Der Staat streift seine Samthandschuhe ab - Peter Sloterdijk - E-Book

Der Staat streift seine Samthandschuhe ab E-Book

Sloterdijk Peter

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Beschreibung

Peter Sloterdijk ist einer der bekanntesten und wirkungsmächtigsten Denker unserer Zeit. Seine philosophischen Zeitdiagnosen und politischen Interventionen sind risikofreudig, streitbar und mindestens so erhellend wie überraschend. Dies konnte man einmal mehr im letzten Jahr mitverfolgen, als er in zahlreichen Interviews über die Pandemie und ihre sozialen, politischen und existentiellen Konsequenzen befragt wurde.

Die wichtigsten Interviews und Beiträge liegen hier nun versammelt vor und dokumentieren einen Lernprozess, in dem sich der Ernst der Situation und die Suche nach angemessenen Deutungen zunehmend ausprägen. Für Peter Sloterdijk ist die Corona-Krise nicht bloß eine wirtschafts- oder sozialpolitische Zäsur. Sie markiert vielmehr den »Beginn eines Zeitalters, dessen basale ethische Evidenz Ko-Immunismus lautet, das Einschwören der Individuen auf wechselseitigen Schutz«. Dies erfordert eine neue Definition von Zusammensein, eine »veränderte Grammatik unseres Verhaltens« und eine globale immunitäre Vernunft. Welche Konsequenzen sich daraus für uns ableiten – auch das ist diesen hellsichtigen, zukunftsweisenden Gesprächen zu entnehmen.

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Titel

Peter Sloterdijk

Der Staat streift seine Samthandschuhe ab

Ausgewählte Gespräche und Beiträge 2020-2021

Suhrkamp

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

Vorbemerkung

Das westliche System wird sich als ebenso autoritär erweisen wie das chinesische. Im Gespräch mit Christophe Ono-dit-Biot

Für Übertreibungen ist kein Platz mehr. Im Gespräch mit Adam Soboczynski

Ko-Immunismus im Zeitalter von Pandemien und Klimawandel. Im Gespräch mit Nathan Gardels

Der Mensch ist nicht darauf vorbereitet, die Natur zu schützen. Im Gespräch mit Neil King und Gabriel Borrud

Der Mensch, das Distanzwesen

Der Mensch und der Mensch

Hochkultur und Täuschung

Freiheit und Zukunft

Pandemie und Gegenwart

Der Staat zeigt seine eiserne Faust. Im Gespräch mit Tomasz Kurianowicz

Bitte erklären Sie uns die Zeit, in der wir leben!. Im Gespräch mit Willem Allexander Tell

Ist es legitim, vor Corona keine Angst zu haben? Im Gespräch mit Willem Allexander Tell

Leben wir über unsere Verhältnisse? Im Gespräch mit Willem Allexander Tell

Humor, ein staatsbürgerlicher Impfstoff. Im Gespräch mit Christophe Ono-dit-Biot

Vom Unbehagen in der fiskalischen Kultur

Nichts ist umsonst

Ubi fiscus, ibi imperium

Die Ambivalenz der Gabe

Leben ohne Ausreden. Im Gespräch mit Lucius Maltzan und Simon Nehrer

Man kann nicht in der Revolte leben Im Gespräch mit Lothar Schröder

Warum treten zunehmend Leute aus der Wirklichkeit aus? Im Gespräch mit Peter Unfried und Harald Welzer

Statt eines Nachworts Leben in der Philosophenhöhle. Im Gespräch mit René Scheu

Fußnoten

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Vorbemerkung

Der vorliegende kleine Band versammelt eine Auswahl von Äußerungen, die im Zeitraum zwischen März 2020 und März 2021 zum größeren Teil in direkten Gesprächen mit Journalisten deutscher, französischer und amerikanischer Medien entstanden sind. Deren Fragen bezogen sich – ohne Absprache oder Vorsatz – überwiegend auf die von dem neuen mikrobischen Erreger SARS-CoV-2 verursachte Pandemie und ihre sozialen, politischen und existentiellen Konsequenzen. Ich möchte Christophe Ono-dit-Biot, Adam Soboczynski, Nathan Gardels, Neil King, Gabriel Borrud, Willem Allexander Tell, Tomasz Kurianowicz, Lothar Schröder, Peter Unfried, Harald Welzer und René Scheu für ihre Anregungen, Provokationen und Bearbeitungen unserer Gespräche nochmals sehr herzlich danken. Einen besonderen Dank richte ich an die jungen Publizisten Lucius Graf Maltzan und Simon Nehrer, in deren Projekt »Gespräche, die neue Wege gehen« (www.21zeitgeister.eu), an dem mitzuwirken ich eingeladen war, ich einen produktiven zivilgesellschaftlichen Elan wahrzunehmen glaube.

Günstigenfalls bezeugen die chronologisch gereihten Dokumente einen über ein Jahr anhaltenden Lernprozeß, in dem sich der Ernst der Situation und die Suche nach angemessenen Deutungen zunehmend ausprägen. Nicht zu übersehen ist, wie sehr der Mangel an verbindlichen Erkenntnissen, der auch ein Jahr nach Beginn der Krise, obschon in anderer Weise, empfunden wird, vor allem die frühen Äußerungen mitbedingt.

Das westliche System wird sich als ebenso autoritär erweisen wie das chinesische

Im Gespräch mit Christophe Ono-dit-Biot[1] 

Peter Sloterdijk ist der unbequemste Philosoph Europas, und seine Analyse ist auch diesmal überraschend. Von Berlin aus nimmt der Autor von Réflexes primitifs für Le Point Stellung zur weltweiten Gesundheitskrise. Aus seiner Sicht sind die drastischen Maßnahmen einiger Regierungen in Europa Anzeichen einer übertriebenen »Bemutterung« und einer allgemeinen Entmündigung: Es wird zehnmal mehr getan als nötig, um nur nicht der Nachlässigkeit bezichtigt zu werden. Nicht das Chaos sucht uns infolge der Krankheit heim, sondern, ganz und gar antiliberal, das Trugbild der wiedergefundenen Ordnung. In Anbetracht der Machtübernahme durch eine Art Sicherheitsstaat lädt der deutsche Philosoph dazu ein, Das Dekameron von Boccaccio wieder zu lesen, ein im 14. Jahrhundert aus der Pest geborenes Meisterwerk, und eine neue Wissenschaft zu studieren, die »Labyrinthologie«.

ONO-DIT-BIOTWie denken Sie über den erzwungenen »Stillstand« aller menschlichen Aktivität, die ausgestorbenen Städte, die leeren Flugzeuge, die Stadien, die Schulen, über die Rückkehr zu den großen Ängsten des Mittelalters und die Weltuntergangsstimmung?

SLOTERDIJK Zunächst einmal muß festgehalten werden, daß wir im Zeitalter der Überreaktion leben. Seit mindestens einem Jahrhundert ist das Gleichgewicht des Prinzips Aktion/Reaktion, welches Newton entwickelt und Starobinski auf Kultur und Politik angewandt hat, durch ein Ungleichgewicht zugunsten der Aktion ersetzt worden. Modern sein bedeutet zu glauben, daß Handeln Vorrang hat. Jetzt, wo wir uns einmal in einer Situation befinden, die eigentlich eine gewisse Passivität von uns verlangt, entscheiden wir uns für die Flucht in übertriebenen Aktivismus. Es handelt sich hier um eine allergische Überempfindlichkeit gegenüber Erregern, die uns möglicherweise Leid zufügen können. Weil plötzlich von einem neuen Mitglied des mikrobiologischen Universums, über das wir noch wenig wissen, eine Ansteckungsgefahr ausgeht, schließen wir alle Schulen, obwohl wir wissen, daß Kinder kaum bedroht sind, weil sie erstaunlicherweise über eine natürliche Immunität verfügen. Von nun an wird jeder, buchstäblich jeder einzelne, aufgefordert, sich bedroht zu fühlen. Und der Mensch neigt so sehr dazu, sich eine Bedrohung einzubilden, daß ein Großteil der europäischen Bevölkerung nun davon ausgeht, einer aussterbenden Spezies anzugehören!

ONO-DIT-BIOTTun wir wirklich zu viel? Dabei wurde den Franzosen vorgeworfen, nicht genug zu tun …

SLOTERDIJK Das Streßsystem des zeitgenössischen Menschen ist gewöhnlich unterbeschäftigt. Aber jetzt, mit einem neuen Feind des Menschengeschlechts konfrontiert, wacht es auf. Das kollektive Über-Ich scheint von den Regierenden zu verlangen, daß sie keine ihrer »bemutternden« Pflichten versäumen. Besonders das Versprechen einer Lebenserwartung von achtzig Jahren oder mehr müssen die Regierenden um jeden Preis halten, sonst fühlen sich die Regierten verraten. Flucht nach vorn ist deshalb die einzige Art, die Schuld von sich zu weisen, vor allem für die Mitglieder der Bereiche Medizin und Politik. Dies ist auch eine Möglichkeit, sich von Verantwortung zu befreien. Wenn man zehnmal mehr tut als nötig, kann einen niemand der Nachlässigkeit beschuldigen.

ONO-DIT-BIOTSie werfen den Verantwortlichen vor, ohne ausreichende Begründung zu handeln?

SLOTERDIJK Das Vorteilhafte an einem Virus ist, daß wir es dem Bereich zuordnen können, den wir »Natur« nennen – sofern dieser Erreger mit seiner perfekten runden Fußballform aus einer spontanen Mutation entstanden ist und nicht in einem Labor für biologische Kriegsführung. Das Recht, sich gegen natürliche Aggressoren zu verteidigen, wird politisch selten in Frage gestellt … Die »Corona-Krise« weist also alle Symptome einer Machtübernahme durch den »Sicherheitsstaat« auf, verborgen unter dem Deckmantel einer wohlwollenden »Medikokratie«. Jeden Tag wird die Anzahl der Toten verkündet – 16. März, drei Tote in Bayern –, aber man ignoriert weiterhin die Tatsache, daß normalerweise in Deutschland an die dreitausend Menschen pro Tag sterben. 2017 hat das Statistische Bundesamt 932 ‌263 Todesfälle gezählt, die meisten davon sind auf die Plagen unserer Zeit zurückzuführen, deren medizinische Namen hier zu nennen wohl kaum nötig ist. In Frankreich ist es genauso: zweitausend Todesfälle pro Tag. Niemand nimmt sie zur Kenntnis mit Ausnahme der Todesanzeigen, die man in den Dörfern an die Tür der Lebensmittelläden hängt. Das neue Virus aus China ist nur einer der vielen Decknamen für die durchschnittliche menschliche Sterblichkeit. Wir wollen nicht verstehen, daß der Tod immer fleißig und in aller Ruhe seine Arbeit gemacht hat, meistens ohne daß die Presse oder die Staatschefs daran teilhaben.

ONO-DIT-BIOTSie meinen, daß in der aktuellen Gesundheitskrise die allgemeine Sterblichkeit nur eine weitere Ursache gefunden hat? Dennoch spricht Macron von »Krieg« …

SLOTERDIJK Manchmal führen wir die falschen Kriege. Die Vorsichtsmaßnahmen gegen ein unbekanntes Virus haben nichts mit der Mobilisierung für einen militärischen Kampf zu tun. Im Gegenteil, durch all die Kriegsmetaphorik wird demobilisiert. Ich hätte mir als Bewunderer des französischen Präsidenten gewünscht, daß man ihm zu pazifistischer Rhetorik rät.

ONO-DIT-BIOTWir hatten damit gerechnet, daß politischer Protest oder geopolitische Erschütterungen im Nahen Osten oder in Asien uns ins Chaos stürzen könnten, aber nun ist es durch eine Krankheit geschehen …

SLOTERDIJK Aus dieser Krankheit geht kein Chaos hervor, sondern auf ganz und gar antiliberale Weise das Trugbild einer wiedergefundenen Ordnung. Seltsamerweise ähnelt die Situation ein wenig dem Ausnahmezustand, von dem manche politische Denker in den zwanziger und dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts träumten, zum Beispiel Carl Schmitt. Für ihn ist derjenige der Souverän, der über den Ausnahmezustand entscheidet. Und die Gültigkeit einer Entscheidung hängt nicht von ihrem Inhalt ab, sondern davon, ob sie von einer als legitim geltenden Instanz getroffen wurde. Ich frage mich, ob wir nicht gerade einen verrückten historischen Moment erleben. Die Grenzen werden geschlossen, obwohl jeder weiß, daß ein Virus keinen Paß zum Reisen braucht. Wenn diese Entscheidungen keine Folgen hätten, wäre es sogar ein wenig komisch, wie in den Stücken aus dem 17. Jahrhundert, wo der Schmierenkomödiant und der große Arzt mit schwarzem Kostüm und langer Nase aufeinandertreffen. Sehen Sie sich an, was in Italien passiert ist, wo die Leute während der Ausgangssperre auf dem Balkon Opern singen und das Ganze weltweit übertragen wird! Indem man auf dem Balkon musiziert, macht man sich über die eigene Unterwerfung unter die medizinisch-kollektivistische Diktatur lustig.

ONO-DIT-BIOTManche fordern ihre Mitmenschen dazu auf, ihre Lebensweise zu ändern und mit der Hyperglobalisierung und der damit einhergehenden wechselseitigen Abhängigkeit zu brechen … Geht eine Welt zu Ende, oder handelt es sich lediglich um eine Pause?

SLOTERDIJK Auf den französischen Autobahnen sah man früher Schilder mit folgenden Worten »Après quelques heures la pause s'impose«, »Nach einigen Stunden ist eine Pause geboten«. Das ist eine nützliche Devise für eine extrem beschleunigte Welt. Wir werden sehen, ob die Entschleunigung der Abläufe auf globaler Ebene zu etwas Gutem führt. Ich glaube nicht daran. Die Pest im 14. Jahrhundert hat den Aufstieg Europas nicht aufgehalten, und das tausendmal harmlosere Virus wird den Aufstieg Chinas nicht aufhalten.

ONO-DIT-BIOTDie Lage in China scheint sich zu beruhigen. Ist das die Rache der autoritären Regime an den Demokratien, denen man vorwirft, zu lax zu sein und ihre Bevölkerung nicht genug zu schützen? In Frankreich hat die Regierung trotz allem die Wahlen stattfinden lassen, und das hat zu Gerede geführt …

SLOTERDIJK Keine Sorge, das westliche System wird sich als ebenso autoritär erweisen wie das chinesische. Der Hauptfehler ist hier, genau wie in China, daß fast alle geschützt werden, die nicht besonders bedroht sind, und man den Schutz der Risikogruppen vernachlässigt.

ONO-DIT-BIOT»Unsere eher mittelmäßige Tatkraft wird uns Europäer retten«, sagten Sie uns beim letzten Mal. Aber existiert Europa, das sich gerade in seine Einzelstaaten zurückzieht, überhaupt noch? Oder nur in den Reden des französischen Präsidenten?

SLOTERDIJK Ich freue mich sehr, daß es in Europa wenigstens noch einen Europäer gibt! Nein, ganz im Ernst: Man kann nicht sagen, daß Europa am Ende ist. Es stimmt zwar, daß heute recht viele europäische Länder ihre Politik der Immunisierung an den Ländergrenzen orientieren. Aber das ist nicht unbedingt ein Rückzug auf die nationale Identität, sondern reflektiert eher die Tatsache, daß die Möglichkeit, im Einklang mit der gültigen Rechtsordnung zu handeln, auf den Bereich der nationalen Gesetze beschränkt ist. All diese Einschränkungen werden verschwinden, wenn die Krise vorbei ist. Schade für den Teil der Bevölkerung, der darüber eine gewisse Befriedigung empfunden hat – als wäre der Streß der Globalisierung, der weltweiten Konkurrenz, der Mobilitätsdiktatur aufgehoben worden. Irrtum. All das wird mehr oder weniger schnell wieder losgehen, und zwar noch stärker als zuvor, unter dem Vorwand, daß man die Verluste wieder wettmachen muß.

ONO-DIT-BIOTWie können wir in der Zwischenzeit mit der Situation zurechtkommen?

SLOTERDIJK Zunächst indem wir wegen des Lockdowns vielleicht mehr lesen können, und zwar eher Boccaccio als Camus. Damit meine ich folgendes: Im Moment sprechen wir oft über den Roman Die Pest von Camus, der, glaube ich, in den französischen Buchhandlungen alle Rekorde gebrochen hat. Bevor sie schließen mußten … Das wahre Thema der Pest sei »der europäische Widerstand gegen den Nazismus«, wie Camus an Barthes geschrieben hat. Das ist schwer übertragbar … Bei Camus geht es eigentlich nicht um die Pest. Das Dekameron von Boccaccio aber gibt uns Hinweise … Dieses Meisterwerk wurde während der größten Krise Europas verfaßt, der schwarzen Pest im 14. Jahrhundert, die durch einen biologischen Krieg gegen Kaffa, eine mit Genua verbündete Handelsstadt am Ufer des Schwarzen Meeres, ausgelöst wurde. Das Dekameron ist die Geschichte eines Rückzugs auf das Land. Um sich von der Krankheit abzulenken, die die Stadt befällt, ziehen zehn junge Florentiner in die ländlichen Hügel und führen eine einfache Regel ein: Jeder muß jeden Tag den anderen eine Geschichte erzählen. Und zwar zu einem Thema, das im voraus von dem- oder derjenigen bestimmt wurde, der oder die zum König oder zur Königin des Tages gewählt worden ist. Am ersten Tag erzählt man eine Geschichte »von dem, was jedem am meisten beliebt«. Am zweiten geht es um »Menschen, die nach dem Kampfe mit mancherlei Ungemach wider alles Hoffen zu fröhlichem Ende gediehen sind«. Kurz, man erzählt sich Geschichten, die Lebenslust entfachen. Gerade jetzt gibt es nichts Besseres! Die Münchner Variante: Auf dem Höhepunkt einer Pestepidemie im 16. Jahrhundert tanzten die Küfer auf den Straßen der Stadt, um den Gemeinschaftssinn wiederzubeleben. Eine andere Fährte: eine nicht existierende Wissenschaft studieren, die Labyrinthologie.

ONO-DIT-BIOTLabyrinthologie?

SLOTERDIJK Im wörtlichen Sinne: die Wissenschaft von den Labyrinthen. In einem Labyrinth muß man damit rechnen, daß man den Weg zum Ausgang nicht beim ersten Versuch findet. Was zählt, ist ein gutes Gedächtnis für Weggabelungen. Bis jetzt haben die angeblich vernünftigen Leute an der Weggabelung zwischen »Nichtstun« und »Lockdown« die zweite Option gewählt, so irrwitzig uns diese mit ihren maßlosen Verordnungen auch erscheinen mag. Man tut so, als ob man den obskuren Feind besiegen könnte, indem man ihm so viele Hindernisse wie möglich in den Weg legt, während die Spezialisten der Immunologie erklären, daß ein neuer Normalzustand erst dann eintritt, wenn zwei Drittel oder drei Viertel der Bevölkerung eine Virusinfektion durchgemacht haben. Indem man die Verbreitung des unbekannten Angreifers um jeden Preis aufhalten will, wählt man eine Abzweigung, die zu einer verschlossenen Tür führt. Bald werden wir sehen, daß die Politikwissenschaft, die Immunologie, die Ökologie und die Labyrinthologie vor einer Reihe gemeinsamer Herausforderungen stehen. Lassen Sie uns also diese neue Wissenschaft entwickeln, wir werden sie brauchen.

(Aus dem Französischen von Sophie Nieder)

Für Übertreibungen ist kein Platz mehr

Im Gespräch mit Adam Soboczynski[2] 

SOBOCZYNSKIHerr Sloterdijk, man muß Gespräche in diesen Zeiten ungewohnt beginnen: Wie geht es Ihnen eigentlich gesundheitlich?

SLOTERDIJK Meine Ärztin hat gerade eine Generaluntersuchung begonnen. Im großen und ganzen geht es erträglich, aber ich bin seit Jahren ein fleißiger Apothekenbesucher.

SOBOCZYNSKIIn der Corona-Krise scheinen Sie nicht sehr von Gesundheitsängsten geprägt zu sein. Sie haben vor Übertreibung staatlicher Maßnahmen gewarnt.

SLOTERDIJK Na ja, ganz ohne Sorgen bin ich nicht. Es bleibt im Frühling nicht aus, daß man vor sich hin hustet. Oder denkt, man habe erhöhte Temperatur. Fieber ist eine sich selbst wahr machende Metapher, bei einzelnen wie bei Populationen, ein wenig Hysterie vorausgesetzt.

SOBOCZYNSKINun haben Sie in einem Interview, das Sie vor zwei Wochen dem französischen MagazinLe Pointgaben, gegen die biopolitischen Maßnahmen des französischen Staates polemisiert. Der französische Philosoph Alain Finkielkraut zeigte sich daraufhin entsetzt. Angesichts der zahlreichen Toten in Paris haben Sie offenbar viele irritiert.

SLOTERDIJK Im Gegenteil. Ich weiß, daß viele aufgeatmet haben, weil endlich mal in einem anderen Ton gesprochen wurde. Man muß in Zeiten der Corona-Krise auch über Alternativen diskutieren dürfen. Verwunderlich sind doch die Verordnungsregierungen in aller Welt und die märchenhafte Geschwindigkeit, mit der sich größere und kleinere Nationen in eine Schockstarre versetzen lassen. Es zeigt sich eben, daß der Staat etwas ganz anderes ist, als wir bislang gedacht haben. Für alle war klar, daß wir nicht mehr die Bevölkerungen der Militärstaaten sein können, die sich im 19. Jahrhundert entwickelt hatten. Man meinte, das System habe sich zu einer großen Versorgungsmaschine gewandelt. Daß aber ein so mächtiger Verfügungsstaat, ein wohlmeinender Leviathan, entstanden war, das mußte erst mal bewiesen werden. Alles, was gestern beschlossen wurde, Ausgehverbote in Friedenszeit etwa, galt noch vorgestern als völlig unmöglich.

SOBOCZYNSKIDer allgemeine Gehorsam verwundert Sie?

SLOTERDIJK Macron hat den Kriegszustand beschworen. Das war eine rhetorische Figur, sie floß aber unmittelbar in politisches Handeln ein. Frankreich hat extreme Hausarrestregeln. Für jedes einzelne Hinausgehen auf die Straße braucht man ein legitimierendes Papier. Die Kriegsrhetorik führt in die Irre, denn gegen das Virus machen wir ja nicht mobil, wir demobilisieren: »Weil Krieg ist, bleiben wir zu Hause!« Das erinnert fast an den 68er-Spruch: »Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.« Die Amerikaner laufen seit langem gern in dieselbe rhetorische Falle. Doch was jetzt zählt, ist Mobilitätsverzicht, also das Unamerikanischste, das sich denken läßt.

SOBOCZYNSKIDas stimmt für die Zivilbevölkerung. Aber wären die Soldaten nicht bis zuletzt die beweglichsten Teile der Gesellschaft? Wenn es etwa um die Grundversorgung der Bevölkerung geht?

SLOTERDIJK Die Soldaten werden als Reservetruppen für Polizeiaktionen verwendet. Für sanitätspolizeiliche Maßnahmen kann man wohl auf sie zurückgreifen. Wir befinden uns nicht im Krieg, sondern in einem medizinisch-sekuritären Notfall. Die Helfer geben ihr Äußerstes, auch ohne Tagesbefehl und Flaggenparade.

SOBOCZYNSKIWer sagt, die Maßnahmen des Staates seien zu radikal und sie gefährdeten den Liberalismus des Westens, muß sich die Frage nach Alternativen gefallen lassen. In Paris werden derzeit Kranke mit TGVs in Provinzkrankenhäuser gebracht, weil die Stadt sie nicht mehr versorgen kann.

SLOTERDIJK Es gibt Staaten, die weniger martialisch vorgehen als andere. Das deutsche Prozedere scheint mir plausibel, streng, doch unfanatisch. Ich glaube im übrigen nicht, daß sich Politiker hinter wissenschaftlichen Experten verstecken dürfen. Gerade in Frankreich war das Mißtrauen gegenüber der Politik traditionell hoch, heute versagt es. Das überrascht nicht: Seit einem Vierteljahrhundert erleben wir in der ganzen westlichen Welt, daß Freiheitsthemen gegenüber Sicherheitsthemen zurückgedrängt werden. Im Rückblick wird die Corona-Krise eine Verstärkung dieses Trends markieren.

SOBOCZYNSKIEs gibt Länder, die noch totalitärer mit der Krise umgehen als der Westen. Zum Beispiel China, ein Einparteienstaat, der die Bevölkerung mit Handy-Apps überwacht. Dieser digitale Leninismus ist dem Westen bislang erspart geblieben, oder?

SLOTERDIJK Ich bin nicht sicher, ob nicht auch er exportfähig ist. Wir werden vielleicht solche Produkte bald einführen. Sozialkybernetik ist ein Trendartikel.

SOBOCZYNSKIEs fällt beinahe schwer, sich vorzustellen, daß die bisherigen Quarantänemaßnahmen wieder zurückgenommen werden könnten.

SLOTERDIJK Normalität erscheint momentan fast utopisch, und die Frühlingssonne wirkt seltsam ironisch. Doch läßt sich auch eine große Solidaritätsstimmung beobachten, spontane Nachbarschaftshilfe beispielsweise, das ist schon beeindruckend. Nachbarn, die sich jahrelang ignoriert haben, kommen aufeinander zu.

SOBOCZYNSKIGlauben Sie, die Hilfsbereitschaft ist national konnotiert?

SLOTERDIJK Nein, ich halte die europäische Desintegration für eine optische Täuschung. Die Handlungsfähigkeit der Exekutiven in Europa ist erst einmal nur im Rahmen national formatierter Rechtsräume gegeben. Wir können mit unseren Gesetzen nicht die Franzosen retten und die uns nicht mit ihren. Europa ist ein Patchwork von abgegrenzten Territorien des Rechtsvollzugs. Aber das ändert sich vor unseren Augen. Denken Sie an die Wissenschaftlergemeinschaften, die grenzübergreifend zusammenarbeiten, oder an Kranke, die über Landesgrenzen hinweg versorgt werden. Deutsche Virologen telefonieren täglich mit Kollegen in Paris, in China, in den USA. Es gibt nicht nur den lokalen Überwachungsstaat, sondern auch eine europäische, eine weltweite Vernetzung, die hoffen läßt.

SOBOCZYNSKIVielleicht zeigt sich in Europa gerade, daß unterschiedliche Ordnungsmuster auf so engem Raum wenig sinnvoll sind?

SLOTERDIJK Die Rückkehr zur Liberalität wird als eine europaweit allgemeine und nicht bloß als nationale Frage gestellt werden. Die Sondermandate der Exekutiven müssen zu gegebener Zeit abgelegt werden. Ob einer wie Orbán dazu bereit sein wird, ist zu bezweifeln. Ich kann mir aber nicht vorstellen, daß die europäischen Staaten solche Alleingänge in Zukunft tolerieren. Orbáns gesammelte Frechheiten sind nur unter der Prämisse denkbar, daß Europa es nicht so ernst meint. Bei der Rückkehr zur liberalen Normalität wird man es ihm weniger leichtmachen.

SOBOCZYNSKIBisher hat man Sie in Ihren Gesellschaftsanalysen eher als fröhlichen Zyniker erlebt. Woher rührt Ihr neuer Optimismus?

SLOTERDIJK Es wirkt immer rufschädigend, wenn der Verdacht aufkommt, man sei ein guter Mensch. Ich bin hier aber ganz beim Kollegen Platon. Sinngemäß sagte der: Kein Mensch irrt gerne, und einen wirklich bösen Willen findet man selten. Deswegen sind die wirklich Bösartigen ja hin und wieder so erfolgreich, weil die Gutgesinnten widerstandslos sind und sich überrollen lassen.

SOBOCZYNSKIIntellektuelle haben in der vergangenenZeit-Ausgabe einen Aufruf für einen Corona-Fonds veröffentlicht, um notleidenden Staaten zu helfen. Wären Sie auch dafür?

SLOTERDIJK Ich meine, man sollte sentimentale Menschen niemals mit geldpolitischen Angelegenheiten betrauen. Geldpolitik ist eine Grausamkeitspraxis, darin der Katastrophenmedizin verwandt. Der Wohlmeinende verteilt Mittel, die er nicht hat, mit offenen Händen. Ob ein Corona-Fonds sinnvoll ist, will ich nicht beurteilen, aber es kommt mir vor, als ob zu viele Laien auf dem Gebiet der Finanzpolitik dilettieren.

SOBOCZYNSKIWir haben zuletzt 1989 erlebt, daß ein einziges Thema über viele Wochen so präsent ist, daß alle anderen wie weggewischt wirken. Noch vor wenigen Wochen dachte man, die zwanziger Jahre werden chaotisch, weil hierzulande Rechtspopulisten die Macht übernehmen. Sogar diese Debatte scheint an den Rand gedrückt.

SLOTERDIJK Wir erleben ein großes medientheoretisches Seminar. Man erkennt, im Ausnahmezustand entsteht Monothematismus. Dann sieht man erst richtig, wie moderne Gesellschaften in ihren Stimmungen von Tag zu Tag gewoben sind. Dank der Medien leben wir in Erregungsräumen, die durch wechselnde Themen gesteuert werden. Themen sind Erregungsvorschläge, die von der Öffentlichkeit angenommen werden oder nicht. Dabei schießen die Medienmacher immer etwas Übertreibung zu. Denken Sie an die AfD-Aufregung im Lande: Sie ist ein Luxusthema für unterbeschäftigte Übertreiber. Denken Sie an die MeToo-Welle: Sie hatte einen ernsten Kern, um den lagerten sich sofort die Übertreibungsunternehmen an. Denken Sie vor allem an den Terrorismus: Über den wurde zumeist im Modus der Halbernsthaftigkeit berichtet, man durfte und mußte immer zusätzlich übertreiben. Ein Mann wird getötet, 82 Millionen sollen sich bedroht fühlen, die freiheitliche Demokratie wankt.

SOBOCZYNSKISie meinen, die Medien verfehlen ihre Aufgabe, maßvoll zu informieren?

SLOTERDIJK Aus der Sicht der Medien ist etwas, das passiert, nie schlimm genug. Man weiß ja nie, was wie schlimm ist. Das entspricht im übrigen der klassischen Rhetoriklehre. Quintilian sagte: Bei Gegenständen, deren Bedeutung und Dimension nicht sicher bestimmt werden können, ist es besser, zu weit zu gehen als nicht weit genug.

SOBOCZYNSKIUnd jetzt übertreiben wir bei Corona?

SLOTERDIJK Bei Corona erleben wir zum ersten Mal, daß die Anfangsübertreibungen durch die Geschehnisse eingeholt werden. Das ist ganz neu. Zuerst dachte man, die Medien schreiben die Dinge hoch, weil es ihr Job ist, zu übertreiben. Aber nein, heute ist eine nüchterne Beschreibung der Verhältnisse in italienischen, französischen, spanischen Krankenhäusern schlimm genug, um Nachrichtenwert zu haben; tendenziell ist es sogar zu schlimm für realistische Berichte. Wir zählen Leichen, für Übertreibung ist kein Platz mehr. Die Medien würden jetzt lieber die Probleme verkleinern, statt zu dramatisieren. Die Zahlen steigen, die Bilder halten sich zurück. Sehr ungewohnt.

SOBOCZYNSKIVielleicht gibt es keine Möglichkeiten für die Medien, auf Naturereignisse in gewohnter Weise zu reagieren. Man wird auch bei einem Kometeneinschlag nicht noch zusätzlich anheizen können.

SLOTERDIJK