Dreikönigsfeuer - Volker Jochim - E-Book

Dreikönigsfeuer E-Book

Volker Jochim

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Beschreibung

In der Nacht zu Epiphania (hl. Drei Könige) soll in der italienischen Kleinstadt Caorle im Veneto der alte Brauch des Dreikönigsfeuers wieder aufleben. Am Strand wird ein riesiger Scheiterhaufen aufgerichtet, der nachts feierlich entzündet werden soll. Auch der pensionierte ehemalige Hauptkommissar des Frankfurter Morddezernats, Robert Marek, der nun in Caorle lebt, seine Freundin, die Journalistin Silvana Rafaeli und sein Freund, der Carabiniere Michele Ghetti wollen daran teilnehmen. Als aus dem brennenden Scheiterhaufen ein seltsamer Geruch aufsteigt, versuchen Marek und Ghetti das Feuer zu löschen. Dabei kommt eine bereits völlig verbrannte, menschliche Gestalt zum Vorschein. Am folgenden Tag konfisziert der italienische Staatsschutz die Leiche und alle Unterlagen und entbindet die Carabinieri von diesem Fall. Wer war der Tote und warum soll dieser Mord geheim gehalten werden? Marek und Maresciallo Ghetti ermitteln trotzdem weiter. Der Fall konfrontiert sie mit der undurchsichtigen Welt der Geheimdienste, der Korruption in weiten Teilen der Politik, der Mafia und mit den kriminellen Machenschaften hinter den Mauern des Vatikans. Dabei gerät Marek in Lebensgefahr und muss einsehen, dass man gegen die Übermacht aus Politik, Kirche und Geheimdiensten nahezu machtlos ist und kaum eine Chance hat. Er ist an Grenzen gestoßen, die stärker als alle Gesetze sind.

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Volker Jochim

Dreikönigsfeuer

Kommissar Marek stößt an Grenzen

Kommissar Mareks dritter Fall

Kriminalroman

© 2016 Volker Jochim

Umschlag, Illustration: tredition,

Volker Jochim (Foto)

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback

978-3-7345-1860-7

Hardcover

978-3-7345-1861-4

e-Book

978-3-7345-1862-1

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

1

Es war der fünfte Tag des neuen Jahres, und der erste seit Wochen, an dem sich die Sonne wieder einmal zeigte.

Robert Marek hatte ein ruhiges Weihnachtsfest und einen ebenso ruhigen Jahreswechsel verbracht, was aber hauptsächlich dem, selbst für norditalienische Verhältnisse, extrem harten Winter geschuldet war. Seit Mitte Dezember hatte ein ständig von Nordost bis Südost drehender Wind für frostige Temperaturen und ungewöhnlich viel Schnee gesorgt, der, wenn der Wind vom Meer herein wehte, sich auf den Straßen und Plätzen auftürmte und das öffentliche Leben der kleinen Stadt in die warmen und gemütlichen Häuser verdrängte.

So hatte Marek auch seinen Plan, zwischen den Jahren seine Freunde in Frankfurt zu besuchen, schnell aufgegeben.

Vor zwei Tagen hatte dann Tauwetter eingesetzt und heute schien zum ersten Mal wieder die Sonne. Das heißt, ihre noch schwachen Strahlen versuchten sich durch das milchige Weiß des Himmels zu kämpfen. Die Menschen drängten nach draußen. Die Stadt erwachte aus ihrem Winterschlaf.

Robert Marek schlenderte mit seiner Freundin Silvana die Viale Santa Margherita entlang. Es war noch immer empfindlich kühl und so hatten beide die Kragen ihrer Jacken aufgestellt und er hatte seine Mütze tief ins Gesicht gezogen.

Silvana Rafaeli war Journalistin beim Gazzettino. Sie und Marek lernten sich vor eineinhalb Jahren bei einem seiner Kurzaufenthalte hier in Caorle kennen. Er war damals noch Kriminalhauptkommissar beim Morddezernat in Frankfurt. Da er, aufgrund seiner hemdsärmeligen, unorthodoxen Ermittlungsmethoden, permanent Probleme mit seinen Vorgesetzten hatte und einer paradoxerweise drohenden Beförderung zum Bundeskriminalamt entgehen wollte, hatte sie ihn überredet sich früher pensionieren zu lassen und nach Caorle zu ziehen. Er hatte es bis zum heutigen Tag nicht bereut. Dass diese Beziehung immer noch Bestand hatte machte ihn glücklich und verwunderte ihn gleichermaßen, denn so lange hatte es noch nie eine Frau mit ihm ausgehalten, oder er noch mit keiner Frau, wie man es eben betrachten wollte.

Sie schien seine Gedanken zu erraten und hakte sich lächelnd bei ihm unter.

„Lass uns sehen, ob Luca schon geöffnet hat. Hast du Lust auf einen Cappuccino?“

„Ja gerne, und einen doppelten Grappa. Dann wird es wenigstens innerlich warm.“

Eine Horde laut lachender und schreiender Kinder rannte an ihnen vorbei in Richtung Altstadt.

In der Bar Roma war schon Betrieb, aber ein Tisch, direkt vorne am großen Fenster, war noch frei.

„Buon giorno, Luca, buon anno!“

„Salve, grazie, das wünsche ich euch auch!“

„Machst du uns bitte zwei Cappuccino und für Roberto noch einen doppelten Grappa.“

„Subito.“

Marek hatte sich mittlerweile, wenn auch unter größtem Bedauern, daran gewöhnt, dass er in der Bar nicht mehr rauchen durfte, aber um draußen zu sitzen, war es nun wirklich zu kalt. So genossen sie das wärmende Getränk, und sahen dem immer stärker werdenden Treiben auf der Straße zu. Überall standen kleine Gruppen gut gelaunter Leute, die sich gestenreich unterhielten und immer mehr Jugendliche mit Fahrrädern und Motorrollern bevölkerten die Piazza Sant‘ Antonio.

„Was ist denn eigentlich heute los?“, fragte er verwundert. „Da draußen ist ja mehr Betrieb als im Sommer. Das kann doch nicht alleine an den paar Sonnenstrahlen liegen.“

„Weißt du denn nicht, welcher Tag morgen ist?“

„Doch, Dienstag, wenn ich mich nicht irre.“

„Stupido, morgen ist Epiphania.“

„Ja und? Muss ich das kennen?“

„Ja und? Das ist auch das Fest der Heiligen drei

Könige. Kennst du das nicht?“

„Doch schon.“

Marek war kein besonders religiöser Mensch und Feiertage waren bei ihm nur von Bedeutung, wenn sie mit einem arbeitsfreien Tag einhergingen.

„Aber bei uns gab es an diesem Tag nicht einmal frei, also war er uninteressant. Trotzdem verstehe ich nicht, warum einen Tag vorher schon solch ein Volksauflauf stattfindet. Die Kinder benehmen sich ja wie an Karneval.“

„Du liest in der Zeitung wohl nur den Sportteil, oder?“

Das klang schon eher nach einer Feststellung, denn einer Frage.

„Das ist die Vorfreude, denn heute Nacht lässt die Gemeinde eine alte Tradition wieder aufleben. Heute Nacht wird nach vielen, vielen Jahren erstmals wieder ein Dreikönigsfeuer entzündet. Im Friaul ist das jedes Jahr ein riesen Spektakel und in Tarcento heißt das Festa dei Pignarui, zu dem auch viele Touristen kommen. Auch in Treviso findet dieses Fest jedes Jahr statt. Jetzt wollen unsere Stadtväter auch hier diese Tradition wieder aufleben lassen, wohl in der Hoffnung auf ein paar Touristen.“

„Wegen eines Lagerfeuers machen die Leute solch einen Aufstand?“

Marek blickte immer noch verständnislos drein.

„Das ist kein Lagerfeuer! Unten am Strand, bei der Chiesa Madonna dell‘ Angelo, bauen die Jugendlichen einen riesigen Scheiterhaufen aus den ausrangierten Weihnachtsbäumen. Der wird dann heute Nacht feierlich entzündet und entlang der Salita dei Fiori gibt es Musik und Stände, an denen man Salsicce mit Polenta, belegte Panini und natürlich Vino caldo kaufen kann.“

„Das hört sich gut an“, dabei dachte er in erster Linie an Essen und Trinken, „gehen wir hin?“

„Ich muss ohnehin dabei sein, denn der Zeitung ist das sogar einen Artikel wert. Aber schön, wenn du alter Brummbär mal aus deinem Loch kommst.“

Nachdem sie ausgetrunken und bezahlt hatten, Marek nahm sich noch eine Schachtel MS mit, schlossen sie sich dem immer größer werdenden Strom von Menschen an, der sich in Richtung Altstadt bewegte. Gegenüber der Piazza Vescovado stiegen sie die weißen Marmorstufen zur Uferpromenade hinauf. Das Meer lag ruhig und seltsam hellgrau gefärbt vor ihnen und schien ohne erkennbare Trennungslinie am Horizont in den milchigen Himmel überzugehen. Eine merkwürdige Stimmung ergriff sie beide, als sie über die endlos scheinende Wasserfläche blickten, trotz, und inmitten des Trubels um sie herum. Ein Gefühl, als wäre die Welt in Watte gepackt. Alle Geräusche traten zurück und schienen von weit her zu kommen. Ein Gefühl, gleichermaßen des inneren Friedens und der Beklemmung. Silvana drückte sich gegen Mareks Schulter. So verharrten sie und sogen die Stille in sich auf. Erst nach einer Weile gelang es ihr als erste sich aus dieser Stimmung zu lösen, die sie beide umfing.

„Komm, lass uns weiter gehen.“

Noch bevor sie die Chiesa Madonna dell‘Angelo erreichten, konnten sie links daneben, in der Strandbucht, die vor Jahrhunderten einmal der Hafen von Caorle gewesen war, den riesigen Haufen aus Nadelbäumen, Brettern, Balken und Stroh erkennen, der dort aufgeschichtet war.

„Das sind ja mindestens fünf bis sechs Meter“, meinte Marek erstaunt. „Das brennt bestimmt die ganze Nacht lang.“

„Soll es ja auch.“

„Wer hat denn den Haufen aufgebaut?“

„Hatte ich dir doch vorhin gesagt. Die Jugendlichen aus der Stadt. Es gab einen Aufruf der Stadtverwaltung und jeder zwischen sechszehn und zwanzig Jahren konnte sich melden. Danach durften auch nur noch diejenigen Hand anlegen, die ausgewählt wurden. Das Ganze fand unter Aufsicht der Polizia Comunale statt, damit kein Unsinn gemacht wurde.“

„Und wie lange haben die daran gebaut?“

„Gestern den ganzen Tag bis gegen acht Uhr am Abend. Danach ist die Polizei hier Streife gefahren, damit niemand auf die Idee kommen konnte, den Scheiterhaufen zu zerstören.“

„Und wann geht das Spektakel los?“

„Die Buden hier öffnen gegen acht Uhr und das Anbrennen des Scheiterhaufens ist für zehn Uhr geplant. Das geht dann fast die ganze Nacht hindurch. Danach gibt es eine Feuerwache, die dafür sorgt, dass nichts passiert und das Feuer nicht erlischt. Ursprünglich fanden diese Feuer immer auf einer Piazza statt, aber dem Bürgermeister war das zu riskant, wegen des Funkenflugs.“

„Da hat er wohl Recht. Stell dir vor, wie schnell mit einem einzigen Windstoß die ganze Altstadt abgefackelt wäre.“

„Komm, gehen wir zu mir. Da können wir uns noch etwas aufwärmen, bis wir uns heute Abend ins Getümmel stürzen. Ich mach uns noch schnell etwas zu essen.“

„Überredet.“

Hand in Hand schlenderten sie weiter in Richtung Via Pineda.

***

„Was gibt es denn Gutes?“, fragte Marek, als er, wie gewohnt, Silvanas Bücherschränke inspizierte, während sie sich in der Küche zu schaffen machte.

Das Sammeln alter Bücher und Erstausgaben, war eine von Mareks großen Leidenschaften, die er sich mit Silvana teilte.

„Was hältst du von fusilli al tonno?“

„Hört sich verlockend an.“

„Du könntest schon einmal den Wein aufmachen.“

„Welchen?“

„Den Trebbiano, er steht im Kühlschrank.“

„Hast du etwas Neues?“, fragte Marek, der in Gedanken immer noch bei den Bücherregalen war, während er die Flasche entkorkte.

„Ja, schau mal in die Vitrine. Das habe ich heute Morgen bekommen.“

„Habe ich es doch richtig gesehen.“

Marek stellte die Flasche auf den Tisch und ging zurück ins Wohnzimmer. Vorsichtig nahm er das alte, in dunkelbraunes Leder gebundene Buch aus der Vitrine und betrachtete es ehrfürchtig von allen Seiten. Einband und Goldprägung auf dem Buchrücken waren in bestem Zustand. Auch der Schnitt war perfekt erhalten. Dann öffnete er den Buchdeckel und starrte auf den Vorsatz, der am Rand einige kleine braune Wasserflecke aufwies.

„ECCLESIASTICAE HISTORIAE BREVIARIUM – JOANNE LAURENTIO BERTI”, las er laut, “VENETIE 1763. Wo in aller Welt hast du denn dieses Prachtstück aufgetrieben?“

„Du erinnerst dich doch an den Buchhändler aus Padua, der mir für dich die deutsche d‘Annunzio Ausgabe besorgt hat. Der hat mir auch dieses Buch aus einer Klosterbibliothek besorgt.“

„Wie? Er hat doch nicht etwa …?“

„Stupido, natürlich nicht! Das Kloster hat einige Exemplare aus seiner Bibliothek zum Verkauf angeboten. So das Essen ist gleich fertig.“

Schweren Herzens legte Marek das Buch in die Vitrine zurück und nahm am Esstisch Platz. Kurz darauf erschien Silvana mit zwei Tellern des köstlich duftenden Pasta Gerichtes.

***

Marek trank einen Schluck Caffè, lehnte sich zufrieden zurück und steckte sich eine Zigarette an.

„Hat es dir geschmeckt?“

„Ganz ausgezeichnet. Sieht man das nicht?“

Silvana musste schmunzeln, als sie ihn dort so satt und zufrieden im Sessel liegen sah.

„Ich mache mich nur noch etwas zurecht, dann können wir gehen.“

Marek brummte etwas Unverständliches. Einerseits wollte er sich das Spektakel am Strand nicht entgehen lassen, andererseits wollte sein Körper lieber ausgestreckt im Sessel liegen bleiben.

„Was ist mit dem Abwasch?“, fragte er in der Hoffnung, die Entscheidung noch etwas hinaus zögern zu können

„Lass nur, das mache ich morgen.“

Die Entscheidung war gefallen. Er drückte seine Zigarette in Silvanas sündhaft teuren, mit dem typischen Mäandermuster und zwei Medusen verzierten Versace Aschenbecher aus, erhob sich schwerfällig und zog seine Jacke über. Silvana stand schon im Flur vor dem großen Spiegel und zupfte sich noch ihre Lockenpracht zurecht.

***

Hand in Hand schlenderten sie in Richtung Piazza Veneto. Eine leichte Brise wehte vom Meer herein und trug den Duft nach gebratener Salsicce und Fetzen von Musik bis hier herüber. Ab der Piazza herrschte ein reges Treiben, beinahe wie im Sommer auf der Promenade. Am Anfang der Salita dei Fiori war eine Bühne aufgebaut, auf der gerade eine junge, unbekannte Sängerin mit einer fantastischen Stimme, ihre Version von Il Mare d‘Inverno zum Besten gab.

„Die ist klasse, oder? Ich meine die Stimme!“, beeilte sich Marek zu ergänzen, als er Silvanas vorwurfsvollen Blick bemerkte.

„Das will ich aber auch hoffen“, meinte sie mit gespielter Verärgerung.

„Weißt du, wenn ich das höre, frage ich mich, warum sie hier auf dieser Provinzbühne auftreten muss, während andere Blondchen, die frei jeglichen Talents und Verstandes sind, Millionen verdienen.“

„Weil es genügend Leute gibt, die diesen Müll kaufen, und Fernsehsender, welche die Meinung dieser Leute bilden. Sieh dir doch das italienische Fernsehen an. Du kannst fast nichts mehr anschauen“, ereiferte sich Silvana. „Alle Sender, in denen unser ehemaliger Regierungschef seine Finger hat, bringen nur noch dümmliche Talkshows, oder Spielshows mit haufenweise leichtbekleideten, dämlich grinsenden Blondinen. Selbst die Nachrichten sind manipuliert. In Deutschland ist es doch bestimmt auch ähnlich, oder?“

„Stimmt. Die ganzen Privatsender arbeiten nach dem gleichen Muster und die Öffentlich-Rechtlichen passen sich langsam an – wegen der Quoten. Falls es dann doch einmal etwas Sehenswertes gibt, kommt es garantiert mitten in der Nacht.“

Einen Moment lang hörten sie der Sängerin noch zu. Als sie sich dann zum Weitergehen wenden wollten, blieb Marek plötzlich stehen.

„Was ist? Kannst du dich doch nicht von ihr trennen?“

„Sieh mal hier.“

Marek zeigte auf einen, direkt neben der Bühne geparkten Leichenwagen.

„Na und? Hinter der Mauer da vorne ist ja auch der alte Friedhof.“

„Ganz davon abgesehen, dass dort ja keine Beisetzungen mehr stattfinden, sieh dir mal die Reifen an. Ich habe noch nie einen Leichenwagen mit Chromfelgen und Rennbereifung gesehen. Außerdem ist er auch tiefer gelegt.“

Er kniff die Augen zusammen, um den eingeschliffenen Schriftzug auf der milchig matten Heckscheibe zu lesen.

Impresa di pompe funebri Di‘Mauro – Verona, konnte er entziffern.

„Der kommt aus Verona.“

„Kannst du den Commissario heute nicht einmal vergessen? Vielleicht hatten sie eine Überführung und wollen sich nur das Fest hier ansehen.“

„Wahrscheinlich hast du ja recht, trotzdem darf ich das doch merkwürdig finden, oder?“, brummte er beleidigt.

Silvana hakte sich versöhnlich unter, und langsam bummelten sie weiter an den Buden entlang, vor denen die Menschen Schlange standen. Gelegentlich nahm Marek sogar ein paar Wortfetzen in einem deutschen oder österreichischen Akzent auf.

„Ich hole uns einen Vino caldo. Magst du einen weißen oder lieber einen roten?“

„Ich nehme einen weißen. Der rote erinnert mich zu sehr an den Glühwein in Deutschland, und von dem wurde es mir immer kotzübel.“

Sie setzten sich auf die niedrige Mauer, die den Strand von der Straße trennte, ganz in der Nähe des riesigen Scheiterhaufens, und wärmten sich die Hände an den Bechern. Marek hatte eigentlich immer gedacht, Glühwein sei eine urdeutsche Erfindung, aber selbst der schmeckte hier besser. Im Hintergrund hob sich die beleuchtete Chiesa Madonna dell‘ Angelo vom dunklen Nachthimmel ab, deren Fassade mit hunderten von Glühbirnen eingerahmt war, und, obwohl er absolut kein gläubiger Mensch war, ja sogar Religion in jeglicher Form ablehnte, beschlich ihn, jedes Mal wenn er in die Nähe dieser kleinen Kirche kam, ein seltsames, in ihm selbst ruhendes, warmes Gefühl.

Silvana sah auf ihre Armbanduhr.

„Gleich geht es los. Jeden Moment müssten die Fackeln entzündet werden.“

Einige Uniformierte der Polizia Comunale nahmen unterhalb der Mauer Aufstellung um zu verhindern, dass die Schaulustigen, die sich nun immer mehr dorthin drängten, dem Feuer zu nahe kamen. Silvana und Marek waren vorsichtshalber aufgestanden, um nicht von den nachdrängenden Massen von der Mauer geschoben zu werden. Weiter hinten, in Richtung der Kirche, fing ein Chor in Messgewändern an zu singen und plötzlich flammten in der Dunkelheit, unter dem Beifall der Zuschauer, mehrere Fackeln auf, die sich langsam von allen Seiten dem riesigen Holzstoß näherten. Auf ein Kommando hin wurden alle Fackeln gleichzeitig an den unteren Rand des Scheiterhaufens gehalten, der sofort Feuer fing. Anfänglich züngelten kleine Flammen knisternd durch das Holz bis eine riesige Stichflamme den ganzen Haufen unter dem tosenden Beifall der Zuschauer entzündete.

Der Chor hatte seine Darbietung auch beendet und machte sich, völlig durchgefroren, wieder auf den Weg zurück in die Kirche und die jungen Männer, die das Feuer entzünden durften, wurden von ihren Freunden wie Helden gefeiert. Marek hatte seinen Arm um Silvana und sie ihren Kopf auf seine Schulter gelegt.

„Schön, nicht?“

„Mmh“, brummte er.

Noch eine Weile sahen sie zu, wie sich das Feuer durch die Tannenbäume fraß, dann mischten auch sie sich wieder unter das feiernde Volk. An einer der Buden gönnten sie sich eine Portion Salsicce mit gerösteter Polenta.

***

„Da kommt ja auch Michele.“

„Wen hat er denn dabei? Ist das seine neue Freundin?“

„Keine Ahnung, aber das werden wir sicher gleich erfahren.“

Als Michele Ghetti Marek erspäht hatte, steuerte er sofort mit seiner Begleitung auf ihn zu. Ghetti war bei den örtlichen Carabinieri und seit über einem halben Jahr eng mit Marek befreundet. Genauer gesagt, seit dem Frühsommer des vergangenen Jahres, als sie gemeinsam einen verzwickten Mordfall aufklären konnten, und erst im letzten Herbst hatten sie wieder einen komplizierten Fall erfolgreich zum Abschluss gebracht. Daraufhin wurde Ghetti zum Maresciallo befördert.

„Ah, ciao Silvana, ciao Roberto, schön euch hier zu treffen, darf ich euch meine Freundin Isabella vorstellen?“

Marek wollte gerade etwas erwidern, bekam aber gleich den Ellenbogen von Silvana in die Rippen.

„Freut mich Sie kennenzulernen. Ich bin Silvana und der Brummbär hier ist Roberto.“

„Freut mich auch“, sagte er und rieb sich die Seite.

Eine Weile standen sie beisammen, tranken Wein und unterhielten sich, während sich der aromatische Duft der brennenden Tannen mit dem Geruch gebratener Würste und heißem Wein vermischte.

„… was hältst du davon? Roberto, was ist denn los? Du hörst ja gar nicht zu.“

Marek hatte den Kopf leicht in den Nacken gelegt und schnupperte wie ein Hund, der Witterung aufgenommen hat.

„Riecht ihr das nicht? Michele …“

„Was sollen wir denn riechen? Hier riecht es nach Wurst, nach Wein und nach dem Feuer da hinten.“

„Da ist noch etwas, was am Anfang nicht da war. Den Geruch kenne ich zur Genüge. Verdammt Michele, da verbrennt ein Tier oder …“

Marek sprintete los und versuchte sich einen Weg durch die Massen zu bahnen. Ghetti drückte seiner Freundin den Weinbecher in die Hand und rannte hinterher.

„Roberto, warte, was hast du vor?“

„Wir müssen das Feuer löschen.“

„Warte!“

Aber da war es schon zu spät. Marek sprang über die niedrige Mauer auf den Strand und rannte, gefolgt von mehreren Polizisten, die vergeblich versuchten ihn aufzuhalten, auf das Feuer zu. Doch ein paar Meter davor blieb er abrupt stehen und hielt sich die Hand vor das Gesicht. Durch die immens starke Hitzeentwicklung war an ein Näherkommen nicht zu denken.

Die Polizisten, die Marek verfolgt hatten, packten ihn an den Armen und wollten ihn abführen.

„Halt! Lassen Sie ihn gehen, das ist Commissario Marek, er gehört zu mir.“

Ghetti hatte mittlerweile auch zu der kleinen Gruppe aufgeschlossen.

„Scusi, Maresciallo, wir dachten …“

„Schon gut, wir müssen das Feuer löschen! Sofort!“

Die Polizisten sahen ihn ungläubig an.

„Bei allem Respekt, Maresciallo, das kann nicht Ihr Ernst sein.“

„Das ist mein voller Ernst, da drin verbrennt gerade …“

Weiter kam er nicht. Unter lautem Knistern lösten sich einige der brennenden Äste und rutschten an der Seite herunter in den Sand. Funken schossen in den dunklen Nachthimmel und aus der Gruppe der Zuschauer, die neugierig das Treiben der kleinen Gruppe verfolgt hatten, ertönte ein Schrei.

„Da ist einer drin! Da verbrennt einer!“

Sofort entstand eine Unruhe in der Menge, die jetzt versuchte auf den Strand zu drängen.

Marek schaltete am schnellsten.

„Halten Sie mit Ihren Leuten die Menge vom Strand weg. Keiner kommt mehr hier herunter, klar?“, und zu Ghetti gewandt: „Komm jetzt, Michele, da vorne am Wasser liegt bestimmt irgendetwas, womit wir das Feuer auseinander ziehen können.“

Mit dem Mast eines kleinen Einhandseglers und dem Paddel eines Kajaks versuchten sie den brennenden Haufen auseinander zu ziehen. Immer wieder mussten sie vor der großen Hitze, die ihnen schon die Jacken und die Haare angesengt hatte, zurückweichen. Dann rannten sie wieder zum Wasser, füllten ein Kunststoff-Kajak, das dort überwinterte, schleppten es zurück und konnten so die auf dem Sand verteilten, kleinen Feuer löschen, bis endlich nur noch ein verkohlter Haufen übrig blieb, aus dem beißender, stinkender Rauch aufstieg. Mittendrin lag die verkrümmte, fast vollständig verbrannte Gestalt eines Menschen.

„Verdammte Scheiße!“, polterte Marek los und sah sich nach Ghetti um. Dem hatte der Anblick der Leiche so zugesetzt, dass er die Polenta, die er kurz vorher noch genossen hatte, geräuschvoll dem Meer übergab.

„Wenn du ausgekotzt hast, ruf sofort die Spurensicherung an. Die sollen Scheinwerfer mitbringen, und lass im Umkreis von fünfzig Metern alles absperren. Dann schaffst du Dottore Lovati hierher, aber schnell.“

Ghetti sah ziemlich unglücklich aus, tat aber alles, was Marek verlangt hatte.

„Warum soll denn Dottore Lovati hierher kommen? Er bekommt die Leiche doch sowieso in die Pathologie geliefert.“

„Na, dann streng doch mal deine grauen Zellen an. Wenn eine derart verkohlte Leiche transportiert wird, können wichtige Spuren vernichtet werden, was uns die Arbeit dann extrem erschweren würde. Klar?“

Ghetti sah Marek betreten an.

„Schon gut, Roberto. Ich bin nur noch etwas geschockt. So etwas habe ich noch nie gesehen.“

Während Ghetti seine Telefonate erledigte, hielt Marek nach Silvana Ausschau, doch er konnte sie in der Menge der Schaulustigen, die von den wenigen Polizisten kaum noch in Schach gehalten werden konnte, nicht entdecken.

„Haben Sie schon Verstärkung angefordert?“, fragte er einen der Männer, die ihn vorhin verfolgt hatten.

„Geht nicht, alle die Dienst haben sind doch schon hier.“

„Dann holen Sie eben die Leute, die frei haben. Wenn irgendjemand hier auf dem Strand herumtrampelt, gnade euch Gott!“

Damit ließ er den verdutzten Mann stehen, schwang sich auf die Mauer und drängte sich durch die Menge. Silvana stand an eine der Buden gelehnt und hielt eine Zigarette in ihren zitternden Fingern. Der Schock stand ihr ins Gesicht geschrieben. Als sie Marek erblickte, warf sie die Zigarette weg, kam langsam auf ihn zu und klammerte sich an ihn.

„Bitte, halt mich fest. Das ist so grausam. Wer tut so etwas?“

Marek kam sich ziemlich hilflos vor. Er strich ihr über das Haar und küsste sie auf die Stirn.

„Ich wollte, ich wüsste es. Aber wir werden es herausfinden.“

2

Die Spurensicherung kam und steckte mit ein paar Eisenstangen ein Carré von etwa fünfzig Meter rund um die Feuerstelle ab. Zwischen die Stangen wurde blau-weiß gestreiftes Plastikband gespannt. Die Polizia Comunale hatte die Menge der Schaulustigen mittlerweile auch einigermaßen im Griff.

„Du gehst am besten jetzt nach Hause, cara.“

Marek versuchte sich sachte von Silvana zu lösen.

„Ich werde dir später alles berichten, versprochen.“

Sie sah ihn dankbar an.

„Gut, aber ich möchte noch ein paar Fotos machen. Mein Redakteur würde es mir nie verzeihen, wenn ich als Zeuge eines solch widerlichen Verbrechens, ohne Fotos ankommen würde.“

„Gib mir die Kamera, ich mach das schon. Du solltest dir das besser nicht aus der Nähe ansehen.“

Silvana kramte ihre Digitalkamera aus den Tiefen ihrer übergroßen Umhängetasche und drückte sie ihm in die Hand.

„Danke!“

Dann drehte sie sich um und ging, ohne sich noch einmal umzusehen. Marek blickte ihr noch einen Moment lang nach, dabei sah er im Hintergrund einen Leichenwagen in Richtung Piazza Veneto verschwinden.

***

Als Marek zurück an den Ort dieses mysteriösen Verbrechens kam, war die Spurensuche in vollem Gange. Fünfzehn Minuten später, er hatte gerade die Fotos für Silvana gemacht, erschien Dottore Lovati, die unvermeidliche Zigarette im Mundwinkel. Da Caorle über keine eigene Gerichtsmedizin verfügte, wurden alle ungeklärten Todesfälle, von denen es glücklicherweise nicht allzu viele gab, in die Pathologie des Ospedale Civile nach Portogruaro gebracht, deren Chef Dottore Lovati war.

„Buona sera, Commissario. Es muss ja etwas sehr Wichtiges sein, wenn Sie mich um diese Zeit von einer Familienfeier wegholen lassen.“

Lovati zündete sich mit dem Stummel seiner Zigarette gleich die nächste an.

„Schön, dass Sie kommen konnten, Dottore. Ich hätte Sie nicht darum gebeten, wenn es nicht wirklich wichtig wäre. Aber sehen Sie selbst.“

Marek führte ihn zur Feuerstelle, wo Ghetti schon auf sie wartete.

„Santa Madonna, was eine Schweinerei. Der ist ja richtig gut durchgegrillt. Michele, hol mir mal bitte meine Ausrüstung aus dem Wagen. Er steht da oben vor der Kirche.“

Ghetti, der die makabren Sprüche des Pathologen überhaupt nicht witzig fand, und dem sich bei der Vorstellung von gegrilltem Fleisch schon wieder der Magen umdrehte, machte sich umgehend auf den Weg, dankbar nicht dabei bleiben zu müssen.

„Verstehen Sie jetzt, Dottore?“

„Si, naturalmente. Beim Transport wäre sehr wahrscheinlich einiges zerbröselt. Wo bleibt denn Michele? Wie hält sich denn der Junge? So etwas hat er bestimmt noch nicht gesehen.“

„Er war ein wenig blass um die Nase, aber sonst ist er sehr tapfer.“

Marek bot Lovati eine Zigarette an, die dieser dankend annahm, und steckte sich selbst auch eine an. In diesem Moment erschien Ghetti und übergab dem Dottore einen großen Aluminiumkoffer.

„Dann ans Werk. Kann ich da hin?“, fragte Lovati, während er sich weiße Latexhandschuhe überstreifte, und wies mit einer Kopfbewegung auf die verkohlte Leiche.

„Ja, die Spurensicherung ist dort schon fertig.“

***

Marek stand rauchend in angemessener Entfernung und sah bei der Untersuchung der Leiche zu, als Ghetti neben ihn trat.

„Hast du zufällig Isabella gesehen?“

Marek warf seine Zigarettenkippe hinter die Absperrung.

„Nein, tut mir leid. Als ich vorhin oben war, stand Silvana alleine da.“

„So ein Mist!“, fluchte er. „Wir haben uns erst an Neujahr kennengelernt, und jetzt so etwas.“

„Jetzt reg dich mal nicht auf. Wahrscheinlich war ihr kalt, oder langweilig, oder beides und sie ist nach Hause gegangen.“

„Hoffentlich ist sie nicht sauer.“

„Wieso soll sie sauer sein, wenn du nur deinem Job nachgehst. Sie weiß doch, dass du Polizist bist, oder?“

„Ja, sicher habe ich ihr das gesagt …“

„So ist das nun einmal. Freundinnen oder Ehefrauen von Bullen müssen immer mit so etwas rechnen. Kopf hoch, mein Junge, das wird schon.“

Ghetti schien erst einmal beruhigt und Marek widmete seine Aufmerksamkeit wieder der Arbeit des Dottore, der sich kurze Zeit später erhob und zu ihnen herüber kam.

„Und, haben Sie etwas Brauchbares gefunden?“

Lovati steckte sich die nächste Zigarette an und nahm einen tiefen Zug.

„Also, es handelt sich um eine männliche Leiche mittleren Alters. Er war mit Sicherheit schon tot, als man ihn auf den Grill gelegt hat. Er sollte wohl so entsorgt werden. Spuren von Brandbeschleunigern habe ich keine entdeckt. Da die Rückseite stärker verkohlt ist als die Vorderseite und von seiner Lage her, gehe ich davon aus, dass man ihn von der Wasserseite, mit dem Rücken zur Straße in den Scheiterhaufen gesetzt hat. Da sind noch ein paar Dinge, die ich aber erst auf meinem Tisch genauer untersuchen kann, weil ich bei diesem scheiß Licht hier nichts sehe. Ich habe die Stellen in Folie gepackt, damit sie beim Transport nicht zerstört werden. Mehr kann ich im Moment nicht dazu sagen.“

„Das ist doch schon ziemlich viel für den Anfang“, zeigte sich Marek zufrieden, „aber was sind das für Dinge, von denen Sie sprachen?“

„Kann ich noch nicht genau sagen, aber es könnte sein, dass Sie in dem Haufen irgendwelche Schmuckstücke finden. Vielleicht einen Anhänger. Die Leiche hat eine zerrissene Goldkette um den Hals. Das ist aber jetzt wirklich alles. Buona notte.“

„Vielen Dank Dottore, buona notte.“

Dottore Lovati nahm seinen Koffer und stapfte durch den Sand davon. Marek blieb grübelnd zurück. Was Lovati sagte, klang einleuchtend. Die Täter, Marek ging davon aus, dass es mehr als einer gewesen sein musste, hatten die Leiche von der Wasserseite her in dem Holzstoß verstaut. Damit waren sie im Dunkeln von der Straße aus kaum zu sehen. Dabei spielte ihnen das Wetter noch in die Karten, denn bei dieser Kälte ging niemand hier nachts spazieren. Silvana sagte, dass die Polizei Streife fuhr, um zu verhindern, dass sich jemand an dem Holzhaufen zu schaffen machte. Mit diesen Herrschaften wird man sich unterhalten müssen. Wahrscheinlich sind sie nur ihre Runden gefahren und im warmen Auto geblieben, sonst hätte ihnen ja etwas auffallen müssen.

„Michele, lass bitte die Feuerstelle noch einmal genau untersuchen.“

„Da wurde doch schon alles untersucht.“

„Und was hat man gefunden?“

„Nichts.“

„Eben, deshalb sollen eure Leute die Stelle noch einmal gründlich untersuchen. Notfalls müssen sie halt jedes Sandkorn einzeln umdrehen.“

„Und was versprichst du dir davon? Es ist mitten in der Nacht und die Leute sind müde. Sie haben seit fast einer Stunde den ganzen Strand untersucht.“

„Wir sind alle müde, Michele, aber Lovati hat eine Andeutung gemacht, dass wir eventuell ein Schmuckstück finden könnten. Ich habe keine Ahnung, wie er darauf kommt“, kam Marek Ghetti‘s Frage zuvor. „Er hat wohl am Hals der Leiche eine zerrissene Kette gefunden, und wir wollen uns doch nicht nachsagen lassen, dass wir geschlampt hätten, oder?“

„Schon gut“, resignierte Ghetti und trabte davon.

Murrend machten sich die Männer der Spurensicherung wieder ans Werk. Einerseits verfluchten sie Marek insgeheim, andererseits hatten sie großen Respekt vor ihm und kannten seine unorthodoxe, aber akribische Arbeitsweise, die im vergangenen Jahr zur Aufklärung der beiden Mordfälle geführt hatte. Langsam arbeiteten sie sich zum Zentrum der Feuerstelle vor. Sorgsam wurde jeder Quadratmeter Sand untersucht.

„Commissario, ich habe etwas gefunden!“, rief einer der Männer und hielt einen Arm ausgestreckt in die Höhe.

Marek ließ augenblicklich seine Zigarette fallen und rannte mit Ghetti zur Fundstelle.

„Was haben Sie?“

„Sieht aus wie ein Kreuz.“

„Seltsame Form“, meinte Ghetti.

Marek betrachtete Kreuz mit wachsendem Interesse. Das Kreuz hatte zwei gleich lange Balken von etwa vier Zentimeter Länge, die sich genau mittig kreuzten. Die vier Enden waren wulstig ausgeformt und mit kleinen Steinen besetzt.

„Jedenfalls ist es kein kirchliches Kreuz.“

„Das würde ich so nicht sagen, Michele“, entgegnete Marek. „Das hat sehr viel Ähnlichkeit mit dem Tatzen Kreuz des Templerordens, und die Templer waren ja wohl so etwas, wie die Soldaten der katholischen Kirche. Zumindest so lange, bis ihr Chef, der Papst, sie an den französischen König verraten hat.“

„Das ist nicht dein Ernst, Roberto!“, erwiderte Ghetti ungläubig. „Die Templer gibt es doch schon seit dem Mittelalter nicht mehr.“

„Das ist richtig, vor fast genau siebenhundert Jahren wurde der Orden aufgelöst, aber ich habe ja auch nicht behauptet, dass unsere Leiche ein Tempelritter war. Ich habe lediglich gesagt, dass dieses Kreuz Ähnlichkeit mit dem der Templer hat. Außerdem gibt es Menschen, die behaupten, dass es den Orden noch immer geben soll.“

„Verschwörungstheoretiker!“, meinte Ghetti abschätzig.

„Wie auch immer, wahrscheinlich hatte der Tote das Kreuz nur als Schmuck getragen.“

Marek wog das Fundstück in der Hand.

„Dem Gewicht nach würde ich sagen, das ist massives Gold. Hier Michele, steck du es ein. Wir können dann für heute Nacht wohl Schluss machen, aber der Bereich bleibt abgesperrt. Bis morgen, ciao Michele. Ach, und beinahe hätte ich etwas vergessen. Du musst dich unbedingt mit den Kollegen unterhalten, die hier Streife gefahren sind. Frag sie einfach, ob sie gut geschlafen haben. Buona notte.“

„Mach ich“, grinste Ghetti, „buona notte.“

Während er die Männer der Spurensicherung entließ und zwei Polizisten zur Bewachung des Tatortes einteilte, hatte sich Marek über die Mauer geschwungen und marschierte in Richtung Piazza Veneto davon. Der Tag, der so verheißungsvoll begonnen hatte, wurde so abrupt durch dieses grausame Verbrechen beendet.

Als er in die Viale Falconera einbog, sah er schon von weitem, dass in Silvanas Wohnzimmer noch Licht brannte. Marek öffnete leise die Wohnungstüre. Die letzten Takte von Gustav Mahlers fünfter Sinfonie drangen zu ihm herüber. Es muss Silvana doch mehr mitgenommen haben als vermutet, wenn sie solch schwere Musik in dieser Situation hörte. Als er das Wohnzimmer betrat, sah er sie zusammengekauert, mit einem Cognac Schwenker in der Hand, auf dem Sofa sitzen. Die Flasche auf dem Tisch vor ihr, war schon fast zur Hälfte geleert. Marek küsste sie sachte auf die Stirn.

„Wie geht‘s dir?“

Silvana sah ihn an und versuchte zu lächeln, was ihr kläglich misslang.

„Geht schon.“

„Möchtest du reden?“

Sie antwortete mit einem kurzen Kopfnicken und trank ihr Glas aus.

„Willst du auch einen? Du weißt ja, wo die Gläser sind.“

Marek schenkte sich einen großzügig bemessenen Cognac ein und füllte auch ihr Glas nach. Dann stellte er ihre Kamera auf den Tisch.

„Hier sind deine Fotos. Die sind exklusiv. Dein Redakteur wird zufrieden sein.“

„Ich habe ihn vorhin angerufen. Weißt du, was das Arschloch erwidert hat, als ich ihm sagte, dass ich noch keine Fotos hätte? Er fragte mich, was zum Teufel ich dann zu Hause verloren hätte, wenn da draußen solch eine Story warten würde. Dieser Mistkerl!“

„Geh mal nicht so hart mit ihm ins Gericht. Du bist Journalistin und eine Zeitung lebt nun einmal von solchen Geschichten. Er braucht solche Aufmacher.“

„Schön, dass du auch noch auf seiner Seite bist“, schimpfte Silvana und ihre Augen begannen wütend zu funkeln. „Für dich ist so etwas wohl alltägliche Routine.“

„Nein, ist es nicht!“, verteidigte er sich. „Einen ähnlichen Fall hatte ich erst einmal in meiner gesamten Laufbahn“, was nicht ganz der Wahrheit entsprach, aber er wollte einerseits Silvana beruhigen und andererseits nicht als gefühlloses, abgebrühtes Monster dastehen.

„Und der Fall hier scheint sehr außergewöhnlich zu werden.“

„Inwiefern?“

Ihr Interesse schien jetzt doch geweckt und Marek berichtete ihr von dem seltsamen Kreuz, dass sie gefunden hatten.

„Das muss nichts bedeuten, aber ich habe wieder so ein Gefühl im Bauch und dieses Gefühl hat mich noch nie getrogen.“

Silvana trank noch einen Schluck Cognac und lehnte sich zurück.

„Wenn ich es nicht selbst miterlebt hätte, würde ich sagen, dass diese Geschichte aus einem schlechten Horrorfilm entliehen ist. Dass irgendwer jemand anderen aus dem Weg räumen will, warum auch immer, kommt ja leider des Öfteren vor, aber dass jemand sich solch eine Mühe gibt, sein Opfer zu beseitigen, will mir nicht eingehen. Der Täter lief doch Gefahr entdeckt zu werden, als er den Toten in dem Scheiterhaufen versteckte. Es muss doch einen Grund gehabt haben, dass er dieses Risiko einging.“

„Du hast wohl Recht. Dieser Mord, sofern es denn überhaupt einer war, hat eine andere Dimension. Daher sollten wir auch nichts als abwegig oder unmöglich einstufen.“

„So wie dieses Kreuz, welches du für ein Templerkreuz hältst, oder den Leichenwagen, den wir neben der Bühne sahen?“

Marek schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.

„Genau, der Leichenwagen! Ich sah ihn wegfahren, als du nach Hause gegangen bist. Ich hätte ihn mir doch genauer ansehen sollen.“

„Ach, bin ich jetzt auch noch daran schuld, dass dort am Strand ein Mensch verbrannt wurde?“, erwiderte Silvana vorwurfsvoll und schenkte sich wütend noch einen Cognac ein.