Der jüdische Patient - Oliver Polak - E-Book

Der jüdische Patient E-Book

Oliver Polak

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Beschreibung

Schockierend mutig und gnadenlos ehrlich – das neue Buch von Oliver Polak Was passiert, wenn ein Komiker die Psychiatrie überlebt?"Hierzulande macht gerade der Comedian Oliver Polak ähnlich schamlose, kluge Witze wie Louis C.K.", schreibt Die Welt, "das macht zumindest Hoffnung für den deutschen Humor." Doch wie soll man als Stand-up-Comedian nicht wahnsinnig werden in einem Land, "in dem alle lustigen Leute bereits umgebracht wurden" (Robin Williams)? Nach seinem Bestseller und einer dreijährigen Tour erleidet Polak einen Totalzusammenbruch. Diagnose: schwere Depression. Einzige Rettung: zwei Monate Psychiatrie.Über diese Zeit und seine Herkunft, über Hoffnung und Heimat hat der Comedian jetzt ein Buch geschrieben – herausgekommen ist ein Gewaltmarsch durch sein Unbewusstes, ein Frontbericht aus der Psychiatrie zwischen Backstageraum und Wartezimmer. Ein Roadtrip to hell von jemandem, der den Himmel sah.In einer Zeit, in der sich immer mehr Menschen ihren Ängsten und Burn-outs stellen, nimmt uns Polak mit mutiger Radikalität dahin mit, wo viele von uns demnächst sein werden. Schonungslos leuchtet der Autor die dunklen Abgründe seines Herzens aus und behandelt ein hochaktuelles Thema so witzig und direkt wie niemand zuvor. "Wie jeder gute Komiker geht Oliver Polak einen Schritt weiter. Viele Schritte. Er läuft geradezu. Hätte ich einen Hut, ich würde ihn lüften." Dirk Stermann "Komik ist einfach das, was er tut, ist das, was er kann." Georg Diez (Der Spiegel)

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Seitenzahl: 246

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Oliver Polak

Der jüdische Patient

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Oliver Polak

> Über dieses Buch

> Impressum

> Klimaneutraler Verlag

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

WidmungMottoPrologErste KlinikwocheZweite KlinikwocheDritte KlinikwocheVierte KlinikwocheFünfte KlinikwocheSechste KlinikwocheSiebte KlinikwocheAchte KlinikwocheEpilogPlaylist/Quellenverzeichnis
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Für Samira

xxx <3

zurück

Dies ist kein Abschied, denn ich war nie willkommen

Casper

Kill some day

Motorpsycho

It’s going to take some time this time

Carpenters

Wer nie verliert, hat den Sieg nicht verdient

Udo Jürgens

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Prolog

Ich hasse mich. Inzwischen nehme ich seit fünf Monaten Mirtazapin, ein Antidepressivum. Ich wollte niemals so etwas nehmen, nur ging es ab einem gewissen Punkt einfach nicht mehr weiter. Das Absurde an diesem Präparat ist, dass es mir, seit ich es nehme, massiv schlechter geht. Ich habe dreißig Kilo zugenommen und komme an manchen Tagen gar nicht mehr aus dem Bett. Ich atme schwer, mein Sexualtrieb ähnelt dem eines Pappbechers und die Vorhänge in meinem Zimmer wurden das letzte Mal vor Wochen geöffnet. Mein Telefon nehme ich seit Tagen nicht mehr ab, Mails bleiben unbeantwortet und ich sehe nicht einmal mehr fern. Meine Freunde hinterfrage ich, manche verachte ich zutiefst. Mirtazapin ist eher ein Anti-Antidepressivum. Ich bin durch. Enddurch.

 

An diesem tristen Novembermorgen entscheide ich endlich, dass ich dieses Gift nicht mehr nehmen will. Langsam krieche ich aus dem Bett, versuche mich aufzurichten, indem ich die Hände gegen die Wand presse und mich mit letzter Kraft dagegenstemme. Meine Knie, die von den hundertdreißig Kilo überfordert sind, schmerzen so fucking sehr.

Ich bewege mich wie Marcel Marceau durch die abgedunkelte Wohnung, ziehe eine Jogginghose und ein Sweatshirt an, schnappe mir den Autoschlüssel und schleppe mich die Treppen runter, vorbei an dem hippen Asiarestaurant, wo mich die Gäste anstarren und der Kellner mir noch ein »Lächel doch mal!« hinterherruft. Fuck off.

Ich gehe rüber zu meinem zugemüllten Auto, das im Halteverbot steht. Unter den Scheibenwischern stecken gefühlte dreißig Strafzettel. McDonald’s-Verpackungen, Burger-King-Essensreste, Adiletten, Papier, Leergut und mittlerweile vielleicht auch tote Insekten verdecken den Boden meines Autos. Ich lasse mich in den Fahrersitz fallen, starte den Wagen und bin froh, dass er überhaupt anspringt. Das Autoradio geht an, Hallowed be thy Name von Iron Maiden, so, so laut, aber selbst die Musik kommt nicht mehr an mich heran, durch meinen Panzer, durch das Medikament. Mein Herz ist ausgestöpselt, abgekappt von mir.

Ich fahre durch den Regen nach Wedding, zur Praxis meiner Psychologin, zwischendurch halte ich zwei Mal an, weil ich mich unter leichten Panikattacken am Straßenrand übergeben muss. Jämmerlich.

Ich schleppe mich die Treppen zur Arztpraxis hinauf, melde mich bei der eiskalten Sprechstundenhilfe an und warte. Ich hasse Wartezimmer, sie sind schlimmer als Viehtransporte! Dreißig kranke Leute in einem kleinen, ungelüfteten Zimmer eingepfercht. Nur traurige Gesichter um mich herum, Leute, die ihre Hände verzweifelt ins Gesicht pressen. Teardrops.

Man darf die Praxis nicht verlassen, da sonst der Termin verfällt, also scrolle ich nervös auf meinem iPhone rum, nur um irgendetwas zu tun und keine virenverseuchte Lesezirkel-Spiegel-Ausgabe von 2010 lesen zu müssen, die auf dem kleinen Tisch neben mir liegt. Wortfetzen fliegen an mir vorbei, ich starre apathisch auf den Bildschirm. Inzwischen warte ich schon neunzig Minuten.

Mein Name wird endlich aufgerufen, ähnlich wie bei der Oscarverleihung, nur ohne Glamour und Applaus. Ich betrete das Zimmer der Ärztin, eine sehr große attraktive Frau, Typ Natalie Portman. Ich versinke im Sessel. Sie kennt mich nicht gut, da ich erst ein einziges Mal bei ihr war, dennoch entscheidet sie sehr schnell, dass ich mindestens für eine Woche in eine psychiatrische Klinik gehen muss, damit man mich unter Aufsicht auf ein neues Medikament einstellen kann. Tränen schießen mir in die Augen. Seit anderthalb Jahren schleppe ich mich durch mein Leben und es wird immer dunkler, die Worte der Ärztin klingen in meinen Ohren wie Befreiung und Haftstrafe zugleich. Das Ätzende ist, dass ich spüre, dass das alles sehr, sehr lange dauern wird, bis es wieder heil ist.

Sie bittet mich, kurz im Flur zu warten, während sie sich um einen Platz in einer psychiatrischen Anstalt kümmert. Kurz darauf bekomme ich eine halbe Beruhigungstablette und die Überweisung in die Hand gedrückt und mache mich auf den Weg, erst nach Hause, dann zur Klinik.

 

Gedankenexplosion. Was wird mit meinen Auftrittsterminen in den nächsten Wochen, was soll ich meiner Mutter sagen, ohne dass sie denkt, dass ich ein Schwächling bin, was sage ich Papa, ohne dass er sich Sorgen macht, wie erkläre ich das meinem Manager, ohne dass er denkt, dass ich krank bin, ein krankes Schwein, was er wahrscheinlich eh schon denkt?

Und dann ist da noch Sunny. Sunny und ich führen eine undefinierte Beziehung, irgendetwas zwischen Sartre, Camus und Ice Age. Sunny ist in den letzten Monaten, als ich krank geworden bin, ohne es zu merken, der wichtigste Mensch für mich geworden, sie war immer da, leise, ohne da zu sein. Ihre Liebe, ihre Zuneigung, ihre Geduld haben wahrscheinlich meinen endgültigen Zusammenbruch hinausgezögert. Doch jetzt, in diesem Moment, bin ich alleine, ganz alleine. Während ich zu Hause meine Tasche fürs Krankenhaus packe, fühle ich mich wie Feivel der Mauswanderer.

Ich bin blind, kann weder nach links noch nach rechts schauen, alles ist duster. Ich stopfe meine Klamotten achtlos in die Tasche, meinen weißen Original-Udo-Jürgens-Bademantel, meine Kopfhörer, Adiletten, T-Shirts und meine Tabletten. Ich rufe mir ein Taxi und gehe monstermäßig langsam die Treppen hinunter, während ich mir immer wieder die Frage stelle: Warum? Was hat mich an diesen Tiefpunkt gebracht?

Der Taxifahrer steigt nicht aus, öffnet den Kofferraum einfach von innen per Knopfdruck. Ich stelle meinen Stuff hinein, schließe den Kofferraum sanft und setze mich verstört auf die Rückbank des Taxis.

»Wohin geht die Reise?«, fragt mich der Fahrer – genau diese Frage stelle ich mir gerade auch, immer wieder, immer wieder. Ich nenne ihm das Krankenhaus und wir fahren los. Draußen ist es schon dunkel, ich schaue aus dem Fenster, der Alex zieht an uns vorüber, unter den Linden strahlt die Weihnachtsdekoration der Bäume ins Taxi, vorbei am Hotel Adlon, den Stehlen, im Rückspiegel das Brandenburger Tor, vor uns die Siegessäule, ich fühle mich wie in einem Gefangenentransport. Nur: Was habe ich getan? Wann habe ich die falsche Ausfahrt genommen?

Das Taxi biegt in einen kleinen Waldweg ein. Am Ende der Straße sehe ich das grell weiß-gelb leuchtende Krankenhausschild. Das Taxi fährt auf das Klinikgelände und hält vor dem Haupteingang. Fuck, ich kenne diesen Ort.

Ich war schon mal hier, vor genau sieben Jahren, damals hatte ich Hodenkrebs, meine Freundin hatte mich verlassen und ich war arbeitslos. Keine guten Erinnerungen, sie vermischen sich mit meinem aktuellen verwirrten Zustand. Seltsam, dass es, wenn man sein Bein gebrochen hat, der Blinddarm entzündet ist oder die Mandeln raus müssen, ganz normal und okay ist, krank zu sein. Aber wenn man sich in einem psychisch labilen Zustand befindet, so wie ich mich gerade, dann wird man von der Gesellschaft geächtet oder ignoriert. Warum sind Depressionen ein Tabu in Deutschland? Warum ist Schwäche ein Tabu in einem menschlich oft so schwachen Land?

In den USA, das hat mir meine Tante erzählt, ist das schon lange ganz anders. Die Schwester meines Vaters ist siebenundachtzig Jahre alt. Nachdem sie damals das Konzentrationslager überlebt hatte, wanderte sie nach Amerika aus und lebt jetzt in New York. Viele jüdische Überlebende suchten unmittelbar nach ihrer Immigration in die USA Psychiater auf, um die schrecklichen Ereignisse der Vergangenheit zu verarbeiten. Das, sagte sie mir später, sei der Grund dafür, dass es ihnen heute gut gehe.

In Deutschland gab es so etwas nach dem Krieg nicht, was nicht zuletzt daran lag, dass die meisten Psychoanalytiker im Zweiten Weltkrieg aus Deutschland fliehen mussten. Es gab also kaum Heilungshilfestellung, weder für die einen noch die anderen, Psychotherapie und Psychoanalyse waren ein No-Go.

Auch mein Vater hat den Krieg, das KZ überlebt, ist aber in Deutschland geblieben. In Deutschland auf dem Land gab es erst recht keine Therapie nach dem Krieg, Therapie war gleich Klapse, Klapse war gleich verrückt. Es wurden einfach Beruhigungstabletten in dich reingestopft, aber niemals die eigentliche Problematik angesprochen. Doch vielleicht kann man die Ursache auch nicht thematisieren, wenn die Ursache der Status quo, das Hier und Jetzt ist. Wahrscheinlich gab es zu dem Zeitpunkt einfach keinen Therapeuten, der sich mit den Themen meines Vaters hätte auseinandersetzen wollen oder können! Denn Nazis gab es auch zu dem Zeitpunkt noch überall! Ein absurder Gedanke: Ein deutsch-jüdischer Typ, der nach dem Krieg zu einem deutschen Therapeuten gehen und ihm seine tiefsten Ängste anvertrauen soll, in der Hoffnung, dass er Hilfe findet, Heilung! Der einzige Satz, den man vom Therapeuten hören würde, wäre wahrscheinlich: »Oh, mit dieser Problematik kenne ich mich leider gar nicht so gut aus … Mmmmh … Beruhigungsspritze anyone?«

Auch wenn diese Zeit schon länger vorbei ist, werden Psychotherapien heute immer noch kaum akzeptiert. Depression klingt auch so schwer. Vielleicht sollte man das Wort einfach durch ein Synonym ersetzen, damit es smoother klingt. ›Mir ist anders‹ oder ›ich bin durch‹, vielleicht ›abkacken‹ oder ›je dunkler desto besser‹? ›Hasenherzigkeit‹ oder einfach wieder ›Melancholie‹.

 

Traurig und eingeschüchtert von meinen eigenen Gefühlen betrete ich das Krankenhausfoyer, frage mich zur Aufnahme durch und ziehe mir eine Coke aus dem Getränkeautomaten. Ich bin der Einzige auf dem Flur und das Donnern der Colaflasche, als sie aus dem Regal in den Ausgabeschacht poltert, hallt so laut durch den Gang, dass es mich selbst krass erschreckt. Dann nehme ich auf einer Holzbank Platz und warte. Ich werde recht zügig aufgerufen und beantworte den Anmeldefragebogen ausschließlich mit Neins: Drogen – nein, HIV positiv – nein, Diabetes – nein. Bis auf die Frage nach allergischen Reaktionen, denn Penicillin und ich gehen gar nicht zusammen. Schwach und sehr ungeduldig setze ich meine Unterschrift unter den Berg von Anmeldeformularen. Ich kann es kaum abwarten, dass die freundliche ältere Berlinerin mir endlich sagt, in welches Zimmer ich gehen kann.

 

Station 10A, Zimmer 1017. Ich warte auf den Fahrstuhl. Ein Blinggeräusch ertönt, die Fahrstuhltüren öffnen sich. Der Geruch in diesem Krankenhaus ist unerträglich, irgendetwas zwischen Tod und vergammeltem Essen. Auf dem Weg in die zehnte Etage hält der Fahrstuhl auf der Sieben, eine Suchtstation. Die Türen öffnen sich und man sieht einen Vorraum mit vielen Leuten an Tischen, die Schach spielen oder andere Gesellschaftsspiele. Manche reden mit sich selbst. Es hat was von Michael Jacksons Thriller-Video, nur ohne Musik und ohne Michael Jackson. Mir geht es für den Bruchteil einer Sekunde sehr gut, als mir bewusst wird, dass ich hier nicht aussteigen muss.

Angekommen auf der Zehn, empfängt mich eine junge, sehr freundliche Schwester. Sie hat blaue Augen, blonde Locken und trägt eine Brille. Ihr Name ist Bella und sie erklärt mir, dass sie zurzeit auf der Station ein freiwilliges soziales Jahr macht.

Bella führt mich in mein Zimmer, ein Zweibettzimmer, das erst einmal nur von mir belegt wird. Ich blicke in einen sterilen Raum mit zwei Betten, zwei Nachttischchen, zwei Stühlen und einem Tisch. Minimal. Kalt. Leer. Weiß. Ich mag das Bett auf der rechten Seite, obwohl es mit dem anderen identisch ist, aber es steht näher am Badezimmer.

»Kommen Sie erst mal in Ruhe an«, sagt Bella freundlich, »Dr. Grünzweig, unser Stationsarzt, schaut dann später für ein persönliches Gespräch vorbei. Falls Sie Hunger haben – im Vorraum der Station steht ein Buffetwagen.«

Mit diesen Worten verlässt sie das Zimmer, die Tür fällt ins Schloss und ich schaue aus dem Fenster auf die Stadt, den Funkturm, das Waldorf Astoria. Es ist still, sehr still, so still war es lange nicht mehr. Ich fühle mich sicher für den Moment und eine Last fällt von mir. Ich packe meine Tasche aus, hänge den Bademantel ins Bad, lege meine Sweatshirts und Hosen in den Schrank und lehne das Foto von Sunny an eine grüne Pringles-Dose auf meinem Nachttisch.

Ich habe keinen Appetit, da ich in den letzten Tagen nach dem Essen immer alles direkt wieder auskotzen musste. Also lege ich mich mit meinen Klamotten aufs Bett und starre an die Decke. Ich fühle mich wie eine Kreuzung aus Panda, Orang-Utan in Gefangenschaft, Kroko, Basset und Zirkuselefant. Und sehr zu schwer. Ich habe mich noch nie so unwohl gefühlt in meinem Körper. Mein Körper ist mittlerweile größer als ein Körper.

Vor Wochen hatte ich mir vorgenommen, ab sofort jeden Tag Sport zu machen, das hatte ich mir nur leider schon so oft vorgenommen. Die Jungs aus dem Dönerladen in meinem Viertel taten mir am meisten leid, wie sie Nacht für Nacht mit ansehen mussten, wie ich mich, gerade mal halb angezogen, in Adiletten und ungeduscht, an die Dönertheke schleppte, so erbärmlich, um einen weiteren Dürüm mit Käse zu bestellen. Polak, du verfressenes Schwein. Mein Idealgewicht sind vierundachtzig Kilo, mittlerweile wiege ich hundertdreißig – fuck! Ich fühl mich so unwohl. Das Aussehen ist zweitrangig, nein, es ist das Bauchgefühl! Vielleicht Federball spielen, Federball mag ich! Federball ist so 80’s. Ob es hier im Krankenhaus wohl Federbälle gibt?

Ich bin alleine, tauche ab, tiefer und tiefer – an einen Ort, an dem niemand ist, außer ich selbst. Leere. Mittlerweile bin ich in einer Phase, in der mir alles gleichgültig ist. Gefühl der Gefühlslosigkeit.

 

Ich bin fast eingenickt, als es zaghaft an die Krankenhauszimmertür klopft. Dr. Grünzweig, der Stationsarzt, ein schmaler, karger Typ, ein bisschen Erdmännchen, mit einem Funkeln in den Augen und einem sehr herzlichen Lächeln. Der Typ ist seit Schwester Bella die erste Wärmequelle, die mir in diesem Hospital begegnet.

Wir setzen uns an den viereckigen Holztisch, der mit einer weiß-gelben Achtzigerjahretischdecke bedeckt ist. Ich nehme mir eine Wasserflasche vom Nachttisch und Grünzweig fragt mich, was mich denn zu ihnen gebracht habe. Was hat mich zu ihnen gebracht …

Ich atme tief ein, fange ganz von vorne an. Erzähle, wie ich vor vier Jahren, als mein erstes Buch erschien, das Interesse des deutschen Feuilletons weckte, Deutschlands einziger jüdischer Stand-up-Comedian, der Holocaustclown, der Showjude, obwohl ich nicht bereit dafür war. Gut, wann ist man bereit, ein Jew-Stand-up-Comedian in Deutschland zu sein? Ich fühlte mich von vielen Menschen zum Objekt gemacht. Oder war ich es selbst, der sich zum Objekt gemacht hat? Mengeleexplosion, ich wollte lediglich meine Geschichte erzählen, storytelling, Comedy machen in einem Land, in dem man, wie Robin Williams feststellte, alle lustigen Menschen bereits umgebracht hatte.

Ich erzähle, dass ich in vier Jahren über sechshundert Auftritte spielte, dass mich das Publikum oft ächtete, weil es weder meinen Humor noch die Inhalte schnallte.

Auch erzähle ich Grünzweig von meinem besten Freund Andy, mit dem ich jeden freien Tag in den letzten Jahren verbracht habe. Wie er am 14. Februar des vergangenen Jahres, am Valentinstag, an einem Infarkt starb. Und wie ich immer weiter in eine sehr dunkle Spirale, einen Strudel geriet. Ich vermisse Andy so sehr. Seine Wärme, seine Aufmerksamkeit, seinen Geist, unsere endlosen nächtlichen Telefonate.

Ich schildere Grünzweig meine Panikattacken, mein ständiges Erbrechen, meine Antriebslosigkeit, meine Verfettung, meine Lethargie, meinen Hang zum Selbstzweifel, zum Selbsthass. Und meine Angst, diese verdammte, verfickte Angst, immer wieder Angst. Seit ich denken kann, habe ich Angst. Angst, mein größter Feind.

Damals, als Kind, waren es Michael Endes Momo und Die unendliche Geschichte, vor denen ich mich fürchtete. Das letzte Einhorn und Eduard Zimmermann, der zu mir sprach, wenn ich am Freitagabend alleine vor dem Fernseher saß. Und die Szene am Anfang des ersten Batman-Films aus den 80ern, in der Batmans Eltern ermordet werden. Güterwaggons, Ticks bei Menschen, die für immer bleiben, deutsche Beamten zwischen Duckmäusertum und Größenwahn, abgeschlossene Türen, Menschen, die einen lieben, die man selbst aber nicht so mag.

Doch was ist heute meine Angst, was sind meine Ängste? Ist es überhaupt meine Angst?

 

Der Doc hört mir sehr aufmerksam zu, er lässt mich sprechen, es vergehen fast zwei Stunden. Ich hab keine Ahnung, was oder warum, aber irgendetwas fühlt sich gerade sehr richtig an. Irgendwann ist der Moment erreicht, in dem alles raus ist. Grünzweig erklärt, dass er mir helfen wolle, damit es wieder besser wird, dass es allerdings Zeit und Geduld brauche. Geduld ist für mich wie Penicillin, wird aber leider nicht als offizielle Allergie akzeptiert. Geduld, nicht eine meiner Stärken.

Er kündigt an, dass er in den nächsten Tagen mit dem Chefarzt Dr. Lampinger vorbeischauen werde und sie mir dann sagen werden, wie vorerst mit mir verfahren werden soll. Desweitern verordnet er mir eine tägliche Dosis von fünf Milligramm Tavor, schlägt vor, ich solle erst mal in Ruhe ankommen und dann im Laufe der Woche an der Wassergymnastik teilnehmen, und verlässt das Zimmer.

Tavor ist ein angstlösendes Mittel, das sehr abhängig machen kann, wenn man es zu lange nimmt. »Tavor schützt Sie vor negativen Umwelteinflüssen«, so steht es in der Packungsbeilage. Ein neues Antidepressivum bekomme ich auch, Elontril, eines, das nicht zu sehr aufputscht, mich aber auch nicht zu low macht und meinen Sexualtrieb, der sich vor etwa zwölf Monaten verabschiedet hat, zurückbringen soll. Mirtazapin hat mich gefickt. Elontril ist ein Medikament, dessen Wirkstoff in Amerika zur Raucherentwöhnung benutzt wurde, bis man dann feststellte, dass er auch gut gegen Depris wirkt.

Später kommt eine ältere, eher gilfige als milfige Krankenschwester, Typ Delta-Airlines-Stewardess, ins Zimmer und stellt sich als die Nachtschwester vor. Sie sieht aus wie eine Ingrid. In der linken Hand hält sie ihr Kreuzworträtselheft, in der rechten Medizin. Sie stellt mir zwei Tavortabletten aufs Nachttischchen und lässt mich allein.

 

Ich bin mir nicht sicher: Bin ich depressiv, bin ich es nicht, woran mache ich es fest? Während ich aus dem Fenster starre, überlege ich, dass es mir vielleicht doch nicht so schlecht geht. Möglicherweise ist es nur ein Anflug von irgendetwas und schon bald wieder viel besser. Alles doch nicht so schlimm? Sich einzugestehen, dass es nicht mehr weitergeht, dass man schwach ist, fragil, sensibel, zerbrechlich, zerstört vom eigenen Gehirnfick, ist das Schlimmste. Das nicht akzeptierte Schwächeln, das Aufgeben. Tocotronic. »Kapitulation«. Sag alles ab!

 

Ich gehe ins Bad, wasche mein Gesicht, entkleide mich und verharre nackt vor dem Spiegel. Ich starre mich an, glotze, gaffe. Begutachte jeden Gesichtszug, jede Falte, jede Bewegung. Suche meinen Blick. Ich schaue in sehr müde Augen, müde von der Odyssee der letzten Jahre. Wo sind die großen Teddybäraugen? Knopfaugen können nicht lügen! Ganz weit hinten, am Ende des Augentunnels, sehe ich eine kleine Flamme. Dieser Moment, wenn nichts da ist, nur mein Spiegelbild und ich. Diese Ruhe, dieser seltsame stumme Dialog mit meinem Ebenbild, das nicht mehr zu existieren scheint.

Irgendwann halte ich es nicht mehr aus, ich verlasse das Bad und falle ins Bett, lege mir die Tavortabletten auf die Zunge, spüle sie schnell mit Wasser runter und knipse das Licht aus. Vom Bett kann ich in den dunklen Himmel über Berlin schauen. Die Tabletten wirken, ich fühle mich schlagartig sehr kuschelig in mir selbst, smile, though your heart is aching. Bevor ich mich in den Schlaf lächle, sehe ich noch einen Fensterkreuzschatten, sehe, wie er über Sunnys Foto streift, dann schlafe ich ein.

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Erste Klinikwoche

Ich werde wach, als jemand leise die Tür meines Zimmers öffnet. Ich fühle mich wie in Watte gepackt. Mehrere Schwestern huschen leise wie kleine Wichtel in mein Zimmer. Lautlos wie Eichhörnchen flitzen sie durch den Raum, sammeln die leeren Flaschen ein und stellen die Medikation für den Tag auf meinen Nachttisch. Oh Mann, es sind Ü-40-Schwestern. Ich stelle mich schlafend, kann aber durch den minimal geöffneten Schlitz meiner Lider Bella sehen, die gerade durch die Tür kommt, zierlich, so, so große Augen. Ich weiß jetzt schon, obwohl ich noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden hier bin, dass sie einer der wenigen Lichtblicke im tristen, hässlichen Krankenhausalltag sein wird. Ich bemerke, wie mich ihre riesigen Augen anstarren, während sie ein zartes »Guten Morgen« flüsternd über ihre Lippen haucht. Ich nehme mir vor, mich nicht in sie zu verlieben. Das Schlimmste, was mir jetzt passieren könnte, wäre, dass ich mir eine Verliebtheit einrede oder mich am Ende noch wirklich verliebe. Dann ist eine Heilung für den Moment nicht möglich, denn Verliebte kann man nicht therapieren. Verliebte kann man nicht therapieren, fast schon ein Schlagertitel, wenn man noch ein »heut Nacht« dranhängt.

Verliebtsein ist wie Tavor, es legt sich wie ein Betäubungsmantel über die Seele und lässt eine Therapie nicht zu, da beim Patienten kurzzeitig die Illusion entsteht, dass alles doch ganz gut ist. Vielleicht ist das der Grund, warum auf dieser Station, bis auf Schwester Bella, keine attraktiven Schwestern arbeiten, es liegt eher so ein Hauch Milfland-meets-80er-Jahre-Föhnfrisuren in der stickigen Krankenhausluft.

Schließlich verlassen die Schwestern das Zimmer wieder und es kehrt Ruhe ein, lediglich die Spatzen, die sich in der Jalousie vor meinem Fenster ein Nest gebaut haben, singen oder sprechen. Vogelsprache halt. Keine Ahnung. Spatzen im Dezember in einer Jalousie, auch irgendwie sick.

Ich richte mich im Bett auf, stelle vorsichtig die Füße nebeneinander auf den Krankenhausboden, setze mich auf den Bettrand und starre so Lost-in-Translation-mäßig aus dem Krankenhauszimmerfenster. Zehn Stockwerke. Denke darüber nach, dass ich jetzt einfach springen könnte, so im Tavorhalbschlaf.

Was für ein jämmerlicher Gedanke, sich mir nicht zu stellen und den Schalter auszuknipsen. Ich schaue runter und denke, mmmh, vielleicht doch ein bisschen hoch für einen Selbstmord – ich könnte mir wehtun. Vor dem Fenster ragt eine riesige Tanne in die Höhe. Vielleicht springe ich einfach, überlege ich, lande in der Tannenspitze, die zurückfedert und mich wie in einem Comic wieder ins Krankenhauszimmer katapultiert.

Ich entscheide mich schließlich dafür, doch erst einmal ins Bad zu gehen. Dort stehe ich wieder minutenlang vor dem Spiegel und starre mich an. Ich sehe alles und nichts; ich sehe die Karikatur eines dicken, hässlichen Juden und im nächsten Moment einen putzigen Pandabären, kurz darauf einen hilflosen kleinen Jungen, der von seiner Mutter zurückgelassen wurde, dann wiederum einen schwergewichtigen, siebenunddreißigjährigen Mann. Aber egal, wen ich sehe, er lacht nie.

 

Es klopft an die Badezimmertür. Frühstück. Zwei Servicekräfte verteilen es mithilfe eines Buffetwagens, den sie langsam über den Krankenhausflur schieben. Ich stehe verschlafen vor dem Minibuffet und zeige auf die Nahrung, die ich mir zuführen möchte. Ein Brötchen, Kräuterquark, eine Scheibe Käse, ein Ei, ein Joghurt und keinen Tee. Kaffee trinke ich sowieso nicht, da der meine Magenschleimhaut so krass reizt, dass ich ihn nicht länger als fünf Minuten bei mir behalten kann.

Mit dem Tablett in der Hand verschwinde ich wieder in meinem Zimmer, setze mich an den Tisch mit der seltsamen Tischdecke und esse.

Nach dem Frühstück lege ich mich wieder aufs Bett und denke nach. Leere. Wie kann ich Leere beschreiben? Kann man Leere überhaupt beschreiben? Die unzähligen Tage vor dem Hospital, die waren leer.

Monatelang verlief jeder meiner Tage identisch. Ich lag im Bett, eine Matratze auf dem verstaubten Parkettfußboden, und starrte die meiste Zeit abwechselnd die Steckdose an der gegenüberliegenden Wand, die weiße Zimmerdecke und den Kleiderschrank an. Auf dem Schrank saßen meine stummen Stofftiermitbewohner: der Esel I-Aah, Scrat aus Ice Age, Buzz Lightyear, King Louis und der mutige Hase Cäsar. Hin und wieder warf ich einen Blick auf den Bildschirm meines Laptops, blieb bei Facebook hängen, scrollte durch die Posts, scrollte und scrollte – was ich las, flog durch meinen Kopf hindurch, es blieb nur Scheiße in meinem Hirn hängen. Dann wanderte mein Blick wieder zu den Stofftieren auf dem Schrank. Sie gafften zurück, doch sie konnten mir nicht helfen.

Tagelang lag ich auf meiner Matratze rum und zweifelte, zweifelte, zweifelte, starrte an die Decke und hasste mich selbst. Ich war so wütend auf mich! Und konnte nicht einmal genau sagen, warum. Eigentlich wusste ich ja, dass dieser Selbsthass unbegründet war. Dennoch suchte ich verzweifelt nach Dingen, die ich falsch gemacht hatte, um mich weiter zu bestrafen. Ich achtete mich selbst nicht, obwohl ich seit Jahren wie ein Irrer arbeitete. Aber vielleicht war genau das das größte Problem. Irre.

Manchmal redete ich mir ein, ich wäre physisch krank, und begann, mir die verschiedensten Symptome einzubilden. Ob das dann die eine oder die andere Krankheit war, egal – Hauptsache krank. Bei jedem Zucken, leichtem Schmerz dachte ich sofort an Krebs, Parkinson, Aids, absurd. Es war, als würde ich versuchen, einen Grund zu finden, um mich noch schlechter zu fühlen. Um mich dem Leben zu verweigern. Mich gut zu fühlen, verbot ich mir selbst. Krankheit als Weg.

Und immer wieder diese Angst. Angst zu versagen, Angst, im Selbstmitleid zu ertrinken. Rastlos, atemlos, wie Scrat sich an der Nuss festklammert, so klammerte ich mich an der nicht vorhandenen Schuld, der Strafe fest. Noch ein Hieb, noch ein Vorwurf gegen mich selbst.

Meine Wohnung verließ ich gar nicht mehr. Einmal startete ich allerdings den Versuch, das Haus zu verlassen: Ich nahm mir vor, zum Bäcker zu gehen. Doch kaum hatte ich das Haus verlassen, überkam mich plötzlich ein Druck, aus dem Nichts. Er erfasste und bedrohte mich, ich konnte ihm nicht entkommen. Ein Magnet, der mich förmlich zurück nach Hause zog, so als müsste ich ganz massiv dringend kacken, diese Notwendigkeit, dieses Bedürfnis, diese Unruhe, diese Panik.

Ich eilte wieder nach Hause, die Treppen hoch, nahm zwei, drei Stufen auf einmal. In der Wohnung angekommen, warf ich alle Klamotten von mir, lief in Unterhosen ins Bad, um die Hände zu waschen. Ich legte mich zurück ins Bett, in die Leere, zur weißen Zimmerdecke, zu den Stofftieren, und onanierte.

In diesen Wochen onanierte ich viel. Es ist natürlich das Jämmerlichste, in diesem Zustand noch zu wichsen, doch es war in dem Moment eine Illusion, die ich mir selbst unterjubelte, ein cremiger, dickflüssiger Tropfen Hoffnung. Langeweile und Traurigkeit machten sich so breit, dass ich dachte: Vielleicht bin ich ja doch ein wenig horny.

Ich öffnete parallel Youporn, Xhamster, Beeg.com, Tubekitty und Facebook – einzige Regel: Die Frau, die ich mir zum Wichsen aussuchte, durfte meiner Mutter nicht ähneln. Ich hätte mich nur noch kränker gefühlt, wenn ich auf meine Mutter onaniert hätte.

Ich machte mich also künstlich horniger, als ich es gerade war. Im halbsteifen Zustand onanierte ich. Spritzte ab und fühlte mich nur noch leerer. Eine Endleere. Onanieren war der letzte Halm, an den ich mich klammerte, wenn ich leer war und nicht wusste, was ich sonst Sinnvolles machen sollte.

Das war dann mein persönlicher Tiefpunkt des Tages: 9.35 Uhr, nichts erledigt, kaum gegessen, wieder im Bett und zwei Mal onaniert.

Meine Gedanken wanderten in diesen Wochen immer wieder zu Sunny, ich hätte sie so gerne angerufen, aber das ging nicht. Was hätte ich ihr auch sagen sollen? »Du, Sunny, ich liege seit sechs Stunden im Bett, bin depressiv, habe zwei Mal onaniert, Losermodus, und bei dir?« Wahrscheinlich hätte sie sogar dafür Verständnis gehabt. Aber wie unmännlich ist das? Männlichkeit, diese neue, seltsame Männlichkeit. Männlich. Ich weiß gar nicht so genau, was männlich ist. Bin ich männlich? – I do not know. Boys don’t cry. Männlichkeit kann so unmännlich sein. Oder ist Unmännlichkeit männlich? Hauptsache kein Frauenparfum – zumindest keines, das man als solches erkennt.

An manchen Tagen wollte ich einfach nur meine Augen schließen und nicht wieder aufwachen – das wäre dann die softe Variante gewesen. Manchmal saß ich aber auch in meinem Auto bei hundertachtzig km/h und dachte mir: Hallöchen, einfach mal das Steuerrad rumreißen und bääm! Eine Sekunde und weg – einfach durchziehen! Den Mut brachte ich nicht auf. Obwohl, vielleicht ist es auch mutiger, sich nicht umzubringen.

 

An einem dieser Depri-Matratzen-Tage war mir viel zu spät eingefallen, dass ich noch am selben Abend zu einem Geburtstag eingeladen war. Fuck! Ich wusste nicht, wie ich es dorthin schaffen sollte. Francesco war einer meiner besten Freunde, aber jetzt unter Leute gehen? Houseparty? Und ein Geschenk hatte ich auch nicht! Ich war komplett abgebrannt. Das ist eh das Übelste, abgebrannt sein und dazu noch depressiv. Existenzängste hoch zwei.

Ich irrte durch meine Wohnung und suchte Kleingeld, in den Jackentaschen, in meinen Hosen, in den Schälchen auf dem Schreibtisch, auf Ablagen, unter dem Sofa, in der Sofaritze. Insgesamt kriegte ich so gerade mal zwei Euro und zehn Cent zusammen. Ich sackte auf dem Sofa zusammen, mein Blick fiel auf das Leergut. Um die fünfzig 1,5-Liter-Colaflaschen und zwei leere Wasserkisten. Das hätte für eine CD oder ein Buch als Präsent reichen können. Aber der Gedanke, durch die Oktoberkälte zu eilen, mit zwei Kisten Wasser und fünfzig Colaflaschen, das Leergut einzutauschen, vor dem Leergutautomaten auf dem kalten alkopopverklebten Supermarktboden in den Tüten rumzunesteln und den Gestank, der aus diesem Leergutautomatenloch kam, zu ertragen, schreckte mich extrem ab. Und wenn der Automat die Flaschen nicht erkannte?

Diese Unruhe, die aufkommt, wenn er die Flaschen nicht annimmt, sie mit so einem lauten Losergeräusch immer wieder zu mir zurückschiebt und die Typen, die in der Schlange hinter mir stehen, immer angenervter werden, was mich wiederum auch noch viel unruhiger macht, nein, das wollte ich mir echt nicht geben. Ich entschied mich, das Leergut einfach mitzunehmen und das Geburtstagskind zu bitten, es selbst zurückzubringen und sich etwas davon zu kaufen. Das war ein Kompromiss und originell. Zumindest konnte ich so sicher sein, dass Francesco das Geschenk nicht doppelt bekam.

Wenn du depressiv bist, gehst du eh oft Kompromisse ein. Du tust Dinge, die du vorher nie getan hättest. Manchmal macht man nicht nur Kompromisse, man vermeidet es einfach, überhaupt eine Entscheidung zu treffen. Ich war abgestumpft. Selbst ein Date mit Selena Gomez löste bei mir keine Emotionen aus, nicht mal der Gedanke, mit ihr einen Kurztrip ins Disneyland zu unternehmen.

Draußen war es dunkel geworden. Natürlich ging ich am Ende nicht zu Francescos Geburtstag. Stattdessen blieb ich im Bett bei meinen Kuscheltieren.

*