erkläre ich dir, wenn du älter geworden bist.«

»Aber ich wollte doch nur«, setzte Hinkel an, tapfer sein Schluchzen unterdrückend, »wollte doch nur…«

»Ins Bett mit euch, dann könnt ihr mir alles erzählen.« Karl Malthaus verstaute seine kleinen Söhne in die Betten.

Das Zimmer sah aus, als hätten sie eine Spielzeugschlacht darin geschlagen. Bauklötze lagen umher, aufgeschlagene Bilderbücher, Bälle, kleine Autos, eine hölzerne Lokomotive, Stoffpuppen, Steine aus dem Garten und zerfetztes Papier. Er wußte, daß sich Renate später, wenn die beiden Rangen erst eingeschlafen waren, auf Zehenspitzen hereinschleichen und alles aufräumen würde. Aber er fragte sich doch, ob es denn nicht möglich sein könnte, ihnen selber schon ein wenig Ordnung beizubringen.

Die Buben ließen ihm keine Sekunde Zeit zum Nachdenken.

»Du mußt Jockel op’rieren«, verlangte Hinkel, »Bauch aufschneiden!«

»Ach ja? Aber warum denn?«

»Damit er nicht sterbt!«

Der Vater fühlte Jockel die Stirn. »Bist du denn krank?«

»Bin ich nicht!«

»Biste doch!«

»Was ist denn los mit euch beiden?«

»Er hat ’nen Wurm verschluckt!« erklärte Hinkel mit vor Entsetzen und Bewunderung geweiteten Augen.

»Ist das wirklich wahr?«

»’nen ganz, ganz kleinen!« behauptete Jockel und zeigte eine doch recht beträchtliche Länge mit Daumen und Zeigefinger an. »Aber ich hab’ ihn vorher abgewaschen.«

Karl Malthaus runzelte die Stirn. Er wußte, daß Jockel ein kleiner Aufschneider war und glaubte nicht recht daran, daß er den Regenwurm wirklich gegessen hatte. Wahrscheinlich hatte er nur so getan, um seinen Bruder zu erschrecken und, möglicherweise, um die Eltern zu beeindrucken. »Schön dumm von dir«, sagte er deshalb nur.

»Muß er jetzt sterben?« fragte Hinkel eifrig.

»Nein. Regenwürmer sind nicht giftig. Manche Leute essen sie sogar zu Mittag. Aber natürlich gekocht.«

»Is das auch wahr?«

»Ja.«

»Siehste«, sagte Jockel, sehr mit sich zufrieden, »hab’ ich gleich gewußt!«

»Das sollte für dich aber doch kein Grund sein, einen rohen Regenwurm zu verschlingen. Warum hast du das getan?«

»Wollte mal fobieren, wie er schmeckt.«

»Aber, Jockel, du bist doch kein Baby mehr! Nur ganz kleine Babys stecken alles in den Mund, um es zu probieren.«

Jockel reckte die Schultern und ballte die kleinen Fäuste. »Bin schon ein großer Junge!«

»Na also. Dann laß den Quatsch! Oder soll ich eure Mutter bitten, dir morgen einen schönen Salat zu machen aus Regenwürmern, Spinnen, Käfern und Froschschenkeln?«

»Iiiihhh!« riefen beide Jungen gleichzeitig, schaudernd und amüsiert zugleich.

Karl Malthaus lachte. »Habe ich mir doch gedacht! Also Schluß mit dem Unsinn! Ich erzähle euch jetzt noch eine kleine Geschichte, und dann wird geschlafen.«

Als er die beiden endlich zur Ruhe gebracht hatte, war der Abendbrottisch in der Eßecke der Küche gedeckt.

Karla hatte sich von dem Fernseher gelöst und umarmte den Vater heftig. Sie war ein dünnes, großes Mädchen mit strahlendblauen Augen und langem, glatten blonden Haar. Ihre Erscheinung war elfenhaft, und Karl Malthaus wünschte sich sehr, daß ihr Benehmen entsprechend wäre. Aber sie erwehrte sich ihrer kleinen Brüder, seit sie auf den Beinen standen, mehr mit Grobheit, mit Püffen und Knüffen, statt mit Diplomatie. In der Schule mußte sie sich jetzt gegen Gleichaltrige durchsetzen und war noch rauher geworden. Sie hatte einige sehr schlimme Worte aufgeschnappt und scheute sich nicht, sie mit Engelsmiene auszusprechen.

»Laß dich mal ansehen«, sagte er und schob sie auf Armeslänge von sich, »ob du nicht schon einen viereckigen Kopf bekommen hast!«

Sie lachte unbekümmert. »Du hast ja keine Ahnung, wie spannend es war!« Sie sah ihn mit schiefgelegtem Kopf aufmerksam an. »Bist du mir etwa böse, weil ich dich nicht gleich begrüßt habe?«

»Ein bißchen enttäuscht. Deine Familie sollte dir eigentlich wichtiger sein als ein Fernsehspiel.«

»Oh, euch habe ich doch alle Tage«, erklärte sie mit schöner Offenheit, »aber das Stück ist schon aus.«

Renate merkte, daß seine Tochter ihn verletzt hatte, und machte ihm über Karlas Kopf hinweg mit einem lächelnden Augenzwinkern ein Zeichen, das Kind doch nur ja nicht ernst zu nehmen. Aber er erwiderte ihr Lächeln nicht.

Karla musterte inzwischen den Tisch. »Wo ist der Pudding von heute mittag?«

»Den haben deine Brüder verputzt. Als kleine Zwischenmahlzeit sozusagen.«

»Oh, Scheiße! Nicht schon wieder!«

»Karla!« sagte er streng.

»Ist was?«

»Wie oft habe ich dir schon verboten, dieses scheußliche Wort in den Mund zu nehmen!«

»Ist doch nichts dabei.«

»Ich glaube, ich sollte dir einmal erklären, was das überhaupt heißt.«

»Das ist kein sehr nettes Tischgespräch«, sagte Renate begütigend, »findet ihr nicht auch?«

»Du solltest deine Tochter besser erziehen! Deine Söhne übrigens auch.«

»Die kann man nicht erziehen, Vati«, erklärte Karla ernsthaft, »schlimm genug, daß wir sie ertragen müssen. Ich verstehe immer noch nicht, warum ihr sie euch überhaupt zugelegt habt.«

»Jetzt aber genug, Karla«, befahl die Mutter, »hör auf, das kleine Biest vom Dienst zu spielen! Ich weiß genau, daß du deine Brüder genauso liebhast wie wir dich. Und daß dir dein Vater wichtiger ist als der Fernseher. Also versuch mal ausnahmsweise, dich von deiner Schokoladenseite zu zeigen!«

Karla zuckte die Achseln. »Ich finde es einfach ungerecht, daß die immer alles kriegen und ich nicht.«

»Was … alles?«

»Den Pudding zum Beispiel.«

»Erstens war es nur ein kleiner Rest, und zweitens gibt es so vieles, was Jockel und Hinkel noch nicht essen dürfen … Ölsardinen zum Beispiel und Thunfisch und Tartar…«

»Ich finde, es besteht kein Grund zu irgendeiner Diskussion!« fuhr Karl Malthaus dazwischen. »Könnt ihr mich nicht, bitte, mein Essen in Ruhe verzehren lassen?«

Karla war noch nicht bereit aufzugeben. »Aber wir haben doch gar nichts getan!«

Renate gab ihr unter dem Tisch einen leichten Tritt gegen das Schienbein, worauf sie aufzuckte, dann aber tatsächlich verstummte. Aber Karl hatte es gemerkt und sah seine Frau so vernichtend an, daß sie errötete. Mit einer versöhnlichen Geste streckte sie die Hand aus und berührte ihn über den Tisch hinweg. Aber er tat so, als wäre er zu sehr mit Messer und Gabel beschäftigt, um es zu bemerken.

Das Ende der Mahlzeit verlief schweigend. Dann stand er auf und zog sich in sein Arbeitszimmer zurück.

»Was hat Vati bloß?« fragte Karla, während sie der Mutter half, den Tisch abzudecken.

»Er wünscht sich so sehr eine zärtliche, brave und manierliche kleine Tochter!«

»Aber ich bin, wie ich bin! Ich kann mich nicht dauernd verstellen!«

»Etwas mehr zusammennehmen könntest du dich schon.«

»Tut er ja auch nicht! Dieser blöde Witz mit dem viereckigen Fernsehkopf, wie oft er den schon gemacht hat! Bildet er sich ein, ich fände das lustig? Ich weiß doch, daß er mich damit nur ärgern will. Dabei sehe ich doch gar nicht so oft fern … nur halb so oft wie die anderen!«

»Aber leider meistens gerade dann, wenn er nach Hause kommt.«

»Weil gerade dann die schönsten Sendungen sind! Was vorher kommt, ist doch alles Kleinkinderkram. Wenn ich abends länger aufbleiben dürfte…«

»Bitte, Mäuschen, komm nicht wieder damit! Ich verstehe sehr gut, wie sehr du dir das wünschst. Ich kann es dir nachfühlen. Aber erstens bist du noch zu jung und zweitens mußt du morgens früh aufstehen…«

»Du immer mit deinem erstens und zweitens!« fiel Karla ihr ins Wort. »Sei doch wenigstens ehrlich! Vati will es nicht! Du würdest mich schon manchmal aufbleiben lassen, wenn am nächsten Tag keine Schule ist … wenigstens bis neun.«

»Dein Vater will nur dein Bestes, das mußt du doch einsehen. Er ist Arzt, und er weiß, wie schlecht Fernsehen gerade für junge Menschen ist.«

»Quatsch mit Senf! Es stört ihn bloß, wenn ich dabei bin. Er will seine heilige Ruhe haben.«

»Auf die hat er ja auch ein Recht nach einem langen Arbeitstag.«

»Du entschuldigst ihn mal wieder, das sieht dir ähnlich. Soll ich dir mal was sagen?« Karla knallte die leere Salatschüssel auf die Spülmaschine. »Er hat uns überhaupt nicht mehr lieb!«

Renate, die dabei gewesen war, das gebrauchte Geschirr einzuräumen, richtete sich auf. »Wie kannst du so etwas sagen?«

»Wenn es doch wahr ist! Sag bloß nicht, du hast es noch nicht gemerkt. Er ist ganz anders als früher. Weißt du nicht mehr, wie er noch lustig mit uns war? Jetzt gehen wir ihm nur noch auf die Nerven.«

Später, als Karla schon nach oben gegangen war, saß Renate allein am Küchentisch und dachte nach.

Ja, es stimmte, was die Kleine gesagt hatte: Karl hatte sich verändert. Jetzt wurde ihr bewußt, daß sie es selber auch bemerkt hatte. Nur hatte sie es nicht wahrhaben wollen. Was war mit ihm geschehen?

Ihr schoß der Verdacht durch den Kopf, daß er eine Geliebte haben könnte. Aber sie verwarf diesen Gedanken sogleich wieder. Sie kannte ihn zu gut. Nicht, daß sie ausschloß, daß er sich für eine andere Frau interessieren könnte. Er war ein Mann, der seine besten Jahre noch nicht erreicht hatte. Aber wenn er sie tatsächlich betröge, würde er ein schlechtes Gewissen dabei haben. Er würde doppelt herzlich zu ihr und den Kindern sein.

Sie konnte sich nicht mehr entsinnen, wann ihr seine Veränderung zuerst aufgefallen war. Die Wandlung hatte sich unmerklich vollzogen. Lag es daran, daß er sie nicht mehr liebte? Renate war klug genug zu wissen, daß Gefühle nicht stabil sind. Aber es war doch mehr, was sie verband, als nur die Liebe. Es war ihre Ehe, die Kinder, das gemeinsame Leben. Selbst wenn er ihrer überdrüssig war, würde er versuchen, es vor ihr zu verbergen.

Wahrscheinlich, dachte sie, lag es an ihr. Sie mußte etwas falsch gemacht haben. Aber was? Ihr Haushalt war nicht sehr ordentlich, das gab sie sich zu. Aber wie wäre das mit den wilden Zwillingen möglich gewesen? Sie gab sich doch jede Mühe, das Haus sauberzuhalten, Jockel und Hinkel zu bändigen und dazu noch ein gutes Essen auf den Tisch zu setzen. Wenn sie nur an die Stöße von Wäsche dachte, die unzähligen Hemden und Hemdchen und Blusen, die sie Woche für Woche waschen und bügeln mußte, empfand sie, daß sie mehr nicht schaffen konnte. Dazu kam noch der Garten hinter dem Haus, der zwar nicht groß war, aber dennoch Zeit und Arbeit kostete.

Nein, sie tat, was sie konnte, und manchmal hatte sie sogar das Gefühl, daß es über ihre Kräfte ging. Dennoch hatte sie ihren Mann nicht mit Klagen geplagt, weil sie wußte, daß sich nichts ändern ließ. Es war ihr Leben, sie mußte da durch, und wenn die Zwillinge erst älter und vernünftiger wurden, würde alles von selber besser werden.

Renate gestand sich, daß sie oft abends zu abgespannt war, um noch Lust auf Liebe zu haben. Aber bisher schien ihn das nie gestört zu haben. Die Leidenschaft der ersten Jahre war ja längst vorbei, unmerklich vergangen. Sie hatte sie nie vermißt. Das starke Gefühl zueinander zu gehören, war ihr wichtiger. Aber ein Mann empfand das womöglich anders, vielleicht als einen schmerzlichen Verlust.

Doch wenn er so dachte, dann irrte er sich. Sie begehrte ihn ja immer noch, wenn sie nicht gerade allzu müde war.

Plötzlich wurde ihr bewußt, daß nicht sie, sondern er es gewesen war, der sich mehr und mehr zurückgezogen hatte. Ihr Fehler war es, so dachte sie, daß sie das zugelassen hatte.

Oder war es möglich, daß ihn nichts mehr zu ihr zog? Acht Jahre Ehe waren eine lange Zeit, wenn man darüber nachdachte. Tatsächlich waren sie ihr wie im Fluge vergangen. War es möglich, daß er ihrer überdrüssig war? Daß er sich nur noch als Packesel der Familie betrachtete?

Aber das konnte nicht sein. Renate raffte sich auf. Sie war doch noch jung, zehn Jahre jünger al ser. Sie hatte sich nach den Geburten immer rasch erholt. Ihre Figur war straff, und die jungen Männer auf der Straße pfiffen ihr nach.

Sie verließ die Küche und musterte sich im Garderobenspiegel. Ihr Gesicht hatte eine gesunde leichte Tönung von der Arbeit im Garten, ihre blauen Augen glänzten, wenn auch nicht mehr ganz so strahlend wie die ihrer Tochter, und es gab noch keine Fältchen. Wenn sie auch nicht mit den wenig bekleideten Mädchen in den Magazinen konkurrieren konnte, so war sie doch immerhin attraktiv genug, einen Mann für sich zu interessieren.

Entschlossen fuhr sie mit dem Kamm durch ihr kurzgeschnittenes blondes Haar, klopfte dann leise an die Tür des Arbeitszimmers und trat ein. »Hallo, Liebling!« sagte sie. »Melde gehorsamst: Tagesarbeit erledigt, alle Kinder in der Klappe!«

Er saß an seinem Schreibtisch, einen Stapel Fachzeitschriften vor sich, und sah nicht auf. »Wie schön für dich.«

»Für dich nicht?«

Er gab keine Antwort.

Zum erstenmal seit langer Zeit betrachtete sie ihn nicht wie den Menschen, der zu ihr gehörte, sondern wie einen Unbekannten. Sie stellte fest, daß sein Haar schütter, die Linien zwischen Hals und Kinn schlaff zu werden begannen und die Ringe unter den Augen sich vertieft hatten.

Sie ging zu ihm hin, legte ihm den Arm um die Schultern und küßte ihn auf das Ohr. »Du mußt doch müde sein, Liebling!«

Er machte eine fahrige Bewegung, als gelte es eine Fliege zu verscheuchen. »Stimmt auffallend.«

»Warum ruhst du dich dann nicht aus?«

»Weil ich noch zu arbeiten habe. Das siehst du doch.«

»Muß das denn ausgerechnet heute abend sein? Kannst du es nicht verschieben?«

Für sie völlig unerwartet brauste er auf. »Verschieben, verschieben! Ist das alles, was du mir vorschlagen kannst? Was glaubst du, wie oft ich diese Lektüre schon hinausgeschoben habe? Wenn es so weiter geht, werde ich nicht einmal mehr als popliger kleiner Arzt etwas taugen!«

»Entschuldige«, sagte sie, nicht erschrocken, aber doch befremdet, »ich wollte dich nicht aufregen!«

»Aber genau das tust du!«

»Ich wollte nur vorschlagen, daß wir ein Glas Wein zusammen trinken, miteinander plaudern oder auch einfach mal früh zu Bett gehen.«

»Was für infantile Vorstellungen!«

»Früher haben wir das oft getan.«

»Inzwischen sind wir erwachsen geworden. Ich jedenfalls bin es. Du bist anscheinend das törichte kleine Mädchen geblieben.«

»Das du einmal geliebt hast!«

»Auch das noch! Begreif doch endlich, daß ich kein Romeo mehr bin!«

»Das warst du wohl nie«, sagte sie, sehr ruhig, wenn auch mit einiger Schärfe.

Sie ging zur Tür, wandte sich aber sogleich um, als er ihren Namen rief.

»Renate«, sagte er in versöhnlichem Ton, »es tut mir leid. Ich wollte nicht ausfallend sein.«

»Das weiß ich.«

»Kluges Kind!« Sein Lächeln wirkte verkrampft. »Sei brav und laß mich jetzt allein! Du kannst dich ja vor den Fernseher setzen, wenn du sonst keine Beschäftigung weißt.«

»An Beschäftigungen«, sagte sie, »hat es mir in unserer Ehe nie gefehlt!« Sie ging aus dem Zimmer, und diesmal rief er sie nicht zurück.

›Er muß überarbeitet sein‹, dachte sie, ›eine andere Erklärung gibt es nicht. Da kann man nichts machen. Irgendwann wird er schon wieder zu sich selber finden. ‹ Sie ging nach oben.

Die Zwillinge lagen in ihren Bettchen und pusteten im Schlaf. Der Anblick ihrer jungen, runden, lebendigen Gesichter tröstete Renate. Am liebsten hätte sie sie hochgenommen, geküßt und geherzt. Aber sie wußte, daß es besser war, sie ihre Anwesenheit nicht spüren zu lassen. So räumt sie denn das Spielzeug fort und sammelte die Papierfetzen ein.

Dann ging sie in das kleine Zimmer ihrer Tochter hinüber. Karla schlief noch nicht, sondern schmollte. Renate nahm die Gelegenheit wahr, mit ihr zu reden, wenigstens auf ihre geliebten Kraftausdrücke in Anwesenheit des Vaters zu verzichten.

Dr. Karl Malthaus richtete es so ein, daß er mindestens dreimal in der Woche nach seiner Lieblingspatientin schaute, und jedesmal kam er nach der Arbeit und blieb jetzt schon ganz selbstverständlich auf ein halbes Stündchen bei ihr. Anja Millers Stille, ihre Sanftheit, ihr bloßes Dasein, das keine Forderungen an ihn stellte, war für ihn von überwältigendem Reiz. Allein die Art, wie sie ihre Hände hielt, ganz locker, untätig und gelöst, bezauberte ihn genauso stark wie der japanische Garten, den er mit ihren Augen zu sehen lernte.

Bei ihr zu sein bedeutete für ihn Erholung und Entspannung. Wenn er sie verließ, fühlte er sich erfrischt und allen Problemen des Alltags gewachsen.

Aber seltsamerweise hielt dieses Gefühl nie vor. Schon wenn er durch die tristen Straßen der schmutzigen kleinen Stadt fuhr, spannten sich seine Nerven, und wenn dann sein ärmliches, ein wenig verwahrlost wirkendes Häuschen vor ihm auftauchte, überkam es ihn wie eine Woge von Gereiztheit. Er wußte, daß er seiner Frau und den Kindern gegenüber ungerecht war. Sie konnten nichts dafür, daß sie so waren, wie sie waren, dachte er oft. Deshalb bemühte er sich, freundlich zu sein. Aber seine Anstrengung war so spürbar, daß seine Gutmütigkeit krampfhaft wirkte. Seine Frau und seine Tochter merkten es. Sie hüteten sich zwar, ihm Fragen zu stellen, aber schon wie sie ihn mit großen Augen skeptisch musterten, konnte ihn rasend machen.

Jockel und Hinkel waren nicht so feinfühlig. Aber daß sie keinerlei Rücksicht auf seine verwirrten Gefühle nahmen, machte die Sache auch nicht besser.

Ein schlechtes Gewissen seiner Familie gegenüber hatte er nicht. Anja war für ihn nichts weiter als eine Patientin, die seiner Sorge bedurfte, sagte er sich immer wieder. Es war durchaus legitim, daß er nach der Untersuchung noch einige Minuten bei ihr blieb und einen Schluck zu sich nahm. Er war nicht in sie verliebt, dessen war er sich sicher. Nie verspürte er den Wunsch, sie in die Arme zu nehmen, sie zu küssen oder sich gar körperlich mit ihr zu vereinen. Anja Miller war keine Frau, die Begehren erweckte. Es war unmöglich, sie sich erhitzt, leidenschaftlich, in Ekstase vorzustellen. Er war nahe daran und glaubte es auch, gewissen Andeutungen entnehmen zu können, daß sie noch unberührt war. Ihr Mann war sehr viel älter gewesen, und sie hatten getrennte Schlafzimmer gehabt. Wenn er über diese Vermutungen nachdachte, schämte er sich schon vor sich selber und vor ihr, die so rein war. Ja, es war ihre Reinheit, die ihn anzog, glaubte er.

Das erklärte ihm auch den Sog, der von ihr ausging, das und natürlich ihre Einsamkeit. Er war immerhin noch realistisch genug, sich das zuzugeben. Anja schien keine Bekannten, keine Freunde oder Freundinnen zu haben.

Als er sie einmal darauf ansprach, erwiderte sie: »Ich habe nur für meinen Mann gelebt.« Ein andermal erklärte sie: »Es macht mir nichts aus, allein zu sein.«

Aber es war offensichtlich, daß sie die stille halbe Stunde mit ihm genoß.

Er war nicht in sie verliebt, aber er hätte sich vorstellen können, mit ihr zu leben, nach all dem Lärm des Tages, dem Stöhnen der Kranken, dem Weinen und Schreien seiner kleinen Patienten, zu ihr in diese stille Wohnung heimzukehren und dort zu bleiben. Niemals mehr würde er Renates vergnügten Freundinnen begegnen, die manchmal scharenweise und dazu noch mit ihren Kindern einfielen, sich nie mehr auf lärmenden Partys mit biertrinkenden Männern unterhalten müssen. Bei ihr hätte er die Ruhe gehabt, sich beruflich fortzubilden, mit ihr wäre er gar nicht erst in die Niederungen einer allgemeinen Praxis geraten, glaubte er.

Mit diesen Wünschen, die er doch unterdrücken mußte, verriet er seine Frau und seine Kinder. Dessen war er sich bewußt. Aber diese Einsicht verschärfte nur noch die Bitterkeit, die er empfand.

Indessen gesundete Anja sichtlich. Ihre Symptome, die doch wohl psychosomatischer Art gewesen waren, wurden schwächer, bis sie endlich ganz verschwunden waren. Aber anscheinend fehlte es ihr noch an Kraft, ein normales Leben aufzunehmen. Wenn er ihr riet, einmal an die frische Luft zu gehen, einen Spaziergang zu machen oder einen Einkaufsbummel, hörte sie ihm lächelnd zu. Doch er war sicher, daß sie seinem Rat nicht folgen würde.

Eines Tages eröffnete sie ihm: »Meine Schwester will mich verlassen.«

Er erschrak so sehr, daß er nichts darauf zu sagen wußte. Wie ein Blitz hatte ihn die Erkenntnis getroffen, daß dann auch seine Besuche nicht mehr zu rechtfertigen waren.

»Ihr Mann belästigt sie mit Briefen und Telefonaten. Sie fürchtet, daß sie ihn nicht länger allein lassen kann«, fuhr Anja nach einer Pause fort.

Er rang sich ein ›Verständlich!‹ ab.

»Wir haben uns nie sehr nahegestanden.«

»Um so anerkennenswerter, daß sie sich so lange um Sie gekümmert hat«, sagte er, dem endlich die Kehle wieder frei geworden war.

»Ja, das ist es wohl.«

Wieder entstand, wie so oft in ihren Gesprächen, eine lange Pause, aber diesmal war sie nicht friedvoll, sondern voll unterdrückter Spannung.

»Dann werden wir uns wohl auch nicht mehr wiedersehen«, sagte Anja, »es wäre nicht schicklich.«

Der Ausdruck erschien ihm sehr altmodisch, weit hergeholt, aber in der Sache mußte er ihr recht geben. Nicht nur ihres, sondern auch seines Rufes wegen war es nicht angebracht, eine allein lebende junge Witwe außer in einem akuten Notfall aufzusuchen.

»Sie sind ja auch jetzt wieder ganz gesund«, sagte er.

»So gesund, wie ich sein kann«, bestätigte sie mit einem zittrigen Lächeln.

»Ich werde Ihren japanischen Garten sehr vermissen.«

Ihre Augen leuchteten auf. »Ich könnte Ihnen Bonsais geben…«

»Lieber nicht«, fiel er ihr ins Wort, »sie passen wohl kaum zu mir.«

»Wo Sie solche Freude an ihnen hatten?«

»Hier bei Ihnen«, sagte er und stand auf.

Auch sie erhob sich. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, Herr Doktor! Ich hätte nie geträumt, an einem Ort wie diesem einen so fantastischen Arzt zu finden!«

»Sie übertreiben!«

»Nein, gar nicht. Sie müssen mir glauben, ich kenne mich mit Ärzten aus, schon durch die Krankheit meines Mannes. Ich frage mich schon lange, was Sie hierher verschlagen hat!«

Sie war so lebhaft wie nie zuvor, und er nahm es als Zeichen ihrer Gesundung, wenn es ihn auch schmerzte. »Das Schicksal«, erwiderte er lächelnd.

Sie reichte ihm die Hand, eine zarte, kleine, kühle Hand, und aus einem Impuls heraus beugte er sich darüber und küßte ihre Fingerspitzen.

Er hatte sie verloren.

Natürlich hatte er gewußt, daß es nicht immer so hätte weitergehen können. Der Blitz hatte ihn nicht aus heiterem Himmel getroffen, sondern aus einer aufdräuenden Gewitterwand. Er war vorbereitet gewesen, hatte geglaubt, vorbereitet zu sein und nicht geahnt, daß es ihn so schmerzen könnte. Die Trennung von Anja hatte ein Loch in seinem Leben aufgerissen, eine Leere hinterlassen, von der er nicht wußte, wie und womit er sie ausfüllen konnte.

Aber er mußte es durchstehen. Es war lächerlich, er mußte darüber wegkommen.

An diesem Abend zu Hause fiel ihm zum erstenmal auf, daß Karla keine Kraftausdrücke mehr verwendete.

Als ihr versehentlich die Gabel zu Boden fiel, sagte sie nicht ›Scheiße‹, wie er erwartet hatte, sondern ›schade‹.

Er wurde aufmerksam. »Du fluchst gar nicht mehr?« fragte er erstaunt.

Sie strahlte ihn an. »Hast du’s endlich geschnallt? Ich hab’s mir abgewöhnt.«

»Tatsächlich? Eine beachtenswerte Leistung.«

»Nicht, weil ich einsehe, daß was dabei ist, Vati, sondern nur dir zuliebe.«

Er war gerührt, merkte, daß seine Tochter und seine Frau sich mit einem Blick verständigten, spürte, daß er von Liebe umgeben war – nur konnte diese Liebe ihn nicht mehr erreichen. Er sehnte sich nach der Stille eines hellen Raumes und nach einem winzigen märchenhaften Garten.

In dieser Nacht schlief er das erstemal nach langer Zeit wieder mit seiner Frau. Er tat es nicht aus Zärtlichkeit, nicht einmal aus Leidenschaft, sondern aus Verzweiflung. Danach aber fühlte er sich besser, fast befreit.

Sie lag, den Kopf an seine Brust geschmiegt. »Wann willst du dieses Jahr Urlaub machen?«

»Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.«

»Ich habe mit meinen Eltern telefoniert. Sie würden in der Zeit zu uns kommen, Jockel und Hinkel betreuen.«

»Haben sie sich auch klargemacht, was ihnen da bevorsteht?«

»Ach, die schaffen das schon mit vereinten Kräften. Karla nehmen wir mit, ja? Sie hat es doch wirklich verdient.«

»Ah, deshalb die unterdrückten Flüche!«

Sie hob den Kopf und sah ihm ins Gesicht. »Hältst du sie für berechnend? Nein, das wirklich nicht. Alles andere als das.«

»Es liegt auf der Hand, da einen Zusammenhang zu sehen.«

»Völlig falsch. Dieses Mißtrauen steht dir nicht.«

»Aber ich gehe doch sicher recht in der Annahme, daß ihr schon fixe Reisepläne gemacht habt?«

»Auch das stimmt nicht. Wir haben noch nicht einmal darüber miteinander gesprochen. Das Ziel überlasse ich dir. Richtung Süden habe ich mir gedacht. Doch wenn du nach Skandinavien willst, soll es mir auch recht sein. Ich möchte nur mal heraus aus dem Trott. Die letzten Jahre war es ja unmöglich.«

»Eine Reise«, dachte er laut, »weit weg von allem hier, das müßte wunderbar sein!«

»Bist du unglücklich?«

»Wie kommst du darauf?«

»Es hat so geklungen.«

»Nein, nein, nur … das tägliche Einerlei hängt mir genauso zum Hals heraus wie dir. Also … wo wollen wir hin?«

»Laß uns morgen in Ruhe darüber reden, ja?« Sie gab ihm einen Kuß und schlüpfte aus seinem Bett.