Oh... - Philippe Djian - E-Book

Oh... E-Book

Philippe Djian

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Beschreibung

»Oh …«, sagt Michèle nur, nachdem sie in ihrem Haus bei Paris überfallen wurde. Ausgerechnet sie, die knallharte Filmproduzentin, die immer genau weiß, was zu tun ist, verliert jeden Halt. Ein Buch über die beklemmende Hinwendung einer Frau zu einem gefährlichen Mann.

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Seitenzahl: 294

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Philippe Djian

Oh …

Roman

Aus dem Französischen von Oliver Ilan Schulz

Titel der 2012 bei Éditions Gallimard, Paris,

erschienenen Originalausgabe: ›Oh …‹

Copyright © 2012 Philippe Djian et Éditions Gallimard

Die deutsche Erstausgabe erschien 2014 im Diogenes Verlag

Covermotiv: Illustration von Kobi Benezri

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2017

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24372 7 (1.Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60432 0

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

Draußen war es dunkel und die

Umrisse verschwammen. Der Sturm

war weitergezogen und kaum mehr zu

hören, wie ein Karren, der über eine

Brücke donnert und davonfährt.

Eudora Welty, »A Piece of News«, in:

A Curtain of Green

[7] Wahrscheinlich habe ich mir die Wange aufgeschürft. Sie brennt. Mein Kiefer schmerzt. Ich habe eine Vase umgeworfen, als ich hingefallen bin, ich erinnere mich, wie sie auf dem Boden zerbarst, und ich frage mich, ob ich mich nicht mit einem Glassplitter verletzt habe, ich weiß es nicht. Draußen scheint immer noch die Sonne. Es ist warm. Langsam komme ich wieder zu Atem. Ich spüre, dass ich in ein paar Minuten eine schreckliche Migräne bekommen werde.

Vor zwei Tagen bewässerte ich meinen Garten. Als ich zum Himmel aufblickte, erschien mir ein beunruhigendes Zeichen. Eine Wolke mit einer unmissverständlichen Form. Ich sah mich um, ob es sich an jemand anderen richtete, aber da war niemand. Und es war nichts zu hören, nur ich beim Gießen, kein Wort, kein Schrei, kein Lufthauch, kein einziges Maschinengeräusch – dabei ist hier weiß Gott fast immer irgendwo ein Rasenmäher oder Laubbläser im Einsatz.

Im Allgemeinen bin ich für Fingerzeige der Außenwelt sehr empfänglich. Ich kann mich tagelang zu Hause einschließen, keinen Fuß vor die Tür setzen, wenn ich den unsteten Flug eines Vogels – der womöglich noch von einem durchdringenden Schrei oder einem düsteren Krächzen begleitet ist – als schlechtes Omen empfinde, oder wenn ein Strahl Abendsonne durchs Blätterdach fällt und mich [8] merkwürdigerweise mitten ins Gesicht trifft, oder wenn ich mich bücke, um einem auf dem Gehweg sitzenden Mann etwas Geld zu geben, und der mich plötzlich am Arm packt und anbrüllt: »Die Dämonen, die Fratzen der Dämonen… Aber wenn ich ihnen mit dem Tod drohe, ha, dann gehorchen sie mir…!!« – und den Satz stieß er nicht nur einmal hervor, sondern wieder und wieder, ohne mich loszulassen, mit weit aufgerissenen Augen –, da ließ ich, als ich an diesem Tag nach Hause kam, mein Zugticket stornieren, vergaß augenblicklich den Grund für meine Reise und verlor jegliches, aber wirklich sämtliches Interesse daran, denn ich war keine Selbstmordkandidatin und nicht taub für die Warnungen, Botschaften und Zeichen, die man mir schickte.

Mit sechzehn habe ich nach einem Besäufnis bei den Fêtes de Bayonne ein Flugzeug verpasst, das dann abgestürzt ist. Ich habe lange darüber nachgedacht. Danach habe ich mich entschieden, künftig gewisse Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, um mein Leben zu schützen. Ich war zur Überzeugung gelangt, dass solche Dinge existieren, und habe die Spötter spotten lassen. Ich könnte keinen Grund dafür nennen, aber die Zeichen des Himmels erschienen mir stets als die treffendsten und zwingendsten, und eine Wolke in Form eines X – das kommt selten genug vor und hätte umso mehr meine Aufmerksamkeit erregen müssen – kann mich eigentlich nur zur Vorsicht mahnen. Ich weiß nicht, was mit mir los war. Warum hatte meine Wachsamkeit so sehr nachgelassen? Selbst wenn es ein bisschen – eigentlich mehr als ein bisschen – an Marty lag. Ich schäme mich schrecklich. Aber ich bin auch schrecklich wütend. Wütend auf mich selbst. Da ist eine Kette an meiner Tür. Da ist eine verdammte Kette [9] an meiner Tür, habe ich das etwa vergessen? Ich stehe auf und hake sie ein. Ich beiße einen Moment auf meine Unterlippe und verweile regungslos. Außer der zerbrochenen Vase kann ich keinerlei Unordnung entdecken. Ich gehe hoch und ziehe mich um. Vincent kommt mit seiner Freundin zum Abendessen, und ich habe noch nichts vorbereitet.

Die junge Frau ist schwanger, aber das Kind stammt nicht von Vincent. Ich sage nichts mehr dazu. Ich kann ohnehin nichts machen. Ich habe nicht mehr die Kraft, mich mit ihm herumzustreiten. Und auch keine Lust mehr. Als mir bewusst wurde, wie sehr er nach seinem Vater kommt, hätte ich fast den Verstand verloren. Sie heißt Josie. Sie sucht nach einer Wohnung für Vincent und sich selbst, und natürlich für das angekündigte Baby. Als wir über die Mietpreise in der Hauptstadt sprachen, tat Richard so, als bereiteten sie ihm körperliche Schmerzen. Er ging schimpfend auf und ab, das hat er sich so angewöhnt. Mir fällt auf, wie sehr er gealtert, wie freudlos er in den letzten zwanzig Jahren geworden ist. »Hä, ist das für ein Jahr oder für einen Monat?«, meinte er und schaute grimmig. Er sei nicht sicher, ob er das Geld aufbringen könne. Während ich ja seiner Meinung nach ein großzügiges und geregeltes Einkommen beziehe.

Natürlich.

»Du wolltest einen Sohn«, sagte ich zu ihm. »Vergiss das nicht.«

Ich habe ihn verlassen, weil er unerträglich geworden war, und heute ist er unerträglicher denn je. Ich ermuntere ihn immer wieder dazu, wieder mit dem Rauchen anzufangen oder gar zu joggen, um diese mimosenhafte Bitterkeit loszuwerden, die ihn die meiste Zeit umtreibt.

[10] »Nichts für ungut, aber du kannst mich mal«, sagte er zu mir. »Ich bin jedenfalls gerade pleite. Ich dachte, er hätte einen Job gefunden.«

»Keine Ahnung. Sprecht doch mal darüber.«

Auch mit ihm will ich mich nicht mehr herumstreiten. Ich habe mehr als zwanzig Jahre meines Lebens mit diesem Mann verbracht, aber manchmal frage ich mich, woher ich die Kraft dafür genommen habe.

Ich lasse mir ein Bad einlaufen. Meine Wange ist rot und sogar ein bisschen gelb, wie aus Ton, und im Mundwinkel ist ein kleiner Blutstropfen zu sehen. Meine Frisur ist ordentlich durcheinander – ein Gutteil meines Schopfs hat sich aus der Haarklammer gelöst. Ich schütte Badesalz in die Wanne. Eigentlich ist das verrückt, denn es ist schon fünf Uhr nachmittags, und ich kenne Josie, dieses Mädchen, nicht sonderlich gut. Ich weiß nicht so recht, was ich von ihr halten soll.

Dabei herrscht ein unglaublich schönes und sanftes Licht, meilenweit entfernt von jeglichem Gefühl einer Bedrohung. Ich kann es kaum glauben, dass mir so etwas bei einem derart blauen Himmel und derart schönem Wetter passieren konnte. Das Badezimmer ist von Sonnenlicht durchflutet, ich höre Geschrei, Kinder spielen in der Ferne, der Horizont glitzert, Vögel, Eichhörnchen usw.

Wie gut das tut. So ein Bad ist wunderbar. Ich schließe die Augen. Ich kann nicht sagen, dass ich alles ausgelöscht habe, aber ich bin wieder voll bei Sinnen. Die erwartete Migräne bleibt aus. Ich telefoniere mit einem Feinkostladen und lasse mir Sushi kommen.

Ich habe schon Schlimmeres erlebt, und das mit Männern, die ich mir selbst ausgesucht hatte.

[11] Nachdem ich die großen Stücke der Vase aufgelesen habe, staubsauge ich die Stelle, an der ich gestürzt bin – bei dem Gedanken, dass ich hier vor einigen Stunden mit klopfendem Herzen auf dem Boden lag, fühle ich mich wieder ziemlich unwohl. Und als ich mir gerade einen Drink machen will, bekomme ich doch tatsächlich eine Nachricht von Irène, meiner Mutter, die fünfundsiebzig Jahre alt ist und die ich seit einem Monat nicht gesehen habe – geschweige denn gehört. Sie behauptet, sie habe von mir geträumt, ich hätte sie zu Hilfe gerufen – dabei habe ich überhaupt nicht nach ihr gerufen.

Vincent scheint mir meine Geschichte nicht ganz abzunehmen. »Dein Fahrrad hat nicht einmal einen Kratzer«, sagt er zu mir. »Das ist doch irgendwie seltsam.« Ich schaue ihn kurz an, dann zucke ich mit den Schultern. Josie ist knallrot. Vincent hat sie eben grob am Handgelenk gepackt und gezwungen, die Erdnüsse wieder zurückzulegen. Anscheinend hat sie schon über zwanzig Kilo zugenommen.

Sie passen überhaupt nicht zusammen. Richard, der sich damit kein bisschen auskennt, hat mir versichert, dass solche Mädchen im Bett oftmals richtige Feger seien – was soll das denn heißen: ein richtiger Feger im Bett? Derweil sucht sie eine Dreizimmerwohnung mit mindestens hundert Quadratmetern, und in ihrem Wunschviertel findet man in der Größe nichts unter dreitausend Euro.

»Ich habe mich bei McDonald’s beworben«, sagt er. »Das ist schon mal ein Anfang.« Ich bestärke ihn in seinem Entschluss – vielleicht könnte er es aber auch mit etwas Ambitionierterem versuchen? Eine Schwangere zu versorgen ist teuer. »Lass dir das gesagt sein«, hatte ich zu ihm gesagt, noch [12] bevor er sie mir vorstellte. »Ich habe dich nicht nach deiner Meinung gefragt«, hatte er mir geantwortet. »Ich pfeif auf deine Meinung.«

So redet er mit mir, seit ich seinen Vater verlassen habe. Richard ist ein hervorragender Schauspieler. Und Vincent sein dankbarster Zuschauer. Als wir vom Essen aufstehen, mustert er mich erneut misstrauisch: »Was ist nur mit dir los? Da stimmt doch was nicht.« Ich denke natürlich ständig daran, während des gesamten Essens hat es mich nicht losgelassen. Ich frage mich, ob die Wahl zufällig auf mich gefallen ist oder ob mir jemand nachgestellt hat, ob es eine Person ist, die ich kenne. Ihre Probleme mit Mieten oder Kinderzimmern interessieren mich nicht, aber ich staune, wie sie sich abmühen, ihr Problem, soweit es irgend möglich ist, zu meinem zu machen. Ich mustere ihn kurz und versuche mir sein Gesicht vorzustellen, wenn ich ihm erzählen würde, was mir heute Nachmittag passiert ist. Aber das fällt nicht mehr in meinen Bereich. Mir die Reaktionen meines Sohnes vorzustellen steht nicht mehr in meiner Macht.

»Hast du dich geprügelt?«

»Geprügelt, Vincent?« Ich pruste kurz los. »Geprügelt?!«

»Hast du dich mit jemand gekloppt?«

»Oh, also wirklich, red kein dummes Zeug. Es ist nicht meine Art, mich zu ›kloppen‹. Mit wem auch.«

Ich stehe auf und gehe zu Josie auf die Veranda. Der Abend ist angenehm kühl, dennoch fächelt sie sich Luft zu, weil sie fast umkommt vor Hitze. Die letzten Wochen sind die schlimmsten. Nicht um alles in der Welt hätte ich es noch mal durchmachen wollen. Ich hätte mir den Bauch aufgeschlitzt, um meinen Qualen ein Ende zu setzen. Vincent [13] weiß das. Ich habe nie versucht, diese Zeit schönzureden. Ich wollte immer, dass er das weiß. Und dass er es nicht vergisst. Meine Mutter hat mir das auch erzählt, und ich bin nicht daran gestorben.

Wir schauen zum Himmel hinauf, zu seinen funkelnden Sternen in der Dunkelheit. Ich beobachte Josie aus dem Augenwinkel. Ich habe sie nur ein paarmal so beobachten können und weiß nicht viel. Sie ist nicht unsympathisch. Sie tut mir leid, denn ich kenne Vincent, meinen Sohn, aber sie hat etwas Festes, eine nüchterne Hartnäckigkeit, und ich glaube, wenn sie sich Mühe gibt, kann sie es schaffen. Ich spüre, dass sie robust ist, dass etwas in ihr schlummert.

»Im Dezember ist es also so weit«, sage ich zu ihr. »Langsam wird’s ernst.«

»Er hat recht«, sagt sie. »Sie sind ganz durcheinander.«

»Ganz und gar nicht«, sage ich. »Alles in Ordnung. Er kennt mich schlecht.«

Ich schließe die Tür hinter ihnen ab. Mit einem Fleischbeil in der Hand durchstreife ich das Erdgeschoss, prüfe die Fenster und Türen. Ich sperre mich in meinem Zimmer ein. Als der Morgen heraufdämmert, habe ich immer noch kein Auge zugetan. Der kommende Tag wird blau und strahlend. Ich ziehe los zu meiner Mutter. In ihrem Wohnzimmer begegne ich einem jungen Typen, durchtrainiert, aber durchschnittlich.

Ich frage mich, ob mein Angreifer gestern so ähnlich aussah – ich erinnere mich nur an eine blaue, vielleicht auch rote Maske mit zwei Löchern für die Augen –, ob er so ähnlich aussah wie dieser selbstzufriedene Typ, der mir zuzwinkert, als er die Wohnung meiner Mutter verlässt.

[14] »Wie viel zahlst du denen eigentlich, Mama? Das ist doch deprimierend…!«, sage ich. »Könntest du nicht mal was anderes probieren? Keine Ahnung, versuch es mit einem Intellektuellen oder einem Schriftsteller. Du brauchst doch keinen Hengst, oder? In deinem Alter.«

»Red du nur. Ich brauche mich nicht zu schämen für mein Sexualleben. Du bist einfach nur ein kleines Miststück. Dein Vater hat recht.«

»Hör auf, Mama. Lass mich in Ruhe mit ihm. Er ist da, wo er hingehört.«

»Was redest du da, Dummerchen?! Er ist überhaupt nicht da, wo er hingehört. Er wird verrückt.«

»Er ist verrückt. Frag seinen Psychiater.«

Sie stellt mir ein Frühstück hin. Ich glaube, sie hat sich etwas machen lassen seit dem letzten Mal. Oder sich auch nur botoxen lassen oder irgendwas, ist ja egal. Sie hat ihr Leben radikal geändert, seit ihr Mann – der leider auch mein Vater ist – eingesperrt ist, selbst wenn sie sich anfangs noch für wohltätige Zwecke einsetzte. Eine richtige Sexbesessene. In den letzten Jahren hat sie viel Geld für Schönheitschirurgie ausgegeben. Im Zwielicht macht sie mir manchmal Angst.

»Wunderbar. Warum bist du hier?«

»Warum ich hier bin? Du hast doch angerufen, Mama.«

Sie sieht mich an, keine Reaktion.

Nach einer Weile beugt sie sich zu mir herüber und sagt: »Überleg dir deine Antwort gut. Antworte nicht leichthin. Überleg sie dir gut. Was würdest du sagen, wenn ich noch mal heiraten würde? Überleg dir, was du sagst.«

»Ich würde dich umbringen, ganz einfach. Da gibt’s nichts zu überlegen.«

[15] Sie schüttelt leicht den Kopf, schlägt ihre Beine übereinander, zündet sich eine Zigarette an.

»Du hast dir immer eine aseptische Welt gewünscht«, sagt sie zu mir. »Das Düstere, das Anormale, davor hast du dich immer gefürchtet.«

»Ich würde dich umbringen. Dein Gefasel kannst du dir sparen. Jetzt weißt du Bescheid.«

Bis dahin hatte ich ein Auge zugedrückt. Ihre Libido hat mich zwar immer erstaunt, und ich billige sie nicht – mehr noch: ich finde sie ziemlich abstoßend –, aber ich hatte beschlossen, mich in diesem Punkt offen und liberal zu verhalten. Wenn das die Art ist, wie sie ihr Leben auf die Reihe kriegt, bitte – die Details will ich gar nicht wissen. Wunderbar. Aber wenn die Sache auf einmal allzu ernst wird und wir uns möglicherweise auf unsicheren Boden begeben wie jetzt mit dieser Heiratsgeschichte, tja, dann greife ich ein. Wer ist diesmal der Glückliche? Wen hat sie kennengelernt? Wer ist eigentlich dieser Ralf – denn der Kerl hat einen Namen –, der plötzlich ins Bild tritt und es verdunkelt?

Einen Anwalt, der angeblich verrückt nach ihr war, habe ich abgewimmelt, indem ich ihm erklärte, sie sei positiv getestet, und einen Agenturdirektor, als ich ihm die Wahrheit über unsere Familie erzählte – was immer wie eine kalte Dusche wirkt –, dabei hatten die beiden noch nicht einmal um ihre Hand angehalten.

Ich glaube nicht, dass ich etwas so Groteskes zulassen kann. Eine Fünfundsiebzigjährige. Ihre Hochzeit, das Brautbukett, die Flitterwochen. Sie sieht aus wie eine dieser furchterregenden, rundumerneuerten alten Schauspielerinnen mit [16] ihren gestrafften Brüsten – 5000Euro das Paar – und ihren glänzenden Augen im kräftig gebräunten Gesicht.

»Ich würde gern wissen, wer in den nächsten Jahren meine Miete bezahlt«, seufzt sie schließlich. »Kannst du mir das sagen?«

»Ich natürlich. Wie bisher auch, oder?«

Sie lächelt, obwohl sie ganz offensichtlich ziemlich verärgert ist.

»Du bist so was von egoistisch, Michèle, es ist zum Fürchten.«

Ich nehme die Brotscheiben aus dem Toaster, bestreiche sie mit Butter. Ich habe meine Mutter über einen Monat nicht gesehen und möchte schon wieder weg.

»Und wenn dir etwas zustößt?«, sagt sie. Am liebsten würde ich antworten, dieses Risiko müsse man eben in Kauf nehmen.

Ich mache einen Toast mit Himbeermarmelade. Bestreiche ihn überreichlich. Mit Absicht. Fast unmöglich, dass es einem nicht auf die Finger tropft. Ich halte ihn ihr hin. Sie zögert. Es sieht aus wie geronnenes Blut. Sie schaut das Ding einen Moment an und sagt zu mir: »Michèle, ich glaube, er wird nicht mehr lange unter uns sein. Das solltest du wissen, glaube ich. Dein Vater wird nicht mehr lange unter uns sein.«

»Sehr gut, dann sind wir ihn los. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.«

»Du musst dich nicht immer so unerbittlich geben… Tu nichts, was du dein ganzes Leben lang bereuen wirst.«

»Wie bitte? Was soll ich denn bereuen? Spinnst du?«

»Er hat dafür bezahlt. Er sitzt seit dreißig Jahren im Gefängnis. Das ist alles weit weg.«

[17] »Finde ich nicht. Ich finde nicht, dass es weit weg ist. Wie kommst du auf so einen Unsinn? Weit weg. Empfindest du das so? Willst du ein Opernglas?« Mir kommen die Tränen, als hätte ich einen Löffel voll scharfen Senf geschluckt. »Ich denke nicht daran, ihn zu besuchen, Mama. Keine Sekunde. Vergiss es. Für mich ist er schon lange tot.«

Sie wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu, dann dreht sie sich zum Fenster. »Ich weiß nicht einmal, ob er mich noch erkennt. Aber er fragt nach dir.«

»Ach ja? Und was soll mir das ausmachen? Meinst du wirklich, das macht mir was aus? Seit wann spielst du den Boten für ihn?«

»Warte nicht länger. Mehr habe ich nicht zu sagen: Warte nicht länger.«

»Niemals werde ich einen Fuß in dieses Gefängnis setzen, hörst du? Es besteht nicht die geringste Chance, dass ich ihn besuche. Die Erinnerung an ihn verblasst allmählich, und ich wäre froh, wenn sie endlich vollständig verschwinden würde.«

»Wie kannst du so etwas sagen? Das ist ja schrecklich.«

»Ach bitte, erspar mir dein Geschwätz. Verschon mich. Dieser Besessene hat schließlich unser Leben zerstört.«

»Es war nicht alles schlecht und auch nicht alles böse an ihm, im Gegenteil. Das weißt du ganz genau. Du könntest ein bisschen Mitleid mit ihm haben.«

»Mitleid? Jetzt begreif es endlich, Mama. Ich empfinde kein Mitleid für ihn. Nicht das geringste. Ich will, dass er den Rest seiner Tage da bleibt, wo er ist, und ich werde ihn ganz sicher nicht besuchen. Vergiss es.«

Sie weiß nicht, dass er mir im Traum erscheint. Genauer [18] gesagt, sehe ich nur seine Silhouette, seine flimmernde Schwärze im Zwielicht. Sein Kopf und seine Schultern heben sich ab, aber ich kann nicht erkennen, ob ich ihn von vorn oder von hinten sehe, ob er mich anschaut oder nicht. Er scheint zu sitzen. Er spricht nicht mit mir. Er wartet. Und wenn ich aufwache, habe ich dieses Bild, diesen Schatten, noch vor Augen.

Ich werde den Gedanken nicht los, dass ein Zusammenhang bestehen könnte zwischen dem Überfall auf mich und den Machenschaften meines Vaters – meine Mutter und ich fragen uns das jedes Mal, wenn uns eine Prüfung auferlegt wird, denn schon früher waren wir oft Spuckattacken und Prügeln ausgesetzt gewesen, nur weil wir seine Frau und seine Tochter waren. Von einem Tag auf den anderen hatten wir alle unsere Bekannten, Nachbarn und Freunde verloren. Als hätte man uns ein Zeichen auf die Stirn gebrannt.

Ich habe schon alles erlebt – anonyme Anrufe, nächtliche Beschimpfungen, obszöne Briefe, vor unserer Tür ausgeleerte Mülltonnen, Wandschmierereien, Rippenstöße im Postamt, Demütigungen beim Einkaufen, eingeworfene Scheiben, mich kann nichts mehr überraschen. Niemand kann mir garantieren, dass alle Glut erloschen ist, dass nicht jemand in einem dunklen Winkel das nächste Komplott schmiedet, das über uns hereinbrechen wird. Wie könnte ich da an Zufall glauben?

Am selben Abend bekomme ich eine Nachricht – »Ich fand dich ziemlich eng für eine Frau in deinem Alter. Aber was soll’s.« – und falle aus allen Wolken. Das verschlägt mir die Sprache. Ich lese sie noch zwei- oder dreimal, dann schreibe ich zurück: »Wer sind Sie?«, erhalte aber keine Antwort.

[19] Ich verbringe den Morgen und einen Teil des Nachmittags damit, Drehbücher zu lesen, die sich neben meinem Schreibtisch stapeln. Das wäre auch eine Spur, sage ich mir, ein junger Autor, den ich runtergemacht habe und der mir das über alle Maßen übelnimmt.

Auf dem Weg habe ich bei einer Waffenhandlung gehalten und ein paar Dosen Pfefferspray gekauft. Das kleine Modell ist sehr praktisch und kann mehrmals verwendet werden. Als ich jünger war, benutzte ich es regelmäßig. Ich war extrem schnell und scheute mich nicht, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren, ich war sehr beweglich. Über die Jahre hatte ich dazugelernt, ich war geschickt im Ausweichen und eine recht gute Läuferin, einmal um den Block schaffte ich in weniger als zwei Minuten. Heute geht das nicht mehr. Aus und vorbei. Aber zum Glück muss ich heute nicht mehr davonrennen. Ich könnte auch wieder zu rauchen anfangen, wenn ich wollte, wer würde sich schon darum scheren?

Am späten Nachmittag unterbreche ich meine triste Lektüre.

Es gibt nichts Schlimmeres als dieses Gefühl vergeudeter Zeit, wenn man ein schlechtes Manuskript zur Seite legt. Eines von ihnen fliegt quer durch mein Arbeitszimmer und landet in einem Zweihundert-Liter-Mülleimer, den ich eigens dafür angeschafft habe. Manchmal schmerzt all diese verlorene Zeit. Manchmal ist das Zeug so schlecht, dass man Lust hat zu heulen. Gegen siebzehn Uhr denke ich wieder an meinen Vergewaltiger, denn achtundvierzig Stunden vorher, genau um diese Zeit, hat er es ausgenutzt, dass ich mit Marty beschäftigt war, hat meine Tür aufgebrochen und ist in mein Haus eingedrungen wie ein Springteufel.

[20] Dann begreife ich plötzlich – er hat mich beobachtet. Den richtigen Moment abgewartet. Mich beobachtet. Für einen Moment bin ich sprachlos.

Ich gehe ins Büro, schaue meine Post an, rufe meine Nachrichten ab, ich erledige ein paar Anrufe und gebe ein paar Anweisungen. Anna kommt kurz rüber, um mit mir zu reden, und am Ende unseres Gesprächs sagt sie zu mir: »Ich finde jedenfalls, du machst ein komisches Gesicht.«

Ich tue so, als würde ich aus allen Wolken fallen. »Ganz und gar nicht. Im Gegenteil. Schau nur, was für ein schöner Tag, wie wunderbar die Sonne scheint.«

Sie lächelt. Anna wäre sicherlich die, mit der ich am ehesten darüber sprechen könnte, wenn ich das wollte. Wir kennen uns schon so lange. Aber irgendetwas hält mich davon ab. Mein Verhältnis mit ihrem Mann?

Ich gehe zu meiner Frauenärztin, lasse die notwendigen Untersuchungen machen.

Vincent ruft mich an und fragt, ob ich nicht wenigstens für ihn bürgen könne. Ein paar Sekunden lang sage ich nichts.

»So grob, wie du zu mir warst, Vincent…«

»Ja, ich weiß. Schon klar, verdammt, entschuldige.«

»Ich kann dir das Geld nicht geben, Vincent. Ich spare für meine Rente, ich will dir später nicht auf der Tasche liegen. Ich könnte es nicht ertragen, dass du für mich arbeitest. Dass ich dir zur Last falle.«

»Ja, schon gut, ich hab’s kapiert. Aber Mama, verdammt, bürg wenigstens für mich.«

»Du kommst immer nur zu mir, wenn du was brauchst.«

Ich höre, wie er mit dem Hörer auf irgendetwas eindrischt. Schon als Kind war er jähzornig. Ganz der Vater.

[21] »Mama, verdammt, was ist jetzt: ja oder nein?«

»Hör auf zu fluchen. Wie redest du überhaupt?«

Wir machen einen Termin mit dem Vermieter aus. Die Konjunkturflaute verunsichert die Wirtschaft so stark, dass ein einfacher Vorgang wie das Unterschreiben eines Mietvertrags zu einem Feuerwerk gegenseitigen Misstrauens wird, also bitte antreten mit Familienbuch, Personalausweis, verbrieftem Jahreseinkommen, Bescheinigungen, Fotokopien, eidesstattlichen Erklärungen, Versicherungen, Akten, handschriftlichem Anschreiben, Geburtsurkunde samt Religionszugehörigkeit und noch etlichen weiteren Ansprüchen des Vermieters im Hinblick auf das möglicherweise nachfolgende Chaos. Ich frage, ob es sich um einen Scherz handelt, aber die meinen das ernst.

Als wir rauskommen, sagt Vincent, dass er mir etwas zu trinken spendieren will, und wir gehen in eine Bar. Er bestellt ein hawaiianisches Bier und ich einen trockenen Weißwein aus Südafrika. Wir stoßen darauf an, dass er jetzt glücklicher Mieter einer 65Quadratmeter großen, nach Süden ausgerichteten Dreizimmerwohnung mit kleinem Balkon ist, für die ich die Bürgschaft übernommen habe.

»Du weißt, was das bedeutet, Vincent. Also steh zu deiner Verantwortung. Wenn du deine Miete nicht zahlst, muss ich dafür aufkommen, und das würde ich nicht sonderlich lang durchhalten, hast du mich verstanden, Vincent, das ist kein Spiel, und es geht nicht nur um euch, ich spreche für mich und auch für deine Großmutter, für die ich ebenfalls die Miete übernehme, wie du weißt. Sie sind gerade extrem empfindlich, Vincent, sie lassen nichts durchgehen. Sie können im Nu dein Konto sperren, dich auf deine Kosten vor [22] Gericht zerren, dir ohne auch nur im Geringsten zu zögern deine Sachen wegpfänden, dich demütigen und so weiter. Eins solltest du dir immer vor Augen halten: Leute, die mit Reis oder Weizen spekulieren, haben schon genug Blut an den Händen kleben, denen macht es nichts aus, wenn noch mehr fließen muss.«

Er blickt mich eine Weile an, dann sagt er lächelnd: »Ich habe mich verändert, aber du merkst es nicht.«

Ich möchte ihm so gern glauben. Ich möchte ihn in meine Arme nehmen und ihn zum Dank mit Küssen überhäufen. Aber ich warte erst mal ab.

Ich habe ein Meeting in meinem Büro, es sind ungefähr fünfzehn Teilnehmer. In den letzten Monaten ist die Stimmung bei diesen wöchentlichen Sitzungen angespannt, denn seit sie aus den Ferien zurück sind, liefern sie nur noch schlechte Arbeit ab. Kein einziger irgendwie origineller oder starker Stoff ist mir seither angeboten worden, und ihre betretenen Gesichter – nachdem ich ihnen große Komplimente gemacht, Bewunderung für ihr außergewöhnliches Schreibtalent geheuchelt habe – widern mich an.

Es sind etwa zehn Männer da. Vielleicht ist es einer von ihnen? Vielleicht gibt es einen darunter, dessen Arbeit ich besonders heruntergemacht habe, ganz unbewusst übrigens, denn alles, was ich gelesen habe, verschwimmt für mich in derselben jämmerlichen Durchschnittlichkeit. Mir fällt aber nichts auf. Nicht ein Blick, von dem ich behaupten könnte, er sei von dem Typ, der sich in aller Ruhe an mir vergangen hat. Noch vor kurzem war ich mir sicher, dass ich ihn selbst samt seiner Maske erkennen würde, wenn er da wäre, dass mein ganzer Körper zittern und beben, sich alles in [23] mir aufstellen würde. Jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher.

Als alle aufstehen und gehen, begleite ich sie hinaus und mische mich unter sie, bewege mich so, dass ich sie streife, mache mir die Enge des Gangs zunutze und entschuldige mich flüchtig für eine zufällige Berührung, aber ich bemerke nichts, erkenne keinen Geruch und kein Parfum, ich schlendere unauffällig vom einen zum anderen, ermuntere sie, bis nächste Woche ihr Bestes zu geben, wenn sie ihren Job behalten wollen – und darüber macht heute niemand mehr Witze –, aber ich bemerke nichts, keine Spur.

Schließlich erzähle ich Richard davon. Von meiner schrecklichen Geschichte.

Er wird blass, dann steht er auf und holt sich etwas zu trinken.

»Findest du mich ungewöhnlich eng?«, frage ich.

Er stößt einen langen Seufzer aus und setzt sich kopfschüttelnd neben mich. Dann nimmt er meine Hand und hält sie schweigend.

Wenn ich jemals tiefe Gefühle für einen Mann empfunden habe, dann waren sie Richard vorbehalten. Deshalb habe ich ihn auch geheiratet. Und noch heute gibt es diese Kleinigkeiten – wenn er zum Beispiel meine Hand nimmt oder wenn in seinen Augen Besorgnis aufblitzt und er meinen Blick sucht, wenn also aus einem Meer wechselseitiger Unverträglichkeiten plötzlich diese Inseln der Zuneigung, der puren Harmonie aufragen –, bei denen ich sehr wohl den Widerhall dessen spüre, was wir einige Jahre lang füreinander gewesen sind.

Ansonsten verabscheuen wir uns. Also, er verabscheut [24] mich. Daran, dass er seine Drehbücher nicht verkaufen kann und deshalb fürs Fernsehen bei schrecklichen TV-Produktionen und unmöglichen Programmen mitarbeiten muss, noch dazu mit einem Haufen Idioten, bin ich angeblich mit schuld. Ich tue nicht, was notwendig wäre, meint er, ich hätte niemals auch nur den kleinen Finger gerührt, ich ließe meine Beziehungen nicht spielen, ich hätte mich von Anfang an nicht richtig reingehängt, ja eigentlich gar nicht reingehängt, blablabla. Es ist unerträglich. Die Kluft wird tiefer.

Ich bin selbst nicht in der Lage, ein Drehbuch zu schreiben, dafür habe ich wirklich kein Talent, aber ich kann ein gutes Drehbuch erkennen, wenn ich eins in die Finger bekomme, da muss ich niemandem mehr was beweisen, dafür bin ich bekannt – wenn Anna Vangerlove nicht meine Freundin wäre, hätte ich mich schon längst an die Chinesen und ihre verfluchten Headhunter verkauft. Aber Richard hat nie ein gutes Drehbuch geschrieben, das weiß ich, ich kenne ihn gut genug. Ein bisschen zu gut wahrscheinlich.

»Ich würde nicht sagen, dass du eng bist«, sagt er lakonisch, »ich würde aber auch nicht sagen, dass du es nicht bist. Soweit ich weiß, bist du so dazwischen.«

Es steht eine unausgesprochene Botschaft im Raum, aber ich habe keine Lust, mit ihm zu schlafen, jetzt nicht. Bisweilen, wenn auch nur ganz selten, erlauben wir uns diese kleinen Verstöße. Nach zwanzig Jahren Beziehung kommt es nicht alle Tage vor, dass man zur selben Zeit in Stimmung ist.

Ich sehe ihn an und zucke mit den Schultern. Händchenhalten reicht eben manchmal nicht – dieser Mann muss noch viel lernen.

Er starrt mich an und verzieht dabei das Gesicht. »Ich [25] habe nicht die Krätze«, sage ich und lache laut. Er soll jetzt gehen. Die Dämmerung bricht an, die Blätter glühen. »Es hätte viel schlimmer ausgehen können. Ich bin weder verkrüppelt noch entstellt.«

»Wie du die Sache nimmst, kann ich echt nicht nachvollziehen.«

»Ach ja? Und wie sollte ich sie deiner Meinung nach nehmen? Wäre es dir lieber, ich würde rumjammern? Willst du, dass ich in Kur gehe, mir Nadeln setzen lasse, zum Seelenklempner renne?«

Draußen ist es still, die Sonne steht tief, das Licht ist gedämpft. Was auch immer auf dieser Welt geschehen mag, sie ist immer noch genauso schön. Damit ist der Schrecken vollkommen. Bevor wir uns getrennt haben, gingen Richard noch nicht die Haare aus, aber seit zwei Jahren steuert er ernsthaft auf eine Glatze zu. Als er sich vorbeugt, um mir die Hände zu küssen, sehe ich die kleine Lichtung, die auf seinem Kopf entstanden ist, zartrosa leuchten.

»Richard, wenn du etwas von mir willst, sag es doch einfach, und dann lass mich allein, ich bin müde.«

Im Schutz der Dämmerung gehe ich auf die Veranda. Ich bin von Nachbarn umgeben, aus den Fenstern ihrer Häuser schimmert es hell, unsere Allee ist gut beleuchtet, in unseren Gärten gibt es praktisch keine dunklen Ecken, aber ich riskiere nichts, bleibe auf der Hut. Dieses Gefühl kenne ich gut, früher war es fast ein Dauerzustand, dann ist es abgeklungen und nach unserem Umzug weitgehend verschwunden. Immer aufpassen, bereit zum Ausweichen – nicht antworten, schnell das Weite suchen, mögliche Verfolger abschütteln. Das kenne ich.

[26] Es sind gerade mal vier Tage vergangen. Ich zünde mir eine Zigarette an. Inzwischen verstehe ich besser, wie die Sache abgelaufen ist. Ich bin runtergegangen und habe die Hintertür aufgemacht, als ich Marty miauen hörte, und ich fragte mich, warum dieser blöde Kater nicht einfach ums Haus herumgeht, jetzt kann ich mir gut vorstellen, dass der Mann ihn gepackt hat, damit ich herauskomme – und genau das habe ich getan, ich habe aufgehört zu lesen und bin runtergegangen.

An den rein sexuellen Teil des Überfalls erinnere ich mich hingegen überhaupt nicht. Ich stand dermaßen unter Strom – die Summe all dessen, was ich bis dahin ertragen musste, um der von meinem Vater entfesselten Meute zu entkommen –, dass mein Kopf sich ausgeklinkt und von dem eigentlichen Akt nichts behalten hat. Ich kann also erst einmal überhaupt nichts dazu sagen, kann unmöglich wissen, wie mein Körper reagiert hat – und weiß ebenso wenig, was ich mit dieser maßlosen Wut anfangen soll, die mir die Kehle zuschnürt.

Ich bin weder schlimm verletzt noch zerschunden. Ein bisschen aufgeschürft, aber das dürfte bald wieder weg sein. Ich habe nicht so ohne weiteres Analsex, so dass ich leicht geblutet habe, aber das ist nicht weiter schlimm. Das ist dürftig. Ich habe kein Bild vor Augen. Aber der Wortlaut der Nachricht, das Verächtliche im Ton – die Ironie, das Duzen – und in den verwendeten Formulierungen bestärken mich in dem Glauben, dass es sich um eine Bestrafung handelt – die zwangsläufig mit meiner Arbeit oder den Teufeleien meines Vaters zu tun hat –, die jemand für mich bestimmt hat, der mich kennt.

Abgesehen von meiner Wange, die mit ein bisschen [27] Make-up und Puder vorzeigbar ist, habe ich hässliche Male an den Armen und Handgelenken – an den Stellen, wo seine Hände mich in die Zange genommen haben, um mich auf dem Boden festzuhalten –, riesige, an Armbänder erinnernde blaue Flecken, die ich unter langen Ärmeln verberge. Aber das ist Gott sei Dank alles. Zumindest geht es mir nicht wie anderen, die weniger Glück hatten, und ich muss mich nicht für ein völlig verschwollenes Auge erklären oder für einen ausgeschlagenen Zahn, für eine Krücke oder noch Schlimmeres, immerhin kann ich frei entscheiden, wie viel Raum ich der Sache geben will und ob ich ihr überhaupt welchen geben will – im Grunde genommen bin ich nicht so schlimm dran, ich mag mich nicht in ihren großen Zug einreihen, ich will das nicht wie ein Mal vor mir hertragen, wie das Zeichen irgendeiner Zugehörigkeit. Ich bin nicht bereit, auch noch meinen Job aufs Spiel zu setzen, ich habe keine Zeit, mich zu verzetteln, ich muss mich voll darauf konzentrieren können. Meine aktuelle Stelle habe ich mir ehrlich verdient, aber angesichts der Entlassungswelle ist mir bewusst geworden, dass sie alles andere als sicher ist – niemand ist davor gefeit, alles ist möglich, manche haben nur kurz weggeschaut und alles verloren –, also Vorsicht.

Meine Mutter fängt wieder mit meinem Vater an. Sie möchte das während der Weihnachtszeit angehen und betont, es seien womöglich seine letzten klaren Momente. Ohne zu antworten, lege ich auf.

Ich fahre nach Hause. Ich schließe ab. Ich überprüfe die Türen und Fenster. Ich gehe die Treppe hoch in mein Schlafzimmer. Marty springt aufs Bett, streckt sich, gähnt. Für daheim habe ich das Modell Guardian Angel mit K.-o.-Gas [28] ausgewählt – jeder Sprüher schleudert 6ml Wirkstoff mit 180km/h heraus.

Ich habe Richard verlassen, bevor er mein Verhältnis mit Robert Vangerlove entdeckt hat, denn ich wollte ihn nicht unnötig verletzen. Es war nie meine Absicht gewesen, Richard zu verletzen. Ich glaube, ich habe mich schon damals geschämt, mit Annas Mann zu schlafen. Sie war meine beste Freundin – und ist es noch immer. Aber die Alternative wäre gewesen, sich zu Tode zu langweilen oder sich aufzuhängen, und so kommt es, dass eines Morgens ein Robert Vangerlove vor einem steht, ein ganz gewöhnlicher und seelenloser Mann, leicht zu durchschauen und etwas dümmlich lächelnd, und man sagt sich: »Warum eigentlich nicht?«, man schwebt, man löst sich in Milliarden unentschlossener Zellen auf, und so hat man plötzlich ein Abenteuer am Hals, einen blassen Mann mit Bauchansatz, einigermaßen nett, aber äußerst unscheinbar, von dem man nicht weiß, wie man ihn loswerden soll, dabei ist er nicht der schlechteste Liebhaber, aber auch nicht mehr.

Er ruft mich an und sagt: »Anna ist am Wochenende nicht da. Willst du…?«

Ich unterbreche ihn. »Mir geht es gerade nicht gut, Robert.«

»Ach ja? Wieso das denn? Ich wäre für ein paar Tage in der Gegend.«

»Ich weiß, Robert. Ich kann auch nichts dafür.«

»Nicht mal mit Kondom?«

»Nein, tut mir leid. Wie war deine Reise? Hast du viele Schuhe verkauft?«

»Die Italiener machen uns kaputt. Ich werde mich noch ein, höchstens zwei Jahre halten können.«

[29] »Bist du die Feiertage über da? Ich weiß es noch nicht. Ich habe noch nichts entschieden.«

»An den Feiertagen kann ich mich nur schlecht rausziehen.«

»Ja, ich weiß, dass du dich an den Feiertagen nur schlecht rausziehen kannst, Robert, aber das macht nichts. Ich kenne deine Situation. Du weißt, ich bin nicht kompliziert.«

Ich lege auf.

Es grenzt an ein Wunder, dass niemand etwas weiß über uns beide. Anna hat mir einmal erzählt, sie habe sich für einen Mann mit einem gewöhnlichen Äußeren entschieden, damit sie ruhig schlafen könne. Ich habe nichts darauf erwidert.