Morgengrauen - Philippe Djian - E-Book

Morgengrauen E-Book

Philippe Djian

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Beschreibung

Joan lebt schon lange nicht mehr zu Hause, doch als die Eltern bei einem Unfall ums Leben kommen, zieht sie zurück zu ihrem Bruder Marlon. Nun müssen sie sich gegenseitig Familie sein – sie, die sich kaum kennen. Marlon ahnt nicht, was seine Schwester nach Ladenschluss in ihrer Boutique tut – und Joan hat nicht vor, es ihm zu verraten. Denn ihre Kunden können gefährlich sein, auch für Marlon.

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Philippe Djian

Morgengrauen

Roman

Aus dem Französischen von Norma Cassau

Diogenes

Joan wusch sich die Hände, als sie einen Schatten am Fenster vorbeigleiten sah. Nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber sie war zurückgeschreckt.

Marlon, sagte sie, draußen ist jemand.

Sie sah zu ihm hin. Er hatte seinen Kopfhörer auf.

Es war schon seit einer Weile dunkel und nichts mehr zu sehen. Sie schaltete die Außenbeleuchtung ein und ging ums Haus. Alles war still und friedlich. Zuletzt zweifelte sie an dem, was sie gesehen hatte. Moss, der Hund, war mit ihr hinausgegangen und hielt sich ruhig an ihrer Seite. Sie dachte, sie müsse geträumt haben, wohl doch nur ein Schatten.

Es war Mai, wenige Tage zuvor hatte es noch geschneit. Mittags konnte man im T-Shirt unter blauem Himmel sitzen, abends fror man. Es war kälter als in der Stadt, das hier war schon Umland, mit vielen Bäumen, aber zwei Grad weniger.

Sie machte Marlon ein Zeichen, dass sie schlafen ging. Ihre Sachen hatte sie noch nicht alle ausgepackt. Sie konnte sich nicht dazu aufraffen. Sie saß auf dem Bett, ihre Gedanken kreisten.

Als sie am nächsten Morgen im Begriff war aufzubrechen, wurde sie von Sylvie angehalten, ihrer gegenüber wohnenden, hochschwangeren Nachbarin, die ihr erzählte, dass man einen alten Elch erlegt habe, der im Morgengrauen über die verlassenen Wege geirrt und im Nebel über die Kreuzungen galoppiert war.

Angeblich, na ich weiß nicht, grummelte sie, ich krieg davon Bauchschmerzen, diese Idioten, hätten sie den nicht einfangen und in den Wald bringen können, auf die Idee kommen sie nicht mal, und keiner sagt was, manche beklatschen sie sogar, nein, Joan, weißt du, mich macht das krank.

Ganz deiner Meinung, entgegnete Joan, setzte den Blinker und sah in den Rückspiegel, dann fuhr sie los.

Sie hatte sich an den neuen Weg noch nicht gewöhnt. Zwei Wochen zuvor hatte sie noch im Zentrum gewohnt und nur selten einen Fuß vor die Stadt gesetzt. Jetzt brauchte sie eine halbe Stunde, ganz zu schweigen von den Tunneln.

Sie machte die Boutique auf, die sie gemeinsam mit Dora beim Harvard Square führte, Vintage-Kleider, Designermode aus zweiter Hand, ein bisschen Schmuck. Dora, mit ihren strahlenden fünfzig, kam nie vor Mittag, sie erledigte all ihre Telefonate vom Bett aus, dafür blieb sie bis Ladenschluss, so dass sich Joan am Nachmittag freinehmen konnte.

Sie kannten sich seit Jahren und arbeiteten ebenso lange zusammen, und konsterniert fragte Dora sie, wie wohl die Lebenserwartung in einem Vor-Vorort sei für eine junge Frau, die normalerweise auf hohen Absätzen und in kurzen Röcken unterwegs war und nicht in Latzhosen und Stiefeln mit Gummisohle. Joan lächelte bloß, blieb vage. Sie lebte sich gerade erst ein. Sie hatte seit der Beerdigung so viele dringende Dinge zu erledigen gehabt – und ein Ende war nicht in Sicht –, dass noch keine Zeit gewesen war, sich diese Frage zu stellen.

Vor kurzem hatten sie einen Schwung aus den Sechzigern in die Finger bekommen, erstklassige Teile, Abendkleider, die irrsten Blazer in hervorragendem Zustand, und Joan verbrachte einige Zeit damit, sie zu begutachten, auszupreisen, auf Bügel zu hängen, während sie sich zwang, an nichts zu denken – jetzt, so langsam, gelang es ihr.

Seit einigen Tagen stiegen die Temperaturen am späten Vormittag angenehm an, Spaziergänger bevölkerten die Ufer des Charles River, Professoren mit silbernen Schläfen hockten auf Rädern mit sportlicher Schaltung, Studenten lagen zwischen Eichhörnchen im grünen Gras, während andere, im Gleichtakt rudernd, wie Pfeile vorbeischossen. Hier und da schmolzen steinharte, kleine graue Schneehügel vor sich hin.

Dora war es, die ihr erzählte, dass jemand Blumen auf das Grab ihrer Eltern gelegt hatte.

Ich habe keine Ahnung, wer, sagte Dora. Sie hatten nicht nur Feinde, weißt du. Jedenfalls ist es ein schöner Strauß.

Joan zuckte leicht die Schultern.

Jetzt bedaure ich es, sagte sie. Ich hätte öfter vorbeikommen sollen. Ich hatte nur nicht das Gefühl, dass sie Lust hatten, mich zu sehen. Wir haben uns auseinandergelebt. Das beschäftigt mich die ganze Zeit.

Ich weiß. Aber wenigstens einen hast du glücklich gemacht.

Es läuft gut. Es fällt mir leicht, mit ihm zusammenzuleben. Aber es fühlt sich noch sehr neu an.

Sie würden sich freuen, wenn sie euch sehen könnten. Sie wären beruhigt.

Ich mach das nicht für sie. Ich muss mich nur besser organisieren. Er hat mir eine Liste gemacht. Er hat sie aufgenommen. Die geht über fünf Minuten.

Gordon hat ihn vergöttert. Suzan auch, natürlich. Aber er, er war wirklich verrückt nach seinem Sohn. Nachdem du weggegangen warst, hat er ihm seine ganze Liebe geschenkt. Es überrascht mich, dass Marlon keine Reaktion zeigt. Wirklich, mich wundert das sehr.

Er spricht nicht darüber. Ich spüre, dass er keine Lust darauf hat. Es ist wie mit allem anderen, er fragt nicht nach. Er tut, als wäre ich schon immer da gewesen. Er ist nur etwas pedantisch, aber das stört mich nicht groß. Ich lasse ihn das Haus bis auf den Millimeter aufräumen. Ich dachte, das macht ihm Spaß, aber das ist es gar nicht, er nimmt das sehr ernst.

Einmal, am späten Nachmittag, bei Sonnenuntergang, setzte sie sich zu ihm und sah ihm zu. Diese große Sorgfalt, die er an den Tag legte, in der tiefstehenden Sonne, das faszinierte sie. Er schien sich darüber zu freuen, dass sie sich für ihn interessierte.

Reicht es dir nicht bald, fragte sie. Also, ich habe die runden Dosen dahin und die eckigen dorthin sortiert. Ich hoffe, das ist in Ordnung für dich.

Er schüttelte den Kopf.

Es war noch warm, und sie fühlte sich schmutzig. Sie ging rasch unter die Dusche. Seit sie diesen Hitchcock-Film gesehen hatte, zog sie den Vorhang nicht mehr zu. Aber sie schloss die Augen, was auf das Gleiche hinauslief, der Tag hatte sie erschöpft. Sie schreckte auf, als sie Marlon in der Tür entdeckte, der große Augen machte. Sie zog lieber doch den Vorhang vor.

Sie war verwirrt. Während sie sich einseif‌te, fragte sie sich, was für ein Sexualleben er wohl führte. Sicher kein besonders gutes. Da konnte sie nicht viel tun, leider. Aber sie sollte darüber nachdenken. Es war noch ein wenig früh, um die Sache anzugehen. Sie durf‌te es nicht vermasseln. Sie schlüpf‌te in einen Bademantel und ließ ihre Haare draußen trocknen, in den letzten Sonnenstrahlen. Er hatte das Abendessen gemacht. Er war wirklich freundlich, die meiste Zeit. Es lief gut. Sie war froh, erleichtert, dass das Schauspiel, das sie ihm kurz zuvor geboten hatte, ihn nicht weiter beschäftigte. Er war sogar ganz süß. Es sollte nicht allzu schwierig sein, eine Freundin für ihn zu finden.

Mit Moss lief es auch gut. Der Hund hatte sie akzeptiert. Er liebte Marlon wie einen Bruder, aber Joan war seine Herrin geworden, eine Geste, ein Blick, und er gehorchte und folgte ihr überallhin. Jedenfalls fast. Am liebsten mochte er die Spaziergänge im Wald. Mittlerweile hatte Joan sogar selbst Spaß daran. Nach diesen vielen Jahren in der Stadt wusste sie etwas Natur zu schätzen. Zumindest für den Augenblick.

Bald können wir schwimmen gehen, sagte sie. Das Wasser sollte sich langsam aufwärmen. Ich hoffe, wir werden nicht zu viele Mücken haben.

Ich hab welche. Zitronenmelisse, ich hab welche. Kein Problem.

Ich hab mir ein paar Badeanzüge von Mama rausgesucht. Aber nur, wenn es dir nichts ausmacht.

Er zuckte die Schultern. Er hatte eine Erdbeertorte aus dem Tiefkühlfach geholt. Er hatte sich ein Stück abgeschnitten und biss hinein.

Wir müssten die Schwimmreifen wieder aufpusten, sagte sie. Ich weiß nicht, ob du dich an den Badeanzug mit den Streifen erinnern kannst. Sie trug ihn, als ich klein war. Da musst du fünf oder sechs gewesen sein.

Stört mich nicht, meinte er. Ist nicht wichtig.

Als sie mit ihren Tellern hineingingen, wurde es Abend. Dora kam kurz vorbei, um ihr Knöpfe zum Annähen und ein paar Spitzen zum Ausbessern zu bringen, für die sie selbst keine Zeit hatte, sie musste schnell nach Hause, um sich für einen Geburtstagsabend in Beacon Hill fertig zu machen, wo sie Leute treffen würde, die sie gern sehen wollte.

Der Mond ging auf. Sie ließ Marlon fernsehen und nahm die Kleider mit, um in Ruhe zu arbeiten.

Mitten in der Nacht klingelte ihr Telefon, sie schlief nicht. Es war Dora, sie rief von der Party an und wollte ihr einen Freund reichen.

Guten Abend, sagte eine Männerstimme. Ich heiße Howard.

Im Hintergrund hörte sie Musik, die Stimme war nicht unangenehm.

Guten Abend, Howard, antwortete sie. Ein hübscher Name.

 

Dora kannte ihn. Howard hatte ihren Eltern einmal sehr nahegestanden. Du warst aber schon lange weg, als sie sich kennengelernt haben, erklärte sie. Vielleicht bist du ihm später mal über den Weg gelaufen, er kam oft vorbei.

Sie hängten gerade die neuen Sachen ins Schaufenster, die Tür stand offen, nach und nach reicherte sich die Luft mit den ersten Ausdünstungen von süßem Frittiertem und Speck an.

Er ist gerade erst in der Stadt angekommen, fuhr Dora fort. Das mit den Blumen war er. So ist er.

Sie holte ein Foto aus der Tasche und reichte es Joan.

Das ist jetzt gut fünfzehn Jahre her. Wir stehen vor dem Walmuseum auf Nantucket. Howard ist der, der deinen Vater an der Schulter hält, kommt er dir nicht bekannt vor.

Joan schüttelte den Kopf. Sie hatte ihn noch nie gesehen. Sie würde sich an ihn erinnern. Er war eine Art Doppelgänger von Paul Newman.

Du musst ihn dir natürlich fünfzehn Jahre älter vorstellen. Aber ich finde, er hat sich gut gehalten. Ich hatte ihn eine ganze Weile nicht gesehen. Vielleicht hatte er früher etwas mehr Haare, das ist aber auch schon alles.

Es war fast dunkel, als Joan daheim ankam. Wegen eines Mädchens, das die Grippe bekommen hatte und schnell ersetzt werden musste. Obendrein zur Hauptverkehrszeit. Sie dachte an Marlon, der vermutlich zunehmend nervös im Kreis lief bei dem Gedanken, allein zu sein, wenn die Sonne unterging. So war er schon immer gewesen, sie konnte sich sehr gut daran erinnern. Noch heute schlief er mit Licht. Die Angst vor dem hereinbrechenden Abend, dem zur Neige gehenden Tag.

Als sie einparkte, wartete er am Fenster auf sie.

Herrje, Marlon, wie geht’s. Ich wurde aufgehalten, weißt du.

Ich hab auf die Uhr geguckt, sagte er vorwurfsvoll. Ich war ganz alleine.

Es tut mir leid. Aber es ist ja noch nicht finstere Nacht.

Man kann sie sehen. Ich weiß, was ich sage. Da oben glitzert es.

Okay, Marlon, aber jetzt bin ich ja da. Hast du gegessen. Hast du Hunger.

Er schüttelte den Kopf.

Wer ist Howard, fragte sie.

Ihr war, als hätte sie ihm einen Eimer Eiswasser ins Gesicht geschüttet.

Du darfst nicht mit ihm reden, wimmerte er. Nein, nein, nein, nicht reden mit Howard. Nie wieder. Ganz und gar nicht gut.

Sie nickte und berührte ihn am Arm, er beruhigte sich fast umgehend, fixierte seine Füße. Er verfiel mit verblüffender Geschwindigkeit von einem Zustand in den anderen.

Sie wartete, bis er ins Bett gegangen war, um ins Kellergeschoss zu gehen. Hier stand ihr ganzes Zeug. Sie hatte es bisher nicht angerührt. Alles, was Gordon und Suzan über all die Jahre angehäuft hatten. Sie hatte keine Lust gehabt, sich damit zu befassen, geschweige denn die Zeit, es sich anzusehen. Nichts hatte seit dem Unfall seinen Platz gewechselt. Da waren noch die vollen Aschenbecher, die leeren Büchsen auf dem Schreibtisch, die aufgerissenen Kekspackungen. Da waren einige Möbel, ein Schreibtisch, Sessel, gestapelte Stühle, Plakate, Koffer, Kartons, Nippes, Zeitschriften, Metallspinde, das war ihr Hauptquartier, ihre Basis, ihr Königreich, mit Kühlschrank und Kaffeemaschine.

Sie hasste diesen Ort. Früher durf‌te sie hier nicht sein, höchstens, um auf Marlon aufzupassen, während die Erwachsenen in ihrem Schlupfwinkel beschäftigt waren, mit endlosen Diskussionen, ewigen Versammlungen, konspirativen Mienen. Erst musste die Welt gerettet werden. Ihre Tochter, die nahmen sie nicht einmal wahr. Jeden Tag setzte sie sich an ihren Tisch, aber sie war durchsichtig, ihre Eltern waren mit ihren Gedanken woanders, und wenn sie den Mund aufmachte, fielen sie aus allen Wolken.

Am Tag drang Licht durch schmale, mit Gittern versehene Fenster. Man musste auf eine kleine Trittleiter steigen, um sie zu öffnen und den Zigarettenrauch hinauszulassen, der wolkig an der Decke waberte, vor allem im Winter.

Die Computer waren immer noch angeschlossen. Ein feiner Staubschleier hatte begonnen, sich über den Raum zu legen. Sie zog einen Stuhl auf Rollen zu sich heran und setzte sich an den Schreibtisch. Erst jetzt wurde ihr so richtig bewusst, dass ihre Eltern vor zwei Wochen gestorben waren. Sie wusste nicht, wonach sie hier eigentlich suchte. Ach, doch, die Badeanzüge. Sicher war es das. Sie hatten manchmal monatelang nicht miteinander gesprochen. Deshalb war ihre Abwesenheit nicht wirklich etwas, unter dem sie litt. Für einen Moment verharrte sie nachdenklich, den Blick ins Leere gerichtet.

Die Unterhaltung, die sie am Nachmittag mit Dora gehabt hatte, kam ihr wieder in den Sinn. Diese Sache zwischen Howard und ihrer Mutter und der Streit danach. Diese Sache, die völlig an ihr vorbeigegangen war. Sie schämte sich. Sie schämte sich dafür, dass sie zu ihren Eltern auf Distanz geblieben war, dass sie alle der Gleichgültigkeit zwischen ihnen so viel Raum gegeben hatten. Sie war über nichts auf dem Laufenden gewesen. Kaum zu glauben.

Und als sie Dora vorgehalten hatte, sie nicht informiert zu haben, hatte diese schnippisch gekontert, das sei nicht ihre Aufgabe gewesen, das hätte sie schon selbst tun müssen.

 

Was man sagen konnte, war, dass Howard gut vögelte. Sie war schweißnass, ganz erschöpft.

Scheiße, sagte er, neben ihr im Bett liegend, ich kann nicht glauben, dass du das für Geld machst.

Sie zuckte die Schultern.

Er schob nach, dass ihre Eltern nicht wirklich begeistert gewesen wären, hätten sie gewusst, was sie trieb. Und dass überdies noch Dora ihre Finger im Spiel habe, hätte ihnen ganz und gar nicht gefallen.

Aber ich bereue es nicht, sprach er weiter und nickte dazu. Schrecklich, das zu sagen, aber ich bereue es nicht, wirklich. Ich würde lieber das Gegenteil behaupten, aber du würdest mich als Lügner entlarven. Zu Recht.

Ist nicht die schlechteste Art, sich kennenzulernen, sagte sie. Und ich kann meine Miete zahlen.

Ich hätte nicht gerne ein Mädchen haben wollen, murmelte er. Das hätte mich zu sehr mitgenommen.

Während sie sich anzog, schlug er vor, irgendwo draußen noch etwas zu trinken, es war mild.

Nein, nie mit Kunden, antwortete sie.

Er sah ihr schweigend nach, als sie ging. Nichts, was ihm dazu einfiel, schien ihm nennenswert zu sein.

 

In der darauf‌folgenden Gewitternacht gebar Sylvie ihr Baby, eine Woche vor dem Termin, in Steißlage. Sie schrie wie am Spieß. Joan hatte mit ihr auf den Notarztwagen gewartet und noch immer ein Pfeifen im Ohr. Sie fragte sich, ob ihr nicht das Trommelfell geplatzt war. Sylvie hatte ihre Hand nicht loslassen wollen, noch auf den Fluren des Krankenhauses drückte sie fest zu, während in der Ferne der Donner grollte.

Im Morgengrauen, es regnete nicht mehr, ging sie bei Sylvies Haus vorbei, um ein paar Sachen zu holen, ein paar Kleider, die sie in der Eile nicht mehr hatte einpacken können. John, ihr Mann, war in der Zwischenzeit nach Hause gekommen, hatte es aber nicht weiter geschafft als bis zum Wohnzimmersofa, auf dem er zusammengebrochen war.

Andeutungsweise öffnete er ein Auge und schloss es sogleich knurrend wieder, als sie ihm die gute Nachricht überbrachte.

Sie ging nach oben, um eine Tasche zu packen. Das Zimmer war wirklich phänomenal, eine Bonbonniere mit pinkfarbenen, satinbespannten Wänden, ultrakitschiger, püppchenhafter Deko, eine Enklave nach dem Geschmack von Barbara Cartland.

John tauchte in der Tür auf. Er war stellvertretender Sherif‌f. Seine Uniform war zerknittert, er trug noch seine Waffe am Gürtel, und alles an ihm wirkte bleich und schlaff, als wäre er gerade erst dem Grab entstiegen – nur seine blutunterlaufenen Augen waren rötlich.

Wie geht es ihr, fragte er mit dünner Stimme und verzog das Gesicht. Wie war’s.

Ziemlich hart, antwortete Joan, die weiter die Tasche packte. Aber das kann sie dir besser erzählen als ich.

Gut. Sehr gut. War ja nicht so früh geplant. Sag ihr, dass ich vorbeikomme. Ich weiß nicht, wann, aber das krieg ich schon hin. Ich sollte besser nicht zu lange hier herumhängen.

Ich koche Kaffee, sagte sie.

Einverstanden. Ich geh mich ein bisschen frisch machen. Lieber Himmel, das wird ein langer Tag, glaube ich.

Wenige Minuten später gesellte er sich zu ihr in die Küche. Sein Gang wirkte lustlos, aber er hatte die Uniform gewechselt und sich gekämmt. Er fragte sie nach ihrer Meinung zu seinem Zweitagebart, ob der noch akzeptabel sei für einen Polizisten. Sie fand, ja. Der Kaffee war fertig.

Ich weiß, was du jetzt denkst, meinte er und griff zögernd nach seiner Tasse. Du denkst, an meiner Stelle wärst du schon ins Auto gesprungen und zu ihr gefahren. Ich weiß. Aber so einfach ist das nicht.

Das denke ich gar nicht, da täuschst du dich, ich weiß, dass gar nichts einfach ist. Ich hab eine gewisse Erfahrung, weißt du.

Er drehte sich zum Fenster. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber es dämmerte, ein paar ausgefranste goldene Wolken zogen am bläuenden Himmel vorüber, es wurde schnell heller. Joan gähnte beim Gedanken an ihre durchwachte Nacht.

Er nickte. Du hast mich damals umgehauen, sagte er. Ich hab’s dir nie erzählt. Dich einfach so aus dem Staub zu machen. Was das mit mir gemacht hat. Zu sehen, was wirklich mutig ist. Du hast mir damit eine ganz schöne Ohrfeige verpasst. Du warst noch ein Mädchen, du warst jünger als ich. Ich hab gedacht, ich wär ein Stück Scheiße. Das glaube ich übrigens immer noch.

Mutig war das nicht, John. Ich hab sie nicht mehr ertragen, mit Mut hat das nichts zu tun. Ich hab mich so elend gefühlt.

Ich hab dich bei der Beerdigung beobachtet, ich hab an diese ganzen Jahre gedacht, die du nicht da warst, und mir gesagt, sie hat nichts verpasst, das Schlimmste hat sie sich sogar erspart. Zum Schluss waren sie wirklich mies drauf. Die haben sich gar nicht mehr eingekriegt, sich nur noch gezofft und gesoffen wie die Löcher.

Ja, aber ich weiß genug. Dora hat mich auf dem Laufenden gehalten.

Er nickte, dabei blieb sein Blick draußen an etwas hängen.

Da parkt gerade jemand bei dir, meinte er und zeigte mit seiner Tasse in die Richtung von Joans Haus.

Sie trat näher. Sie hatte keine Ahnung, wer das sein konnte. Ein Typ war ausgestiegen. Es war Howard. Sie versteif‌te sich.

Howard, nuschelte John. Das hat noch gefehlt.

Er legte das Fernglas, das er vom Kühlschrank genommen hatte, wieder beiseite.

Weißt du, wer das ist, fragte er.

Ja, ich hab Bilder gesehen. Ich weiß Bescheid.

Er ist schuld, sagte John ernüchtert, er ist schuld an der ganzen Scheiße.

 

Sie hielt sich mit einem Kommentar zurück, wollte die Büchse der Pandora nicht öffnen. Dass Howards Besuch sie irritierte, war allerdings noch untertrieben.

Sie musterte ihn verächtlich, als sie ankam. Sie fragte ihn, ob er aus dem Bett gefallen sei. Ob sie zufällig einen Termin hätten. Und da er nicht antwortete und die Sache anscheinend locker nahm und sie freiheraus anlächelte, drehte sie ihm den Rücken zu und holte ihren Schlüssel hervor.

Hey, wie nett von dir, sagte er belustigt.

Sie warf ihm einen kurzen Blick zu.

Du glaubst wohl, du kannst dir alles erlauben, sagte sie. Mit welchem Recht kommst du frühmorgens zu mir, ohne mir vorher Bescheid zu sagen. Was glaubst du, wo du bist.

Er trat einen Schritt zurück.

Hör mal, ich wusste nicht, wie ich dich erreichen kann. Ich muss mit dir sprechen.

Mag sein, aber jetzt passt es gerade nicht, weißt du. Dass du einfach so vor meiner Tür auf‌tauchst, ich fasse es nicht. Das macht mich fertig, weißt du. Du hast hier nichts zu suchen.

Okay, dann machen wir einen Termin. Ich bringe auch Blumen mit.

Mach das mit Dora aus. Sie führt meinen Kalender. Sie vereinbart meine Termine.

Das meinte ich gar nicht, aber warum nicht, antwortete Howard. Aber das sollte uns nicht davon abhalten, sehr bald etwas trinken zu gehen, damit wir uns mal fünf Minuten in Ruhe unterhalten können.

Das mache ich nicht, das hab ich dir schon gesagt. Bei dem Spielchen haben sich schon viele Frauen die Finger verbrannt. Freundschaftliche Beziehungen enden immer schlecht, das ist bekannt. Mit einem Glas geht es los, und enden tut es mit einem Psychodrama. Nichts für mich.

Du willst das jetzt wohl so. Aber ich bin doch für dich kein Fremder unter Fremden, ich bin doch nicht nur einer deiner Kunden. Jedenfalls dachte ich das.

Weil es dir irgendwelche Vorteile verschafft, dass du mit meiner Mutter geschlafen hast. Weil uns das automatisch zu guten Freunden macht.

Gut, seufzte er, ich sehe, was los ist. Wir sollten darüber sprechen.

Oh, das ist originell, sagte sie.

Sie musterten sich einen Moment. Sie war nicht sicher, ob er verstanden hatte, wo das Problem lag. Sie ging hinein und ließ ihn draußen stehen, ohne ihn weiter zu beachten.

Marlon war noch im Schlafanzug, er stand beim Eingang und nagte verängstigt an seinem Daumen.

Sylvie hat ihr Kind bekommen, sagte sie. Ich muss noch mal hin.

Weil er nicht reagierte, schob sie nach, er geht, Marlon. Alles ist in Ordnung.

Er kreuzte die Hände über dem Kopf, wie um sich zu schützen, und blickte niedergeschlagen drein.

Lächelnd streckte sie ihm eine Hand entgegen.

Mach dir keine Sorgen, sagte sie.

Draußen manövrierte Howard auf dem Weg herum, um zu wenden. Das nächtliche Gewitter hatte die Landschaft gereinigt, der Himmel war von einem sauberen Blau, die Blätter glänzten wie Medaillen an den Bäumen.

Sie wartete ab, bis sich Marlon ganz beruhigt hatte, dann fuhr sie los.

Sylvie war eingeschlafen. Das Baby lag in der Wiege. Joan räumte Sylvies Sachen in den Schrank. Der Raum war erfüllt von einem süßlichen, absolut widerlichen Milchgeruch. Auf den Gängen wurde es lebhaft. Sie sah sich im Spiegel des Fahrstuhls, frisch sah sie nicht aus. Auf dem Weg nach draußen stürzte sie zwei Kaffee runter und aß ein Croissant.

Sie entdeckte ihn im Rückspiegel. Je näher das Zentrum rückte, desto stockender rollte der Verkehr. Langsam fiel es ihr schwer, die Augen offen zu halten. Dennoch griff sie nach ihrer Sonnenbrille, denn die ersten Strahlen leuchteten über die Dächer.

Er folgte ihr bis in den Laden. Um sich zu entschuldigen. Sie sah ihn an und sagte, gut, in Ordnung, sehr gut, du hast Glück, dass es ein schöner Tag ist, da hab ich gute Laune. Er lief los, um ihr einen Kaffee zu holen, der noch dampf‌te, als er damit zurückkam. Währenddessen hatte sie den Laden geöffnet, die Post eingesammelt, den Computer gestartet.

Der Kaffee war gut und bitter nötig. Er lief wieder los und besorgte noch einen.

Weißt du, wir haben nicht nur Politik gemacht, erzählte er. Deine Eltern und ich haben etwas Prägendes zusammen erlebt. Also, wir standen uns sehr nah, verstehst du. Als ich hörte, was mit ihnen passiert ist, hatte ich eine Herzattacke. Ich konnte bei der Beerdigung nicht dabei sein.

Einfach wird das mit Marlon nicht werden, erklärte sie.

Das war ihm bewusst. Marlon machte ihn verantwortlich für Gordons und Suzans Scheitern, wie sollte es auch anders sein.

Dabei hat deine Mutter versucht, es ihm zu erklären, aber das hat nichts gebracht, er hat alles auf mich geschoben. Übrigens bin ich ihm nicht böse, trotz allem nicht, ich kann mich in ihn hineinversetzen. Ich sehe noch, wie er durch den Raum rennt, sich die Ohren zuhält und sich unter den Tisch flüchtet.

Howard vereinbarte mit Joan einen Termin für den nächsten Tag. Er zahlte im Voraus, bar. Einen Teil des Gelds schob sie in ihre Tasche, den anderen Teil legte sie in die Kasse und schrieb alles in ein Notizbuch. Amüsiert sah er ihr dabei zu. Er hatte diesen Blick, den manche Männer haben, wenn sie wissen, dass sie einen gut gevögelt haben, dachte sie, diesen leicht überheblichen Blick, der sie überaus zu befriedigen schien.

Sie gingen nach draußen, um eine Zigarette zu rauchen, an der Sonne, vor dem Schaufenster.

Es wäre phantastisch, wenn ich mal vorbeikommen und mich unten umsehen dürf‌te, sagte er und blinzelte wegen des Lichts. Du weißt schon, Papiere sortieren, in alten Erinnerungen kramen, sprach er weiter und lächelte sie an.

Sie zuckte die Schultern und meinte, dass nichts dagegenspreche und ihr das ohnehin alles zu viel sei.

Nur, wenn es dich nicht stört, sagte er.

Wieso sollte es. Das Papier wandert sowieso in den Müll und die Kleider zum Roten Kreuz.

Es wird sich merkwürdig anfühlen, wieder dort zu sein, ist schon mindestens drei Jahre her. Wir hatten großartige Zeiten zusammen.

Wie war sie denn so, meine Mutter.

Das meinte ich nicht.

Weißt du, ich bin ihre Tochter und habe keine Ahnung, wer sie ist. Deshalb frage ich. Sie ist wie ein Schatten im Nebel.

Sie sprachen oft von dir. Jedes Mal, wenn sie dich sahen, hörte man sie noch zwei Wochen lang davon erzählen.

Ich hätte sie mir nie in den Armen eines anderen Mannes vorstellen können. Auf den Gedanken wär ich nie gekommen.

Hör mal, Joan, ich weiß nicht, was ich dir darauf antworten soll. Allein daran zu denken tut mir schon weh. Das wird immer so bleiben. Aber du warst nicht da, du kannst es nicht wissen. Ich war heftig verliebt, wie vom Blitz getroffen. Man denkt, diese Dinge gibt es nicht, aber doch, es gibt sie. Es ist, als würde man dir einen Stromstoß verpassen. Und ich glaube, Suzan ging es genauso. Sie war zwischen deinem Vater und mir hin- und hergerissen. Eine echte Tragödie. Und jetzt haben mich die beiden Miststücke endgültig verlassen, sie sind weg. Da ist die Depression vorprogrammiert.

Sie hörte ihm noch eine Weile zu, dann traten Kundinnen ein, und sie sagte ihm, er könne ihr den Rest morgen erzählen und wegen Marlon werde sie nachdenken.

Sie schlief beinahe im Stehen, als Dora einige Stunden später kam, um sie abzulösen. Sie erzählte ihr von ihrer durchwachten, ereignisreichen Nacht und von ihren Gesprächen mit Howard.

Mir war nicht klar, dass es so ernst war, vertraute sie Dora an.

Ja, das war für alle drei die große Show. Und sie haben nicht etwa beim ersten Blut aufgehört, wo denkst du hin. Sie doch nicht.

Im Halbschlaf fuhr Joan nach Hause, wo sie einen Teil des Nachmittags verschlief. Nach einer wohltuenden Dusche ließ sie draußen, an der Sonne, ihre Haare trocknen, es war noch mild. Marlon hatte auf Amazon ein kleines Vogelhäuschen gekauft und war gerade dabei, es an einem Ast anzubringen.

Marlon, morgen komme ich später nach Hause, kündigte sie ihm an. Natürlich bevor es dunkel ist. Verlass dich drauf, ich behalte die Zeit im Auge.

Wir haben nicht morgen, sagte er. Noch nicht, oder.

Sie betrachtete ihn, wie er auf seiner Leiter schwankte.

Marlon, diese Art von Diskussion sollten wir nicht haben, sagte sie. Wir waren uns doch einig.

Ja, ja, wir sind uns einig. Alles bleibt so. Wir sind uns einig, wir sind uns einig. Ich sag nichts mehr.

Ich hatte ein Leben, bevor ich hierherkam, stell dir vor, ich hatte Freunde, habe Leute getroffen. Es macht mir Spaß, sie von Zeit zu Zeit zu sehen. Verstehst du das.

Ja. Alles klar. Schon okay.

Das wird mich nicht davon abhalten, pünktlich zu sein. Verlass dich drauf.

Er schrie, als er von seiner Leiter fiel – er hatte einer Möwe nachgesehen, die sich von einem warmen Luftstrom tragen ließ. Sie sprang auf und lief zu ihm, er lag im Gras, unter dem Birnbaum, neben sich das zertrümmerte Vogelhäuschen. Als sie bei ihm ankam, stützte er sich auf einen Ellenbogen. Geht es, Marlon, fragte sie.