Die Frühreifen - Philippe Djian - E-Book

Die Frühreifen E-Book

Philippe Djian

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Beschreibung

Es kracht gewaltig zwischen den Generationen. Selbst oben am Hügel, wo die Villen im Herbstlicht erstrahlen und die Swimmingpools glitzern. Sex and drugs and rock n roll? Das waren die Ideale der Eltern. Heute ist alles anders. Ein starkes und sensibles Porträt der happy few die es immer zahlreicher gibt und die immer unglücklicher werden.

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Seitenzahl: 485

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Philippe Djian

Die Frühreifen

Roman

Aus dem Französischen vonUli Wittmann

Titel der 2005 bei

Éditions Gallimard, Paris,

erschienenen Originalausgabe: ›Impuretés‹

Copyright © 2005 by

Philippe Djian et les Éditions Gallimard

Die deutsche Erstausgabe

erschien 2006 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration:

David Hockney, ›Portrait of an Artist

(Pool With Two Figures)‹, 1972 (Ausschnitt)

Acrylic on Canvas

(Acryl auf Leinwand), 84x120"

Copyright © David Hockney

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23655 7 (2.Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60427 6

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Acht Monate nach dem Tod seiner Schwester wachte Evy noch immer ganz plötzlich vor Tagesanbruch auf. Es war nicht mehr nötig, an seine Tür zu klopfen, laut zu reden oder die Vorhänge aufzuziehen, um ihn zum Aufstehen zu bewegen.

Am frühen Morgen rührte sich bei den Trendels so gut wie nichts mehr. Während er sich im Halbdunkel anzog, blieb im Haus jetzt alles still.

Das wenigstens schätzte er. Diese Ruhe, diese morgendliche Einsamkeit, die an Perfektion grenzte, wenn er in die leere Küche kam und eine große Schale schwarzen Kaffee trank, ohne etwas zu essen – jetzt hatte er niemanden mehr auf der Pelle.

Seit Lisas Tod hatte sich ziemlich viel verändert.

Seine Mutter bemühte sich nicht mehr, zum Frühstück nach unten zu kommen. Die Aussicht, am Vormittag ihren Weg zu kreuzen, war gering. Ab und zu begegnete Evy noch seinem Vater in der Küche, doch dann wurde die Atmosphäre sehr schnell bedrückend.

Am besten verließ man das Haus so schnell wie möglich.

In der näheren Umgebung gab es zahlreiche Seen, und auf dem Grund eines dieser Seen hatte man Lisa an einem [6] schönen eisigen Februartag gefunden, während die Sonne auf den Gummianzügen der Froschmänner glitzerte und sich rings um ihr Schlauchboot spiegelte wie ein glühender Strom aus Weißgold, der nichts Gutes verhieß.

Die Polizei hatte versucht, der Familie diesen Anblick zu ersparen, doch Richard Trendel und sein Sohn blieben unverwandt am Ufer stehen, die Füße fast im Wasser, das Haar von jähen Windstößen zerzaust. Laure hatte nicht die Kraft gehabt, aus dem Auto zu steigen.

Seit jenem Tag frühstückte Evy allein. Da die Küche nach Osten ging, sah er oft, wie die ersten Sonnenstrahlen auf dem Nadelkleid der Fichten, die die Straße säumten, funkelten oder im Swimmingpool der Nachbarn glitzerten, und Evy dachte, daß es besser so war, daß es die beste Lösung war.

Den Mädchen aus seiner Klasse gefiel er, und sie blickten ihm manchmal mit begierigen Lippen tief in die Augen, aber der Zweifel, der Lisas Tod umhüllte, dämpfte ihre Unternehmungslust ein wenig und ließ sie nicht ganz so kühn vorgehen wie gewöhnlich. Ich beobachtete das alles mit großem Interesse.

Niemand behauptete, Evy habe seine Schwester umgebracht. Lisas Leiche trug keine Spuren von Gewalt, und man hatte sie nicht nackt gefunden, wie manche zartfühlenden Seelen geflüstert hatten, aber niemand war Zeuge der Tat gewesen, niemand konnte bekräftigen, was Evy sagte – genausowenig wie ich zu jenem Zeitpunkt. Alle nahmen es ihm ein bißchen übel, daß sie gezwungen waren, ihm aufs Wort zu glauben, aber was blieb ihnen schon anderes übrig?

[7] Es war ein Unfall. Ein unglücklicher Sturz in eisiges Wasser. Mehr hatte er nie darüber verlauten lassen und hatte stets auf dieser Version beharrt. Er fragte, was für Einzelheiten sie denn wissen wollten, sprach von einer falschen Bewegung, vom Verlust des Gleichgewichts, von einem tragischen Sturz über Bord, mehr sagte er dazu nicht und sah nicht recht, was er dem hinzufügen solle. Selbst auf die Gefahr hin, für leicht schwachsinnig gehalten zu werden.

Eines Abends geriet seine Mutter über sein hartnäckiges Schweigen so in Rage, daß sie aufloderte wie ein mit purem Whisky begossenes Pulverfaß. Sie packte ihn, schüttelte ihn wie besessen und betäubte ihn mit ihren Schreien, wobei sie ihn reichlich mit Speichel und Tränen besprühte, sie hatte gehofft, mehr aus ihm herauszubringen, aber sie erhielt keinerlei weitere Informationen. Evy hatte nicht versucht, den Schlägen auszuweichen, die seine Mutter auf ihn einhageln ließ, sie erreichte nichts damit.

Schließlich griff Richard ein. Er hielt seine Frau zurück und bemühte sich, eine Weile den Blick seines Sohnes zu ergründen. Er wollte es mit einer anderen Methode versuchen und fuhr mit Evy an einem friedlichen Nachmittag ans Seeufer. »Weißt du, daß uns das guttun würde, deiner Mutter und mir?« sagte er zu ihm.

Richard ließ die Hände auf dem Steuer liegen, und Evy klemmte seine Finger in die Achselhöhlen, sie beobachteten gut zehn Minuten lang einen Bussard, der langsam über den Wäldern kreiste, und danach machte Richard abrupt kehrt.

Um noch einmal auf die Mädchen zurückzukommen, sie waren nicht alle der Ansicht, daß Lisas Tod ein unersetzbarer Verlust war.

[8] Als sich Richard und Laure gegen Mitte der achtziger Jahre in dieser Gegend niederließen, hatten sie noch keine Kinder, und die Welt lag ihnen praktisch zu Füßen. Laure tat sich Schlag auf Schlag in zwei aufsehenerregenden Rollen hervor, so daß sie von jenem Augenblick an zu den zwei oder drei besten Schauspielerinnen ihrer Generation zählte – ihre verblüffende Verkörperung der tyrannischen Schwester im letzten Film von Raúl Ruiz brachte ihr einen Anruf von Martin Scorsese ein. Und Richard schrieb regelmäßig Romane. Für das Buch, an dem er zu jener Zeit gerade arbeitete, hatte er den Gegenwert von siebenhundertfünfzigtausend Euro erhalten.

Aber all das lag lange zurück. Richard hatte in der Zwischenzeit Drogenprobleme gehabt – mit Heroin sowie mit gewissen Cocktails –, und Laure, die überzeugt war, daß ihr Erfolg in Form einer steil ansteigenden Kurve verlaufen würde, hatte es an Wachsamkeit und Urteilsvermögen fehlen lassen.

Das Wohnzimmer war mit einer großen Auswahl an Erinnerungsstücken aus rosigen Zeiten geschmückt. Wenn Evy die Fotos seiner Mutter betrachtete – deren hinreißendes Lächeln eine ganze Wand bedeckte – oder die verschiedenen Auszeichnungen, die Richard bekommen hatte, wie etwa den in Japan errungenen, heiß begehrten Preis, fragte er sich, warum sich seine Eltern so quälten.

Das Haus lag auf einer Anhöhe außerhalb der Stadt, und die säuselnde Vegetation umhüllte es in der erstaunlich lang andauernden, schwermütigen Oktoberhitze mit ihrem Moschusduft. Der Himmel blieb von morgens bis abends strahlend blau. Nachts, beim Sirren der Insekten, ging Laure auf [9] ihren Balkon, um Luft zu schnappen – und nicht um die Landschaft zu bewundern, die sie seit dem Tod ihrer Tochter zutiefst haßte. Evy hörte, wie sie stöhnte oder wie sie Judith Beverini, von der sie sich kurz zuvor verabschiedet hatte, ihr Leben erzählte.

Judith Beverini war so ziemlich die einzige, die Laure noch blieb, eine der wenigen, die sie in ihrem langsamen und unaufhaltsamen Abstieg nicht im Stich gelassen hatten – in den letzten zwölf Monaten hatte Laure in einer Fernsehserie mitgespielt, der Rest war nicht einmal erwähnenswert. Judith gehörte zu jenen, die Evy für schuldig hielten. Sie wußte zwar nicht recht, was man ihm vorwerfen konnte, aber für sie war er auf die eine oder andere Weise schuldig – den Grund dafür konnte sie nicht angeben.

Das war im übrigen die allgemeine Ansicht, was Evy anging, man begegnete ihm mit einer Mischung aus Mitleid und Vorwürfen, gegen die er sich nicht wehren konnte. Wenn er morgens an Judiths Haus vorbeiging, spuckte er auf ihre Türschwelle, und Andreas spuckte ebenfalls.

Etliche Manager und Führungskräfte hätten ohne zu zögern Vater und Mutter die Gurgel durchgeschnitten, um hier auf diesem Hügel wohnen zu können – in diesem grünen Paradies mit unzähligen Schattierungen, unzähligen Baumarten, schicken Privatwegen, hochgeschätzten abendlichen Empfängen und improvisierten Festen, auf denen man Schauspielerinnen, Produzenten, Schriftstellern, Filmregisseuren, Tänzern, Musikern, Theaterbesitzern, Modeschöpfern und dergleichen mehr begegnete –, aber das würde ihnen natürlich nie gelingen.

Andreas’ Großvater hatte den Grundstein zu dieser [10] Künstlerkolonie gelegt, die sich zu Beginn der fünfziger Jahre entfaltet hatte. Nachdem er in Deutschland ein Vermögen erworben hatte, kaufte er den ganzen Hügel auf, während sich die Vororte immer weiter ausbreiteten und deren Bewohner begehrlich auf die sonnigen, leider nicht zur Bebauung freigegebenen Anhöhen schielten – doch sein Vorfahr verfügte über enorme Mittel, hatte während des Krieges viel Geld in der Schweiz angelegt und konnte daher mit ein wenig Unverfrorenheit die Probleme lösen. Doch dann begann seine Frau unter der Einsamkeit und der für jemanden wie sie, die jahrelang in Paris gelebt und so viele Berühmtheiten in ihrem Haus bewirtet hatte, furchtbar beschränkten provinziellen Gesinnung zu leiden, so daß er den Hügel in Parzellen aufteilte und diese als Bauland verkaufte, jedoch nicht an irgendwelche x-beliebigen Leute, selbst heute noch nahmen die Miteigentümer jeden Neuankömmling in ihrem Kreis unter die Lupe – eine Praxis, die zwar skandalös war, es aber erlaubte, den Charakter der Gegend zu bewahren und gute nachbarschaftliche Beziehungen aufrechtzuerhalten.

Richard und Laure waren wenigstens klug genug gewesen, ihr Geld in den Kauf eines Hauses zu investieren, ehe ihr langsamer, unaufhaltsamer kläglicher Abstieg begann, der nach der Geburt ihrer Kinder einsetzte. Manchmal wußten sie es zu schätzen, daß sie keine Miete zu zahlen brauchten, sonst hätte Richard einen Artikel schreiben müssen, wozu er nicht die geringste Lust hatte – zu manchen Zeiten hing er mehrmals täglich an der Nadel, und das Geld schwand kofferweise –, ganz zu schweigen von einem Drehbuch oder einem Roman, einer Aufgabe, für die er nicht [11] mehr das nötige Durchhaltevermögen besaß. Noch heute sträubten sie sich, ihr Talent zu vergeuden und sich für Geld zu kompromittieren, aber sie machten nicht mehr so ein großes Getue darum, sprachen nicht mehr darüber und nahmen diese Demütigungen als notwendiges Übel hin – wenn Laure zum Beispiel einen Werbespot drehte, in dem sie die Handtaschen von Vuitton anpries, konnte sie damit ihren Lebensunterhalt für mehrere Monate finanzieren.

Ihre beiden Kinder verstanden es durchaus, daß man das Geld dort suchen mußte, wo es zu finden war, sie räumten es immer wieder ein, aber Laure glaubte, ständig einen stummen Vorwurf zu spüren. »Nun mal los. Sag mir, was du davon hältst. Zeig mir, daß du kein Weichei bist«, warf sie Evy eines Tages an den Kopf, nachdem er etwas voreilig gelacht hatte, als er einen Clip sah, in dem sie für eine Parfümmarke einen Orgasmus vortäuschte.

Lisa und ihr Bruder hatten nicht den Eindruck, daß ihre Eltern anders waren als andere, und das war vielleicht ein Aspekt, den Richard und Laure nicht richtig eingeschätzt hatten, ein Umstand, der zahlreiche Mißverständnisse auf beiden Seiten auslöste.

Nach der Schule machten Evy und Andreas bei Michèle Aramentis halt, deren kleine Schwester ihren zehnten Geburtstag feierte. Sie hatten Lust, ein Stück Kuchen zu essen und eine Weile in Michèles Zimmer zu verbringen.

Ihr Vater war Produzent. Man sah ihn nur selten, da er sich häufig bei Dreharbeiten irgendwo in der Ferne aufhielt, wie seine Frau sagte.

Marlène Aramentis machte exquisite Kuchen. Ihre [12] Biskuitrolle mit Himbeeren war geradezu ein Gedicht, ein Meisterwerk, dessen Herstellung mehrere Stunden dauerte und ihre ganze Aufmerksamkeit erforderte. Sie investierte auch viel Zeit und Energie in das Schulleben, war Vorsitzende des Elternbeirats und veranstaltete Sammlungen für Auslandsaufenthalte oder den Bau eines zweiten vollautomatischen Mehrzwecksaals.

Überall hingen Luftballons, Hüte, Luftschlangen, Papierkugeln, es gab Limonade und Gebäck, aus den Lautsprechern, die in den nur spärlichen Schatten werfenden Bäumen versteckt waren, drang eine etwas doofe Musik, der Garten stand gleichsam in Flammen. Der Empfang fand am Rand des Swimmingpools in etwas hysterischer Atmosphäre statt. Michèles Mutter hatte bereits einen besorgten Blick, und ihr Mund war leicht verzerrt.

Sie hatte zwei Studentinnen eingestellt, die ihr zur Seite stehen sollten, aber sie erklärte, daß sie nicht mit ihnen zufrieden sei. »Sie kommen nicht im geringsten gegen diese Blagen an. Die armen Mädchen sind absolute Nieten.« Man sah, wie sie verzweifelt hin und her rannten – keuchend, als brächen sie gleich zusammen.

Manche Mütter waren erschüttert über den Schicksalsschlag, der die Trendels und insbesondere Evy getroffen hatte, auch wenn sie es geschickt zu verheimlichen wußten. Sie sahen ihn zärtlich und voller Mitleid an, hatten immer ein freundliches Wort für ihn übrig, folgten ihm mit dem Blick und schüttelten den Kopf, um anzudeuten, daß Laure nicht alles für ihren Jungen tat, was sie tun könnte.

Acht Monate nach dem Drama sprach man noch immer viel über dieses Thema. Alle waren zu Lisas Beerdigung [13] gekommen, ohne Ausnahme – an einem eisigen Februarmorgen mit perlgrauem Himmel und aschfarbenem Horizont –, und viele hatten gespürt, wie sich Laures Gefühle ihrem Sohn gegenüber aus durchaus verständlichen Gründen zu wandeln begannen. Für eine treue Seele wie Marlène Aramentis bestand kein Zweifel, daß Evy einer ungerechten Beschuldigung, einer ungerechten Bestrafung ausgesetzt war.

»Wie kann man bloß auf den Gedanken kommen, daß dieser Junge seine Schwester umgebracht haben könne?« Jedesmal wenn sie Evy betrachtete, seinen entschlossenen Gang, seine vierzehn Jahre, sein engelhaftes Gesicht, seine dunklen Augen, verstand sie nicht, wie manche Leute ein so schlechtes Urteilsvermögen, so wenig Gespür besaßen.

Andreas, der sich möglichst bald mit Michèle einschließen wollte, fragte, ob noch Kuchen da sei.

Seit den Osterferien weigerte sich Michèle nicht mehr, ihnen einen zu blasen, aber ihre Fortschritte auf diesem Gebiet waren so gut wie null. Sie machte es kaum besser als ein Roboter.

Manchmal wurde Andreas wütend und schickte sie mitten im Gefecht mit einem verächtlichen Knurren zum Teufel, und danach ließ er sich mit furchtbaren Bauchschmerzen aufs Bett – falls ein Bett da war – oder aber auf den Boden sinken, und dann konnte man nur noch eins für ihn tun: ihm so schnell wie möglich eine Cola bringen.

Die beiden Jungen sahen ihre Hoffnung, daß Michèle etwas dazulernen könne, immer mehr dahinschwinden. Sie glaubten nicht mehr recht daran. Man hatte den Eindruck, daß sich Michèle für nichts interessierte – sie behauptete zwar [14] das Gegenteil, aber die Tatsachen ließen sich eben nicht leugnen. »Abgesehen von dir selbst, meine ich«, sagte Andreas, um die Sache klarzustellen.

Lisa hatte sie gewarnt. Sie hatte Michèle kurz beobachtet und ihnen dann viel Vergnügen gewünscht. Das war auf einer Fete, die die Aramentis auf Kosten des Studios in ihrem Haus veranstaltet hatten, um Bruce Willis und seiner Clique, die am folgenden Tag in die USA zurückkehrten, eine Freude zu bereiten.

Michèle hatte alle möglichen Leute eingeladen und sich geschminkt. Sie war knapp so alt wie die beiden Jungen, aber im Licht der Scheinwerfer, die den Garten erhellten, wirkte sie wie eine Frau. Eine Frau, die sie, Lisa zufolge, enttäuschen würde. Eine Frau, die offensichtlich andere Dinge im Kopf hatte.

Selbst wenn man Lisa tagelang löcherte, weigerte sie sich zu verraten, wie sie zu dieser Ansicht gekommen war, aber sie machte den Eindruck, den förmlichen Beweis dafür zu haben, schien die Gabe zu besitzen, das Unsichtbare zu enträtseln. Evy hätte zahllose Beispiele anführen können, bei denen sie recht behalten hatte. Er wettete nicht mehr mit ihr. Und da er folglich von dem Prinzip ausgehen mußte, daß sie sich praktisch nie irrte, war er ziemlich enttäuscht, als er hörte, daß Michèle nicht ihren Erwartungen entsprechen werde.

Anschließend, gegen drei Uhr morgens, verlangte Michèle eine Erklärung, eine Situation, die ziemlich unangenehm war. Den Tränen nahe und mit vor Wut zitterndem Mund stand sie im Schatten eines Massivs von Yuccapalmen, die mit bunten Bändern geschmückt waren, und wollte [15] wissen, warum Lisa solche Schauermärchen über sie verbreitete – Andreas hatte ihr gesagt, daß sie später zu nichts taugen werde und daß man ihr das auf den ersten Blick ansehe.

Lisas schlechter Ruf, das Mißtrauen und der Haß, den ihr manche Mädchen aus der Schule entgegenbrachten, waren nicht wirklich verdient. Sie verletzte niemanden absichtlich, empfand kein besonderes Vergnügen daran, jemanden zu verleumden. Sie fällte ihre Urteile nicht aus Bosheit, sie fühlte sich einfach dazu verpflichtet, ehrlich zu sein und eine Sache so darzustellen, wie sie war.

Evy dachte an diese Episode zurück und beobachtete dabei aus dem ersten Stock Marlène Aramentis, die im Badeanzug um den Swimmingpool irrte, dessen Oberfläche vom Sturm gepeitscht zu werden schien – ein wildes Durcheinander aus Schreien, Händen und Füßen, ein abscheuliches Bild. Er stand mit heruntergelassener Hose in Michèles Zimmer und kam nun seinerseits in den Genuß ihrer Aufmerksamkeit und sah, sich der Leere bewußt, die er nicht zu füllen vermochte, Lisa wieder vor sich, entdeckte über der Schulter der stümperhaften Bläserin, die es ihm mit abwesender Miene im Sturmtempo besorgte, Lisas Gesicht, das vor ihm schwebte. Hätte sie gelächelt, wenn sie ihn gesehen hätte? Hätte sie ihn gefragt, ob er auf seine Kosten gekommen sei?

Wenn sich Richard und Laure mit Geschirr beworfen hatten, wenn sie schreiend von einem Zimmer ins andere hintereinander hergerannt waren, so daß man sich schließlich wünschte, sie würden sich gegenseitig erwürgen, konnte er von Glück reden, daß er Lisa hatte.

In solchen Augenblicken ging Evy ohne anzuklopfen in [16] ihr Zimmer und setzte sich mit einer Zeitschrift auf ihr Bett. Lisa tippte weiter auf ihrem Computer. Manchmal hatte sie Bier oder etwas zu rauchen da. Wenn ein ungewöhnliches Getöse losbrach, spitzten sie eine Sekunde lang die Ohren, und dann fuhren sie mit ihrer Beschäftigung fort. Dennoch war es unangenehm gewesen. Richard und Laure. Bei Paaren wie ihnen war ein solcher Schmerz zu spüren, eine solche Frustration, eine solch unglaubliche Wut und auch eine solche Angst, daß es für Evy und seine Schwester nicht immer einfach gewesen war, sich dem zu entziehen. Manchmal war es besser, durchs Fenster zu entwischen und durch den Wald zu laufen, die Straße entlangzugehen oder egal was zu tun, anstatt das noch eine Minute länger zu ertragen.

Unterdessen warf Marlène Aramentis einen Blick auf ihre Armbanduhr und schaute dann zum Himmel auf, der sich schon rötete, während eine Schar von entfesselten Blagen wie die Wilden durch ihren Garten rannten oder versuchten, entgegen ihren Anweisungen das Haus zu betreten.

»Du machst uns richtig krank«, erklärte Andreas. »Die arme Sau, die dich mal heiratet, tut mir jetzt schon leid.«

Einen Augenblick danach verließen sie Michèles Zimmer. Während sie die Treppe hinabgingen, riet ihr Andreas zu vögeln wie alle anderen, denn die Sache werde allmählich abartig, aber Michèle weigerte sich, darüber zu diskutieren, sie weigerte sich wieder einmal hartnäckig, über dieses Thema zu sprechen.

Im Wohnzimmer stießen sie unverhofft auf Anaïs Delacosta, und Evy sprang ihr an die Gurgel.

[17] Anaïs mit ihren achtzehn Jahren war ein unförmiges Mädchen von etwa zwei Zentnern, aber sie war erstaunlich gewandt und kannte keine Hemmungen. Sie versetzte Evy mit ihrer wulstigen rosa Faust einen Schlag ins Gesicht, so daß er gegen das Bücherregal geschleudert wurde.

»Reg dich bloß nicht auf«, sagte sie zu ihm. »Ich habe die Sachen wieder an ihren Platz gelegt.«

Der Anblick des Bluts störte sie nicht im geringsten, im Gegensatz zu Marlène, die einen Schrei ausstieß und ein Taschentuch aus ihrem Ärmel zog, als sie auf diese Szene stieß. Ganz allgemein gesehen war Anaïs Delacosta unempfindlich gegen den körperlichen Schmerz anderer, da sie selbst unentwegt den schlimmsten Qualen ausgesetzt war.

Sie war bereit, ihm noch einmal eine reinzusemmeln, falls er scharf darauf war. »Dieser kleine Scheißer«, sagte sie zu sich selbst und öffnete ihre Faust, die so steif war, als hätte sie sie in Eis getaucht. Anaïs war schon immer der Ansicht gewesen, daß Evy ein bißchen zu oft dagewesen, ein bißchen zu viel um Lisa herumgestrichen war, als diese noch lebte, so sah sie die Sache jedenfalls, und daher hatte sie ihm jetzt die Rechnung präsentiert und alles auf einmal heimgezahlt. Marlène Aramentis forderte Evy auf, den Kopf in den Nacken zu legen. Anaïs bereute nichts.

Ein paar Stunden zuvor, am frühen Morgen, war sie auf die Gefahr hin, sich das Genick zu brechen, in den Baumwipfel geklettert. Auf einfachen Holzsprossen, die direkt auf den Stamm genagelt waren und inmitten des funkelnden Laubs zu den oberen Ästen führten. Früher gelangte man auf einer Strickleiter dorthin, die Richard angebracht hatte, um seine Kinder zu besuchen, wenn er dazu fähig war – [18] nichts war so schön in seiner Erinnerung, nichts so stark wie die Nächte, die er dort mit den beiden unter freiem Himmel verbracht hatte, nur mit einer Decke und einer Creme gegen Mückenstiche ausgerüstet, fern von allem, völlig unerreichbar, in Sicherheit vor dem Chaos und den Kriechtieren, die es damals sehr zahlreich gab.

Anaïs hatte zu der Plattform aufgeblickt und gespürt, wie ihr der Schweiß durch die Kimme rann. Sie war allein. Wenn eine der ziemlich wurmstichigen Sprossen unter ihrem Gewicht nachgab, sie hinabstürzte und sich weh tat, war die Chance, daß man sie fand und ihr zu Hilfe kam, sehr gering, das war ihr klar.

Richard hatte einen alten menschenfeindlichen Hippie namens Dany Clarence, der umgeben von streunenden Hunden auf der anderen Seite des Hügels in einer Art Dschungel aus Dornensträuchern lebte, angeheuert, um ihm zu helfen, sein Vorhaben zu verwirklichen. Er entschied sich für eine große Roteiche, die von einem Dickicht aus Hainbuchen umgeben war und ziemlich abseits stand, um seinen Kindern den Eindruck zu verschaffen, daß man sie dort in Ruhe ließ – er selbst suchte noch immer verzweifelt nach einem Zufluchtsort, wo kein Echo von ernsthaften Dingen mehr an seine Ohren drang –, und nach zwei Wochen harter Arbeit betrachteten sie zufrieden – und völlig erschöpft, was Richard anging – die Früchte ihrer Arbeit. Man gelangte durch eine Klapptür auf die Plattform. Und Laure erklärte ihn für verrückt.

Anaïs war einmal zuvor dort oben gewesen, als sie Lisa kennenlernte, aber nur, um ihr eine Freude zu machen und Hasch zu rauchen, denn ansonsten hatte sie Besseres zu tun, [19] als auf Bäume zu klettern – wo alles knarrte und unter ihrem Gewicht zusammenzubrechen drohte. Außerdem fand sie, daß Lisa aus diesem Alter heraus war und Baumhütten höchstens etwas für ihren Bruder waren. Der Blick beeindruckte sie nicht, der Himmel – der Richard zu Freudentränen hingerissen hatte – beeindruckte sie nicht, wohl dagegen das Interesse, das eine ältere Schwester ihrem jüngeren Bruder entgegenbringen konnte, der ihr zufolge das übrigens in keiner Weise verdiente.

Für Generationen von älteren Schwestern hatte der jüngere Bruder immer und ganz selbstverständlich die Rolle des Prügelknaben eingenommen, Anaïs kannte zahlreiche Beispiele aus ihrer Umgebung dafür, aber dieser Junge schien mehr Glück zu haben als die anderen.

Das verhinderte jedoch nicht, daß er ab und zu eine kleine Abreibung bekam. Evy hatte es nötig, zurechtgewiesen zu werden. Die Welt war noch nicht über ihm zusammengebrochen.

Marlène Aramentis führte ihn ins Badezimmer und sagte immer wieder, daß sie nicht verstehe, wie das geschehen konnte, aber wie hätte sie das schon verstehen können?

Kurz nach Lisas Tod hatte Laure daran gedacht, die Kleider ihrer Tochter loszuwerden und sie dem Roten Kreuz zu geben. Sie war drauf und dran gewesen, die Organisation anzurufen, als Richard plötzlich die Nerven verlor und zusammenzuklappen drohte. Eine Weile später fanden sie schließlich einen Kompromiß, ehe sie sich in ihr jeweiliges Zimmer zurückzogen. Schon am nächsten Morgen in aller Frühe fuhr Richard in die Stadt und brachte fünf dunkelblaue [20] Blechtruhen mit, die er auf dem Rücken vom Auto in Lisas Schlafzimmer trug und anschließend, aber diesmal voll – jede wog mindestens fünfzig Kilo – und mit Vorhängeschlössern versehen, vom Schlafzimmer in den Keller, wo sie noch heute aufeinandergestapelt standen – wie ein mit Lackfarbe gestrichener Sarkophag, ein Monolith, den die Trendels zu vergessen suchten.

Er ruinierte sich bei dieser Arbeit den Rücken. Der Ischiasnerv, der von der Hüfte ausgehend über die Rückseite des rechten Schenkels verlief, versetzte ihm einen unerträglich stechenden Schmerz, sobald er einen Fuß auf die Erde zu setzen oder die Kissen seines Sessels zurechtzurücken versuchte – anscheinend wirkten die schmerzstillenden und entzündungshemmenden Mittel bei ihm nicht mehr, zahlreiche ehemalige Junkies behaupten im übrigen das gleiche. Aber er bereute es nicht, diesen Preis dafür zu zahlen, daß er sich geweigert hatte, die Sachen seiner Tochter wegzugeben und sie in alle Winde zerstreuen zu lassen. Er schrie wie am Spieß, wenn der Nerv eingeklemmt war, sprach von Dolchstößen, Lanzenstichen oder einem heftigen Stromschlag, der ihn erstarren ließ, sobald er nur eine Wimper bewegte, aber hinter diesen Schmerzenstränen, die ihm die Augen verschleierten, lächelte seine Seele, begann für eine Weile wieder zu leben.

Evy fand diesen Kampf jämmerlich. Die Reaktionen seines Vaters nach Lisas Tod, die Zustände, in die er sich bisweilen sogar in der Öffentlichkeit hineinsteigerte, wobei er die Leute mit seinen Tränen überschwemmte und ihnen hemmungslos die Ohren volljammerte, all das haßte Evy zutiefst. Das widerte ihn an.

[21] Er hielt noch immer die Nase hoch, während er in Begleitung von Andreas mit schnellem Schritt fortging, aber die Blutung war gestillt. Sie liefen quer durch den Wald, das Licht übersäte sie mit goldenen Blütenblättern und sprenkelte den Boden, von dem ein starker erdiger Geruch ausging. Je näher sie ans Ziel kamen, desto schneller lief er und zählte mit lauter Stimme die schrecklichen Strafen auf, die Anaïs erleiden würde, wenn sie gelogen hatte, worauf Andreas hinter ihm hinzufügte, daß es völlig unbegreiflich sei, wieso Lisa einen Narren an ihr gefressen hatte.

»Sie ist total bescheuert, diese Zicke«, fügte er hinzu, als sie leicht abgehetzt am Fuß der Roteiche ankamen, auf deren Ästen Richard Trendel zwei Wochen lang mit Hammer und Nägeln herumgeturnt hatte, als seine Kinder noch klein waren.

Ohne etwas darauf zu erwidern, legte Evy seine Tasche auf den Boden und stieg zu der Plattform hinauf und setzte dabei die Füße auf die Sprossen, die Richard aus den Teakholzbrettern der Veranda gesägt hatte, einem Geschenk seiner Eltern – »Diese Scheißveranda«, wie er oft gesagt hatte, »diese beiden bekloppten alten Säcke!«, aber er war nicht fähig gewesen, einen Finger zu rühren, um sie an ihren Verrücktheiten zu hindern und ihrem Altersstarrsinn, ihrem widerlichen, albtraumhaften Optimismus, was ihn und sein eigenes Leben anging, Schranken zu setzen, denn er stand damals unter Methadon und war völlig schutzlos.

Da Evy gesehen hatte, wie sein Vater beim bloßen Einschlagen eines Nagels Schweißausbrüche bekam, beim Zersägen von ein paar Brettern vor Erschöpfung bleich wurde und beim Blick in die Tiefe erschauerte – sich aber weigerte, [22] zuzugeben, daß er sich übernommen hatte, und die Arbeit mit dem Mut der Verzweiflung fortsetzte –, hatte er eine besondere, innige, wenn auch etwas konfuse Beziehung zu dieser Konstruktion. Er kannte jede einzelne Sprosse, wußte, wie ungenau sie angepaßt oder wie uneben sie war. Sie war ihm sogar lieber als die Strickleiter, die sich seinerzeit als unerläßlich erwiesen hatte – nach ein, zwei harmlosen Stürzen hatten manche überbesorgte Eltern Richard inständig gebeten, sein System zu verbessern, wo sie doch gerade erreicht hatten, daß die Bremsschwellen auf der Fahrbahn erhöht und die nächtlichen Patrouillen verdoppelt wurden –, und er klammerte sich noch immer mit einem Gefühl vollkommener Sicherheit und heimlichem Vergnügen an diese Sprossen. Als Richard sich darangemacht hatte, besagte Sprossen anzubringen, war er schon seit langem kaum mehr fähig gewesen, eigenhändig irgendwelche handwerklichen Arbeiten zu verrichten. Evy erinnerte sich, daß sein Vater manchmal mehrere Tage lang untätig in seinem Arbeitszimmer verbracht hatte, mit halb geschlossenen Augen regungslos auf dem Sofa zusammengerollt geblieben war, und daher war der Bau dieser Plattform und ihr akrobatischer Zugang im Dasein der Trendels geradezu ein Wunder und zugleich der Beweis dafür, daß noch nicht alles endgültig in die Brüche gegangen war, doch daß Anaïs den Baum hinaufgeklettert und ihr ganzes Gewicht nur auf den beiden Zimmermannsnägeln geruht hatte, die seit fünf Jahren Sturm und Regen ausgesetzt waren, war kaum vorstellbar.

Evy setzte den Fuß auf die Plattform und sagte sich, daß er die Klapptür mit einem festen Vorhängeschloß versehen müsse.

[23] Es handelte sich um eine große Tupperwaredose, deren Plastikdeckel vergilbt war. Sie enthielt zahlreiche Fotos von Lisa und einige ihrer persönlichen Gegenstände, die Evy gerettet hatte, ehe alles übrige im Dunkel der Blechtruhen verschwand, die im Keller gleichsam Wurzeln schlugen: eine Haarbürste, einen Lippenstift, eine weiße Baumwollbluse, ihre Milchzähne, einen Lederhandschuh – der andere war von der Stahlkufe der Schlittschuhe zersäbelt worden –, ihren Paß, Unterhöschen und ein T-Shirt, das ihr als Nachthemd gedient hatte.

Nichts fehlte, dennoch überprüfte er die Fotos, während Andreas, der inzwischen auch hinaufgekommen war, sich mit den Ellbogen auf die warmen Bretter stützte und in das schwächer werdende orangefarbene Licht blinzelte.

»Das macht sie, um dich zu nerven. Nur um dich zu nerven. Sie ist total bescheuert, das habe ich immer schon gesagt.«

Evy war ratlos, aber auch er fand keine andere Erklärung. Wie viele andere hatte er seit jeher den Eindruck, daß Anaïs nicht ganz normal sei, daß ein so pummeliges Mädchen nicht derselben Welt angehöre wie die anderen und man sich vor ihr in acht nehmen müsse.

Er war schon lange nicht mehr hiergewesen, vielleicht seit einem Monat. Auf jeden Fall wurden die Abstände immer größer. Und plötzlich hatte ihn Anaïs brutal aus seiner Benommenheit gerissen. »Ich brauche deine Erlaubnis nicht«, hatte sie mit herausfordernder Miene erklärt. »Halt dich bloß nicht für den Hüter von irgendwas, hörst du?« Mit achtzehn Jahren hatte Anaïs Delacosta schon Narben im Gesicht. So unglaublich sich das auch anhören mochte. Und [24] Evy hatte keine Lust, schon am frühen Morgen in aller Öffentlichkeit eine Tracht Prügel zu bekommen.

Vermutlich wog er nicht einmal halb so viel wie Anaïs. Er machte sich keine Illusionen. Aber es war besser, die Wut, die ihn erfüllte, bei einer günstigeren Gelegenheit an ihr auszulassen, wenn er sich diese Erniedrigung ersparen wollte. »Darüber sprechen wir später«, hatte er ihr zur Antwort gegeben, ehe er in seinen Klassenraum ging, um eine Kröte zu sezieren.

Er betastete seine leicht angeschwollene Nase. Wie vorhergesehen, war die Auseinandersetzung nicht zu seinen Gunsten ausgegangen, aber er hatte den Eindruck, daß die Botschaft angekommen war.

»Glaubst du, du schaffst das?« seufzte Andreas. »Glaubst du das wirklich? Ist dir auch klar, wie dick die Fettschicht ist, durch die du hindurchmußt?«

Die Hände hinterm Kopf verschränkt, streckten sie sich eine Weile unter dem gleichförmig blauen Himmel in der Sonne aus. Es war nicht mehr ganz so bequem wie früher, denn die Bretter waren aus den Fugen gegangen, aber der Eindruck, in einem Nest zu liegen, dessen Ränder aus rötlichem Laub gebildet wurden, war noch genau der gleiche, und auch wenn sie nicht mehr so stark daran hingen und sich für andere Dinge interessierten, seit sich ihnen eine neue Welt aufgetan hatte, wußten sie dennoch hin und wieder das große Werk von Richard Trendel, der besser unter dem Namen der Fliegende Zimmermann bekannt war, zu schätzen – vor allem wenn sie Hasch und Bier mitbrachten.

Ohne gleich von Magie reden zu wollen, ließ es sich nicht leugnen, daß sogar Michèle ihnen, wenn sie sich dort oben [25] trafen, mit etwas mehr Phantasie einen blies, möglicherweise regten die Sterne sie an oder die mit Chlorophyll gesättigte Luft, wer weiß, oder aber die natürliche Dunkelheit, die von einem reinen, leicht nach Harz duftenden Hauch erfüllt war. »Trotzdem frage ich mich«, fuhr Andreas fort, »ob sie es nicht absichtlich tut. So blöd kann man doch nicht sein. Es ist doch keine Hexerei, ein bißchen cooler zu sein.«

Einer plötzlichen Eingebung folgend, nahm er sein Handy und fragte sie, ob sie nicht kommen wolle, aber sie antwortete, das sei unmöglich, weil ihre Mutter das Geschrei und den Trubel von etwa fünfzehn entfesselten Kindern allein nicht mehr ertrug – die beiden Studentinnen waren in den Swimmingpool geworfen worden und hatten in den Duschen Zuflucht gesucht.

»Du läßt dir eine Gelegenheit entgehen, uns zu zeigen, ob du Fortschritte gemacht hast«, erklärte er ihr.

Er beendete das Gespräch mit einer Grimasse und lockerte seinen Kragen wegen der Hitze, die von dem Bretterboden ausging. Sie hatten einen ungehinderten Blick auf die Wälder. Die Villen, obwohl luxuriös und von ansehnlichen Ausmaßen, waren unsichtbar, in einem Blättermeer in noch lebhaften Farben versunken, Zinnoberrot, Tannengrün und Goldgelb, nur die abschüssige Straße bildete darin eine unnatürlich steile Senkung. Im Winter konnte man zwischen den Stämmen des Hochwalds den See sehen, das Glitzern des reglosen Wassers in der kalten Luft.

Evy warf noch einmal einen Blick auf die Sachen seiner Schwester, dann schloß er die Dose, während Andreas ihm stirnrunzelnd dabei zusah, denn er fand die Sache mit den Reliquien ziemlich morbid – die Freundin seiner Mutter [26] transportierte die Asche ihrer Eltern in Urnen, und das ist wirklich zum Kotzen, finde ich, versicherte er, wenn ich an ihre verkohlten Schädel denke, an ihre verbrannten, in Asche verwandelten Gedärme. Pfui Teufel!

Evy nahm die Dose, deren Verschluß garantiert hermetisch war, wie die Firma seit Beginn der fünfziger Jahre Millionen von Anhängern auf der ganzen Welt bescheinigte – seit dem Tag, an dem Brownie Wise die erste Heimvorführung veranstaltet und die erste Bestellung entgegengenommen hatte –, und schob sie in das schwärzliche, schwammige Astloch, das er zu diesem Zweck geduldig erweitert hatte, und bedeckte die Dose mit einer Handvoll trockener Blätter. Als sie ein paar Jahre zuvor noch regelmäßig hierhergekommen waren, hatten sie dieses Versteck schon für Bierflaschen und das Kraut benutzt, das Anaïs ihnen mit Lisas Zustimmung verkaufte – und dann tobten sie sich in einer Höhe von sieben oder acht Metern über dem Erdboden total zugedröhnt auf einer Plattform aus, deren Geländer nicht höher als fünfzig Zentimeter war, so daß die Besorgnis mancher degenerierter Eltern objektiv gesehen nicht ganz unberechtigt war.

Dadurch, daß Anaïs die Nische, in der Lisas Sachen untergebracht waren, mit ihren gräßlichen Pranken geschändet hatte, bewies sie, daß sie wirklich nichts taugte. Und daß diejenigen, die sie als ein tiefsinniges Wesen, das zu echten Gefühlen fähig war, betrachteten oder sie wenigstens als Vertrauensperson ansahen, sich gründlich irrten.

»Wie wär’s, wenn wir Rasierklingen hineintäten?« schlug Andreas vor.

Es wurde allmählich dunkel, und aus der Ferne drang der [27] Geruch eines Holzfeuers herüber – vermutlich aus der Hütte von Dany Clarence, der gegen die Feuchtigkeit ankämpfte, die schon in den ersten Herbsttagen, ob Altweibersommer oder nicht, den anderen Hang des Hügels einhüllte.

Brigitte, die Frau, die mit Andreas’ Mutter zusammenlebte, seit er vier war, goß den Rasen und rauchte dabei eine Zigarette. Gegenüber tranken die Fortvilles ein Glas Wein mit Freunden, und ihre Kinder rannten von einem Busch zum anderen, als juckte ihnen die Haut. »Na wie geht’s, ihr beiden?« rief ihnen Brigitte zu.

Mit fünfundvierzig verdrehte Laure Trendel noch immer jungen Männern den Kopf – Typen, die von Schauspielerinnen schwärmten und sich vorstellten, diese könnten ihnen in den Sattel helfen –, aber in Wirklichkeit ging es mit ihr abwärts, sie trank zuviel. Judith Beverini und sie mixten sich schon am frühen Nachmittag Cocktails.

Sie war noch schlank. Das stimmt. Sie sah noch gut aus, aber sie hatte harte Gesichtszüge bekommen. Wenn sie das Haar hochsteckte, war die Wirkung noch ergreifender. Sie war jetzt eine blasse, tragische Schönheit voller Bitterkeit und Schmerz, wenn sie zu lange nüchtern blieb.

Der Tod ihrer Tochter hatte sie furchtbar erschüttert. Manchmal kleidete sie sich den ganzen Tag nicht an, schminkte sich kaum, trug eine dunkle Brille. Judith mußte ihre ganze Energie aufbringen, um sie in die Stadt mitzuschleppen. Wenn Richard, der seit dem Drama ebenfalls depressiv war, sich bereit fand, sein Arbeitszimmer zu verlassen, und sie sich begegneten, hatten sie sich oft nichts mehr zu sagen, suchten nach Gesprächsstoff oder tauschten ein [28] paar banale Floskeln aus. Sie kaufte ihm noch immer Slips und Socken, aber sie konnte sich nicht mehr auf ihn verlassen.

Mit ihrem Sohn lag die Sache anders: Sie trug es ihm nach. Sie stand auf der Veranda, die Hüften an das Geländer gedrückt, und telefonierte mit ihrem Agenten.

Sie wechselten einen Blick, als Evy durch das große doppelstöckige Wohnzimmer ging, in dessen Mitte sich ein Kamin befand und das bis auf übermäßig viele Fotos an den Wänden sehr nüchtern eingerichtet war: leicht japanisch inspiriert und mit frischen Blumen geschmückt, die einmal in der Woche geliefert wurden, dem einzigen wirklichen Luxus, auf den die Trendels nie verzichtet hatten, nicht einmal in den finstersten Momenten ihrer finanziellen Schwierigkeiten.

Es war die Woche der Pink-Beauty-Tulpen.

»Was ist denn das für eine Geschichte mit Anaïs?« fragte sie.

Evy wandte sich achselzuckend dem Kühlschrank zu. Der Swimmingpool der Nachbarn war erleuchtet, aber seit dem Sommer badete niemand mehr darin – Patricia und Georges Croze, sie war die erste Geigerin und er der Dirigent des philharmonischen Orchesters, waren von ihrem Urlaub auf den Seychellen mit einer Hautkrankheit zurückgekommen, einer ziemlich abstoßenden Art von Krätze, deretwegen sie sich aus Scham nicht mehr zu zeigen wagten. Der Mond stieg über den Amberbäumen auf, tauchte die Hecken, die die Fahrbahnen der breiten, schillernden Alleen auf dem Hügel voneinander trennten, in silbernes Licht und funkelte in der Ferne in den Fichten, die bis zu der nur noch [29] als pulvrig-rosa Schimmer zu erkennenden Stadt hinabreichten. In einem Winkel des Gartens stand ein kleiner Bungalow, den der frühere Hausbesitzer – der Mann hatte mit Rockmusik ein Vermögen erworben und sich ein größeres Haus gekauft – als Fitnessraum benutzt hatte, um sich in Form zu halten und seine Muskeln zu trainieren. Richard hatte alle Geräte rausgeworfen und das Häuschen in ein Arbeitszimmer verwandelt. Kein Licht drang durch die Fenster.

Evy war ungern mit seiner Mutter allein, aber er hatte nichts gespürt, als er ihr begegnete, keine gespannte Atmosphäre, nichts Unangenehmes in dem Ton, in dem sie ihm die Frage gestellt hatte, falls es also dabei blieb, war die Sache in Ordnung – denn manchmal war die Spannung zwischen ihnen, noch ehe sie ein Wort gewechselt hatten, so entsetzlich groß, daß er in sein Zimmer hinaufgehen, die Tür hinter sich zuschlagen und sie abschließen mußte, um zu vermeiden, daß es zum Streit kam.

Er ging mit einem Teller kalten Hähnchenfleischs an die Bar und setzte sich auf einen Hocker. Das Licht kam aus kleinen Halogenleuchten, die die sanfte abendliche Stimmung in dem Raum nicht störten und nur die Theke beleuchteten, ohne die Gesichter direkt anzustrahlen – ein ausgesprochen neutrales Terrain. Laure behauptete, daß man bei Hähnchen vermutlich das geringste Risiko einging, zumindest wenn sie von einem Bauernhof und nicht vom anderen Ende der Welt stammten, wo alle möglichen Krankheiten zum Ausbruch kamen und weiterhin kommen würden, so wie die Leute dort lebten.

»Soll ich dir eine Mayonnaise zubereiten?« fragte sie.

[30] Sie war also tatsächlich guter Laune. Er lehnte ihr Angebot ab. Sie fühlte sich immer dann besser, wenn Richard nicht da war. Und so richtig gut, wenn zu seiner Abwesenheit noch ein oder zwei gute Nachrichten von ihrem Agenten hinzukamen. Dann konnte man eine etwas ordinäre Falte in ihren Mundwinkeln erkennen, eine Falte des Genusses, wie jedes Mal, wenn man ihr Talent hervorhob oder eine schmeichelnde Bemerkung machte – auch wenn es sich letztlich nur um einen seichten Film fürs Kabelfernsehen oder um eine Werbeveranstaltung für eine neue extraflache Armbanduhr in einem schicken Lokal handelte.

Sie ließ einen Hocker zwischen ihnen frei. Sie steckte sich eine Zigarette an und betrachtete das Profil ihres Sohns, der ihr solche Schwierigkeiten bereitete und mit dem alles so hoffnungslos anders verlief, als sie es sich immer gewünscht hatte. Seit acht Monaten hatte sie nicht ein einziges Mal mit ihm gefrühstückt, aber woher hätte sie schon die Kraft dazu nehmen sollen? Gab es für sie eine andere Lösung, als Schlafmittel zu nehmen? Was sie betraf, ging das Leben nicht weiter, sondern kehrte immer wieder zu demselben Ausgangspunkt zurück. Jeder Tag war Lisas Todestag.

Evy fragte, wo sein Vater sei.

Sie hatte keine Ahnung. Vermutlich kümmerte er sich um die Verbreitung seines letzten Buchs und gab eine Lesung irgendwo auf dem Land oder in einem herbstlichen Seebad.

»Eins möchte ich dir doch sagen: Ich wäre dir dankbar, wenn du dich nicht mit einem Mädchen raufen würdest. Und vor allem nicht im Beisein von Marlène Aramentis, die dann garantiert behauptet, daß ich dafür verantwortlich bin, wenn mit dir irgend etwas nicht stimmt.«

[31] Evy nickte. Er hatte keine große Lust, ein Gespräch anzufangen, und erst recht nicht, dieses Thema mit ihr anzuschneiden. Er fragte sich, wie er es verhindern konnte, daß Anaïs oder wer auch immer noch einmal in seinen Sachen herumwühlte. Sollte er sie an anderer Stelle unterbringen oder ein Mittel finden, um den Zugang zur Plattform zu versperren? Würde ein Vorhängeschloß reichen? Oder was sonst? Er würde über die Sache nachdenken müssen.

»Wenn Lisa noch da wäre, wäre sie bestimmt nicht damit einverstanden gewesen, wie ihr miteinander umgeht. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie damit einverstanden wäre.«

Sie blies den Rauch zur Decke, deren Höhe sich im Halbdunkel verlor. Sie sah zu, wie er einen Joghurt aß.

»Was ist denn bloß in diese arme Anaïs gefahren? Kannst du mir sagen, was los ist?«

Er verzog leicht den Mund.

»Wie soll ich das wissen? Woher soll ich wissen, was in ihrem Schädel vorgeht?«

Richard und Laure hatten sie immer für eine Verrückte gehalten, wie fast alle. Wer interessierte sich schon für Anaïs? Ihnen war letztlich nur eins wichtig, nämlich zu zeigen, daß sie aufgeschlossen waren und daß ein dickes, schlecht gekleidetes Mädchen sie nicht abschreckte. Er glitt vom Hocker und räumte das Geschirr in die Spülmaschine.

»Gehst du nicht mehr weg?« fragte sie zur Ablenkung.

Sie konnte es sich nicht verkneifen, ihm zu sagen, daß sie ein tolles Gespräch mit ihrem Agenten gehabt hatte, und du kennst ja Éric, er ist nicht jemand, der gleich Feuer und Flamme ist, fuhr sie fort, ohne die Begeisterung verheimlichen zu können, die sie erfüllte.

[32] Und daher müsse sie zu einer ersten Kontaktaufnahme in die Stadt fahren. Aber sie sei zuversichtlich, sie fühle sich imstande, ihre Karriere wieder an der Stelle fortzusetzen, an der sie sie unterbrochen habe, und so was spürt man, das weißt du ja, erklärte sie ihm und versuchte dabei seine Gedanken zu erraten, weißt du, so was spürt man einfach. Da täuscht man sich nur selten.

Die Rolle sei wie auf sie zugeschnitten. Mit einem traurigen Lächeln behauptete sie, daß sie besser denn je begreife, wie lächerlich und hohl all das sei, was mit ihrer Karriere zu tun habe, und daher könne sie unmöglich so weitermachen.

»Du wirst es vielleicht nicht glauben, aber ich habe wirklich Talent«, sagte sie etwas beschwingter.

Früher war das Frühstück der einzige Augenblick gewesen, in dem die ganze Familie vereint war – Richard und Laure hatten dafür gesorgt, auch wenn es ihnen schwerfiel, und sich mit heftigen Gewissensbissen daran geklammert, so gut es ging. Jetzt war das alles vorbei, und obwohl sie unter demselben Dach wohnten, vergingen manchmal mehrere Tage, an denen sie sich nicht ein einziges Mal begegneten und es kein Anzeichen dafür gab, daß sie nicht allein lebten und nicht jeder von ihnen der einzige Bewohner dieses Hauses war.

Evy fand die Versuche, sich einander anzunähern, eher peinlich. Wenn sich sein Vater oder seine Mutter bemühten, ihm zuliebe eine vertrauliche Atmosphäre zu schaffen – die selten länger als eine Stunde anhielt –, schämte er sich für sie. In seinen Augen handelte es sich dabei nur um einen unangenehmen Moment, der niemandem etwas brachte und zum Glück schnell vorbeiging, aber ihm war klar, daß seine Stellung seit Lisas Tod etwas wackliger geworden war.

[33] »Schön für dich, oder? Freust du dich darüber?«

Sie nickte, während er sich aufs Sofa setzte und über den niedrigen Tisch gebeugt eine Ausgabe der Vogue durchblätterte, die einen Bericht über Botox-Injektionen enthielt.

Während sich seine Mutter fertigmachte, ging er in den Keller. Er fand weder ein Vorhängeschloß noch sonst etwas, mit dem er die Klapptür verbarrikadieren konnte.

Er erwog erneut die Möglichkeit, die Tupperwaredose anderswo aufzubewahren oder sie irgendwo zu vergraben, aber er konnte sich nicht dazu durchringen. Seine Wut auf Anaïs wurde dadurch noch größer.

Beim Anblick einer Säge kam er auf den Gedanken, die Sprossen anzusägen. Ein Bild zuckte ihm durch den Kopf: Anaïs, die mit in der Luft rudernden Armen in die Leere stürzte. Schließlich hörte er, wie ihn seine Mutter rief.

Und dann erlebte er eine völlig surrealistische Szene.

Laure wartete in der Eingangshalle auf ihn. An jenem Abend ging etwas Strahlendes von ihr aus, was ihn eine Sekunde lang beeindruckte. Sie winkte ihn herbei.

»Komm, gib mir einen Kuß«, meinte sie und blickte ihm fest in die Augen.

Er fragte sich, ob er richtig gehört hatte. Oder ob sie irgend etwas genommen hatte. Sie hatten sich schon seit Monaten nicht mehr berührt.

»Es wird schon alles gutgehen«, sagte er zu ihr. »Keine Panik.«

Sie packte ihn am Ärmel.

»Komm, gib mir einen Kuß. Das brauche ich jetzt.«

Er küßte sie, während sie völlig unerwartet die Arme [34] um ihn schlang. Sie schien einen Augenblick den Boden unter den Füßen zu verlieren und drückte ihn verzweifelt an sich.

»Wir werden es schon schaffen«, flüsterte sie ihm zu. »Wir fangen einfach wieder von vorn an, das verspreche ich dir.«

Evy war total verblüfft. Er starrte auf die glimmenden Dioden der Alarmanlage, die ab und zu an der Wand aufblinkten, und reagierte nicht.

Sie ließ ihn wieder los. Dann zwinkerte sie ihm zärtlich zu und ging hinaus.

Dreißig völlig verrückte Sekunden. Evy stand regungslos im Eingang und spürte noch die Arme seine Mutter, die ihn umschlungen hatten, und ihre Brust, die sie an die seine gepreßt hatte. Er hörte, wie der Motor des Cherokees aufheulte. Aber die Sache hatte auch etwas Positives, denn nichts war schlimmer, als zusehen zu müssen, wie sie ruhelos durchs Haus irrte oder von morgens bis abends mit Judith Beverini tratschte, wenn sie gar keinen Job hatte. Evy drückte ihr die Daumen, damit sie diese Rolle bekam, die sie offensichtlich den Verstand verlieren ließ.

Er setzte sich. Er mochte es, wenn niemand da war und er allein zu Hause war. Dann brauchte er sich nicht in sein Zimmer zurückzuziehen. Er mochte die Schwärze der Nacht hinter der Fensterwand, die tiefe Stille, die ihn umgab, sobald seine Eltern nacheinander – oder gemeinsam zu einem offiziellen Empfang – weggegangen waren. Er nutzte die Stille, um an Lisa zu denken, stellte sich vor, wie sie durchs Zimmer ging oder ein Bier mit ihm trank, wie sie es getan hatte, wenn sie gut gelaunt war, in solchen Augenblicken fehlte sie ihm am meisten und war ihm zugleich so nah, in [35] diesem Haus, in dem sie aufgewachsen waren, ohne die Gefahr zu ahnen, die auf sie lauerte.

Er dachte, daß die Säge gar keine schlechte Lösung sei, vor allem da man ein Vorhängeschloß leicht abreißen konnte, wenn man mit dem entsprechenden Werkzeug ausgerüstet wiederkam. Er schaltete den Fernseher ein und zappte eine Weile, ohne ein interessantes Programm zu finden – die meisten widerten ihn an.

Die Fensterscheiben des Wohnzimmers waren so behandelt, daß man von draußen so gut wie nichts erkennen konnte, und sie waren kugelsicher – vor Groupies sicher, wie ihnen der Rockstar im Vertrauen gesagt hatte. Man sah jedoch die Leute, die von der Allee kamen, sobald sie aus dem Schatten der Amberbäume auftauchten – und hatte somit Zeit, sich davonzumachen, wenn man nicht dazu aufgelegt oder fähig war, Besuch zu empfangen. Die Leute klingelten zunächst, dann legten sie die Hand schirmend über die Augen, drückten mit verzogenem Gesicht die Nase an die Scheibe und versuchten herauszufinden, was im Inneren des Hauses vor sich ging.

Jedenfalls hatte er schon an die Säge gedacht, ehe er Anaïs auftauchen sah.

Diesmal hatte sie auf ihre gräßlichen Shorts aus ausgefranstem Jeansstoff verzichtet, die vor dreißig Jahren der große Hit gewesen waren und die sie aus reiner Provokationslust anzog, um die Verlegenheit zu steigern, die ihr Äußeres bei den anderen hervorrief. Sie trug eine schwarze Hose und ein schwarzes T-Shirt, die ihre Gesichtsfarbe noch milchiger erscheinen ließen und ihre Taille fast erkennbar machten.

[36] Sie klingelte. Und danach rief sie: »Mach auf, du Arsch!«

Er kam der Aufforderung nach, dann drehte er sich um und überließ es ihr, die Tür hinter sich zu schließen.

Sie setzten sich zu beiden Seiten des niedrigen Tischs auf die Sofas. Ohne ein Wort zu sagen und ohne Evy aus den Augen zu lassen, zog Anaïs einen Joint aus purem Gras aus der Tasche, einen von denen, die sie auf Vorrat rollte und einzeln auf dem Schulgelände verkaufte – ihr Vater war der Leiter der Schule. Sie zündete ihn an und sog den Rauch ein, wobei sie die Luft durch die Zähne pfeifen ließ.

»Warum hast du mir nie etwas von den Fotos erzählt?« fragte sie und kniff dabei die Augen zusammen. »Wie kommst du dazu, sie dir anzueignen?«

Sie hielt ihm den Joint hin und blies den Rauch seitlich aus.

»Ich hätte sie genausogut behalten können«, sagte sie nickend. »Verdient hättest du es. Das hätte ich eigentlich tun sollen. Ich kann dir nur sagen, daß ich eine Stinkwut auf dich hatte. Und ich habe sie noch.«

Evy nahm einen Zug und hielt eine Weile die Luft an. Er spürte, wie ihm der Stoff direkt ins Gehirn stieg. Er nahm einen weiteren Zug und gab Anaïs den Joint zurück.

»Und mit welchem Recht?« fragte er.

»Was willst du damit sagen?«

»Was sollte dich dazu berechtigen, sie zu behalten?«

Anaïs hatte die unangenehme Angewohnheit zu glauben, daß ihre unzerstörbare Treue zu Lisa ihr sämtliche Rechte verlieh. Das Recht, alles zu kontrollieren, das Recht, Nachforschungen anzustellen, das Recht, sich als Tempelhüterin aufzuspielen, und das Recht auf praktisch alles, was ihr in [37] den Kopf kam. Evy war der Ansicht, daß all das auf die krankhafte Seite dieses Mädchens zurückzuführen sei.

Gewiß, Lisas Tod hatte sie zutiefst getroffen, sie vermutlich sogar buchstäblich am Boden zerstört, aber was bildete sie sich bloß ein, und wie konnte sie nur derart die Blutbande unterschätzen, wenn sie sich Evy gegenüber als vorrangig betrachtete!

Ihr Stoff war gut. Evy behauptete nicht, daß Anaïs nichts taugte und daß sich unter der dicken, weichen Fettschicht, die sie umgab, nicht ein Mädchen verbarg, das den anderen zumindest ebenbürtig war, aber sie war unzählige Male, und heute war das beste Beispiel dafür, unzählige Male verdammt noch mal zu weit gegangen.

Wie oft wäre es zwischen ihnen fast zu einer Schlägerei gekommen! Wie oft hatte sie ihn gepackt, wie oft hatte er sie mit einem Ruck abgeschüttelt! Wie oft hatten sie sich gegenseitig mit Mordgelüsten angestarrt!

»Kannst du mir mal sagen, warum du mir nie davon erzählt hast? Und warum habe ich nie erfahren, daß du das alles aufbewahrst?«

Evy zuckte die Achseln. Er sah, wie sich Anaïs’ Oberkörper bei jedem Zug aus dem Joint wölbte, wie ihre Wangen einfielen, ihre Augen immer kleiner wurden, er spürte, wie sie bei dem Gedanken daran, hier zu sitzen und die Luft dieses Hauses einzuatmen, eine nostalgische Regung überkam.

Nicht zufällig seufzte sie. »Hör zu, Alter, du hast mich extrem enttäuscht. Deine Haltung hat mich echt enttäuscht.«

Er streckte die Hand aus, um sie daran zu erinnern, daß [38] sie nicht allein war, sonst hätte sie den Joint zu Ende geraucht.

»Einmal mehr«, fuhr sie fort und gab ihn weiter.

Gelbliche Rauchspiralen wanden sich wie Gespenster in der dunklen Stille, die die Pausen füllte.

»Ich habe gesagt, einmal mehr. Okay? Ohne Kommentar.«

Sie hatte alles mit ihm versucht. Denn sie glaubte nicht an die allgemein verbreitete These, daß es sich um einen sinnlosen Unfall handelte, daran konnte sie einfach nicht glauben, da sie sonst befürchten mußte, ihr restliches Leben wie ein Zombie in einem Winkel ihres Zimmers zu verbringen und sich selbst aufzugeben. Und so versteifte sie sich darauf, dieser Wahrheit, die sie nicht ergründen konnte, mit allen Mitteln auf die Spur zu kommen, ihr nachzustellen wie ein Spürhund, und deshalb nahm sie Evy mehr als jeden anderen verbissen ins Kreuzfeuer, bombardierte ihn mit skeptischen Fragen und setzte ihn unter Druck, um sich selbst des Drucks zu entledigen, der ihr wie ein Kloß in der Kehle steckte.

Und so hatte sie das bißchen Sympathie, das er ihr entgegengebracht hatte, inzwischen verloren – und falls noch ein Hauch davon existiert haben sollte, war auch dieser heute endgültig verschwunden.

»Was würdest du denn sagen, wenn ich in deinen Sachen wühlen würde? Dann würdest du mir als erste an die Gurgel springen. Als erste, hörst du?«

Wenn Anaïs auf Gewalt verzichtete und nicht gerade innerlich kochte, wenn sie genug Stoff geraucht hatte und stillschweigend zugab, daß auch sie nicht ohne Makel war, schüttelte sie schließlich den Kopf und wandte den Blick ab.

[39] Sie wußte, daß auch sie einen Teil der Verantwortung trug. Sie hatte sich das Haar buchstäblich büschelweise ausgerissen, als sie jenen verfluchten Abend im Geist wieder an sich vorüberziehen ließ. Sie hatte in ihrer Rolle derart versagt, ihre Aufgabe derart vernachlässigt, als sie Lisa in jenem Zustand weggehen ließ. Evy hatte behauptet, seine Schwester sei wie ein Stein versunken. Brüllend wie ein verletztes Tier hatte Anaïs sich büschelweise die Haare ausgerissen, um sich selbst dafür zu bestrafen, daß sie der einzigen Aufgabe, die ihr in ihrem tristen, elenden Dasein von Bedeutung war, nicht gerecht geworden war. Es war übrigens noch gar nicht so lange her, daß die Haare nachgewachsen waren. Wenn man nur ihren Kopf betrachtete, sah Anaïs gar nicht so schlecht aus.

»Wenn du glaubst, daß ich inzwischen wieder schlafen kann, dann irrst du dich«, seufzte sie.

Anscheinend hatte Lisas Tod mehreren Leuten den Schlaf geraubt. Wenn man ihnen Glauben schenken durfte, kamen sie nicht darüber hinweg – obwohl sie, wie man ihnen ansah, die Sache besser verdauten, als sie gedacht hatten –, aber sie vermieden es jetzt, ihre wenn auch nur sehr vagen Zweifel laut auszusprechen, da sie endlich begriffen und mehr oder weniger akzeptiert hatten, daß Evy nie wirklich sagen würde, was an jenem Tag in den frühen Morgenstunden auf dem See geschehen war.

Anaïs war der Meinung, daß sie einen Schlußstrich unter die Ereignisse jenes Tages ziehen und in Kontakt bleiben sollten. Sie bedauerte ihren Wutausbruch. Mit dem Kinn wies sie auf einen häßlichen Subaru, der unter den Bäumen [40] parkte, und schlug vor, bei Gelegenheit eine Spritztour zu machen. Um nichts in der Welt hätte es dieses Mädchen riskiert, die Brücken zu jenem Menschen abzubrechen, der wußte, was geschehen war.

Als sie fort war lüftete er. Ein Rauchschleier, der in halber Höhe im Raum schwebte, wehte kurz zurück, ehe er verschwand, während die Scheinwerfer des Subarus auf dem Weg vom Hügel hinab durch das Laub streiften.

Evy kehrte in einem Zustand angenehmer Benommenheit in den Keller zurück, um noch eine Stablampe zu holen. Er lächelte. Glaubte Anaïs vielleicht, daß sie das Recht hatte, mit ihrem Schwachsinn fortzufahren? Glaubte sie, daß die Vorwürfe, die sie ihm gemacht hatte, tatsächlich Hand und Fuß hatten und er es wirklich schlucken würde, daß ihr Schmerz darüber, daß sie sich ausgeschlossen fühlte und über die Existenz der besagten Tupperwaredose nicht informiert war, die einzige Begründung und ausreichende Rechtfertigung für die Gemeinheit war, die sie begangen hatte? Nein, nein, alles, was diese ausgeflippte Ziege damit bewirken wollte, das einzige Ziel, das sie mit dem ganzen Theater verfolgte, bestand darin, den Funken auf die eine oder andere Weise am Leben zu erhalten und um jeden Preis zu verhindern, daß die Sache im Dunkel des Vergessens verschwand. Evy war sich jetzt so gut wie sicher, daß er sie haßte, aber das änderte nichts. Das änderte absolut gar nichts.

Durch die Kellerfenster drang der Geruch der Nacht herein. Das Sägeblatt schien brauchbar zu sein, und die Batterien der Stablampe funktionierten wie durch ein Wunder auch noch. Die Blechtruhen boten noch immer einen [41] traurigen Anblick, sie strahlten etwas aus wie Gräber auf einem Friedhof.

Das beste war, sie zu ignorieren. Zu vermeiden, eine Ewigkeit im Keller zu verbringen, das hatten alle begriffen, niemand hatte Lust, sich von einer Gefühlsaufwallung überwältigen zu lassen, die ihr Anblick hervorrufen konnte, niemand hatte Lust, diese Woge auszulösen oder in einer Tränenlache zu baden – ein Typ, der gekommen war, um die Neonröhren auszuwechseln, war sogar laut fluchend draufgesprungen, um nicht von der Leiter zu stürzen, und Laure hatte vor Schreck ihrem Sohn einen entgeisterten Blick zugeworfen, während die Vorhängeschlösser quietschend gegen die Blechwände schepperten.

Das einzige, was ihm Sorgen bereitete, war die Tatsache, daß Anaïs, wenn es hart auf hart ging, die Möglichkeit hatte, die eine oder andere Note in der Akte eines Schülers zu fälschen. Und wie sollte man in diesen schweren Zeiten auf so eine Möglichkeit verzichten? Gras zu finden war letztlich nicht so schwierig, aber eine Zwei in einem Fach zu bekommen, wurde geradezu zu einer Herausforderung.

Er verließ das Haus und achtete dabei darauf, daß die Crozes ihn nicht sahen, die nach draußen geschlichen waren und sich mit ihren Salben, ihrem Puder und ihren Seufzern ohnmächtiger Wut heimlich in der Dunkelheit niedergelassen hatten. Er ging durchs Unterholz, ohne seine Lampe anzuknipsen, denn schimmerndes Mondlicht drang sanft durch das dichte Laub. Aus der Ferne hörte er Gelächter und Musik aus den achtziger Jahren, die bei den meisten Eltern sehr beliebt war.

Er sägte in sechs oder sieben Meter Höhe eine Sprosse fast [42] ganz durch. Dann kletterte er auf die Plattform und atmete etwas frische Luft, die über den Wipfeln wehte. Der Widerhall des Fests schien aus dem Haus von Alexandra Storer zu kommen, die ihren Sohn nach Lisas Tod aufs Internat geschickt hatte.

Am Fuß des Hügels, in etwa drei Kilometer Entfernung, konnte man hinter dem letzten dunklen Waldgürtel ein paar Hochhäuser erkennen, die seit kurzem in den Neubauvierteln hochgezogen worden waren und wie durchsichtige Kerzen auf einer Wolke aus rosa Tüll aus der Dunkelheit auftauchten.

Als er zurückkam, saß sein Vater an der Bar. Der ganze Raum lag im Dunkeln, nur Richard schien in einem Kokon aus gleißendem Licht zu schweben. Er trug einen hellen Leinenanzug, der so zerknittert war, daß es sich wohl nur um eine Koketterie handeln konnte, die darauf abzielte, sein Image als Schriftsteller zu wahren. Er betrachtete sein Glas und drehte es nachdenklich in der Hand.

Infolge der Exzesse der vergangenen Jahre, zweier Klinikaufenthalte und einer Überdosis in einem Zimmer des Berliner Hotels Bristol während einer Lesereise war er vorzeitig gealtert und hatte nie sein athletisches Äußeres wiedererlangt, das nicht ganz unbeteiligt daran gewesen war, daß Laure seinem Charme erlegen war und ihre Hochzeitsreise, eine angeblich ganz heiße Sache, um einen Monat verlängert hatte. Für einen Siebenundvierzigjährigen hatte er ein ziemlich faltiges Gesicht. Er hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Peter O’Toole, aber einem Peter O’Toole mit dunkel umschatteten Augen, einem müden Peter O’Toole, und die letzten Monate hatten ihn noch stärker gezeichnet.

[43] Nach einer Weile spürte er Evys Anwesenheit und wandte den Kopf. Aber es dauerte einen Augenblick, ehe er etwas zu sagen wußte.

»Warst du draußen?« Er stand auf, um aus dem Lichtkegel zu treten, der ihn in eine unangenehme Position versetzte, und schob eine Fenstertür auf, die leise auf den Schienen knirschte. Er horchte auf das Sirren der Insekten, das Flügelschlagen eines Nachtvogels, der von der Zeder aufflog und hinterm Dach verschwand.

Er rauchte auch wie ein Verrückter, filterlose englische Zigaretten, deren Geruch sein Arbeitszimmer für alle Zeiten verpestete. Er zündete sich eine an.

»Ich war bei Alexandra«, sagte er. »Ich habe das Gefühl, daß Patrick es auf eine Zerreißprobe mit seiner Mutter ankommen läßt. Zumindest habe ich das so verstanden. Ich glaube, er hat versucht, sein Internat in Brand zu stecken.«

Ein paar Sekunden lang machte er den Eindruck, als mustere er den in der Finsternis liegenden Garten mit höchster Aufmerksamkeit, dann wandte er sich seinem Sohn zu und zuckte die Achseln.

»Das war eine völlig ungerechte Entscheidung«, seufzte er. »Ich mag Alexandra durchaus gern, aber da hat sie wirklich eine blöde Entscheidung getroffen.«