Die Aussteigerin - Marie Louise Fischer - E-Book

Die Aussteigerin E-Book

Marie Louise Fischer

3,9

Beschreibung

Gerda Keppler steht in der Mitte des Lebens, hat zwei halbwüchsige Kinder und hinter ihr liegt die Scheidung von ihrem Mann. Ihre ehemaligen Freundinnen und Bekannte wenden sich von ihr ab. Männer, die ihr begegnen, verwechseln offenkundig Liebe mit Sex. Durch die Scheidung finanziell einigermaßen abgesichert wagt sie einen grundsätzlichen Neuanfang, denn so wie bisher will sie nicht weiterleben. Von nun an möchte sie in vollständiger Selbständigkeit arbeiten. Und so pachtet sie einen Bauernhof und eröffnet eine Biogärtnerei. Das ist kein einfacher Schritt, aber einer, der ihr einen neuen Freund einbringt: einen Mann, der ganz anders ist als die Männer, die Gerda bisher gekannt hat.Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 364

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
3,9 (16 Bewertungen)
4
8
3
1
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Marie Louise Fischer

Die Aussteigerin

Roman

SAGA Egmont

Die Aussteigerin

Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof A/S

Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de) represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)

Originally published 1967 by F. Schneider, Germany

All rights reserved

ISBN: 9788711718582

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

Beschwingt eilte Gerda die breite Treppe vor dem Portal des Amtsgerichts hinab; ihre hohen Absätze klapperten auf den Stufen. Beim letzten Schritt wäre sie fast eingeknickt und blieb sekundenlang stehen. Als sie sich umblickte, sah sie, daß Oswald Keppler, der bis heute ihr Mann gewesen war, auch den steinernen Aufgang herunterkam – sehr viel langsamer als sie.

Aus strahlenden braunen Augen sah sie zu ihm hoch. »Wie wär’s, wollen wir noch eine Tasse Kaffee zusammen trinken?«

Er hatte sie jetzt erreicht. »Wozu?«

»Nur so.« Sie tänzelte vor Ungeduld. »Zum Abschied. Oder trinken wir ein Bier – auf gute Freundschaft!«

Sein verdüstertes Gesicht hellte sich wieder auf. »Freundschaft?« wiederholte er gedehnt.

»Warum nicht?« Sie betrachtete ihn fast liebevoll und stellte fest, daß er sehr gut aussah, glatt rasiert, das blonde Haar, das aus der Stirn wich und sich im Nacken lockte, sorgfältig gestutzt. Seine Haut hatte eine gesunde Farbe, war von Sonne und Wind gebräunt, die tiefen Falten um Nase und Mund wirkten charaktervoll. Nur der Ausdruck seiner grauen Augen störte; sie blickten glanzlos, wie erloschen. »Du verstehst nichts«, sagte er.

»Ach, Oswald, warum mußt du uns immer alles so schwer machen? Sieh es doch mal anders! Jetzt haben wir endlich ausgestritten und könnten doch wirklich Freunde sein.«

»Lächerlich.« Brüsk wandte er sich von ihr ab.

Aber sie wollte ihn so nicht gehen lassen, packte ihn am Ärmel seines Trenchcoats und drückte ihm einen raschen Kuß auf die Wange. »Mach’s gut, alter Brummbär!«

Dann stob sie davon. Sie spürte nicht, daß er wie angewurzelt stehen blieb und ihr nachsah, bis sie um die Straßenecke verschwunden war. Im gleichen Augenblick hatte sie ihn schon fast vergessen.

Der frühe Herbsttag schien ihr voller Verheißung. Die Sonne glühte von einem seidig blauen Himmel, auch nicht durch einen Anflug von Smog behindert, auf die kleine Stadt am Rande der Voralpen herab. Die Berge waren von den engen Straßen aus nicht zu sehen, nur zu erahnen.

Gerda erreichte die Fußgängerzone. Sie mied die Schatten der schönen alten Arkaden und hielt sich bewußt auf der anderen Seite, wo die Sonne die großen Schaufensterscheiben aufschimmern ließ. Sie ging sehr rasch, mit so weit ausholenden Schritten, wie es ihre Absätze zuließen. Immer wieder überholte sie Passanten, erwiderte hie und da einen Gruß mit einem Nicken und einem Lächeln.

Aber sie nahm nicht wahr, daß sie Aufsehen erregte. An einem für alle anderen ganz gewöhnlichen Dienstagmorgen trug sie ihr schickes Kostüm aus hellem Flanell, einen dazu passenden kleinen Hut und Handschuhe. Ihre weit auseinanderstehenden braunen Augen waren sehr sorgfältig geschminkt und ihre vollen Lippen mit einem leuchtenden Rot nachgezogen. Deutlich hob sie sich von den Hausfrauen ab, die nur daran dachten, ihre Besorgungen möglichst günstig zu erledigen und vielleicht noch Zeit für eine kurze Einkehr zu gewinnen.

Gerda war ganz mit sich selbst beschäftigt. Sie genoß ihre augenblickliche Situation in vollen Zügen, gleichzeitig flogen die Gedanken ihr weit voraus.

Vor dem alten Eckhaus mit der Apotheke im Erdgeschoß zog sie die Handschuhe aus, die Schlüssel aus der Tasche, öffnete die schwere Tür zum privaten Eingang und rannte, mit hochgezogenem Rock, jeweils zwei oder drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppen zum zweiten Stock hinauf. Die Wohnungstür wurde ihr von innen geöffnet.

»O Mutter!« rief Gerda und umarmte die zierliche alte Frau, die gut zwei Köpfe kleiner war als sie selber.

»Ich brauche wohl nicht zu fragen, wie es gegangen ist«, sagte Frau Wallner, bemüht, sich aus der Umklammerung zu befreien.

Gerda hielt sie, ohne sie loszulassen, einen Arm weit von sich. »Sieh mich nur an!« rief sie. »Blendend! Die Scheidung ist durch – ich bin frei, endlich wieder frei!«

Christiane Wallners Lächeln war nachsichtig. »Dann erwartest du jetzt wohl, daß ich dir gratuliere?«

»Überhaupt nicht, Mutter! Ich kenne ja deine Einstellung – bis daß der Tod euch scheidet und so weiter und so fort. Aber gratuliere dir wenigstens selber – daß du uns endlich los wirst!«

»Ich habe euch gerne bei mir aufgenommen.«

»Das werde ich dir nie vergessen! Aber gib zu, wir waren dir doch manchmal eine Last.« Gerda riß sich den Hut vom Kopf, stülpte ihn achtlos über einen Haken der ohnehin überfüllten Garderobe und schüttelte sich, ohne in den Spiegel zu sehen, die braunen Locken zurecht.

»Das sind familiäre Schwierigkeiten, mit denen man fertig werden muß.«

Gerda streifte sich die hochhackigen Pumps von den Füßen und schlüpfte in ihre bequemen Straßenschuhe. »Nie werde ich so viel Geduld aufbringen wie du, Mutter, nie!«

Frau Wallner schnupperte und wandte sich zur Küchentür. »Ich muß mal nach dem Essen sehen.«

Gerda folgte ihr in die ziemlich geräumige, sehr ordentliche Küche. Während ihre Mutter sich am Herd zu schaffen machte, Deckel von den Töpfen hob und umrührte, nahm Gerda sich ein Glas, holte eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank und schenkte sich ein.

»Und wie soll es nun weitergehen?« fragte die Mutter und legte den Kochlöffel auf eine Untertasse.

Gerda trank durstig. »Aber Mutter!« rief sie dann. »Das haben wir doch schon tausendmal besprochen. Ich fange noch einmal ganz von vorne an – nur diesmal mit Geld – viel Geld!«

Frau Wallner ließ sich nicht von der Begeisterung ihrer Tochter anstecken. Während sie die Topflappen an ihre Haken hängte, fragte sie sehr sachlich: »Wieviel?«

»Hunderttausend müßten schon allein beim Verkauf unserer Eigentumswohnung herausspringen, meint mein Anwalt.«

»Klingt gut, ist aber nicht so viel, wie du dir jetzt vorstellst. Wenn ihr davon leben müßt …«

Ungeduldig fiel Gerda ihr ins Wort: »Müssen wir ja nicht! Im Gegenteil – Oswald muß für die Kinder zahlen, bis sie mit ihrer Ausbildung fertig sind, und natürlich auch für mich, solange ich noch keine Stellung gefunden habe. Monat für Monat. Der Zugewinn aus unseren Ehejahren hat damit gar nichts zu tun.«

Frau Wallner ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Das ist hart für ihn, meinst du nicht auch?«

Gerda lachte. »Geschieht ihm gerade recht. Er hat ja immer den starken Mann markiert. Jetzt kann er mal zeigen, was in ihm steckt.«

»Sei mir nicht böse, Liebes, ich habe mir tausendmal geschworen, mich nicht in deine Angelegenheiten zu mischen …« – »Ganz recht. Dann tu es auch jetzt nicht!« Gerda leerte ihr Glas und stellte es dann in den Spülstein. »Du bist grausam, Kind.«

»Lächerlich. Ich bin es doch nicht, die die Gesetze gemacht hat. Was wirfst du mir also vor?«

»Du hast ihn doch geliebt.«

»Ja, das habe ich. Viel zu lange. Er hat mir aus meiner Liebe eine Falle gebaut. Er hat mich eingeengt bis zum Gehtnichtmehr. Seine ewige Litanei: ›Tu dies! Laß das! Jetzt nicht! Sei pünktliche – Ich mußte mich einfach befreien, sonst wäre ich noch erstickt.«

»Du hättest doch mit ihm reden können.«

»Denkst du, ich hätte das nicht versucht? Aber er hat mich nicht verstanden. Das war das Schlimmste von allem: daß er mich überhaupt nicht verstanden hat.«

»Das ist nun einmal so. Die Männer können uns nicht verstehen. Das ist kein schlechter Wille. Sie sind dazu nicht imstande.«

»Ach, Mutter, das war vielleicht zu deiner Zeit so. Heutzutage haben wir Frauen einfach das Recht, ein gewisses Verständnis zu verlangen. Aber wie kommst du mir denn überhaupt vor? Stehst du nun auf Oswalds oder auf meiner Seite?«

»Immer auf deiner. Weil du meine Tochter bist. Ich glaube, das habe ich dir zur Genüge bewiesen.«

»Aber im Augenblick setzt du alles daran, mir die Laune zu vermiesen.«

»Verzeih mir, Liebes!« Frau Wallner faltete die Hände auf dem Küchentisch. »Ich habe Angst.«

»Wovor, um Gottes willen?«

»Daß Oswald es nicht schafft.«

»Die finanziellen Forderungen? Unsinn, Mutter. Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Sein Betrieb läuft ganz prima. Es ist wirklich keine Zumutung, daß er für seine Frau und seine Kinder zahlen soll.«

»Seine geschiedene Frau.«

Gerda lachte. »Das macht es für ihn doch nur leichter. Über kurz oder lang werde ich schon eine Stellung finden. Dann hat er mich ganz vom Hals.« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Gerade noch Zeit, Monika von der Schule abzuholen.« Dann beugte sie sich über ihre Mutter und gab ihr einen flüchtigen Kuß auf die Wange. »Bis gleich, Mutter. Und mach dir keine Gedanken. Dazu besteht wirklich kein Anlaß.« Sie lief aus der Küche.

Frau Wallner blieb kopfschüttelnd sitzen. Sie hörte das Rauschen der Toilette und wenig später das Zufallen der Wohnungstür. Unwillkürlich seufzte sie laut auf. Sie war bekümmert und verärgert – nicht so sehr über ihre Tochter als über sich selber.

Warum nur hatte sie ihr die Freude verdorben? Warum hatte sie überhaupt dieses ungute Gespräch angefangen – ausgerechnet jetzt, da alles zu spät war?

Gerda hatte ja nie auf sie gehört, nicht damals, als sie sich Hals über Kopf in ihre Ehe gestürzt hatte, und auch nicht später, als sie von dem Wunsch besessen war, auszubrechen. Was hatte es also noch für einen Sinn gehabt, Bedenken anzumelden, nachdem Gerda ihr heißersehntes Ziel erreicht hatte?

»Christiane, Christiane«, sagte sie laut, »wann lernst du endlich, deinen Mund zu halten?«

Während Gerda durch die Straßen lief – in ihren flachen Schuhen noch unbekümmerter als zuvor –, gelang es ihr, das leichte Mißbehagen, das die Mahnungen ihrer Mutter in ihr hervorgerufen hatte, abzuschütteln. Mutters Meinung über die geplante Scheidung war ihr ja seit eh und je bekannt gewesen. Sie hatte nicht annehmen können, daß sie nun, da es passiert war, ihre Ansichten sofort ändern würde. Aber sie würde ihr schon beweisen, daß sie recht gehabt hatte, ihr Schicksal wieder in die eigenen Hände zu nehmen. ›Wart’s nur ab, Mutten‹, dachte sie vergnügt, ›wart’s nur ab!‹

Die Schule war schon aus, als sie die Wendelsteinstraße erreichte. Jungen und Mädchen strömten ihr einzeln und in Gruppen entgegen, lachend, sich gegenseitig anrempelnd, die Schultaschen schwenkend.

Gerda drehte sich um sich selber, in der Sorge, Monika verpaßt zu haben. Als sie sie hinter sich nicht entdecken könnte, stellte sie sich auf die Zehen. Dann sah sie sie. Schlank und blond, in etwas provozierender Haltung, ein Bein vorgestellt, die freie Hand in der Hüfte, lehnte sie an einem Baum und unterhielt sich mit einem Motorradfahrer. Gerda winkte. Aber Monika war so in ihr Gespräch vertieft, daß sie gar nicht reagierte. Es war der Motorradfahrer, der sie auf ihre Mutter aufmerksam machte. Dann knatterte er davon, und Monika kam auf Gerda zu.

»Hallo, Liebes!« rief Gerda vergnügt.

Monika erwiderte ihr Lächeln nicht. »Spionierst du mir nach?«

»Nein, überhaupt nicht! Wie kommst du darauf?«

»Du holst mich doch sonst nicht von der Schule ab.«

»Stimmt. Tue ich nicht. Aber dies ist ein ganz besonderer Tag.«

»Wieso das?«

»Hast du vergessen?« fragte Gerda, schluckte ihre Enttäuschung rasch hinunter und erklärte strahlend: »Denk dir, die Scheidung ist durch.«

»Gratuliere. Aber hättest du mir das nicht auch zu Hause erzählen können?«

Gerda wurde einmal mehr bewußt, wie sehr die Tochter mit dem hellen, leicht gelockten Haar und den kühlen grauen Augen ihrem Vater glich. »Warum bist du nur so?«

»Frag mich doch endlich, wer der Junge war, mit dem ich mich eben unterhalten habe.«

»Welcher Junge? Ach, der mit dem Motorrad? Der interessiert mich im Augenblick gar nicht.« Sie hakte sich bei Monika ein, und beide machten sich auf den Heimweg. »Heute kann ich an nichts als an meine Scheidung denken. Freu dich doch mit mir!«

»Können wir uns jetzt endlich eine eigene Wohnung nehmen?«

Zärtlich drückte Gerda den Arm des Mädchens. »So bald wie möglich, Liebling.«

»Hoffentlich ist das wirklich bald!« Monika setzte ihren Schmollmund auf. »Sonst geh’ ich noch ein.«

»Na, hör mal! So schlimm ist es bei der Oma doch auch nicht.«

»Noch schlimmer. Als wir noch bei Vater lebten, hatte ich wenigstens mein eigenes Zimmer.«

»Dafür seid ihr euch tagtäglich in die Haare geraten. War es das wert?«

»Ich will ja gar nicht, daß alles wie früher wird. Ich gebe zu, Vater hat mich total genervt. Aber Oma ist auch nicht viel besser.«

»Wir müssen ihr dankbar sein, Liebling. Wenn sie uns nicht bei sich aufgenommen hätte, wäre aus meiner Scheidung nichts geworden – jedenfalls hätte es sehr viel länger gedauert, und wer weiß, ob ich es durchgehalten hätte.«

»Schön und gut, jetzt hast du sie also endlich, deine Freiheit. Verstehst du denn nicht, daß ich das auch will? Frei sein? Statt dessen muß ich dauernd an mir rumnörgeln lassen. Von dir und von der Oma.«

»Jetzt ist das ja vorbei. Du und ich und Michael, wir werden uns eine hübsche Wohnung nehmen, mit genug Platz für jeden von uns. Wir werden uns gegenseitig genug Luft zum Atmen lassen und ganz ohne Streit und überflüssige Reibereien miteinander leben. Ich bin sicher, es wird wundervoll!«

Monika musterte ihre lebhafte Mutter mit einem Seitenblick. »Ach, Mom – manchmal habe ich das Gefühl, ich bin älter als du.«

Gerda lachte. »Das nehme ich als Kompliment.«

»Du hast noch solche Idealvorstellungen.«

»Die braucht man, wenn man etwas erreichen will. Es kann doch für uns drei wirklich nicht schwer sein, friedlich zusammenzuleben. Wir beide haben uns doch immer verstanden, Moni. Habe ich dich nicht immer in Schutz genommen?«

»Stimmt schon. Aber seit wir bei Oma sind …«

»Sie stammt noch aus einer anderen Zeit. Wir müssen auf ihre Gefühle und Wünsche Rücksicht nehmen. Aber dieses Kapitel unseres Lebens ist jetzt ausgestanden. Ich zweifle keinen Augenblick daran, daß wir beide wunderbar miteinander auskommen werden.«

»Und was ist mit Michael?«

»Der ist momentan in einem schwierigen Alter. Aber mit etwas Toleranz und Humor werden wir schon mit ihm fertig werden. Im Grunde ist er ja doch ein sehr, sehr lieber Bub.«

An diesem Tag kam Michael, wie oft, zu spät zu Tisch. Die anderen hatten nicht auf ihn gewartet, sondern schon in dem großen, aber übermöblierten Wohnzimmer mit dem Essen begonnen. Gerda hatte sich abgeschminkt und ihre Jacke abgelegt; in Rock und Bluse wirkte sie noch jünger. Man hätte sie für Anfang Dreißig halten können, während sie tatsächlich schon auf das Ende dieses Jahrzehnts zuging. Sie hielt sich sehr gerade, ganz nach dem Vorbild ihrer Mutter, die zwar keinen Wert darauf legte, jünger zu scheinen, als sie war, aber mit ihren wachen Augen und dem vollen braunen Haar, in das sich erst wenige Silberfäden mischten, einen beeindruckenden Anblick bot. Sie trug ein braun-grünes Kleid, das die Farbe ihrer Augen unterstrich. Die siebzehnjährige Monika, noch in ihrer Schulkleidung, Jeans und T-Shirt, saß sehr viel lässiger da, löffelte ihre Suppe aber ganz manierlich. Die drei Frauen sprachen lebhaft miteinander, natürlich über das Thema des Tages: Gerdas Scheidung. Als die Wohnungstür aufgeschlossen wurde, verstummten sie unwillkürlich.

Michael polterte herein und warf die Schulmappe mit Schwung auf die Couch. »… tschuldigt bitte … länger gedauert«, murmelte er undeutlich. Es machte ihn verlegen, daß alle Augen auf ihn gerichtet waren. Er war klein für seine fünfzehn Jahre, der Kleinste in seiner Klasse, ein ständiges Ärgernis für ihn, doch er sah wach aus, mit seinen braunen Augen, braunen Locken und brauner Haut – das männliche, sehr junge Ebenbild seiner Mutter.

Mühsam unterdrückte Frau Wallner eine Bemerkung, als er sich einen Stuhl heranzog und sich auf seinen Platz setzen wollte. Doch ihre scharfen Augen blickten so mißbilligend, daß er es spürte.

»… tschuldigt«, murmelte er noch einmal, »will mir bloß erst die Hände waschen.« Er ging hinaus.

Frau Wallners Züge entspannten sich.

Gerda lächelte Monika zu. »Na, siehst du! Was ich dir gesagt habe!«

Monika zuckte mit den Schultern.

»Er kann wirklich sehr brav sein«, äußerte Frau Wallner. Als Michael wieder hereinkam, füllte seine Mutter ihm den Teller mit Suppe. »Du mußt sagen, wann du genug hast.«

Michael setzte sich und nahm den Löffel zur Hand. »Ich habe einen mordsmäßigen Hunger.«

Gerda lächelte ihn liebevoll an. »Laß es dir schmecken.«

Michael begann mit gutem Appetit zu essen. Die drei Frauen, die inzwischen ihre Teller schon geleert hatten, bemühten sich, ihm nicht zuzusehen. Monika unterzog ihre Fingernägel einer Kontrolle.

Endlich konnte Gerda nicht länger an sich halten. »Willst du denn gar nicht wissen, wie es gelaufen ist?«

»Na, wie denn?« fragte der Junge und führte den Löffel zum Mund.

»Die Scheidung ist durch!«

»Und Vater muß jetzt zahlen?«

»Ja.«

Michael bekam heiße Wangen. »Das ist doch was!« Er schluckte und legte den Löffel aus der Hand. »Dann bekomme ich endlich einen Computer!«

Konsterniert hob Monika die dünnen Augenbrauen. »Wie kommst du denn darauf?«

»Weil ich ihn dringend brauche.« Kampflustig schob der Junge sein rundes Kinn vor. »Einen Computer Commodore Amiga, wenn du es genau wissen willst. Möglichst mit Drucker.«

»Und wieviel kostet so ein Ding?« wollte die Großmutter wissen.

Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Sechstausend Mark.«

Monika lachte auf. »Du mußt verrückt sein.«

Gerda hatte die Reaktion ihres Sohnes wie einen Schlag in die Magengegend empfunden. Sie hatte nicht erwartet, daß er die Gelegenheit sofort nutzen würde, um Forderungen zu stellen. »Also wirklich, Michael …«, sagte sie gepreßt. »Aber ich brauche den Computer!« beteuerte Michael mit erhöhter Stimme.

Gerda stand auf. »Wir sprechen ein andermal darüber, ja?«

Monika folgte dem Beispiel ihrer Mutter. Die beiden servierten ab und brachten frische Teller, eine Platte mit Rindfleisch, Schüsseln mit Kartoffeln und Gemüse. Sie setzten sich wieder zu den anderen, und das Essen ging weiter.

»Warum wollt ihr mich nicht verstehen?« fragte Michael.

»Reden wir doch lieber über etwas anderes«, schlug Frau Wallner vor.

Niemand hörte auf sie.

»Ich schlage dir deine Bitte ja nicht grundsätzlich ah, Michael«, sagte Gerda, »aber du mußt doch einsehen, daß wir jetzt, am Start unseres neuen Lebens, erst einmal Geld für wichtige Anschaffungen brauchen, für eine Wohnung, neue Möbel …«

»Warum nehmen wir nicht die alten? Vater muß sie doch rausrücken oder etwa nicht?«

»Wir können ja nicht die Wohnung nach den Möbeln aussuchen. Wir müssen sehen, wie alles zusammenpaßt. Neue Vorhänge und Lampen brauchen wir sicher. Nein, wie Moni ganz richtig bemerkt hat, jetzt ist nicht der Moment, uns irgendwelche Extrawünsche zu erfüllen. Später, vielleicht, wenn wir uns erst etabliert haben.«

»Aber ich will keine neuen Möbel, meine alte Lampe genügt mir in jedem Fall, und einen Vorhang brauche ich auch nicht.«

Frau Wallner erhob sich. »Seid mir nicht böse, aber ich bin müde. Ich lege mich jetzt ein bißchen hin.«

»Aber du hast doch fast nichts gegessen!« protestierte Gerda.

»Wundert es dich wirklich, daß mir bei eurem Gezanke der Appetit vergangen ist?« Frau Wallner schwächte ihre harten Worte durch ein nachsichtiges Lächeln ab und verließ würdevoll das Zimmer.

»Da hast du es, Michael!« sagte Monika vorwurfsvoll.

»Dabei gibt sich eure Großmutter immer so viel Mühe mit der Kocherei«, fügte Gerda hinzu.

»Das ist doch kein Grund, so empfindlich zu sein!« brummte der Junge.

»In ihrem Alter hat man eben keine Nerven mehr wie Stahlseile«, sagte seine Schwester.

»Ich bin bloß froh, wenn wir endlich wieder unter uns sind!«

»Na, siehst du!« meinte Monika. »Eben deshalb wollen wir, Mutter und ich, so schnell wie möglich in eine neue Wohnung. Erst mal sehen, wieviel das kostet. Und wir wollen sie uns so gemütlich wie möglich einrichten, und das heißt …«

»Aber glaubt nur nicht, daß ihr euch dann weiter so ungezogen benehmen könnt!« warf Gerda ein. »Nicht eure Großmutter war nämlich schuld an der Mißstimmung, sondern ihr. Bei einem guten Mittagessen einen solchen Streit vom Zaun zu brechen!«

»Ich war es nicht!« rief Monika und deutete mit der Gabel auf den Bruder. »Sondern er!«

»Stimmt, Monika«, gab Gerda zu, »du konntest wirklich nichts dafür.«

»Sehr schön!« schrie Michael. »So gefällt’s mir! Hackt nur alle auf mir herum! Aber Tatsache ist doch, daß ich ein Recht auf das Geld habe, wenigstens auf einen Anteil.«

»Nein, das hast du nicht!« gab Monika ebenso laut zurück. »Jetzt hört mal, ihr beiden, seid doch, bitte, etwas leiser. Ihr bringt eure Großmutter auch noch um ihren Mittagsschlaf.«

»Aber wie kann er sich einbilden, ein Recht auf das Geld zu haben?« fragte Monika mit mühsam beherrschter Stimme.

»Es ist doch so eine Art Abfindung, die Vater uns zahlt«, verteidigte sich Michael, »oder etwa nicht?«

»Tut mir leid, Michael, du hast da etwas ganz falsch verstanden«, sagte Gerda.

»Oder wieder einmal nicht richtig hingehört«, setzte Monika hinzu.

»Dein Vater und ich«, erklärte Gerda, »wir haben in einer sogenannten Zugewinngemeinschaft gelebt. Das ist die Form der normalen gesetzlichen Ehe in Deutschland. Alles, was dein Vater während der Ehe verdient und was wir zusammen angeschafft haben, hat zur Hälfte mir gehört. Jetzt, zum Zeitpunkt der Scheidung, muß diese Hälfte an mich ausgezahlt werden. Es handelt sich also um einen Anteil an Vaters Gewinn. Verstehst du jetzt endlich?«

Michael hatte mit wachsender Betroffenheit zugehört. »Das ist aber ganz schön ungerecht«, meinte er nachdenklich. – »Ist es nicht!« widersprach Gerda. »Der Gesetzgeber geht davon aus, daß die Frau ihren Teil dazu beigetragen hat, daß der Mann sich ein gewisses Vermögen, ob nun niedrig oder hoch, erwerben konnte. Sie hat die Hauswirtschaft übernommen, sich um die Kinder gekümmert, ihm also sozusagen den Rücken freigehalten und ihm dadurch erst ermöglicht, sich ungehindert um seine Arbeit und seine Geschäfte zu kümmern. Ich habe ja darüber hinaus auch noch jahrelang die Buchhaltung für Vaters Betrieb gemacht, mich um den Einkauf gekümmert und Rechnungen ausgeschrieben.«

»Aber dafür bist du doch sicher bezahlt worden.«

»Stimmt. Ich hatte sogar ein gutes Gehalt. Aber das ist zum größten Teil wieder für familiäre Ausgaben draufgegangen und auf ein gemeinsames Sparkonto, von dem wir uns dann die Eigentumswohnung gekauft haben. Praktisch ist mir nie mehr als ein Taschengeld geblieben.«

»Das war schön dumm von dir.«

»Kann ich nicht finden. Wenn man verheiratet ist, muß man am gleichen Strang ziehen. Euer Vater hat ja auch nicht mehr für sich genommen, als er brauchte. Ein Mann kann übrigens, ohne Zustimmung seiner Ehefrau, gar keine größeren Anschaffungen machen.«

»Aber alle paar Jahre einen neuen Mercedes!« erinnerte Monika.

»Damit war ich ja einverstanden.«

»Aber du hast nie ein eigenes Auto gekriegt.«

»Das gehört auch zu den Gründen, daß ich die Ehe satt bekommen habe. Er hat mir immer wieder vorgerechnet, daß ich kein eigenes Auto brauchte, und objektiv gesehen hatte er ja damit auch recht. Aber das ändert nichts daran, daß ich gern eines gehabt hätte.«

»Kriegst du jetzt den Daimler?« erkundigte sich Michael.

»Nein. Aber dein Vater kann ihn wohl auch nicht halten. Jedenfalls muß er mir die Hälfte seines jetzigen Wertes abgeben.«

»Auweia«, sagte Michael.

»Seine eigene Schuld!« behauptete Monika. »Hätte er uns nicht so tyrannisiert …«

Ihr Bruder ließ sie nicht aussprechen. »Jedenfalls bist du jetzt eine reiche Frau, Mom, nicht wahr?«

»Du übertreibst!«

»Aber du könntest mir den Computer kaufen …«

Unter lautem Gelächter sprangen Gerda und Monika auf. Michael ließ sich nicht beirren. »… wenn du nur wolltest«, fuhr er beharrlich fort, »und ich frage mich nur …«

»Tollkopf!« rief Monika.

»Nicht noch einmal von vorn!« Gerda zauste seine braunen Locken, was er, wie sie wußte, gar nicht leiden konnte.

Diesmal ließ er es sich gefallen, ohne »Aua« oder »Laß doch« zu schreien, ja, er half sogar, den Tisch abzudecken. »Kann ich sonst was tun?« fragte er und blieb in der Küchentür stehen.

Gerda hatte sich die Ärmel ihrer Bluse aufgekrempelt und eine Schürze vorgebunden. »Danke, Michael«, sagte sie, angenehm berührt, »sehr lieb von dir. Aber den Rest schaffen wir schon allein.«

Michael verzog sich, um im Wohnzimmer ostentativ seine Bücher und Hefte um sich aufzubauen.

Gerda schloß die Tür hinter ihm. »Er kann doch wirklich sehr nett sein«, meinte sie.

»Ach was!« Monika lachte. »Er wirft mit der Wurst nach der Speckseite, merkst du das nicht?«

»Wenn er versucht, sich auf diese Weise beliebt zu machen, kann es mir nur recht sein.« Gerda stöpselte das Spülbekken zu und drehte die Hähne auf.

»Warum hast du ihn nicht beim Wort genommen und ihn abwaschen lassen?«

»Er wird noch früh genug seinen Anteil an der Hausarbeit übernehmen müssen.« Gerda spülte die Kartoffelschüssel aus und reichte sie ihrer Tochter. »Wenn ich erst eine feste Stellung habe.«

»Willst du nicht mehr bei Lily arbeiten?«

»Natürlich nicht. Mehr als ein Taschengeld ist dabei doch nicht herausgesprungen.«

»Aber mehr brauchst du doch auch nicht. Ich denke, Vater muß zahlen.«

»Nur so lange, bis ich selber genug verdiene.«

»Dann würde ich mir mit der Arbeitssuche aber ganz schön Zeit lassen.«

»Nein, Moni, das werde ich nicht!« erklärte Gerda energisch. »Ich habe mich nicht scheiden lassen, um auf der faulen Haut zu liegen. Ich will etwas aus meinem Leben machen. Außerdem wäre es ganz schön unfair von mir, Oswald bis zum Gehtnichtmehr zahlen zu lassen. Ich habe nicht die Absicht, ihn auszunutzen.«

»Du hast ganz schön verdrehte Ansichten.«

»Nein, durchaus nicht. Verstehst du denn nicht …«

Während Mutter und Tochter auf diese Weise miteinander plauderten, ging ihnen die Arbeit flott von der Hand. Schon bald waren Besteck und Geschirr, Töpfe und Schüsseln gesäubert und fortgeräumt.

»Weißt du, was ich mir wünsche?« fragte Monika dann, wobei sie das »ich« stark betonte.

»Na, was denn?« fragte ihre Mutter und band sich die Schürze ab.

»Eine Spülmaschine! Die können wir uns jetzt doch wirklich leisten.«

Gerda nahm ihre Armbanduhr vom Fensterbrett und blickte auf das Zifferblatt, bevor sie sie sich wieder um das Handgelenk legte. »Aber wozu? Wir haben für den ganzen Abwasch weniger als eine Viertelstunde gebraucht. Und war’s nicht auch ganz lustig?«

»Zugegeben. Aber wenn du erst wieder berufstätig bist, werde ich es allein machen müssen, und dann brauche ich mindestens die doppelte Zeit, und öde wird es auch.«

»Nicht, wenn dein Bruder dir hilft.«

»Ach Mom, du weißt doch, wie ungern er mit zupackt, wenn er auch jetzt so tut. Ich werde ewig bitten und betteln müssen, und schon bei der bloßen Vorstellung wird mir ganz anders.«

»Na ja. Vielleicht hast du recht.« Gerda streifte sich die Ärmel herunter und knöpfte die Manschetten zu. »Wir werden sehen.«

Monika umarmte sie heftig. »Du bist doch die Allerbeste!«

»Nicht so stürmisch, Liebling. Versprochen ist noch nichts.« Gerda befreite sich sacht. »Ich geh’ jetzt mal auf einen Sprung zu Lily. Muß ihr doch die große Neuigkeit mitteilen. Und was ist mit dir?«

»Ich treffe mich mit ein paar Freundinnen. Aber erst erledige ich meine Hausaufgaben.«

»Sehr brav von dir«, lobte Gerda sie mit einem Lächeln. Dann verließen beide die Küche.

Als Gerda wenig später durch die Straßen der kleinen Stadt lief, war ihr Schritt nicht mehr ganz so beschwingt wie am Morgen, und das, obwohl sie ihre bequemen Trotteurs anhatte. Ohne es sich einzugestehen, fühlte sie sich ein wenig enttäuscht. Dabei wußte sie selber nicht genau, was sie eigentlich von ihren Kindern erwartet hatte. Etwas weniger Egoismus vielleicht. Aber Selbstsucht war doch etwas ganz Natürliches, besonders in diesen jungen Jahren. Sie selber war ja auch entschlossen, ihren eigenen Weg zu gehen, und sie würde sich durch nichts davon abhalten lassen. Unwillkürlich straffte sie die Schultern.

Gerda trug jetzt einen kleinen Blazer über einem gestreiften Hemdblusenkleid, und sie hatte sich wieder geschminkt, aber diesmal nur leicht und unauffällig. Eine Maske aufzusetzen, hatte sie jetzt nicht mehr nötig.

Zielbewußt überquerte sie die ehemalige Fahrbahn, die jetzt als Fußgängerzone hübsch gepflastert war.

Auf der gegenüberliegenden Seite, im Schatten einer jener schönen, italienisch anmutenden Arkaden, lag das Modegeschäft ihrer Freundin, »Lilys Shop« – eine elegante Boutique. Als Gerda die Eingangstür öffnete, ertönte eine Dreiklangglocke.

»Du, Lily«, rief sie, noch im Eintreten, »ich muß dir unbedingt …« Sie verstummte, weil ihr plötzlich einfiel, daß Lily nicht allein sein könnte.

Aber der Laden war leer.

Lily, eine zierliche, sehr zurechtgemachte Blondine, die damit beschäftigt gewesen war, Pullover zusammenzulegen und einzuräumen, hatte sich zu ihr umgedreht. »Gut, daß du kommst! Du kannst hier gleich weitermachen. Ich bin heute noch gar nicht zum Einkaufen gekommen.«

»Aber ich wollte dir gerade sagen …«

»Später, mein Schatz, später!« Lily holte ihre Handtasche unter dem Verkaufstisch hervor, warf Gerda noch eine Kußhand zu und stürzte auf die Straße.

Gerda zog eine Grimasse, verstaute dann aber rasch die eigene Tasche, hängte im Hinterzimmer ihren Blazer über einen Bügel und beschäftigte sich mit den Pullovern.

Sie war noch dabei, als die Dreiklangglocke Kundschaft meldete. Zwei junge Mädchen kamen herein, und als Gerda sich nach ihren Wünschen erkundigte, erklärten sie, sich nur einmal umsehen zu wollen. Gerda durchschaute sofort, daß sie gar nicht genug Geld hatten, um sich eines der teuren Kleidungsstücke anschaffen zu können. Aber bereitwillig zeigte sie ihnen, was ihnen passen und gefallen könnte, ohne sie dabei auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen, damit sie nicht der Versuchung erlagen, sich etwas, ohne zu zahlen, anzueignen. Auch als Lily, mit Plastiktüten beladen, wieder zurückkam, widmete sie ihre ganze Aufmerksamkeit weiter den jungen Damen. Endlich zogen die beiden mit gemurmelten Ausreden ab.

»Faule Kundschaft, wie?« mutmaßte Lily, die ihre Tüten in das Hinterzimmer gebracht hatte.

»Und ob!«

Lily half beim Aufräumen. »Deine Scheidung ist also durch?« erkundigte sie sich eher beiläufig.

»Woher weißt du?«

»Es war dir an der Nasenspitze anzusehen. Außerdem wußte ich doch, daß du heute Termin hattest.«

»Und ich wollte dich überraschen.«

»Überrascht hätte es mich, wenn es nicht geklappt hätte. Sag mal, wieviel kriegst du denn jetzt?«

Gerda zögerte mit der Antwort.

»Na, sag schon!« drängte die Freundin. »Mir kannst du es doch anvertrauen.«

»Genau weiß ich das noch nicht.«

»Na, in etwa!«

Gerda lächelte. »Meine Mutter sagt immer, es gehört sich nicht, über Geld zu reden.«

Ehe Lily noch weiter fragen konnte, betrat ein junges Paar die Boutique, offensichtlich Touristen, deren sie sich annehmen mußte, während Gerda die letzten Pullover zusammenlegte und in das Regal räumte. Die Kundin hatte keinen besonderen Wunsch, sie wollte wohl nur ein Andenken an die gemeinsame Reise erstehen und die Gelegenheit nutzen, es sich von ihrem Partner zahlen zu lassen.

Sie war etwas zu rund um die Hüften, und deshalb war die Wahl schwierig.

Eine ältere Dame trat ein, die ein »Cache-cœur« für ihre Enkelin suchte. Gerda verstand rasch, daß es sich dabei um eine Wickeljacke handelte, und die war zum Glück in mehreren Farben vorrätig. Die Dame schwankte, ob sie sie in Rosa oder in Schwarz nehmen sollte, entschloß sich endlich, beide zu erstehen. »Falls es nicht das ist, was sich Penelope wünscht, kann sie sie doch umtauschen?« vergewisserte sie sich, während sie zahlte.

»Aber selbstverständlich, gnädige Frau«, bestätigte Gerda, »bewahren Sie nur vorsichtshalber den Kassenzettel. Soll ich die Jäckchen als Geschenk verpacken?«

»Das ist nicht nötig, danke, nein.«

Die junge Frau hatte sich inzwischen für ein sehr schickes schwarzes Leinenkleid entschieden, obwohl es um die Hüften spannte. »Zu Hause nehme ich bestimmt ganz schnell wieder ab«, behauptete sie.

»Du weißt, wie kostbar mir jedes deiner Pfunde ist«, versicherte er galant.

»Dann ist dir das Kleidchen also nicht zu teuer?«

»Nimm es nur, Liebling, du siehst blendend darin aus.«

Endlich waren die Freundinnen für eine Weile wieder einmal allein.

»Jetzt frage ich dich mal umgekehrt, Gerda – was hast du nun vor?«

Gerda hatte sich mit der Hüfte gegen einen der Verkaufstische gelehnt. »Ich werde mir Arbeit suchen.«

»Hast du das denn noch nötig?«

»Ich muß und will etwas tun. Mich nur um die Kinder zu kümmern – die werden eh in ein paar Jahren erwachsen sein –, kann mich doch nicht befriedigen. Ich werde dort anfangen, wo ich bei meiner Eheschließung aufgehört habe.«

Lily riß die blauen, geschickt ummalten Augen auf. »Zurück in die Gärtnerei? Du lieber Himmel!«

»Was soll falsch daran sein?« – »Es bringt doch nichts.«

»Aber Gärtnern machte mir Spaß. Ich hatte die Wohnung immer voller Blumen, erinnerst du dich? Und wenn Oswald uns ein Häuschen vor der Stadt mit einem möglichst großen Garten gekauft hätte statt dieser sterilen Eigentumswohnung im Neubauviertel, wäre es zu unserer Ehekrise wahrscheinlich gar nicht gekommen.«

»Warum hast du dann nicht darauf bestanden?«

»Ich habe darum gekämpft. Aber du kennst Oswald, du weißt, wie dickköpfig er ist. Einigermaßen preiswertes Land wäre nur außerhalb zu finden gewesen, also hätte ich ein eigenes Auto gebraucht, um beweglich zu sein, und das paßte ihm nicht. Er hatte tausend Argumente dagegen: der weite Schulweg für die Kinder und so weiter und so fort.« Gerda zuckte mit den Achseln.

Wieder unterbrach Kundschaft für gute zwanzig Minuten das Gespräch.

Dann erklärte Lily: »Du, ich glaube, ich habe eine viel bessere Idee für dich.« Sie zupfte an ihrem Seidenpullover.

»Ja?« fragte Gerda erwartungsvoll.

»Warum steckst du dein Geld nicht in meine Boutique? Garteln kannst du dann ja immer noch nebenbei.«

Gerda errötete. »Ist das dein Ernst?«

»Unbedingt. Du könntest meinen Bankkredit ablösen. Du verstehst doch inzwischen genug vom Geschäft, um zu wissen, daß es sich rentieren würde.«

»Du willst mich wirklich als Teilhaberin nehmen? Und meinst du, daß dein Mann damit einverstanden sein würde?«

Lily zupfte noch heftiger an ihrem Pullover, obwohl er ausgezeichnet saß. »Weißt du, ganz so habe ich es nicht gemeint.«

»Wie dann?«

»Stille Teilhaberin könntest du von mir aus bei mir werden.«

Gerda runzelte die Stirn. »Das bedeutet, daß ich nichts zu sagen hätte?«

»So ungefähr.«

»Aber du weißt doch, wie lange ich schon bei dir einspringe. Ich verstehe inzwischen was vom Geschäft, von der Mode, vom Einkauf und …«

Lily fiel ihr ins Wort. »Ich habe ja nicht gesagt, daß du es nicht könntest. Du bist eine, die alles kann, was sie will. Aber gerade deshalb. Dies ist mein eigener Laden. Ich habe ihn mir selber aufgebaut. Nicht einmal Heinz ist als Teilhaber eingetragen, obwohl er das nur zu gern möchte.«

»Du bist also nur auf mein Geld aus«, stellte Gerda fest. »Das klingt jetzt wirklich ein bißchen ordinär.«

»Aber es ist die Wahrheit. Auf meine Mitarbeit legst du keinen Wert.«

»Doch, Schätzchen!« Lily lächelte entwaffnend und klimperte mit ihren stark getuschten Augenwimpern. »Es ist äußerst angenehm, jemanden wie dich zu haben, der so zuverlässig und tüchtig ist und …«

Gerda ließ sie nicht ausreden. »Nur mitentscheiden lassen willst du mich nicht?«

»Auf gar keinen Fall. Ich kenne dich nur zu gut. Über kurz oder lang würdest du es sein, die hier das große Wort führt. Du hast das Talent, die Leute an die Wand zu spielen, Gerda.«

»In meiner Ehe ist mir das jedenfalls nicht gelungen.«

»Stimmt. An Oswald hast du dir die Zähne ausgebissen.« Die beiden Frauen starrten sich fast feindselig in die Augen. Dann warf Gerda den Kopf in den Nacken und lachte auf. »Worüber streiten wir denn eigentlich? Und das am schönsten Tag in meinem Leben! Ich will mich dir doch nicht aufdrängen, Lily. Ich wäre nicht auf die Idee gekommen, wenn du nicht …« Sie unterbrach sich. »Aber Schluß damit. Sollten wir uns nicht noch einmal in aller Ruhe unterhalten? Du, Heinz und ich? Heute abend? Bei einem Fläschchen Wein? Oder wir reden auch gar nicht über Geschäfte. Ich möchte mit euch meine Scheidung feiern.«

»Das tut mir nun wirklich leid, Schätzchen.« Lily setzte eine übertrieben kummervolle Miene auf. »Wir haben Karten für ›Keine Leiche ohne Lilly‹. In der Stadthalle.«

Gerda brachte es fertig, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Na, dann viel Spaß!« sagte sie. »Und erzähl mir morgen, wie es gewesen ist.«

»Apropos!« Lily fuhr sich mit den Fingern durch das sehr hell getönte Haar. »Ich muß unbedingt vorher noch zum Friseur. Kannst du mich nicht vertreten?«

»Doch. Natürlich. Das mache ich gern.«

»Leg die Einnahmen in den Tresor und schließ gut ab. Du kennst dich ja aus.« Lily nahm ihre Handtasche, lief ins Hinterzimmer und kam mit ihren Tüten zurück. »Wenn ich dich nicht hätte!« rief sie emphatisch, warf Gerda noch eine Kußhand zu und stob auf die Straße.

›Biest‹, dachte Gerda. ›Bald wirst du mich nicht mehr haben. Du wirst dich umsehen müssen, bis du wieder eine Dumme findest, die immer und zu jeder Zeit bereit ist, dir zu helfen. Du bist doch wahrhaftig die schlimmste Marke Eigennutz, die ich je gekannt habe.‹

Punkt sechs Uhr schloß Gerda die Boutique. Sie bediente noch eine letzte Kundin, die Tochter des Apothekers, legte dann die Tageseinnahmen in den Tresor im Hinterzimmer, zog ihren Blazer über, nahm ihre Handtasche und verließ das Geschäft.

Die Sonne stand noch am Himmel, aber die Fußgängerzone lag jetzt ganz im Schatten. Immer noch waren viele Leute unterwegs. Einige hatten es eilig, sie wollten letzte Einkäufe machen, andere schlenderten nach des Tages Arbeit gemächlich dahin. Gerda machte sich, ohne nach links und rechts zu sehen, auf den Heimweg. Es war viel geschehen, und sie war so in Gedanken versunken, daß sie fast mit jemandem zusammengeprallt wäre. Eine Entschuldigung murmelnd blickte sie auf und erkannte den Baumeister Erich Poller. Sie schenkte ihm ein überraschtes Lächeln.

Er grüßte sie vergnügt. »Sieh einer an! Die glückliche Scheidungswitwe!«

Sie reichte ihm die Hand. »Tag, Erich! Hat es sich schon herumgesprochen?«

»Kann man wohl sagen. Oswald sitzt seit zwölf Uhr am Stammtisch und redet von nichts anderem. Er verflucht dich und sein Schicksal. Inzwischen ist er schon ziemlich hinüber.«

Die Vorstellung, daß ihr geschiedener Mann sich betrank, machte Gerda betroffen. »Du, ob ich nicht versuchen sollte, ihn zu beruhigen?« fragte sie besorgt.

»Nur ja nicht! Dein Auftauchen würde das Faß zum Überlaufen bringen.«

Sie biß sich auf die Unterlippe. »Er tut mir so verdammt leid.«

Erich Poller lachte nur. »So siehst du gerade aus!« sagte er amüsiert. »Hör mal, Gerda, wie wär’s, wenn wir uns eine Kleinigkeit genehmigen würden?«

Gerda zögerte einen Augenblick, dann warf sie den Kopf in den Nacken und erklärte: »Warum eigentlich nicht? Gar keine schlechte Idee.« Sie blickte zum Wirtshausschild des Restaurants »Duschlbräu« auf, vor dem sie gerade standen. »Gehen wir rein, hier gibt es Pils vom Faß.«

»Ich weiß was Besseres. Fahren wir zum Chiemsee. Komm! Mein Auto steht gleich um die Ecke.« Er faßte sie leicht beim Arm und dirigierte sie in die gewünschte Richtung.

Sie sah zu ihm auf. »Warum willst du nicht ins ›Duschl‹?«

»Da bin ich bekannt wie ein bunter Hund.«

»Das macht doch nichts.«

»Dir nicht. Du bist ja glücklich geschieden.«

»Wäre es dir etwa peinlich?«

»Das nicht gerade. Aber es könnte gefährlich werden.«

»Wie das?« fragte sie sehr erstaunt.

»Wenn meine Frau davon erführe.«

Gerda lachte schallend. Sie und Oswald kannten das Ehepaar Poller jetzt schon seit vielen Jahren, wenn die beiden Frauen auch nicht gerade eng befreundet waren. Dazu war der Altersunterschied zwischen Kathi Poller und Gerda zu groß. Auch pflegte Kathi eine betont konventionelle Haltung an den Tag zu legen. Sie ließ sich von ihrem Mann mit Schmuck behängen, den sie bei jeder Gelegenheit vorführte. Die anderen Frauen beneideten sie um ihre Juwelen, witzelten aber auch gern darüber. Sie bedauerten Erich, weil er an eine so kalte Frau geraten war, obwohl er sich selber nie beklagte und sich in seiner Ehe auch recht wohl zu fühlen schien. Er sah mit seinen fünfzig Jahren noch sehr gut aus – stämmig, die Haut von Sonne und Wind gegerbt, Lachfalten um die nicht ganz strahlend blauen Augen –, und alle mochten ihn, auch Gerda – obwohl die eigentliche Freundschaft zwischen den Männern bestand. Erich Poller ließ Oswald Keppler, dem Malermeister, Aufträge zukommen, wann immer es sich ergab, und umgekehrt. Darüber hinaus gehörten sie zum gleichen Stammtisch, an dem sie stundenlang beisammenhockten und über Gott und die Welt, Politik, Sport und Frauen debattieren konnten.

»Ach, Erich«, rief Gerda atemlos vor Lachen, »du machst mir Spaß! Als ob Kathi je eifersüchtig auf mich gewesen wäre!«

Inzwischen hatten sie den Parkplatz hinter der Fußgängerzone, an der Rückseite der Gebäude, erreicht. Sie gingen auf Erichs Auto zu, einen gewichtigen Mercedes. Er schloß Gerda galant die Tür zum Beifahrersitz auf, ehe er selber einstieg. Dann scherte er rückwärts aus.

»Stimmt«, sagte er, »früher war sie’s nicht, obwohl wir manchmal ganz schön geflirtet haben. Aber da warst du ja auch noch in festen Händen.«

Gerda lehnte sich bequem in den lederbezogenen Sitz zurück. »Versteh’ ich nicht. Wo ist denn da der Unterschied?«

»Da du eine anständige Frau bist, konnte man davon ausgehen, daß du deinen Mann nicht betrügen würdest.«. Er stellte das Radio an und suchte einen Sender mit leichter Musik.

»Stimmt insofern«, sagte sie, »daß ich nie was mit anderen Männern am Hut hatte. Aber daran hat sich durch meine Scheidung auch nichts geändert. Ich habe Besseres zu tun, als Abenteuer zu suchen.«

Er legte ihr die Hand auf das Knie. »Was denn zum Beispiel?«

Sie nahm seine Hand und legte sie sanft, aber entschieden auf das Steuer zurück. »Fahr bloß vorsichtig! Das hätte mir gerade noch gefehlt, am Anfang meines neuen Lebens zu verunglücken!«

»Beruhige dich, ich pass’ schon auf. Aber was hast du jetzt wirklich vor? Eine Weltreise vielleicht? Das Geld dazu wirst du ja haben, wenn man Oswald glauben darf.«

»Ich will arbeiten. Ich brauche eine Stellung.«

»Ach ja?« sagte er überrascht. »Wenn das alles ist, kann ich dir helfen. Komm zu mir. Eine zuverlässige Buchhalterin wie dich habe ich schon lange gesucht.«

Sie sah ihn von der Seite an. »Im Ernst?«

»Traust du mir zu, daß ich mich über dich lustig mache?«

»Ja, doch, das tue ich«, sagte sie, »das sähe dir unbedingt ähnlich.«

Sie hatten inzwischen die Stadt verlassen und fuhren auf der Autobahn in Richtung Salzburg. Rechts von ihnen reckte sich die felsige Kampenwand in den blauen Himmel. Auf dem Gipfel schimmerte es weiß von einem frühen Schneebefall, die Fenster der Bergstation blitzten auf. Gerda genoß den Ausflug, wenn sie auch lieber selber am Steuer gesessen hätte.

»Du kennst mich schlecht, Gerda«, behauptete Erich mit Nachdruck, »meinen Freunden bin ich immer ein guter Freund gewesen. Du kannst fragen, wen du willst.«

»Und wie stehst du zu den Frauen deiner Freunde?«

»Das solltest du wissen. Zu mehr als einem Flirt habe ich es nie kommen lassen.«

»Bravo! Trotzdem glaube ich dir nicht. Wenn es dir schon zu gefährlich war, dich mit mir im ›Duschl‹ sehen zu lassen, wie willst du es dann Kathi plausibel machen, daß du ausgerechnet mich bei dir anstellst?«

»Na ja«, bemerkte er leichthin, »da müßte man sich eben was einfallen lassen.«

»Zerbrich dir nur nicht meinetwegen den Kopf, mein Lieber«, erklärte sie vergnügt, »es gibt nichts, was mich zum Baugewerbe zieht.«

»Ich wollte dir ja nur helfen.«

»Sehr, sehr anständig von dir.«

Bei der Ausfahrt Bernau bogen sie von der Autobahn ab und auf die Bundesstraße ein, die sie zum See führte. Dabei plauderten sie mit der Unbefangenheit alter Freunde. Das »Hotel Seeblick« tauchte vor ihnen auf. Sehr stattlich und einladend stand es da, halb verdeckt von mächtigen Ulmen, deren Kronen immer noch ihr helles Grün zeigten. Die Flügeltüren über den steinernen Stufen waren weit geöffnet. Dennoch traten sie nicht ein, sondern suchten sich, nachdem Erich das Auto geparkt hatte, einen Platz auf der Terrasse. Sie lag noch im Spätnachmittagssonnenschein, aber die Schirme waren schon zugeklappt. Da die eigentliche Saison schon vorbei war, gab es nur wenige Touristen. Gerda und Erich ließen sich mit dem Rücken zur Hauswand nieder, die die Wärme des Tages gespeichert hatte. Gerda überlegte, ob sie ihren Blazer ausziehen sollte, tat es dann aber doch nicht; die allzu wohlige Wärme hatte etwas Trügerisches.

Vor ihr tat sich das weite Panorama des Sees auf, dessen Wasser noch blauer war als der Himmel, von zahllosen weißen Schaumkrönchen belebt. Boote mit bunten Segeln schossen dahin oder kreuzten, gefährlich schräg gelegt, gegen den Wind. Auf dem jenseitigen Ufer erhoben sich die Berge, grün, grau und mit tiefen prägenden Schatten, die Gipfel weiß bedeckt.

Gerda, die den Chiemsee zu jeder Jahreszeit kannte, war doch wieder begeistert. »Wie schön es hier ist!« gestand sie. »Eine wundervolle Idee von dir hierherzufahren, Erich!« Sie lächelte ihm dankbar zu, um den Blick gleich wieder abzuwenden.

»Du wirst schon noch sehen«, erwiderte er selbstgefällig, »ich bin der Mann der tausend guten Ideen.«