Der letzte Kreis der Hölle - Volker Jochim - E-Book

Der letzte Kreis der Hölle E-Book

Volker Jochim

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Beschreibung

Die dreijährige Tochter eines deutschen Schönheitschirurgen verschwindet scheinbar spurlos aus dem Ferienhaus der Eltern in Caorle. Nach einer groß angelegten Suchaktion geht die örtliche Polizei von einer Entführung aus. Nur, es gibt keinerlei Spuren, die auf die Beteiligung einer fremden Person schließen lassen könnten. Als sich direkt nach dem Verschwinden des Mädchens plötzlich das Bundeskriminalamt einschaltet, ist Mareks Interesse geweckt. Es beginnt ein perfides Katz- und Mausspiel zwischen den Behörden, der Polizei und den Betroffenen, dessen Ende das Vorstellungsvermögen der Ermittler weit übersteigt. Obendrein ist Marek am Grübeln, ob dieser Ort für ihn noch der richtige zum Leben ist.

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Volker Jochim

Der letzte Kreis der Hölle

Kommissar Marek kommt ins Grübeln

Kommissar Mareks vierter Fall

Kriminalroman

© 2015 Volker Jochim

Umschlag, Illustration: trediton,Volker Jochim (Foto)

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

1. Auflage

ISBN

Paperback

978-3-7323-7795-4

Hardcover

978-3-7323-7796-1

e-Book

978-3-7323-7797-8

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

1

28. April

Der Tag war grau, trübe und kalt. Eigentlich so, wie sich schon der ganze April in diesem Jahr präsentierte. Tief hingen die Wolken über Murnau und dem Garmischer Land. Touristen waren bislang ferngeblieben, was bei diesem tristen Wetter auch kein Wunder war.

Über ausbleibende Klienten musste man sich in der Privatklinik Bruckner, die am südöstlichen Ortsrand von Murnau gelegen war, keine Gedanken machen. Die Klinik, ein postmoderner, weißer, mit vielen Glasflächen applizierter Bau, war bis auf den letzten Platz belegt. Schönheitsoperationen hatten halt immer Saison und der gesamte Geldadel von München bis Kitzbühel zählte zum Patientenstamm.

Vergrößerungen der weiblichen Oberweite, um möglicherweise das Dirndl beim nächsten Oktoberfest besser ausfüllen zu können und Jahre später die Verkleinerung, um den Gesetzen der Schwerkraft entgegen zu wirken, das Absaugen der allzu deutlichen Zeichen des Wohlstandes und der Bewegungsarmut, oder das Unterspritzen noch so kleiner Fältchen und der Lippen mit einem nicht gerade ungefährlichen Nervengift, was schon so manchem Mund das Aussehen eines Schlauchboots verliehen hatte. Alles dies hat der Klinik zu einem besonderen Ruf und seinem Besitzer zu einem nicht unbeträchtlichen Vermögen verholfen.

***

„Guten Abend, Herr Doktor.“

Doktor Gerhardt Bruckner, ein großer, schlanker, sonnengebräunter Mann Anfang vierzig, betrat die Rezeption seiner Privatklinik für kosmetische Chirurgie.

„Guten Abend, Frau Memberger, liegt noch etwas Besonderes an?“

„Nur Herr Riedle von der Staatskanzlei hat um Rückruf gebeten und ein Dottore Solino aus Italien rief an, hat aber keine Nachricht hinterlassen.“

„Danke, darum kümmere ich mich gleich.“

„Wie war die Tagung?“

Charlotte Memberger leitete nicht nur den Empfang, sie war auch Dr. Bruckners Sekretärin und, das bildete sie sich zumindest ein, seine Vertraute.

„Eigentlich langweilig wie immer, aber ich habe ein paar interessante Kontakte knüpfen können.“

Dr. Bruckner sah auf seine goldene Armbanduhr.

„Oh, schon gleich sechs Uhr. Sie können dann Feierabend machen, Frau Memberger.“

„Danke, Herr Doktor, ich wünsche Ihnen einen schönen Urlaub.“

„Danke Ihnen, wir sind ja nächste Woche schon wieder zurück.“

***

Dr. Bruckner betrat sein elegantes Büro, warf seinen Aktenkoffer auf einen der Ledersessel, die um einen Besprechungstisch gruppiert waren, setzte sich auf die Kante seines Mahagonischreibtisches, griff nach dem Telefon und wählte eine Nummer der Staatskanzlei.

„… ja Franz, ich denke daran. Wir sind in einer Woche wieder zurück. Kommt der Ministerpräsident auch? Prima, und diese Schauspielerin, wie hieß sie doch gleich …? Ja, genau die. Gut, dann sehen wir uns auf der Gala.“

Zufrieden verließ er die Klinik und fuhr nach Hause.

***

Als er eine halbe Stunde später die Tür seiner Villa aufschloss, empfing ihn seine völlig aufgelöste, schon fast hysterisch wirkende Frau.

„Gerhardt, wo bleibst du denn? Ich schaffe das nicht mehr. Das ist mir alles zu viel. Wir wollten doch schon vor über einer Stunde fahren.“

„Ist doch nicht so schlimm. Ich hatte noch zu tun. Dann hat mich Franz noch aufgehalten, wegen der Spendengala. Wir sitzen mit am Tisch des Ministerpräsidenten.“

„Schön, aber das interessiert mich im Augenblick überhaupt nicht.“

Renate Bruckner fuhr sich fahrig durch ihr blondes, schulterlanges Haar. Eigentlich war sie eine attraktive Frau Mitte dreißig mit sportlicher Figur, doch ihr Gesicht zeigte deutliche Spuren, die Stress und Nervosität hinterlassen hatten.

„Die Zwillinge sind wenigstens einigermaßen ruhig, aber Ann-Kathrin nervt mich schon den ganzen Tag. Sie ist wie aufgedreht.“

„Warte einen Moment, dann gebe ich ihr ein Beruhigungsmittel. Ich muss nur noch Eduardo anrufen. Er hatte versucht mich zu erreichen.“

„Beeil dich bitte. Ich kann nicht mehr.“

Bruckner strich seiner Frau kurz übers Haar, ging in sein Arbeitszimmer, entledigte sich seines Jacketts griff zum Telefon und wählte die Nummer seines italienischen Freundes.

***

Eduardo Solino besaß ein gutgehendes Pharmaunternehmen im Industriegebiet von Montecchio Maggiore, direkt an der A4 zwischen Verona und Venedig. Einen Großteil seines Erfolges verdankte er seinen guten Beziehungen bis in die höchsten politischen Kreise. So wurde er einer der erfolgreichsten Lobbyisten in Rom. Als kleine Gegenleistung finanzierte er Wahlkämpfe und Aktionen gegen alles, was links neben dem rechtspopulistischen Parteienspektrum stand.

***

„Buona sera, Eduardo … ja wir fahren gleich los. Ihr kommt am dritten Mai? Dann bestelle ich schon einen Tisch. Grüß’ Rosanna von mir. Ciao.“

Seit Bruckner Solino vor einigen Jahren auf einem Pharmakongress in Verona kennengelernt hatte, trafen sich beide Familien regelmäßig in Caorle, wo die Bruckners ein Feriendomizil besaßen.

Nachdem er aufgelegt hatte, öffnete er eine Schublade seines Schreibtischs und entnahm ihr ein kleines, unbeschriftetes Glasröhrchen.

***

Dr. Bruckner schaltete die Alarmanlage ein, verschloss das Haus und setzte sich in seinen Range Rover, in dem seine Familie schon wartete.

„Jetzt sind sie ruhig“, stellte er nach einem kurzen Blick auf die Rückbank fest, auf der alle drei Kinder in ihren Sitzen friedlich schliefen.

„Ist es auch nicht schädlich?“

„Nicht in kleiner Dosierung. Du sollst es ihr ja auch nicht dauernd geben.“

„Was ist das für ein Zeug? Woher hast du das?“

„Das ist eine Neuentwicklung von Eduardo. Er hat es mir zum Ausprobieren geschickt.“

„Hast du es mitgenommen?“

„Ja, es ist im Notfallkoffer. Pass bitte mit der Dosierung auf, falls du es einmal brauchen solltest.“

„Dieses Kind macht mich fertig. Es muss doch die Möglichkeit einer Behandlung geben. Du bist doch Arzt.“

„Aber kein Kinderarzt. Außerdem warst du ja schon mit ihr bei mehreren Kinderpsychologen.“

„Und was haben die gemacht? Nichts! Die haben mir nur gesagt, dass sie ein gesundes und sehr lebendiges Kind sei. Aber was hilft das mir? Ich kann nicht einmal mehr in Ruhe ein Buch oder eine Zeitschrift lesen, geschweige denn mit einer Freundin telefonieren, schon hängt sie an mir und will irgendetwas.“

„Ich wollte ein Kindermädchen einstellen, aber du warst ja dagegen.“

„Ich will keine Fremden im Haus. Da fühle ich mich unwohl und beobachtet.“

„Warte einmal ab, vielleicht tut euch der Urlaub gut“, versuchte er das Gespräch zu beenden. Manchmal verstand er seine Frau wirklich nicht und das war auch hier der Fall. Sie war es doch, die diesen unbedingten Kinderwunsch hatte. Was stellte sie sich denn vor? Dass sich die Kleinen ausschließlich mit sich selbst beschäftigten und sie ein Leben führen konnte, wie vor Ann-Kathrins Geburt? Er konnte ja schließlich nicht zu Hause bleiben und die Klinik vernachlässigen, die ihnen genug Geld für ein sorgenfreies Leben einbrachte und das seine Frau auch gerne annahm.

***

Da um diese Zeit die Autobahnen wie leer gefegt waren, konnte er den schweren Wagen richtig ausfahren, und so erreichten sie gegen Mitternacht ihr Ferienhaus in der Via Largo Verona, auf der Levante Seite von Caorle, einer ruhigen, beschaulichen Kleinstadt im Veneto. Obwohl bei diesem Anwesen von einem Ferienhaus zu sprechen schon fast eine schamlose Untertreibung wäre. Bruckner betätigte die Fernbedienung und das geschwungene, dunkelgraue Stahltor öffnete sich. Das zweigeschossige, in weinrot gestrichene Gebäude lag nur eine Parallelstraße von der Strandpromenade entfernt, aber doch jenseits des touristischen Rummels am hinteren Ende eines Rondells, an dem sich sonst nur noch sechs weitere, ähnliche Anwesen befanden.

Im Erdgeschoss gab es ein großes Wohnzimmer mit einem offenen Kamin und einer Glasfront zur Terrasse, sowie einen großzügigen Essbereich und im Anschluss daran die offene Küche. Außerdem gab es noch ein kleines Gästezimmer mit Bad. Im Obergeschoss lagen, direkt gegenüber der Treppe, die beiden Kinderzimmer, sowie das Schlafzimmer, ein großes Bad und ein Ankleidezimmer.

Nachdem sie die Kinder in ihre Betten gebracht und die Koffer ausgeräumt hatten, saßen die Bruckners bei einem Glas Barolo auf der riesigen Ledercouch im Wohnzimmer und sahen hinaus in die Dunkelheit.

***

Die nächsten Tage verliefen ziemlich ereignislos. Das Wetter zeigte sich hier an der nördlichen Adria von seiner besten Seite. Die Sonne schien von einem blauen, fast wolkenlosen Himmel und die Temperaturen kletterten tagsüber schon auf sommerliche fünfundzwanzig Grad.

Bruckner verbrachte seine Zeit auf dem Golfplatz von Duna Verde, dem besten Ort zum Anknüpfen geschäftlicher Beziehungen, und seine Frau mit den Kindern am Strand.

2

3. Mai

„Das war der schönste Tag, Mami!“

Ann-Kathrin strahlte über das ganze, mittlerweile von der Sonne leicht gerötete Gesicht, als die Familie am späten Nachmittag vom Strand aufbrach. Die Kinder wären gerne noch etwas länger geblieben, auch weil Ihr Vater sie erstmals begleitet hatte, aber die Bruckners hatten sich ja für den Abend mit den Solinos zum Essen verabredet. Für neunzehn Uhr war ein Tisch im Park Hotel Pineta reserviert. Dieses Hotel wählte Bruckner gerne für die jährlichen Treffen mit Eduardo Solino und dessen Frau Rosanna, da es, obwohl es auf den ersten Blick nicht den Eindruck machte, bekannt für eine ausgezeichnete venezianische Küche und einen gut sortierten Weinkeller war. Außerdem lag es in der Nähe ihres Hauses und so konnte man schnell einmal zwischendurch nach den Kindern sehen.

Nachdem die Kinder ihr Abendessen eingenommen hatten und in ihre Betten gebracht waren, bereiteten sich die Bruckners auf das Treffen mit ihren Freunden vor. Während er gerade eine dezent gestreifte Krawatte umband, saß sie, noch in Unterwäsche, vor dem Spiegel und legte Makeup auf.

In diesem Moment öffnete sich die Türe des Schlafzimmers.

„Ich kann nicht schlafen, Mama“, jammerte Ann-Kathrin, die mit ihrem roten Plüschaffen in der Hand im Türrahmen stand.

***

Als die Bruckners um kurz nach sieben Uhr das Restaurant betraten, saßen Eduardo Solino und seine Frau Rosanna bereits an dem für sie reservierten Tisch an der großen Fensterfront, die einen Blick auf das Meer gestattete, auf dessen ruhiger, glatter Oberfläche sich das Orange-Rot des Abendhimmels spiegelte. Die Begrüßung war herzlich wie immer, wenn man sich traf und beide Seiten hatten auch das Gefühl, dass diese Herzlichkeit durchaus echt war. Solino selbst hatte in Bruckner einen Bruder im Geiste, mit dem man sich trefflich über die Entwicklung und Wirkung von Pharmazeutika austauschen konnte.

„Bitte entschuldigt unsere Verspätung, aber unsere Tochter wollte partout nicht ins Bett.“

„Das macht doch nichts. Kinder sind halt manchmal etwas unruhig. Schläft sie jetzt?“

„Ja. Renate hat ihr etwas zur Beruhigung gegeben. Aber lasst uns jetzt essen. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich habe Hunger.“

„Wir können ja zwischendurch einmal nach den Kindern sehen“, meinte Rosanna Solino, nachdem sie Platz genommen hatten.

***

Sie eröffneten ihr Menü mit cape sante a’la venessiana. Dazu nahmen sie einen gut gekühlten, leicht perlenden Verduzzo aus der Region.

„Habt ihr öfter Probleme mit den Kindern?“ fragte Rosanna Solino. „Ich meine, dass sie nicht ins Bett wollen. Vielleicht ist es ja auch nur wegen des Urlaubs, dass sie so überdreht sind.“

„Wenn es das nur wäre“, entgegnete Renate Bruckner und ihre Stimme klang resigniert, „aber Ann-Kathrin ist auch zu Hause so nervig. Ich kann praktisch nichts tun, ohne dass sie mir am Rockzipfel hängt. Mit den Zwillingen habe ich diese Probleme nicht. Ich hoffe, dass es auch so bleibt.“

„Bestimmt“, meinte Rosanna wenig überzeugend und beglückwünschte sich insgeheim auf Nachwuchs verzichtet zu haben.

***

Zwei Kellner erschienen mit dem nächsten Gang. Sie hatten sich für sievo’li ai feri entschieden. So konnten sie auch bei ihrem Wein bleiben.

„Was hast du ihr gegeben?“ fragte Solino und schob sich ein Stück Ciabatta in den Mund.

„Ich habe Renate das Heptaxythol gegeben, das du mir geschickt hattest. Es scheint gut zu wirken.“

Die kurze Veränderung in Solinos Gesichtsausdruck war Bruckner entgangen.

„Hoffentlich hat sie ihr nicht zu viel verabreicht. Sie ist ja noch sehr klein.“

„Keine Sorge, ich habe Renate gesagt, wieviel sie ihr geben soll.“

„Du weißt ja, dass dieses Mittel noch nicht zugelassen ist. Wir kommen in Teufels Küche, wenn der Kleinen etwas passiert. Ich dachte eher, du beruhigst damit deine Patienten in der Klinik.“

„Mach dir keine Sorgen, es waren nur hundert Milligramm.“

Er sah auf seine Armbanduhr.

„Oh, es ist gleich neun. Ich werde vor dem Dessert mal schnell nach den Kindern sehen.“

„Jetzt hat er gar nicht gesagt, was er zum Dessert vorschlägt“, meinte Solino, nachdem Bruckner gegangen war, „dann werde ich etwas aussuchen, wenn es euch recht ist.“

Die Damen hatten keine Einwände und so bestellte er crema frita, eine venezianische Spezialität, und dazu eine Flasche Moscato.

***

„Und, alles in Ordnung?“ fragte Rosanna Solino, als Bruckner sich etwa fünfundzwanzig Minuten später wieder zu Ihnen an den Tisch gesetzt hatte.

„Ja, ja, alles bestens. Die Zwillinge schlafen tief und fest und auch Ann-Kathrin schläft…“, er musste sich kurz räuspern, bevor er weitersprechen konnte, „scheint aber etwas unruhig zu sein.“

„Ist es dir nicht gut?“ fragte seine Frau.

„Wieso?“

„Du schwitzt so. Ist wirklich alles in Ordnung?“

„Keine Sorge, ich bin nur schnell gelaufen und draußen ist es noch sehr warm.“

Seine Frau gab sich mit der Erklärung zufrieden und so wendeten sie sich ihrem Dessert und anderen Themen zu.

***

Nachdem Caffè und Grappa serviert waren, zogen sich die beiden Männer zum Rauchen auf die Terrasse zurück, während die Frauen am Tisch blieben und sich über die neuesten Mailänder Modetrends unterhielten.

„Möchtest du nicht noch einmal nach den Kindern sehen?“ fragte Rosanna Solino plötzlich, nach einem kurzen Blick auf die Uhr.

„Ach, das wird nicht nötig sein“, erwiderte Renate Bruckner mit einem gequälten Lächeln, „Gerhardt war doch erst nachsehen.“

„Das ist schon über eine Stunde her. Wenn es dir recht ist, gehe ich schnell. Dann können wir beruhigt noch etwas sitzen bleiben.“

Widerstrebend gab Renate ihr den Hausschlüssel. Jetzt wurde sie schon wieder wegen der Kinder in einer netten Unterhaltung gestört.

„Ich gehe nur schnell nach den Kindern sehen“, rief sie ihrem Mann zu, der gerade mit Bruckner wieder zum Tisch zurückkehrte.

„Lass bitte die Tür zu Ann-Kathrins Zimmer zu. Die quietscht etwas, sonst wacht sie noch auf“, rief Bruckner ihr noch nach.

***

Nachdem Rosanna berichtet hatte, dass alles ruhig war und die Kinder offenbar friedlich schliefen, genehmigten sie sich noch ein paar Gläschen und unterhielten sich über irgendwelche Belanglosigkeiten.

Es war fast Mitternacht, als die Bruckners sich verabschiedeten und den kurzen Heimweg antraten.

„Ich trinke noch etwas“, meinte Eduardo Solino mit schwerer Zunge und sehr zum Leidwesen seiner Frau, „ich habe uns hier ein Zimmer genommen.“

***

„Hast du bei Ann-Kathrin das Fenster aufgemacht?“ hörte Bruckner seien Frau fragen, als er gerade die Haustüre öffnen wollte. Er trat ein paar Schritte zurück und sah an der Fassade nach oben. Tatsächlich, das Fenster zu Ann-Kathrins Zimmer, dass etwas seitlich versetzt oberhalb des Eingangs lag und auf ein schmales Vordach mündete, stand offen und der Vorhang wehte leicht in der abendlichen Brise.

„Nein, du hast sie doch ins Bett gebracht. Du hast ihr das Beruhigungsmittel gegeben und sie nach oben gebracht. Danach war ja niemand mehr in diesem Zimmer.“

„Ich dachte, dass du eventuell… ich meine als du nach ihr gesehen hast.“

„Ich war doch nicht im Zimmer und Rosanna auch nicht.“

Nachdem er die Haustüre aufgeschlossen hatte, rannte Renate Bruckner die Treppe nach oben und riss die Türen der beiden Kinderzimmer auf. Max und Fabian, die Zwillinge, lagen friedlich in ihren Bettchen und schliefen, Ann-Kathrin aber war verschwunden. Hektisch durchsuchten sie das ganze Haus und die Garage, riefen dabei immer wieder ihren Namen. Nichts! Das Mädchen blieb verschwunden. Bruckner schaltete die Außenbeleuchtung an und durchsuchte den Garten – ohne Erfolg. Zudem war das Grundstück nicht sehr groß und Büsche oder Bäume, hinter denen man sich verstecken konnte, gab es nicht so viele.

„Wir müssen die Polizei rufen“, rief Renate ihrem Mann zu, „Ann-Kathrin ist bestimmt entführt worden.“

„Jetzt erst einmal keine Panik. Vielleicht ist sie ja wach geworden, aus dem Fenster geklettert, vom Vordach gefallen und weggelaufen.“

„Dann hätte sie doch nicht mehr weglaufen können. Das sind über zwei Meter.“

„Der Rasen ist sehr weich“, erwiderte Bruckner, aber ohne Überzeugung in seiner Stimme. „Lass uns schnell ins Hotel zurückgehen. Dann können Eduardo und Rosanna uns suchen helfen.“

***

Außer den Solinos beteiligte sich noch das ganze Hotelpersonal an der Such nach Ann-Kathrin. Obwohl sie den ganzen Strand bis hinunter zur Chiesa Madonna dell’Angelo, alle umliegenden Straßen bis hin zur Piazza Miramare und sogar die ganze Viale dei Cacciatori bis zur Lagune absuchten, das Mädchen blieb verschwunden.

„Ich rufe jetzt die Polizei.“

Rosanna Solino zog ihr Handy aus der Tasche und wählte den Notruf.

3

4. Mai

Sofort als Maresciallo Ghetti den Wagen verlassen hatte, wurde er von einer aufgeregten Gruppe um das Ehepaar Bruckner bedrängt. Der Hotelmanager und einige seiner Angestellten, die sich auch an der vergeblichen Suchaktion beteiligt hatten, wollten ihm wort- und gestenreich ihre Sicht der Dinge erklären. Ghetti versuchte sich zu befreien, was ihm jedoch nicht gelang, denn plötzlich drängte ein anderer Mann sich zu ihm durch und fing an, seine Version zu erzählen. Der Mann war offenbar auch noch angetrunken. Ghetti platzte der Kragen. So kam er hier nicht weiter.

„Wer sind Sie denn?“ fuhr er den Mann an. „Sind Sie etwa der Vater?“

„Nein, nein. Mein Name ist Eduardo Solino. Solino Farmaceutica. Kennen Sie bestimmt. Wir, also meine Frau und ich sind Freunde der Familie.“

„Dann wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn ich endlich mit den Eltern des verschwundenen Mädchens sprechen könnte, Sie Freund der Familie.“

Solino wollte noch etwas entgegnen, ließ es aber in Anbetracht der Situation bleiben, drehte sich beleidigt um und führte den Maresciallo zu den Bruckners, die völlig aufgelöst an der niedrigen Mauer neben der Einfahrt ihres Hauses standen. Im Gehen instruierte Ghetti noch schnell seine zwei Kollegen, die Aussagen und Personalien aller hier Anwesenden aufzunehmen. Er stellte sich kurz vor und begann mit seiner Befragung.

„Signor Brunner…“

„Bruckner, wir heißen Bruckner.“

„… scusi, Signor Bruckner, wann haben Sie Ihre Tochter das letzte Mal gesehen?“

„Gestern Abend. Kurz vor neunzehn Uhr hat sie meine Frau ins Bett gebracht. Bitte verzeihen Sie mein schlechtes Italienisch.“

„Ich verstehe Sie sehr gut, Signor Bruckner“, erwiderte Ghetti, „und falls es doch ein Problem geben sollte, ein Freund, er ist Commissario, spricht Ihre Sprache perfekt und könnte dann notfalls übersetzen. Aber machen wir weiter. Was war, nachdem Ihre Frau das Kind ins Bett gebracht hatte? Haben Sie das Haus verlassen?“

„Ja, wir sind ein paar Minuten später ins Hotel. Dort waren wir mit unseren Freunden zum Essen verabredet.“

„Ich nehme an, das ist das Ehepaar Solino?“

„Genau. Wir treffen uns ein- bis zweimal im Jahr hier zum Essen und wir machen dann auch immer ein paar Tage Urlaub. Ich habe dieses Haus vor drei Jahren gekauft.“

„Und als Sie vom Essen zurück kamen, stellten Sie gleich das Verschwinden Ihrer Tochter fest?“

„Ja, meine Frau bemerkte sofort das offene Fenster, als wir kamen. Sie ist sich aber sicher, dass es geschlossen war, als wir das Haus verließen. Wir sind dann gleich nach oben und haben das leere Kinderzimmer vorgefunden. Die Zwillinge im anderen Zimmer haben immer noch geschlafen.“

„Ach, Sie haben noch mehr Kinder?“

„Ja, zwei Jungen, Zwillinge. Sie sind erst ein Jahr alt.“

„Wann kamen Sie zurück?“

„Das war so gegen Mitternacht. Wir haben erst das ganze Haus und den Garten durchsucht. Dann liefen wir zum Hotel zurück und informierten unsere Freunde. Die hatten sich dort ein Zimmer genommen, weil er zu viel getrunken hatte. Der Hotelmanager bekam mit, was passiert war und rief das gesamte Personal zusammen. Wir teilten uns auf und suchten alle Straßen der Umgebung und den Strand ab, vergebens.“

Renate Bruckner, die der Befragung bislang fast teilnahmslos gefolgt war, klammerte sich plötzlich an Ghettis Arm fest und fing an hysterisch zu schreien.

„Wo ist mein Kind? Ich will meine Tochter wiederhaben.“

Es dauerte einen Moment, bis Bruckner seine Frau von Ghetti trennen und wieder einigermaßen beruhigen konnte.

„Entschuldigen Sie bitte.“

„Das ist nur zu verständlich, Signor Bruckner. Sie ist eine Mutter. Habe ich das jetzt richtig verstanden, die Kinder waren etwa fünf Stunden unbeaufsichtigt im Haus und irgendwann in dieser Zeit ist jemand in das Haus eingedrungen und hat Ihre Tochter entführt?“

Bruckner wurde von Ghettis abrupten Themenwechsel überrascht und brauchte ein paar Sekunden um sich zu sammeln.

„Nein, nicht ganz. Ich bin gegen neun zurück, um nach den Kindern zu sehen. Vor allem nach Ann-Kathrin. Sie schläft schlecht und hatte ein Beruhigungsmittel bekommen.“

„Sie haben einem Kleinkind ein Beruhigungsmittel gegeben?“ fragte Ghetti ungläubig.

„Ja, eine sehr geringe Dosierung. Ich bin Arzt und kann das beurteilen.“

„Das grenzt den Zeitraum ja etwas ein.“

„Gegen halb elf war Rosanna, ich meine Signora Solino, auch noch einmal nachsehen.“

„So? Dann hätten wir die eineinhalb Stunden, bevor Sie zurückgekommen sind, in der das Kind verschwunden sein muss.“

„Was werden Sie jetzt unternehmen?“

Ghetti rief einen Brigadiere zu sich.

„Sie sagen bitte dem Kollegen genau, was Ihre Tochter getragen hat und ob etwas im Haus fehlt. Außerdem benötigen wir ein Foto Ihrer Tochter, das wir veröffentlichen können. Ich hole jetzt die Spurensicherung und fordere eine Suchmannschaft und eine Hundestaffel an. Wir werden später sicher noch weitere Fragen an Sie und Ihre Freunde haben.“

***

Eine Stunde später durchkämmten zwanzig Polizisten, eine Hundestaffel mit vier Suchhunden und die Gruppe freiwilliger Helfer aus dem Hotel systematisch die ganze Umgebung. Überall sah man die tanzenden Lichter der Taschenlampen in der Dunkelheit. Der östliche Bereich bis zur Lagune erwies sich als besonders schwierig, da es dort neben den Campinganlagen auch noch viel überwuchertes Brachland, leerstehende Gebäude und einige kleine Tümpel gab.

Als sich dann die ersten Sonnenstrahlen über der Lagune zeigten und die Suche bis dato ergebnislos verlaufen war, konzentrierte Ghetti alle Kräfte auf dieses Gebiet. In der Zwischenzeit hatte er das Foto der verschwundenen Ann-Kathrin vervielfältigen und überall in der kleinen Stadt verteilen lassen. Auch wurden die Flughäfen, Bahnhöfe und Fährhäfen, sowie Grenzübergänge für den Fall überwacht, dass man das entführte Kind außer Landes bringen wollte. Sowohl Ghetti, als auch sein Vorgesetzter, Capitano Mambretti, gingen mittlerweile davon aus, dass es sich um eine Entführung handelte.

***