Der Regen, bevor er fällt - Jonathan Coe - E-Book

Der Regen, bevor er fällt E-Book

Jonathan Coe

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Beschreibung

Eine Handvoll Fotos und ein Stapel selbst besprochener Tonbänder, das ist Rosamonds Vermächtnis an Imogen, die Enkelin ihrer Cousine Beatrix. Auf den Bändern erzählt Rosamond die tragische Geschichte der Familie und findet nach und nach Worte für jenes schreckliche Unglück, das zu Imogens Erblindung führte. – Ein bewegender Roman über drei Generationen von Frauen, über ein dunkles Familiengeheimnis und die alles verbindende Sehnsucht nach Liebe und Glück.

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Seitenzahl: 350

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Inhaltsverzeichnis
 
 
Copyright
Als das Telefon klingelte, war Gill draußen und harkte die Blätter zu kupferfarbenen Haufen zusammen, während ihr Mann sie mit der Schaufel auf das Feuer warf. Es war ein Sonntagnachmittag im Spätherbst. Sie lief in die Küche, als sie das schrille Klingeln hörte, und spürte, wie die Wärme des Hauses sie mit einem Mal einhüllte. Sie hatte nicht bemerkt, wie kalt es draußen geworden war. Höchstwahrscheinlich würde es in der Nacht Frost geben.
Kurze Zeit später kam sie wieder den Pfad entlang auf das kleine Feuer zu, von dem blaugrauer Rauch kräuselnd in die beginnende Abenddämmerung aufstieg.
Stephen wandte sich um, als er sie näherkommen hörte. Er las in ihrem Blick, dass es schlechte Nachrichten gab, und sofort musste er an ihre Töchter denken, an die Gefahren, die im Zentrum von London lauerten, an Bomben, an Bus- und U-Bahn-Fahrten, die einst zur täglichen Routine gehörten, inzwischen aber mit einem gewissen Risiko für Leib und Leben verbunden waren.
»Was gibt’s?«
Und als Gill ihm berichtete, dass Rosamond gestorben war, im Alter von dreiundsiebzig Jahren, konnte er ein beschämendes Gefühl der Erleichterung nicht unterdrücken. Er schloss Gill in die Arme, und sie hielten einander schweigend umfangen. Eine Minute oder länger wurde die Stille nur vom Knistern des brennenden Laubes durchbrochen, vom Ruf einer Ringeltaube, dem entfernten Brummen vorbeifahrender Autos.
»Die Ärztin hat sie gefunden«, sagte Gill und löste sich sanft aus der Umarmung. »Sie saß aufrecht in ihrem Sessel, steif wie ein Brett.« Gill seufzte. »Ich werde wohl morgen nach Shropshire fahren müssen, um alles mit dem Anwalt zu besprechen. Und mich um die Beerdigung kümmern.«
»Morgen? Da kann ich nicht mitkommen«, sagte Stephen rasch.
»Ich weiß.«
»Wir haben unser Vorstandstreffen. Alle werden da sein. Ich soll die Sitzung leiten.«
»Ich weiß. Mach dir keine Gedanken.«
Sie lächelte und wandte sich ab. Nur ihr auf- und abwippendes aschblondes Haar war deutlich zu erkennen, als sie auf dem Gartenweg zurücklief und ihn, wie so oft, mit dem Gefühl zurückließ, ihre Erwartungen auf irgendeine Weise enttäuscht zu haben.
 
Die Beerdigung fand am Freitagmorgen statt. Das Dorf, das Gill aus ihrer Kindheit wie ein Bild aus einem Malheft in kräftigen Grundfarben im Gedächtnis hatte, war wie grau gewaschen. Der in diesen Erinnerungen tiefblaue Himmel, der sich auf wundersame Weise irgendwo auf Hunderten von Diapositiven erhalten hatte, war nunmehr auf ein absolut nichtssagendes weißes Blatt Papier reduziert. Vor dieser gestaltlosen Kulisse wiegten sich dunkelund blassgrüne Grüppchen von Bergahorn und Nadelbäumen im Wind. Das Rauschen der Blätter war das Einzige, was sich von dem unablässigen Hintergrundgeräusch des in der Ferne brausenden Verkehrs abhob. Der Kirchhof selbst war mit verblichen grünem Rasen bewachsen, nur stellenweise durchbrochen von moos- und flechtenüberwucherten Felsnasen. Grabsteine, um die sich niemand kümmerte, wuchsen daraus hervor, zum Teil in merkwürdigen Winkeln aufragend. Dahinter, im schwachen herbstlichen Licht, erhob sich der Turm der Church of All Saints: rötlich-braun, breit, alterslos. Die viel zu strahlend goldglänzenden Zeiger auf dem Zifferblatt zeigten beinahe elf Uhr. Das Mauerwerk, zusammengestückt und unregelmäßig, sah aus wie ein planlos durcheinandergeworfenes Muster eines Kirchenfußbodens. Saatkrähen nisteten auf dem mit Türmchen bewehrten Dachfirst.
Gill stand unter dem kleinen hölzernen Portal am Eingang des Kirchhofs, Arm in Arm mit ihrem Vater Thomas, und sah zu, wie die Trauergäste nach und nach hinter der Ecke des Fox and Hounds auftauchten. Ihr Bruder David stand neben ihr. Mehr als zwanzig Jahre waren vergangen, seit Bruder und Schwester zuletzt auf diesem Friedhof gewesen waren. Damals waren sie gekommen, um die Gräber ihrer Großeltern mütterlicherseits, James und Gwendoline, zu pflegen. Es war ein beunruhigender Besuch gewesen: Gill neigte in jenen Jahren zu hellseherischen Ausbrüchen, Eingebungen aus dem Bereich des Übernatürlichen, und hinterher hatte sie David gegenüber beteuert, die Geister ihrer Großeltern gesehen zu haben, eine Vision, die ihr nur kurz, dafür aber mit absoluter Deutlichkeit erschienen sei, wie sie behauptete. Die beiden hatten einträchtig auf einer Bank gesessen, Tee aus einer Thermosflasche getrunken und sich nur wenig unterhalten. David war sich damals nicht sicher gewesen, ob er ihr Glauben schenken durfte, und am heutigen Tag schien es irgendwie unpassend zu sein, auf diesen Vorfall zu sprechen zu kommen. Stattdessen standen sie in schweigender Verbundenheit neben ihrem Vater und nickten jedem neu Eintreffenden einen Gruß zu. Die meisten davon waren ihnen unbekannt: ältere Freunde der Verstorbenen und entfernte Verwandte, die man längst vergessen oder für tot gehalten hatte. Nur wenige der Versammelten schienen sich untereinander zu kennen. Es war ein merkwürdig ungeselliges Zusammentreffen.
Der Gottesdienst wurde von Reverend Tawn gehalten, den Gill erst in dieser Woche kennengelernt hatte. Bei ihren kurzen Gesprächen hatte er auf Anhieb ihr Vertrauen gewonnen, und obwohl er kein enger Freund ihrer Tante gewesen war, sprachen Hochachtung und Wertschätzung aus seinen Worten. Als die Begräbniszeremonie vorüber war, ließ sich eine Handvoll Trauergäste auf die einladenden Türen des Pubs zutreiben. Gill betrachtete ihren Vater und Bruder, die vor ihr herliefen: Aus irgendeinem Grund war sie zutiefst berührt vom Anblick des betagten Vaters und des nicht mehr jungen Sohnes, wie sie so einträchtig Seite an Seite einhergingen und die Ähnlichkeit zwischen ihnen so überaus deutlich aus ihrer Haltung sprach, aus der Gestalt ihres Körpers und überhaupt aus ihrer ganzen Art, auf der Welt zu sein. Wäre es für einen Außenstehenden genauso offensichtlich gewesen, fragte sie sich, dass die beiden schlanken, dunkelhaarigen jungen Frauen, die ein paar Schritte hinter ihr herliefen, ihre Töchter waren? Sie drehte sich um und betrachtete sie. Beide hatten sie das Aussehen vom Vater geerbt. Catharine jedoch - launisch, verschlossen, kreativ - hatte in ihrem Auftreten etwas von der Mutter, ihre Zögerlichkeit und Schüchternheit, während Elizabeth immer viel bodenständiger und selbstsicherer gewirkt hatte, mit ihrem beißenden, unerschütterlichen Humor, der ihr durch jede Krise hindurchhalf. Manchmal geschah es, dass Gill sie ansah und es ihr vorkam, als wären die beiden Wesen von einem anderen Stern, als könnte sie sich plötzlich nicht mehr erklären, wie sie auf diesen Planeten geraten waren, geschweige denn in ihre Familie. Diese gelegentlichen Momente der Distanz beunruhigten sie - sie fühlten sich an wie Panikattacken -, doch waren sie flüchtig und halluzinatorisch. Es genügte eine vertrauliche Geste von einer ihrer Töchter, und das Gefühl glitt wieder von ihr ab. So wie jetzt, als Elizabeth mit einem Mal ihre Schritte beschleunigte, um ihre Mutter einzuholen, und sich bei ihr unterhakte.
Doch noch bevor sie den Eingang der Kneipe erreichten, löste Gill die Umklammerung wieder. Sie hatte jemanden auf der anderen Seite des Parkplatzes entdeckt, den sie sprechen wollte. Es war Philippa May, die Ärztin ihrer verstorbenen Tante, mit der Gill in den vergangenen Wochen regelmäßig telefoniert hatte. Dr. May war es gewesen, die Rosamonds Herzerkrankung diagnostiziert hatte, die - ohne Erfolg - versucht hatte, sie zu überzeugen, sich einer Bypassoperation zu unterziehen, die es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, sie alle paar Tage in ihrem Haus zu besuchen, zunehmend besorgt über die Möglichkeit einer plötzlichen Verschlechterung ihres Zustands, und die schließlich am vergangenen Sonntagmorgen an ihrem Haus angelangt war und festgestellt hatte, dass der Hintereingang nicht verschlossen war und Rosamonds Leiche in dem Sessel vorgefunden hatte, in dem sie - so wie es aussah - mindestens zwölf Stunden zuvor gestorben war.
»Philippa!«, rief Gill und eilte auf sie zu.
Dr. May, die gerade in ihr Auto einsteigen wollte, richtete sich auf und wandte sich um. Sie war eine kleine, tüchtige Frau mit widerspenstigen grauen Haaren und Vertrauen einflößenden blauen Augen, die hinter einer altmodischen Brille mit Stahlgestell hervorlugten.
»Oh, guten Tag, Gill. Es tut mir sehr leid, aber ich muss schon wieder fahren. Die elenden Pflichten.«
»Können Sie nicht noch einen Augenblick bleiben?«
»Ich würde gerne bleiben, aber...«
»Natürlich, ich verstehe. Ich wollte Ihnen nur noch einmal für alles danken, was Sie getan haben. Es war wirklich ein Glück für sie, dass Sie da waren - als Freundin und als Ärztin.«
Dr. May lächelte etwas ungläubig, als sei sie es nicht gewohnt, Komplimente zu erhalten. »Ich fürchte, dass noch eine Menge Arbeit auf Sie zukommt«, sagte sie. »Das ganze Haus ist vollgestopft mit Gerümpel.«
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Gill. »Ich bin noch gar nicht dort gewesen. Ich habe das bisher vor mir hergeschoben.«
»Ich habe mich bemüht, nichts zu verändern. Nur ein oder zwei Sachen habe ich mir erlaubt, in Ordnung zu bringen. Zum Beispiel habe ich den Plattenspieler ausgeschaltet.«
»Plattenspieler?«
»Ja. Sie hat anscheinend Musik gehört, als es passiert ist. Eigentlich ein tröstlicher Gedanke, finde ich. Der Plattenteller drehte sich noch, als ich sie gefunden habe. Die Nadel hing in den letzten Rillen fest.« Sie hielt kurz inne, und obwohl ihre Gedanken in diesem Augenblick eine erkennbar düstere Tendenz hatten, musste sie fast lächeln. »Ich habe mich sogar zuerst gefragt, ob sie vielleicht mitgesungen hat, als ich das Mikrofon in ihrer Hand gesehen habe.«
Gill starrte sie an. Das war nun wirklich das Überraschendste, was sie in der gesamten Woche gehört hatte. Für einen kurzen Moment quälte sie die Vorstellung, Tante Rosamond habe in ihren letzten Minuten ein bisschen Zerstreuung mit einer improvisierten Karaoke-Show gesucht.
»Es war an einen alten Kassettenrekorder angeschlossen«, erläuterte Dr. May. »Ein sehr alter Kassettenrekorder, würde ich sagen. Eine echte Antiquität aus den Siebzigern. Die Aufnahmetaste war noch gedrückt.«
Gill runzelte die Stirn. »Merkwürdig. Was mag sie wohl aufgenommen haben?«
Die Ärztin schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Aber es gibt da einen ganzen Stapel von Kassetten. Außerdem noch Fotoalben. Na ja, Sie werden es ja bald selbst sehen. Alles müsste noch so sein, wie ich es zurückgelassen habe.«
Die Rückfahrt nach Oxfordshire dauerte über zwei Stunden. Gill hatte befürchtet, ihre Töchter würden gleich nach London weiterfahren, doch sie überraschten und erfreuten sie mit der Frage, ob sie über das Wochenende bleiben könnten. An dem Abend fand, verglichen damit, was in diesem Haushalt normalerweise üblich war, ein lebhaftes Abendessen im Kreise der Familie statt, und später, als Thomas bereits zu Bett gegangen war, kamen sie auf die unerwarteten Verfügungen in Rosamonds Testament zu sprechen.
Rosamond hinterließ keine Kinder. Ihre langjährige Freundin - eine Frau namens Ruth - war vor einiger Zeit gestorben, noch in den Neunzigerjahren. Ihre Schwester Sylvia war ebenfalls bereits tot, und ihrem Schwager Thomas hatte sie nichts vermacht. Stattdessen hatte Rosamond ihr Erbe in drei Teile geteilt: jeweils ein Drittel ging an ihre Nichte und ihren Neffen, Gill und David, und das verbleibende Drittel an eine Unbekannte, zumindest war sie den beiden anderen Erben so gut wie unbekannt. Ihr Name lautete Imogen, und Gill hatte keine Ahnung, wo sie gegenwärtig lebte. Sie war nur ein einziges Mal mit ihr zusammengetroffen, vor mehr als zwanzig Jahren.
»Ich schätze, Imogen müsste auf die dreißig zugehen«, sagte Gill, während Catharine ihr Wein nachschenkte und Stephen das Feuer schürte. Alle vier hatten sich um den Kamin versammelt. Stephen und Gill saßen in Sesseln, ihre Töchter hockten im Schneidersitz zwischen ihnen auf dem Fußboden. »Ich bin ihr nur ein einziges Mal begegnet, das war bei Rosamonds Geburtstagsfest - es war wohl ihr Fünfzigster -, und damals kann sie nicht älter als sieben oder acht gewesen sein. Sie war ganz allein da. Ich habe mich länger mit ihr unterhalten...«
»Sie war ganz allein gekommen?«, fragte Catharine nach, doch ihre Mutter schien sie nicht zu hören. Sie war in Erinnerungen an diese seltsame Feier versunken. Sie hatte nicht in Shropshire stattgefunden. Nein, das war noch in der Zeit gewesen, bevor sich Rosamond ein für alle Mal in die von ihr so geliebte Grafschaft zurückgezogen hatte, das Land, in dem sie während des Krieges ihre Kindheit verbracht hatte. Damals lebte sie mit Ruth in London, in einer stattlichen Doppelhaushälfte, in der Gegend von Belsize Park. Für Gill und ihre Familie war das eine fremde Welt gewesen. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie das peinliche Gefühl gehabt, provinziell zu sein, und ihre Eltern waren ihr genauso vorgekommen. Sie hatte zugesehen, wie ihre Mutter und Rosamond einander auf unsichere und befangene Art in der Souterrainküche begrüßten (»Eine Küche im Souterrain, so was!«, hatte sich Sylvia hinterher gewundert), und sich gefragt, wie sich zwei Schwestern so fern sein konnten, selbst mit zehn Jahren Altersunterschied. Und obwohl es gewöhnlich kaum eine Situation gab, die ihren Vater aus der Ruhe brachte, und er außerdem das Familienmitglied war, das am weitesten in der Welt herumgekommen war, so schien bei dieser Feier selbst er sich nicht ganz wohl in seiner Haut zu fühlen. Auf die sechzig zugehend, aber immer noch blendend aussehend, mit dichtem, silbergrauem Haar und einer Gesichtsfarbe, die noch nicht sehr stark zu Rötungen neigte, hatte er einen Großteil des Nachmittags damit verbracht, die Bücherregale zu inspizieren, bevor er sich mit einem Glas Whisky und einer kürzlich erschienenen Geschichte der baltischen Staaten in einen Sessel zurückzog.
Und was Gill selbst betraf, so hatte sie eine halbe Ewigkeit allein (warum war Stephen eigentlich nicht mitgekommen?) auf den Treppenstufen gestanden, die zum winzigen Garten hinunterführten (»Du hast wirklich Glück«, hatte sie jemanden zu Tante Rosamond sagen hören, »in diesem Teil der Stadt einen so großen Garten zu besitzen«), an das schmiedeeiserne Geländer gelehnt, und hatte dem an- und abschwellenden Strom von exotischen Gästen zugesehen, die aus dem Haus kamen oder wieder hineingingen. (Warum waren nur so wenige von ihnen auf der Beerdigung erschienen?) Sie erinnerte sich, dass sie eine große Wut auf sich selbst gespürt hatte,Wut darüber, dass sie mittlerweile Mitte zwanzig war, ihr Studium absolviert hatte, bereits verheiratet war (und nicht nur verheiratet, sondern im dritten Monat schwanger mit Catharine) und dennoch dastand und sich linkisch und schüchtern vorkam wie ein junges Mädchen, vollkommen unfähig, mit irgendjemandem ein Gespräch anzufangen. Das Weinglas war in ihrer Hand warm und klebrig geworden, und sie wollte gerade hineingehen und es wieder auffüllen, als Imogen durch die offene Glastür hinter ihr herauskam. Sie wurde von Tante Rosamond geführt, die sie sanft, aber bestimmt am Oberarm hielt.
»Hier entlang, hier entlang«, sagte Rosamond. »Hier draußen gibt es eine Menge Leute, mit denen du dich unterhalten kannst.«
Sie blieben auf der obersten Stufe neben Gill stehen, und Imogen streckte zögernd eine Hand aus. Instinktiv, ohne recht zu wissen, warum sie ihr half, ergriff Gill die Hand und führte sie zum Geländer. Imogen umklammerte die Stange mit festem Griff.
»Dies hier«, sagte Rosamond zu dem kleinen Mädchen, »ist Gill, meine Nichte. Wahrscheinlich weißt du nichts davon, aber Gill ist mit dir verwandt. Ihr seid Cousinen. Cousinen zweiten Grades, falls dir das etwas sagt. Und sie hat eine weite Reise gemacht, um mich heute zu besuchen, genau wie du. Ach, ist das schön, dass heute so viele Leute gekommen sind, um mit mir Geburtstag zu feiern! Gill, amüsierst du dich? Würdest du vielleicht mit Imogen ein bisschen hinunter in den Garten gehen? Ich glaube, dass sie sich ein wenig verloren fühlt unter so vielen Menschen.«
Imogen hatte auffallend helle Haare, und sie war sehr still. Sie besaß ein ausgeprägtes, vorstehendes Kinn, drei ausgefallene Milchzähne hatten Lücken hinterlassen, in die noch keine neuen Zähne vorgestoßen waren, und die blonden Haare fielen ihr wirr über die Augen. Gill wäre nicht darauf gekommen, dass Imogen blind war, wenn Rosamond sie nicht im Flüsterton darauf aufmerksam gemacht hätte, bevor sie sich umdrehte und wieder in das Haus zurückging. Als ihre Tante gegangen war, blickte Gill auf das kleine Mädchen hinunter und strich ihr über das Haar.
»Komm mit«, sagte sie.
Alle waren an jenem Nachmittag in Imogen vernarrt gewesen. Sie war fast zwanzig Jahre jünger als der jüngste unter den übrigen Anwesenden, und dies allein rief bereits die verzückte Zuwendung aller hervor. Doch darüber hinaus zog sie mit ihrer Blindheit die Aufmerksamkeit der Gäste auf sich. Es war zunächst wohl Mitgefühl, was sie anzog, dann aber auch die merkwürdige Aura eines stillen In-sich-Ruhens, die das kleine hellblonde Kind umgab. Sie strahlte eine große Ruhe aus, und ein kaum merkliches Lächeln zeigte sich fortwährend auf ihrem Gesicht. Wenn sie etwas sagte, was selten geschah, klang ihre Stimme fast unhörbar sanft.
»Das ist doch kaum zu glauben«, hatte Gill gesagt, »dass wir miteinander verwandt sind und uns noch nie gesehen haben.«
»Ich lebe nicht bei meiner Mutter«, antwortete Imogen. »Ich habe eine andere Familie.«
»Sind sie denn nicht mitgekommen?«, fragte Gill und blickte sich um.
»Wir sind alle zusammen nach London gefahren. Aber sie wollten nicht auf das Fest gehen.«
»Nicht schlimm, ich werde mich schon ein bisschen um dich kümmern.«
Später am Nachmittag ging Gill mit Imogen die Treppe hinauf zur Toilette und wartete auf dem Treppenabsatz auf sie. Bald fand Imogen wieder zu ihr, ergriff ihre Hand und fragte: »Wo guckst du hin?«
»Ach, ich habe nur zum Fenster hinausgeschaut.Von hier oben hat man einen guten Blick.«
»Was kann man da sehen?«
»Man sieht...« Doch im ersten Augenblick wusste Gill nicht, wo sie anfangen sollte. Denn tatsächlich war alles, was sie ausmachen konnte, eine gestaltlose Ansammlung von Gebäuden und Bäumen vor der Horizontlinie. Ihr ging plötzlich auf, dass sie meistens nicht mehr als das sah. Doch auf diese Weise konnte sie Imogen den Ausblick nicht beschreiben. Sie musste ihn auf ganz neue Art betrachten, Stück für Stück, Gegenstand für Gegenstand. Und anfangen... womit? Mit dem Dunst, der die Grenzlinie zwischen Dächern und Himmel verschwimmen ließ? Mit den kaum wahrnehmbaren Farbabstufungen des Himmels, vom tiefsten bis zu ganz blassem Blau? Mit dem vertrackten Gewirr von Umrissen an jener Stelle, wo zwei Turmklötze zu beiden Seiten von etwas aufragten, was sie für die St Paul’s Cathedral hielt?
»Nun ja«, begann sie, »der Himmel ist blau, und die Sonne scheint...«
»Das weiß ich doch, du Dumme«, sagte Imogen und drückte Gills Hand.
Und selbst in der Erinnerung konnte Gill ihn noch deutlich spüren, den Druck dieser kleinen Finger. Eine erste Ahnung, wie es sein würde, selbst eine kleine Tochter zu haben. Damals, in jenem Augenblick, hatte sie die Gewissheit um das Kind, das in ihrem Innern heranwuchs, fest in sich verankert und gespürt, dass sie die Angst und die Freude kaum ertragen konnte.
 
Thomas war wie gewöhnlich der Erste, der am nächsten Morgen aufwachte. Gill setzte Tee für ihn auf und pochierte ein paar Eier. Dann überließ sie ihren Vater seiner Zeitungslektüre und ging ins Arbeitszimmer, um etwa zwanzig Schachteln mit Diapositiven aus der untersten Schublade des alten Mahagonisekretärs hervorzuholen und sie ins Esszimmer zu tragen, wo es mehr Tageslicht gab. Sie breitete sie vor sich auf dem Tisch aus und schüttelte missbilligend den Kopf, als sie bemerkte, dass die meisten Schachteln keine Aufkleber trugen. Es dauerte fast eine halbe Stunde, um sie mehr oder weniger systematisch zu durchstöbern, und als Elizabeth, noch im Bademantel und mit zerzausten Haaren, herunterkam und sich zu ihr gesellte, hatte Gill gerade erst gefunden, wonach sie gesucht hatte.
»Was machst du da?«, fragte ihre Tochter.
»Ich habe nach einem Foto gesucht.Von Imogen. Hier, sieh mal.«
Sie reichte Elizabeth eines der Dias. Elizabeth hielt es gegen das Fenster und kniff die Augen zusammen.
»Das darf nicht wahr sein«, sagte sie. »Wann ist denn das gemacht worden?«
»1983.Wieso?«
»Na, die Klamotten! Die Frisuren! Was habt ihr euch denn dabei gedacht?«
»Wart’s ab. In zwanzig Jahren werden deine Kinder dasselbe über dich sagen. Das hier ist auf dem Fest, von dem ich euch erzählt habe. Rosamonds fünfzigster Geburtstag. Erkennst du sie und Ruth und mich und Grandma?«
»Ja.Wo ist Grandpa?«
»Er muss das Foto gemacht haben. Wir werden nachher zu ihm gehen und ihn fragen, mal sehen, ob er sich noch erinnern kann. Aber - siehst du das kleine Mädchen, das vor Tante Rosamond steht?«
Elizabeth hielt das Bild vor eine Stelle oben am Fenster, die mehr Tageslicht hereinließ. Ihre Aufmerksamkeit galt in diesem Moment nicht so sehr Imogen, sondern der unendlich fremden, unendlich vertrauten Figur, die am linken Rand der Gruppe stand: dieser gespenstischen Erscheinung ihrer Mutter in Gestalt einer jungen Frau. Es war, was man landläufig ein »gutes Foto« nennt, in dem Sinne, dass Gill darauf attraktiv, ja, sogar schön wirkte. (Noch nie zuvor hatte sie ihre Mutter als schön empfunden.) Doch Elizabeth hätte sich gewünscht, dass ihr das Bild mehr gesagt hätte: gewünscht, dass es ihr eine Ahnung davon vermittelt hätte, was ihre Mutter dachte oder fühlte auf diesem bedeutsamen Familienfest, so kurz nach ihrer Hochzeit, so kurz, nachdem sie schwanger geworden war. Warum schienen alle Menschen auf Fotos - auf Familienfotos - so unergründlich zu sein? Was für Hoffnungen, was für geheime Ängste schlummerten hinter diesem dem Anschein nach zuversichtlich blickenden Gesicht ihrer Mutter, hinter diesen Lippen, die sich zu dem charakteristischen, leicht schiefen Lächeln auseinandergezogen hatten?
»Ja, ich sehe sie«, bestätigte Elizabeth schließlich, als sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf das kleine hellblonde Mädchen richtete. »Sie sieht hübsch aus.«
»Nun, das ist Imogen. Das ist die, die wir finden müssen.«
»Dürfte nicht allzu schwer sein. Heutzutage lässt sich jeder finden.«
In Gills Ohren klang das etwas zu optimistisch, doch Catharine, die sich kurze Zeit später zu ihnen an den Frühstückstisch gesellte, stimmte ihrer Schwester zu. Beide waren nicht sehr überzeugt von dem Vorschlag des Anwalts, eine Anzeige in der Times aufzugeben. Catharine fand das geradezu lächerlich. »Schließlich leben wir nicht mehr in den Fünfzigern, und außerdem liest doch heute kein Mensch mehr die Times.«
»Erst recht nicht, wenn er blind ist«, fügte Elizabeth hinzu.
Catharine bot an, sofort im Internet mit der Suche zu beginnen. Gegen zehn Uhr überreichte sie ihrer Mutter eine Liste mit fünf möglichen Kandidatinnen.
Gill setzte noch am selben Nachmittag einen Brief auf, warf am Montagmorgen fünf Exemplare davon in den Briefkasten und bereitete sich auf eine unsichere Zeit des Wartens vor.
 
In der Zwischenzeit sah sie ein, dass es keinen Sinn hatte, die anstehende Aufgabe, zu Rosamonds Haus zu fahren, ihre Hinterlassenschaft zu sichten und sich um den Verkauf zu kümmern, noch länger vor sich herzuschieben. Zweifellos würde die ganze Sache anstrengend werden und sich eine Weile hinziehen. Aus Stephens Schweigen hatte sie geschlossen, dass er nichts damit zu tun haben wollte, und so machte sie sich darauf gefasst, drei bis vier Tage allein in Shropshire zu verbringen, packte einen kleinen Koffer und begab sich an einem hellen, windigen und eiskalten Dienstagmorgen wieder auf den Weg dorthin.
Das Haus ihrer verstorbenen Tante lag abseits eines der vielen schlammverkrusteten Sträßchen zwischen Much Wenlock und Shrewsbury. Jedes Mal, wenn sie sich dem Anwesen näherte, wurde Gill aufs Neue überrascht. Dichtes Rhododendrongebüsch kündigte an, dass das Ziel fast erreicht war, denn dahinter erstreckte sich, wie sie wusste, Rosamonds schattiger, nach allen Seiten abgeschotteter Garten. Doch die Einfahrt weiter unten hielt sich geradezu hinterhältig verborgen, sie schlich sich heimlich in einem grotesk spitzen Winkel an die Straße heran, den höchstens ein sehr kleines Auto ohne unbequemes Kurbeln und Manövrieren bewältigen konnte. Wenn man diese Einfahrt glücklich passiert hatte, dann verengte sich die Auffahrt bald zu einem steinigen Weg, die Bäume links und rechts rückten näher und ihre gewundenen Zweige verschränkten sich, sodass man das Gefühl hatte, durch einen Pflanzentunnel zu fahren. Wenn man am anderen Ende wieder ins Freie gelangte und in das herbstliche Sonnenlicht blinzelte, erwartete man nichts Geringeres, als auf ein halb verfallenes feudales Herrenhaus zu stoßen. Stattdessen bekam man einen bescheidenen grauen Bungalow zu Gesicht, irgendwann in den Zwanziger- oder Dreißigerjahren gebaut, mit einem Gewächshaus, das sich an eine Seite schmiegte. Über dem Ganzen lag eine Stimmung von absoluter Stille, die geradezu zermürbend wirken konnte.Von außen betrachtet, schien dies schon immer das Hauptmerkmal des Hauses gewesen zu sein, selbst als Rosamond noch lebte, und nun, im Bewusstsein ihrer endgültigen Abwesenheit, wurde Gill, als sie an diesem eisigen Morgen aus dem Wagen stieg, sogleich von einer solch absoluten Einsamkeit umfangen, wie sie sie noch nie erlebt hatte.
War die Stille, die über Haus und Garten lag, schon fast gespenstisch, so war die Kälte im Inneren des Hauses noch schlimmer. Gill wusste, dass sie keiner krankhaften Einbildung unterlag und dass dies mehr als nur eine Frage der Zimmertemperatur war. Dies war das Haus einer Toten. Nichts würde diese Kälte vertreiben können, auch wenn sie noch so viele Heizkörper aufdrehen, Boiler anwerfen oder Heizlüfter aus irgendwelchen Schränken hervorziehen würde. Sie fand sich mit dem Gedanken ab, im Mantel arbeiten zu müssen.
Gill betrat die Küche und blickte sich um. Im Spülbecken stand kaltes Abwaschwasser, auf dem Abtropfgitter lagen ein Messer und eine Gabel, ein einzelner Teller, zwei Töpfe und ein Kochlöffel zum Trocknen. Diese an Rosamonds letzte Stunden erinnernde Hinterlassenschaft drückte nur noch mehr auf ihre Stimmung. Daher munterte es sie etwas auf, als sie eine Kaffeemaschine und gleich daneben, noch ungeöffnet in der Vakuumpackung, kolumbianischen Kaffee entdeckte. Sofort brach sie das Päckchen an und setzte eine ordentliche Portion auf, und noch bevor sie den ersten Schluck auf der Zunge spürte, ließen das anheimelnde Brodelgeräusch und der würzige, nach Walnüssen duftende Geruch, der die Küche erfüllte, ihre Lebensgeister wieder erwachen.
Sie nahm ihren Becher mit in das Wohnzimmer. Dort war es heller, und die Luft war besser als in der Küche. Bis zum Boden reichende Fenster gaben den Blick auf ein Stück Rasen frei, das schon lange nicht mehr gemäht worden war, und Rosamonds Sessel war so ausgerichtet, dass man von ihm aus diesen Ausblick genießen konnte. Um den Sessel herum waren, genau wie Dr. May ihr berichtet hatte, Fotoalben aufgestapelt - einige noch wie neu, andere fast antik wirkend -, daneben drei oder vier Kunststoffkästen mit Diapositiven und einem kleinen batteriebetriebenen Gerät, um sie zu betrachten. Dann war da noch etwas, an den Sessel gelehnt, das Gill zusammenzucken ließ, als sie es bemerkte und wiedererkannte: ein ungerahmtes Ölbild, ein Porträt von Imogen als Kind, das sie mit Sicherheit schon einmal irgendwo gesehen hatte. (Vielleicht - doch sie war sich nicht sicher - in Rosamonds Haus in London, auf dem Fest zu ihrem fünfzigsten Geburtstag?) Auf dem kleinen Tisch neben dem Sessel stand ein Kassettenrekorder, ein kleines Mikrofon - das Anschlusskabel war sorgfältig aufgewickelt und verknotet worden - und vier Tonbandkassetten, zu einem ordentlichen Stapel aufeinandergelegt. Gill untersuchte sie neugierig. Die für die Beschriftung vorgesehenen Zettel fehlten, und auch auf den Kassetten selbst stand nichts. Nur die Ziffern eins bis vier waren zu sehen, die Rosamond offenbar aus Karton ausgeschnitten und anschließend der Reihenfolge nach auf die Kunststoffhüllen aufgeklebt hatte. Außerdem war eine der Hüllen leer, oder besser gesagt: Statt einer Tonbandkassette enthielt sie nur ein DIN-A5-Blatt Luftpostpapier, fest zusammengefaltet, auf das Rosamond die Worte gekritzelt hatte:
Gill,diese Bänder sind für Imogen.
Falls du sie nicht ausfindig machen kannst, höre du sie dir an.
Wo war die vierte Kassette? Wahrscheinlich steckte sie noch im Gerät. Gill drückte auf die Eject-Taste, und tatsächlich, eine weitere Tonbandkassette sprang heraus. Sie schien zu den anderen zu passen, daher steckte Gill sie in die leere Hülle und trug alle vier Kassetten zu einem Sekretär, der in der Ecke des Zimmers stand. Sie wollte diese Bänder sogleich in Sicherheit bringen, um jeglicher Versuchung vorzubeugen. Im Sekretär fand sie einen großen braunen Umschlag. Sie legte die Kassetten hinein, befeuchtete den Falz mit der Zunge, klebte den Umschlag entschlossen zu und schrieb in Großbuchstaben »Imogen« auf die Vorderseite.
Als Nächstes ging Gill zum Plattenspieler, der auf einem fleckigen und ausgeblichenen Palisanderschränkchen stand. Auch hier war es genau, wie Dr. May gesagt hatte, auf dem Teller lag noch eine Schallplatte. Sie hob den durchsichtigen Deckel an, nahm die Platte vorsichtig heraus - dabei achtete sie darauf, die Rillen nicht zu berühren - und betrachtete das Etikett. Lieder der Auvergne stand dort, arrangiert von Joseph Canteloube, gesungen von Victoria de los Angeles. Gill blickte um sich und entdeckte die Plattenhülle auf einem Regal, das in der Nähe stand. Sie steckte die Platte wieder hinein und ging in die Hocke, um das Schränkchen zu öffnen, in der Annahme, dass Rosamond ihre Platten dort aufbewahrt hatte. Es waren an die hundert, sorgfältig nach dem Alphabet geordnet. Keine CDs, die digitale Revolution schien an ihr vorbeigegangen zu sein. Doch im obersten Fach des Schränkchens fanden sich ein paar Dutzend weiterer Bänder, teils Leerkassetten, teils gekaufte Aufnahmen, und gleich daneben noch etwas anderes, etwas ziemlich Unerwartetes - sodass es Gill den Atem verschlug, und der Seufzer, mit dem sie die Luft heftig einsog, klang wie ein Schrei des Entsetzens in dem stillen Haus.
Ein Becherglas, darin noch ein paar Tropfen Flüssigkeit, die den unverwechselbaren, torfigen Duft eines Islay Malt Whisky verströmten. Und daneben ein braunes Fläschchen, auf dessen Etikett in blasser Nadeldruckerschrift stand: Diazepam. Das Fläschchen war leer.
 
Um drei Uhr nachmittags rief Gill ihren Bruder an.
»Und, wie kommst du voran?«, fragte er aufgekratzt.
»Es ist einfach fürchterlich hier. Nicht zum Aushalten. Ich frage mich, wie sie es hier ausgehalten hat. Es tut mir leid, aber ich kann unmöglich die Nacht in diesem Haus verbringen.«
»Was willst du also tun? Nach Hause fahren?«
»Das schaffe ich nicht. Es ist zu weit. Außerdem ist Stephen sowieso bis Freitag in Deutschland. Ich...« - sie zögerte - »... ich wollte dich fragen, ob ich bei dir übernachten kann.«
»Natürlich kannst du das.«
 
Nein, sie würde niemandem davon erzählen. Das hatte sie jetzt beschlossen.Was sie in diesem Schränkchen entdeckt hatte, war letztlich kein zwingender Beweis. Vielleicht hatte dieses Fläschchen schon Monate oder Jahre dort gestanden. Dr. May hatte die Todesursache mit genügend Sicherheit feststellen können und keinen Anlass gesehen, den Coroner einzuschalten. Warum also sollte sie diese Sache aufwirbeln, warum sollte sie irgendjemandem unnötigen Kummer bereiten? Und selbst wenn sich Rosamond das Leben genommen hatte, was ging das Gill oder sonst wen an? Sie hatte gewusst, dass sie nicht mehr lange zu leben hatte. Sie litt unter Schmerzen, wegen der Angina, und wenn sie beschlossen hatte, sich von diesen Schmerzen zu erlösen, wer sollte ihr deshalb einen Vorwurf machen?
Gill tat das Richtige, dessen war sie sich sicher.
Davids Haus befand sich in Stafford, etwas mehr als eine Stunde entfernt. Als das letzte Tageslicht wegdämmerte, durchquerte sie den östlichen Teil von Shropshire, der M6 entgegen. Die Strecke führte an der Kirche vorbei, wo Rosamond jetzt auf dem Friedhof begraben war, doch Gill hatte nicht das Bedürfnis anzuhalten. Sie geriet in einen tranceähnlichen Zustand und fuhr langsam, nicht schneller als sechzig Stundenkilometer, ohne zu bemerken, dass sich hinter ihr eine Schlange von ungeduldigen Autos bildete. Ihre Gedanken trieben gefährlich ungebunden und ziellos dahin. Diese Musik, die ihre Tante wohl aufgelegt hatte, bevor sie starb... Gill kannte die Lieder der Auvergne von Canteloube nicht, doch sie war in diesem Teil Frankreichs gewesen, ein einziges Mal, vor vielen Jahren. Catharine war acht Jahre alt gewesen, Elizabeth fünf oder sechs, es musste also 1992 gewesen sein, ziemlich früh im Jahr - April oder Mai... Die Mädchen hatten sie auf diese Reise nicht mitgenommen. Die Absicht war ja gerade gewesen, sie bei den Großeltern unterzubringen und ohne sie zu verreisen. Gill und Stephen waren damals in eine Ehekrise gestolpert (war das ein zu starker Ausdruck? Sie konnte sich an keinen Streit, an keine Seitensprünge erinnern, lediglich an eine wortlose Distanz, die sich zwischen ihnen aufgetan hatte. Ein plötzliches, erschreckendes Bewusstwerden, dass sie einander irgendwie, ohne dass es einer von ihnen gemerkt hätte, fremd geworden waren), und vermutlich hatten sie damals die Hoffnung gehabt, dass ein paar Tage in Frankreich dazu beitragen könnten, den Schaden zu beheben.
Die Rechnung war nicht aufgegangen. Stephen hatte wegen einer Tagung nach Clermont-Ferrand fliegen müssen und war den ganzen Tag über beschäftigt. Gill war nichts anderes übrig geblieben, als stundenlang durch die Bars und Aufenthaltsräume des menschenleeren, neu eröffneten, charakterlosen Hotels zu irren, bis sie am dritten Tag endlich beschloss, selbst etwas zu unternehmen. Sie hatte sich ein Auto gemietet und war aufs Land gefahren. Ihr waren nur ein paar verschwommene Erinnerungen im Gedächtnis haften geblieben - grauer Himmel, eine unerwartet felsige Landschaft, ein trostloser See, von Kiefern gesäumt - sowie eine überaus deutliche: etwas, das sie in all den Jahren nicht vergessen hatte. Sie befand sich auf dem Rückweg zum Hotel. Es war später Nachmittag, und die Straße, auf der sie fuhr, war schmal und kurvenreich, eingezwängt zwischen dichten, düsteren Waldstücken. Immer wieder begann es zu regnen, unvorhersehbare Schauer, die alsbald wieder nachließen. Und dann, als der Wald schließlich mit einem Mal zurückwich und Gill auf eine offene Straße gelangte, die fast unheimlich glatt und eben dahinlief, schlug plötzlich etwas laut und dumpf gegen ihre Windschutzscheibe. Ein schwarzes Etwas prallte davon ab, fiel auf die Kühlerhaube und dann auf die Straße, wo es reglos liegen blieb. Gill bremste und brachte den Wagen mitten auf der Straße zum Stehen, rannte zurück, um zu sehen, was das Etwas war und blieb erstarrt vor einem schwarzen Fleck auf dem Asphalt stehen - ein toter Vogel, eine junge Amsel. Und im selben Augenblick, als sie das leblose Häuflein sah, war ihr, als habe es einen weiteren bleiernen Aufprall auf ihrem Herzen gegeben. Sie hatte den Motor ausgeschaltet, sodass jetzt eine bedrückende und schockierende Stille über der Straße lag. Kein Vogel war zu hören. Fast auf Zehenspitzen näherte sich Gill dem toten Ding, hob den kleinen Körper vorsichtig an einer Flügelkante auf und legte ihn behutsam auf einem Moospolster am Straßenrand ab. Während sie das tat, dachte sie: ›Du weißt, was das bedeutet: ein Todesfall in der Familie.‹ Der ungebetene und heimtückische Gedanke versetzte ihr Herz in wildes Pochen, und sie fuhr mit rasender Geschwindigkeit in das nächste Dorf, Murol, wo sie, kaum dass sie eine Telefonzelle entdeckt hatte, in größter Hast eine Handvoll Francs in den Schlitz warf und die Nummer ihrer Eltern in England wählte. Nach einer Zeit, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, meldete sich ihre Mutter, doch sie klang vollkommen ruhig und munter, allenfalls etwas erstaunt darüber, dass ihre Tochter sie um diese Tageszeit anrief. »Nein, den Mädchen geht es gut«, versicherte sie ihr. »Warum fragst du? Im Moment sitzen sie im Esszimmer und brüten über einem von deinen alten Puzzles. Was machen deine Ferien, erholst du dich gut...?« Und so war Gill nach Clermont-Ferrand weitergefahren, den Schreck immer noch in den Gliedern, doch einigermaßen erleichtert. Am Abend hatte sie versucht, Stephen zu erklären, warum sie solche Angst bekommen hatte, war jedoch lediglich auf die gewohnte Abwehrmauer aus nachsichtig amüsierter Skepsis gestoßen. »Es wirkte wie ein böses Vorzeichen auf mich«, hatte sie gesagt, »so unheimlich...« »Ach, du und deine Vorzeichen«, hatte Stephen gelacht und es dabei wieder einmal geschafft, wie es seine aufreizende Art war, das Ganze beiseitezuwischen und dennoch nicht uneinfühlsam zu wirken. Und am nächsten Tag waren sie nach Hause zurückgeflogen. Die Ehekrise war nicht gelöst, das Vorzeichen blieb offen, nur hatte Gill immerhin einräumen müssen, dass ihre Angst unbegründet gewesen war. Sie akzeptierte, dass auch später nicht mehr über den Vorfall gesprochen wurde, doch zurück blieb ein Gefühl von Unzufriedenheit, das ihr zusetzte: die quälende Gewissheit, dass sie nachgegeben und sich (wie so oft) der prosaischeren Denkweise ihres Mannes angeschlossen hatte.
Dieses Gefühl war nie wieder ganz von ihr gewichen. Auch jetzt noch, Jahre später, konnte Gill es spüren, während sie auf jener Straße durch Shropshire dahinrollte, die sie in ihrer Kindheit mindestens zweimal im Monat entlanggefahren war. Sie hatten immer diesen Weg genommen, wenn sie mit der Familie ihre Großeltern besucht hatte, und obwohl die damit verbundenen Erinnerungen lange Zeit geschlummert hatten, wurde ihr an diesem Tag wieder bewusst, dass diese Felder, diese Dörfer, diese endlosen Hecken immer noch tief in ihrem Gedächtnis eingegraben waren. Sie bildeten geradezu das Grundgestein ihres Bewusstseins. Gill blickte sich nach allen Seiten um und fragte sich, wie sie es anstellen würde, all diese Dinge einem blinden Menschen, etwa Imogen, zu beschreiben. Die Sonne, die am Morgen noch so geblendet hatte, war schon seit geraumer Zeit von schweren, dunklen Wolken verdeckt worden, die bedrohlich nach Schnee aussahen. Die ganze Welt war nur noch monochrom: Alles erschien schwarz, weiß oder in einer Abstufung von grau. Die Bäume ragten schwarz und spröde gegen den grauen Himmel wie verkohlte Knochen, grob aufgeschichtete Steinmauern, überwuchert von grauen Moosschichten, die Felder, auf- und absteigend in sanften Wellenbewegungen, englisch zurückhaltend und grau wie der schneebeladene Himmel selbst. Und nun begannen die Flocken zu fallen, ein Wirbel von dicken Flocken, groß wie Herbstblätter, und Gill, die am ganzen Körper schauderte, bemerkte, dass im Wageninnern eine Eiseskälte herrschte - so schlimm wie die Kälte im Haus ihrer Tante oder sogar noch schlimmer - und die Heizung nicht funktionierte. Mit einem Mal fragte sie sich, begleitet von aufkeimender Wut, warum in aller Welt sie immer noch an diesem Land hing, warum es sich, wenn sie sich von ihm losrisse, wie eine Amputation anfühlen würde, obgleich es ihr doch offensichtlich niemals genügend Nahrung gegeben hatte, ihr niemals das gegeben hatte, was sie sich wünschte. Das Gefühl kam aus dem Nichts, überrumpelte sie, als sie gerade bittere Gedanken über einige Gespräche wälzte, die sie vor Kurzem mit Stephen geführt hatte, über all die Dinge, die sie jetzt tun könnten, nachdem die
Originaltitel:The Rain Before It Falls Originalverlag:Viking, Penguin Books, London
 
AnmerkungDer Titel dieses Romans stammt von einer Komposition von Mike Gibbs. Bei der Beschreibung von Catharines Musik wurde ich durch das Album Slow Life von Theo Travis inspiriert.
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1. Auflage
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eISBN : 978-3-641-02518-2
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