Der Krieg im Westen - Bernhard Kellermann - E-Book

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Bernhard Kellermann

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Beschreibung

Das besetzte Frankreich ist heute Friede und Sonne. Der Zug fliegt dahin, sorglos und leicht, als ob er Vergnügungsreisende an Bord habe, durch grüne Täler und blühende Landschaften. Er hat nichts Martialisches mehr an sich. Vor Monaten keuchte und klirrte er, wie ein schwerer Krieger, der in die Schlacht geht, er rasselte wie Panzer und tastete sich zornig vorwärts. Heute ist er ein gutmütiger europäischer D-Zug geworden, der unbekümmert seine Meilen abfährt. Fern ist der Krieg. Auf den Höhen der Ardennen liegt die Sonne, die Luft schmeichelt, die junge Saat leuchtet.

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Der Krieg im Westen

Kriegsberichtevon Bernhard Kellermann

1915

© 2022 Librorium Editions

ISBN : 9782383832591

Inhalt

 

Zur Westfront

Das Feuer von Ypern

Die Feldschanze

Die Schlachtfelder in Flandern

Nach den Schlachten

Ein Flieger über Brügge

Die Schlacht bei Arras

Die Lorettohöhe unter Feuer

Nachtkämpfe bei Arras

Ein tapferes Regiment

Gefangene aus der Arrasschlacht

Die Gewitterstadt

Die Kämpfe bei Moulin-sous-Touvent

Granaten auf die Vororte von Soissons

Fliegerangriff auf Fesselballone

Der gefangene Sozialist

Die Grabenkämpfe bei Souchez

Der Kirchhof von Souchez

Die Überlebenden aus dem Kirchhof von Souchez

Das Schlachtfeld Arras-Souchez-Lorettohöhe vom Fesselballon aus

Der Argonnerwald

Die Kämpfe in den Argonnen

Höhe 285

Der Krieg unter der Erde

La Bassée

Die Gräben bei La Bassée

Dicke Luft

Der Herr der Haubitzen

Der siegreiche Angriff in den Argonnen am 8. September

Zur Westfront

3. Mai 1915

D

as besetzte Frankreich ist heute Friede und Sonne. Der Zug fliegt dahin, sorglos und leicht, als ob er Vergnügungsreisende an Bord habe, durch grüne Täler und blühende Landschaften. Er hat nichts Martialisches mehr an sich. Vor Monaten keuchte und klirrte er, wie ein schwerer Krieger, der in die Schlacht geht, er rasselte wie Panzer und tastete sich zornig vorwärts. Heute ist er ein gutmütiger europäischer D-Zug geworden, der unbekümmert seine Meilen abfährt. Fern ist der Krieg. Auf den Höhen der Ardennen liegt die Sonne, die Luft schmeichelt, die junge Saat leuchtet. Die Felder sind bestellt, säuberlich bunt wie ein Teppich. Nur da und dort liegt ein Acker grau und welk, vergessen und verödet, ungepflegt und stumpf, wie ein Mensch, der trauert. Man sieht ihn meilenweit! Was an Leuten zurückgeblieben ist und nicht vor dem Krieg entfloh, arbeitet in den Fluren. Es sind nur spärliche, dünne Trupps, die in der Sonne zerrinnen. Viele, die diese fruchtbare Erde gebar, sind fort, und viele kommen nicht wieder. Eine leise Beklommenheit liegt auf dem Lande. Halbwüchsige Burschen, Frauen und Greise streuen die Saat und verrichten heuer jene Arbeit, die sonst den Kräftigsten, Blühendsten und Erfahrensten zusteht. Hingegeben und ganz bei der Sache, voll heißer Wünsche, denn das Brot ist kostbar, schreiten sie durch die Äcker und schwingen den Arm, mit jener schönen und freien Geste, die ein Symbol des Friedens und der Wiedergeburt ist. Der Pflug ist hinter den Kanonen hergekommen und nahm seine Arbeit wieder auf. Die Schützengräben hier und da, wo der Krieg seine Zähne einschlug, sind längst zugeschüttet, Narben in der gemarterten Erde, und der Pflug geht darüber. Bald wird sich das Korn hier wiegen und das Land wird vergessen. Verbrannte Häuser und Dörfer, im hellen Schrecken verlodert, erwecken heute, in der Sonne, in der summenden heißen Luft, den Eindruck, als seien sie einem Schadenfeuer zum Opfer gefallen. Nicht anders sehen sie aus. Sie jammern und schreien nicht mehr wie im Herbst und Winter, wo sie ihre rauchgeschwärzten, verstümmelten Mauern in den Himmel streckten. Der Frühling deckt sie zu. Sie schweigen. Grün und Blüten verhüllen ihren Gram. Ein blühender Kirschbaum steht jung und schön, triumphierend inmitten der rauchgebeizten Trümmer einer Mühle, und Gras und Blumen sind dabei, die verbrannte Erde zurückzuerobern. Das Leben ist stärker als der Tod und der liebe Gott läßt sich nicht durch Granaten imponieren! Im November war ich im zerschossenen Longwy, alles war durchlöchert, zerschmettert, verbrannt – aber schon trieben die angekohlten Platanen des Kirchplatzes wieder starke grüne Knospen. Herden von Rindern weiden friedlich im Gras, dem Geschäft des Fressens hingegeben, und Väterchen hütet sie, das alte nämliche französische Väterchen, mit Holzschuhen, einem verwilderten grauen Bart, hager und mit entzündeten Augen, die flache Mütze auf dem kahlen Schädel. Weidende Pferde, Stuten mit ihren Füllen. Eine glückliche Schwangerschaft hat sie vor schwerem Dienst bewahrt.

Der Bahnhof von Sedan ist so still, daß ich ihn kaum wiedererkenne. Im Oktober stand hier Zug an Zug, Gewühl, Lärm, Staub, Kanonen, Truppen, Sanitäter, Schwestern, Gefangene, Verwundete, Schmutz und Blut. Er war ein krachendes Rad am Kriegswagen. Heute ist es der Bahnhof einer kleinen Provinzstadt mit mäßigem Verkehr. Nichts sonst. Zwei endlos lange Lazarettzüge stehen da, aber sie sind beide unbelegt. Sie stehen in der grellen Sonne, alle Türen und Fenster offen, und schlafen. Das Personal sitzt und sonnt sich. Eine kleine rotbäckige Schwester gähnt und klopft sich auf den Mund, als sie sich beobachtet sieht. Ein Krankenwärter sitzt auf dem Trittbrett und schneidet sich sorgfältig die Nägel; ein andrer wäscht sich, er hat eben ausgeschlafen. Im Arztwagen ist keine Seele zu sehen. Wahrhaftig, wäre es nicht frivol, so könnte man sagen, die Lazarettzüge sehen wie Badehotels aus, die auf Gäste warten. Bei den Rampen stehen auf den Loren zwei nagelneue Flugzeuge, die Flügel zusammengeklappt, wie Schmetterlinge, die eben aus der Hülle schlüpfen und sich die Flügel von der Sonne trocknen und ausbügeln lassen. Bald werden sie hoch oben auf der sonnigen Luft liegen. Vom Frühling ausgebrütet, glänzend neu, liegt Material da und dort auf den Stationen: Lastautomobile, ohne Tadel, grüngestrichene Pumpen, feldgraue Karren; ein Trupp Infanterie, mit neuen Uniformen und frischen, roten Gesichtern, wie Knospen, gerade vom Gärtner geschnitten. Auf einem in der Sonne blitzenden Geleise stehen ein paar Geschütze. Neu wie das Gras auf der Wiese. Sie haben noch kein Blut geschluckt, es sind Kanonenjungfrauen; drall, massiv, die Haut glatt und kalt. In ihre ehernen runden Hüften gestützt, harmlos und unschuldig wie junge Raubtiere, glotzen sie mit ihren runden Mäulern, von dem Instinkt ihrer Rasse getrieben, in die Richtung, in der sie den Feind wittern.

Der Zug fliegt weiter, läßt die Jungfern hinter sich, die neugierig und dumm noch immer in die gleiche Richtung starren, bis sie plötzlich hinter einem Berg von Blüten verschwinden. Ja, die Geschütze werden bis an den Hals in Blumen versinken, aber feuern werden sie doch! Eine Feldwache liegt unten im Schatten von Kastanien und schreit nach Zeitungen. Auch sie, die Biedern und Treuen, haben ein frühlingshaftes und friedlicheres Aussehen bekommen. Früher, in den kalten Monaten, eingemummt in Decken, Tücher und Mäntel, erschien jeder einzelne, der an der Strecke stand, wie ein festmontierter Panzerturm, drohend und unerbittlich. Heute, mitten im Grün, sehen sie lachend und friedfertig aus, wie gutmütige, treuherzige Burschen, die sie sind. Das herrliche Wetter hat sie aus ihren Löchern und Bauten gelockt und sie sonnen sich und genießen. Sie haben es redlich verdient. Ich konstatiere mit Freuden, daß der Winter ihnen nichts geschadet hat. Wohlgenährt, rosig und blühend sehen sie aus. Sie sind guter Laune und nun ganz zu Hause. Eine Wache hat große Wäsche und wirtschaftet schwitzend und halbnackt im Garten. Die Herrlichkeiten bleichen auf dem Rasen. Ein Dienstfreier hat soeben sein Bad genommen. Nur mit einer hochgekrempten Leinenhose bekleidet, sitzt er im saftigen Gras und schmort. Er hat ein Handtuch wie einen Turban um den rotglühenden Schädel geschlungen, da sitzt er wie ein Sultan und glänzt vor Gesundheit und guter Laune. Neben ihm hockt ein winziger weißer Hund, kaum acht Tage alt. Andre stehen vergnügt in einem Kreise von Weibern und Kindern und winken dem Zuge zu. Häufiger und häufiger aber werden die Angler!

Ist es das französische Wasser, das zum Angeln lockt? Ist es der französische Fisch? Jedenfalls sitzen sie genau wie Stockfranzosen geduldig und aufmerksam mit der Rute da, wie gewiegte Sportsleute und Kenner und ergeben sich der Hypnose des glitzernden Wassers. Es handelt sich hier um einen Sport wie jeden andern, und der Erfolg ist nicht die Hauptsache. Sie sitzen an Pfützen und Löchern, wo gar keine Fische sein können, aber das ist einerlei. Auf einer Station trete ich an einen feldgrauen Angler heran, der so angespannt arbeitet, daß er nicht einmal nach dem Zug umblickt. Ich erlaube mir die Frage, ob er schon etwas gefangen habe? Der Angler dreht bedächtig den roten Nacken. Ob ich nicht sehen könne? Er ist Württemberger. Ach so! Entschuldigen Sie. In einer Blechbüchse neben ihm schwimmen zwei winzige Sardinen.

Aber was ist das? Eine Rudergesellschaft! Fünf Feldgraue befahren in einem gebrechlichen Nachen einen Wassergraben, kaum zwei Schritt breit. Sie haben so voll geladen, daß der Mann im Heck schon mehr im Wasser sitzt als im Boot. Mit ihren primitiven Rudern legen sie einen Knoten in der Stunde zurück. Aber Sport ist Sport. Plötzlich schreien sie laut und wild und lachen: sie sind auf Grund gelaufen.

So viel frohe und helle Stimmen sind in der Luft. Die Hühner gackern in den Gärten, Vögel zwitschern, Kinder wälzen sich lärmend im Gras, die Luft summt von Insekten. Der Himmel strahlt Zuversichten und Hoffnungen. Man atmet auf. Viele Monate hat man an einem schweren Gedanken getragen ...

Ich will in den Speisewagen gehen und frühstücken. Aber gerade als ich die schlingernden Korridore entlang balanciere, beginnt es in der Ferne zu brummen. Ich horche auf. Es rollt, murrt, grollt wie Gewitter, ein Satz ferner Kanonenschläge. Er steht immer noch da draußen, der blutige Trommler und schlägt seine Wirbel! Ich hatte ihn fast vergessen.

Das Feuer von Ypern

8. Mai 1915

W

ährend die verbündeten Armeen in Westgalizien das russische Tor aus den Angeln brechen, sind wir hier oben im Westen dabei, die englisch-französische Panzertür einzurennen. Der Gegner hier oben ist zäher und intelligenter und läßt sich die Zähne aus dem Maul schießen, bevor er weicht. Die Kämpfe sind wütend. In aufrechten Sturmkolonnen liefen die Engländer da und dort gegen das Feuer unsrer Gräben an. Man ist guten Muts und voller Zuversicht. Wie ich höre, haben sich unsere Truppen in höllischen Nahkämpfen wie Rasende geschlagen. Sie gingen wie glühende Teufel vor. Ich sah sie heiß und dampfend aus den Stellungen zurückkehren, und der Rausch des Kampfes lag noch in ihren siedenden Augen und über den rauchenden, marschierenden Kompanien. Einige trugen Verbände, die meisten hatten schon wieder den Weg in die Wirklichkeit zurückgefunden und lachten. Seit den letzten Tagen dröhnt hier Himmel und Erde vom Donner der Geschütze. Die Kraterkette, die die deutschen Batterien in weitem Bogen gegen Ypern vorschoben, speit täglich Hunderte von Tonnen Eisen in den Hexenkessel von Ypern hinein. Ein Hauptmann versicherte mir, das Feuer sei heftiger, als es vor Antwerpen war.

Heute morgen um sechs Uhr war ich an der Front, die im Südosten an das Operationsgebiet von Ypern stößt. Die Kanonen sind noch früher aufgestanden. Sie pochen, atemlos, wie schwere Schmiedehämmer, die im Akkord arbeiten, und die Luft wettert von den wütenden Schlägen. Auch nicht eine einzige kleine Sekunde Pause gönnen sie sich. Sie sind ein Rudel von Gewittern im Hochgebirge, die knurren und grollen, verstört hin und her irren und nicht zur Ruhe kommen. Häufig fallen die Schläge zusammen, und dann dröhnt und rollt es, als donnere eine Bergwand zu Tal. Sie stampfen über und unter der Erde, sie sind ringsum, überall. Der ganze Horizont brandet. Sie saugen die Atmosphäre ein und schnauben sie aus. Das Gebäude der Luft wankt. Je näher das Auto jagt, desto wütender und wilder wird das Feuer. Deutlich hört man aus dem atemlos auf und ab wogenden Pochen und Stampfen das böse, tiefe Raubtierknurren der schwersten Geschütze heraus, die die andern überbrüllen.

Wir halten in einem zerschossenen Gehöft, einige hundert Meter von den englischen Stellungen entfernt, und der Boden rollt ununterbrochen unter meinen Füßen, wie von schweren Lastautomobilen. Die Seismographen, denke ich, müssen die Erschütterung der Erdkruste auf Hunderte von Meilen im Umkreis anzeigen, falls sie etwas taugen. Ich habe noch kein Erdbeben erlebt, aber es kann kaum anders sein. Es ist richtiges wildes Trommelfeuer (ein neues Wort für mich) und zuweilen verschlägt es mir den Atem, obschon ich einigen Lärm vertrage. Schlag auf Schlag, bebend von Leidenschaft, unerbittlich und rasend, Salvenhiebe eines Boxers, der den Gegner erbarmungslos niederhämmert. Die Geschütze schütteln sich vor Wut, sie glühen und taumeln, kochenden Schaum vor dem Maul, und speien ihren Haß hinüber.

Der Morgen ist göttlich. Die Welt leuchtet und die Vögel singen unbekümmert. Aber ich sehe und höre nicht, ich ergebe mich der lauten Brandung des Feuers, die mächtig, wie der Ozean, daherrollt. Zuweilen wage ich es, einen kleinen scheuen Blick zum Himmel emporzuwerfen, der in seiner Herrlichkeit blendet, zuweilen erbleiche ich im Innern, und manchmal hätte ich Lust, mich zu bekreuzen. Ich bin, ohne mich’s zu versehen, mitten in ein Gewitter der Urzeit geraten, da die Erde sich spaltete und die Gebirge gebar. Oder was ist es? Führt die Erde Krieg mit der Sonne und befeuert sie aus ihren Vulkanen rasend das Gestirn am Himmel? Poltern Unholde im Raum, die ich nicht sehe und die rings um mich toben? So unheimlich und mächtig ist das Toben, von solch elementarer Wucht, daß meine Maßstäbe versagen, wie vor den Zahlen der Astronomen, und es mir schwer wird zu glauben, daß hier Menschen kämpfen und auf Fleisch und Knochen geschossen wird. Ja, verstehst du wohl, es ist der Mensch, von menschlichen Müttern geboren, der hier eine Sache unter sich ausmacht. Auf seine Art, mit seinen Maschinen und seinem Zorn. Der Dämon der Erde, angefüllt mit urweltlichen Instinkten, die lange schlafen und die ein Nichts wecken kann. Ich bin, wenn man will, in ein Völkergewitter geraten, das sich wütend entlädt, bei dem es Eisen hagelt und Blut regnet.

Ich muß gestehen, ich möchte heute nicht in Ypern und in der Umgebung Yperns sein. Ich möchte auch nicht, daß ein Freund und Bruder von mir dort wäre. Selbst für englische Nerven, denke ich, muß es genügen, und ich bin sicher, heute gehen ihnen die Pfeifen aus. Ich spreche gar nicht von den Franzosen und Farbigen, die mit der Hälfte zufrieden wären. Sie – die Engländer – wissen recht gut, daß es uns Ernst ist, und täuschen sich nicht über die Lage. Unerbittlich und mitleidlos ist die Sprache der Geschütze. In ganzen Rudeln stoßen ihre Flugzeuge aus dem Feuerloch, aufgescheucht und unruhig, und kreuzen hartnäckig und verzweifelt über unsern Stellungen, um die Geschütze zu finden. Wie zornige Raubvögel, deren Horst brennt, kreisen sie hoch oben und spähen nach dem Feind. Heute morgen, vor fünf, hat mich schon das Krachen der Abwehrkanonen aus den Federn getrieben. Nun, da der Tag wächst, stehen bald rechts, bald links hoch oben am blauen Himmel die Reihen der weißen Schrapnellwölkchen. Plötzlich kracht es auch dicht neben mir, ein harter und naher Knall, und eine Granate zischt gierig und böse knirschend über meinen Kopf hinweg in den Himmel empor. Ein englischer Doppeldecker in eiliger Fahrt, gut 2000 Meter hoch. Das Schrapnell explodiert hinter ihm. Zwei, drei. Wie Raketen fauchen sie in die Höhe. Vier, fünf. Ein Maschinengewehr rasselt und streut eine Fontäne von Spitzkugeln in den Äther. Nun reißt ein Geschütz in einiger Entfernung links ab und der Engländer bekommt Stirnfeuer. Prächtige Schüsse! Ein Schrapnell muß dicht über ihn weggeflogen sein. Der Engländer hat genug, er wendet in toller Kurve und geht mit dem Wind davon. Aber er kommt wieder. Dreimal versucht er es, hartnäckig und kühn, unsre Stellungen zu überfliegen, und dreimal muß er zurück. Das Maschinengewehr hämmert wie toll und kann sich nicht mehr beruhigen.

Das Geschützfeuer aber rollt und pocht, ohne Atem zu holen, die Salven dröhnen. Die Schlacht geht weiter. Wie sage ich? Sie hat erst begonnen. Es ist sieben Uhr.

Am Abend sah ich die Sonne im Westen versinken, blutrot, groß und düster, wie sie an großen historischen Schlachttagen gesunken sein soll. Sie sah aus wie ein blutüberströmtes Antlitz, die Sonne von Ypern, naß, zerschossen, und sterbend noch voll Majestät.

Die Geschütze aber schlugen noch immer.

Die Feldschanze

Mai 1915

D

er Adlerwagen fegt die Landstraße hinunter, als sei der böse Feind hinter ihm her. Er springt in langen Sätzen über die frischbeschotterten Granattrichter hinweg und sucht so rasch wie möglich in Deckung des zerschossenen Gehöftes zu kommen, auf das die staubige Straße schnurgerade zuführt. Die Sache ist die: gewöhnlich setzt es hier eine Lage, und die feindlichen Geschütze sind, wie ein Blinder sehen kann, verteufelt genau eingeschossen. Allein nichts geschieht. Der Wagen duckt sich hinter eine Backsteinbaracke, ein ehemaliges Wirtshaus, dessen Stirn jämmerlich zerschmettert ist wie von Keulenhieben. Hier pflegen die Granaten gewöhnlich einzuschlagen.

Der Begleitoffizier hegt noch immer Hoffnungen. Er lauscht hinüber, und ich sehe ihm deutlich an, daß er enttäuscht ist. Er hatte mir die Lage angekündigt und empfindet es als eine Störung des Programms, daß der Feind zu faul ist zu schießen.

„Dann bekommen wir sie sicher auf der Rückfahrt!“ Das ist ein gewisser Trost.

Zu Fuß geht es weiter, denn er – der Feind – würde es als eine Achtungsverletzung betrachten, wenn man auch die allerletzte Strecke zu den Gräben noch im Auto zurücklegte. Es gibt immerhin Grenzen. Eigentümlich ist das Gefühl, zu Fuß zwei Kilometer in der hellen Sonne eine Landstraße entlang zu promenieren, ohne jede Deckung, knappe achthundert Meter an den feindlichen Gräben entlang. Sie können uns ja deutlich sehen, mit bloßem Auge, und die roten Streifen der Offiziersmützen leuchten weithin. Weshalb schießt er nicht? – „Sie frühstücken, sie rasieren sich.“ – Drüben liegen Engländer. Sie trinken jetzt wohl Tee und essen Marmelade dazu, was mögen sie tun? Immerhin, es liegen Hunderte von Gewehren schußbereit. Vielleicht reizt sie das kecke Rot der Offiziersmützen, vielleicht haben sie schlecht geschlafen, oder vielleicht sind sie mit dem Frühstücken gerade fertig geworden und haben Lust, ein wenig zu arbeiten. Es ist möglich, ja wahrscheinlich, daß uns ein Offizier durch das Glas genau beobachtet, in unsern Mienen mit den Blicken herumtastet, und es lediglich von seiner Laune abhängt, ob er feuern lassen will. Nichts ereignet sich. Auf dem Rückweg allerdings, ich will das vorausnehmen, summten ganz unvermittelt ein paar Kugeln über uns weg – aber nur weil wir stehengeblieben waren, um einen Flieger zu beobachten. Es gibt eben hier Sitten wie überall, gehen ist erlaubt, stehenbleiben wird als Unhöflichkeit angesehen.

In dem von Granaten übel zugerichteten Dorf empfängt uns der Kommandeur des Regiments. Ein Mann wie aus Wurzelholz geschnitzt, knorrig, stark und schlicht, ohne Pose und ohne Phrase. Das gibt es hier außen nicht. Er hat die Augen des Frontoffiziers, Frontaugen, die aus Hunderten herauszufinden ich mich jederzeit erbiete. Sie sind glänzend und rein, bewußt, ein wenig nachdenklich und voll Anteilnahme. Der Mensch ohne Lack und Firnis blickt aus ihnen. Es sind Augen, wie Menschen sie haben, die der Tod anschauerte, die er zuweilen mit seinem Finger berührte und denen er ein kleines Wort zu irgendeinem Augenblick ins Ohr flüsterte.

Wir steigen in die Schanze ein. Hier stand früher einmal eine Brauerei. Früher! Die Granaten sind heißhungrig darüber hergefallen und haben nur Trümmer übriggelassen. Sie haben die Mauern zerfressen, die Kamine mit Stumpf und Stiel verschlungen und Kessel und Röhren zu Klumpen zerkaut. Fanden sie nichts andres, so fraßen sie tiefe Löcher aus der Erde. Laufgänge und Schützengräben durchspinnen und umspinnen den Komplex der Ruine. Mit Sandsäcken und erdgefüllten Bierfässern hat der Kommandeur ein Fort aus den Trümmern gebaut, eine groteske und musterhafte Festung, in der man vor Gewehrkugeln wenigstens ziemlich sicher ist, wenn man nicht allzu großes Pech hat. Wieder und wieder versucht der Feind, die Schanze durch Granaten zu zerstören, immer wieder wird geflickt, gebaut und verrammelt. Bombensichere Mannschaftsunterstände mit winzigen Eingängen – Villa Duck dich, Villa Frieden usw. – mit kleinen blühenden Gärtchen davor. Hier und da ein paar blumengeschmückte Gräber. Der „Friedhof der Leichtsinnigen“. Hier ruhen zur Warnung für die Lebenden jene Tapferen, die aus Unvorsichtigkeit und Leichtsinn dem Tod entgegenliefen. Sie streckten den Kopf aus dem Graben, um zu sehen, ob etwas los wäre, sie krochen aus dem Graben heraus, obgleich es verboten ist, nur um einmal etwas Neues zu tun. Nun liegen sie da, dicht neben den Blumenbeeten, und die Kameraden pfeifen ihr Liedchen über ihr Grab. Das ist, ganz kurz, was es hier oben zu sehen gibt, zwischen den Wällen sozusagen. Die eigentliche Festung aber liegt in den Kellern der Brauerei, zweistöckig und labyrinthisch. Nasse, finstere, niedrige Gänge wie in einer Schauerburg. Trübes Bier schwimmt in einem Graben, Treppen und Verschläge, die in pechschwarze Stollen und Kamine hinabführen, Mauern aus Sandsäcken und Fässern. Schießscharten dazwischen, vorsichtig mit Ziegelsteinen verschlossen. Sehr freundlich sieht es hier nicht aus. In den Kellerräumen, wo die Mauern am dicksten sind, schlafen die Mannschaften beim trübseligen Schein einer verstaubten, elektrischen Lampe. Sie liegen, dicht nebeneinander gepackt, in Uniformen und schweren Stiefeln, so wie sie aus den Gräben kommen. Wie verwunschene Bergleute, von einem Zauber eingeschläfert, liegen sie da. Sie wachen nicht auf, wenn wir eintreten. Der Schweiß perlt auf ihren eckigen Stirnen, es ist heiß hier unten. Sie genießen den Schlaf, sie klammern sich an ihn. Heute sind sie soundsoviel, morgen sind sie einer oder zwei weniger. Ein Platz wird leer sein oder zwei oder mehr. Daran sind sie gewöhnt. Sie leben von heute auf morgen, und sie gehen vom Leben in den Tod, wie man eine Tür zumacht, und niemand sieht sie wieder. Wenn sie heute das erste Wort sprechen, so wissen sie nicht, ob es nicht ihr letztes ist. Ein junger Schläfer schwitzt stärker als die andern, seine Wimpern sind nahezu weiß. Auf seinen roten Backen flimmern feine Härchen. Sein Mund steht offen und zeigt die weißen starken Zähne. Er scheint zu lachen im Schlaf und schläft so ruhig und gesund wie in seinem Dorf zu Hause. Neben ihm liegt ein Dunkelhaariger, mit gelber Gesichtsfarbe und dichten Bartstoppeln. Er schläft unruhig und röchelt gepreßt. Träumt er? Träumt er, daß der Engländer kommt und ungeniert in den Drahtverhauen wirtschaftet, und er schießt und schießt, aber der Engländer ist nicht zu treffen, er zieht eine Zange heraus und fängt an, in aller Gemütsruhe die Drähte zu durchschneiden ... Plötzlich öffnet er die Augen, sie blicken grünlich, und starrt mich an. Sobald er sich regt, taucht hinten ein fahles Gesicht empor. Aber im nächsten Augenblick schlafen sie wieder, und alle schlafen, dicht aneinandergedrückt, tief und traumlos, als ob sie keine Lust hätten aufzuwachen.

Luft, Licht. Wir tauchen aus dem dunkeln Bergwerk empor in die grelle Sonne. Über meinem Kopfe rasselt und trommelt plötzlich ein Kobold in den Kupfertöpfen der Brauerei. Eine Kugel. Sahen sie uns an den Schießscharten vorübergehen? Die Gräben sind das Letzte an Bequemlichkeit und Umsicht. Tief eingeschnitten, so daß man sich nicht zu bücken braucht, die Schießscharten solid verschalt wie tiefe Nischen. Bei jeder ein Täfelchen mit dem Namen des Schützen. Der Boden ist mit Brettern ausgelegt, und da und dort steht: Nicht ausspucken! Es spuckt auch niemand aus. Eine Dame könnte in einem Ballkleid hier gehen. Ich habe von französischen Gräben gehört, wo sie in ihrem eignen Dreck herumlaufen und ihre Toten, mit einer Lage Erde darüber, als Diele benützen. Ein Toter ist tot und spürt nichts mehr, aber trotzdem ...

„Sehen Sie etwas?“

„Ja. Einer guckt immer mit dem Kopfe raus. In der Nacht haben sie eine Puppe an einer Stange aufgehängt. Dort!“

Durch die kleine, rechteckige Schießscharte blickt man in das grüne Land hinein, wie durch ein Fernrohr. Unsere Drahtverhaue, dann eine Wiese, die leicht im Winde schwankt. Dahinter dünnes, wirres Gestrüpp. Das sind seine Drahtverhaue. Ein kleiner Wall aufgeworfener Erde. Sonst ist nichts zu sehen, so sehr ich mich auch anstrenge. Auf diesem Streifen Wiesenland, ein paar hundert Meter breit, bewegt sich nichts, seit vielen Monaten nichts. Es ist ein verfluchter Streifen Land. Das Gras wächst, weil es keine Vernunft hat, aber kein Falter, kein kleiner Vogel lebt hier. Nur die Kugeln spinnen ihr Netz darüber. Plötzlich erschrecke ich. Da steht, man mag es glauben oder nicht, wahrhaftig ein Mensch aufrecht und unbekümmert auf dem Erdwall drüben! Ich erschrecke für ihn, obwohl ich es ja nicht bin, der da drüben steht, und ich erschrecke vor allem, weil sich auf diesem leblosen Streifen Land überhaupt etwas zeigt. Ist er toll geworden? Aber das ist ja die Puppe! Dann und wann knallt es da drüben, in der Ferne rumpelt Geschützdonner. Die Schanze aber schweigt. Sie hat seit zwei Tagen keinen Schuß abgegeben. „Es ist ein richtiger Spaß! Er soll glauben, daß wir fort sind.“ Aber er glaubt es ja doch nicht. Gestern hat er alle Schießscharten einzeln abgestrichen und die Schanze hatte zwei Tote.

Sonderbar ist so ein winziges rechteckiges Fensterchen ins grüne Land. Es ist ein Fenster ins Jenseits ... Es ist möglich, daß in dem gleichen Augenblick, in dem der Feldgraue hinaussieht, der Tod hereinblickt, und der Feldgraue erschrickt und fällt hintenüber ...

Ein Gewirr sind die Gräben, auf, ab, hin und her. Maschinengewehre, sie haben den schönsten Platz. Überall stehen Posten. Sie stehen hier Tag und Nacht, heute, morgen und in diesem Augenblick. Seit dem Herbst, da das Laub fiel, und jetzt ist es wieder grün.

In den letzten Tagen hat die Festung ein neues Fort dazubekommen. Der Feind hat einen Minengang vorgetrieben und gesprengt. Es ist ein Krater, rund und groß wie ein Karussell, und der Rand des Kraters ist schon wieder ausgebaut und befestigt. Ideal ist das Fort, es flankiert unsere Gräben. Leider hat es drei von unsern tapfern Leuten gekostet. Sie liegen tief unten in der Erde, so tief, daß man sie nicht holen kann. So hat hier jeder Tag seine Ereignisse, und die nächste Minute kann sie bringen. Er kann ja eine neue Mine hochfliegen lassen, Gott weiß, worüber er jetzt, in dieser Sekunde, brütet?

Ein Laufgang führt mitten durch das zerschossene Dorf zum Unterstand des Kommandeurs. Hübsch und freundlich ist es hier unten, eine Schiffskabine erster Klasse unter der Erde. Hierher kommen die Offiziere zuweilen des Abends, sozusagen, wenn sie ausgehen wollen. Es sind nur hundert Schritte, aber es ist immerhin eine Abwechslung. Nur eine Schattenseite hat dieser Salon unter der Erde. Er stößt direkt an den Friedhof. Die Granate ist ein böses Tier ohne Vernunft. So ist sie wiederholt in den Friedhof gefahren, wo sie nichts zu suchen hatte, und hat die Gräber der französischen Bürger aufgerissen. Sie warf die Grabsteine durcheinander, hat die Gebeine mit in die Tiefe gerissen, und in einer Familiengruft schwimmt ein Kindersarg. Von der Treppe des unterirdischen Salons aus sieht man über eine Reihe frischer Gräber. Das sind die Toten der Schanze. Der frühere Kommandeur, Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften. Nebeneinander liegen sie, so wie sie auf der Schanze nebeneinander kämpften.

Ja, hier liegen sie, aber in Wahrheit sind sie nicht tot. In Wahrheit leben sie, denn sie sind unvergessen. Sie leben mit den Kameraden auf der Feldschanze, ganz wie früher. Sie wandern durch die Schlafgewölbe und sehen nach, ob sie noch nicht aufstehen, sie sitzen auf den Gräbern und lauschen auf die Gespräche der Kameraden. Bei den Maschinengewehren stehen sie und lugen aus. In der Nacht wandern sie in den Gräben. Sie warnen die Kameraden, sie richten ihnen die Gewehre, sie zeigen ihnen den Feind: dort, dort ...