Die Leichtfertigen - Philippe Djian - E-Book

Die Leichtfertigen E-Book

Philippe Djian

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Beschreibung

Drogen, Liebesaffären, Verkehrsunfälle Francis hat viel durchgemacht, nun möchte er nur noch seinen Frieden. Doch Hochstapler und schöne Frauen wirbeln weiter durch sein Leben an ein ruhiges Schriftstellerdasein ist nicht zu denken.

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Seitenzahl: 262

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Philippe Djian

Die Leichtfertigen

Roman

Aus dem Französischen von

Uli Wittmann

Titel der 2009 bei

Éditions Gallimard, Paris,

erschienenen Originalausgabe:

›Impardonnables‹

Copyright © Éditions Gallimard, Paris 2009

Die deutsche Erstausgabe erschien

2011 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration: David Hockney,

›Sur la terrasse‹, 1971, Acryl auf Leinwand 180x84"

Copyright © David Hockney

Collection: Hayward Gallery:

Arts Council Collection,

London

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24201 0 (1.Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60221 0

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Ich wusste genau, dass sie nicht da war. Ich hörte Pas time Paradise, Patti Smiths herrlich heisere, klagende Stimme, und beobachtete, wie das Flugzeug schwer und vibrierend in der noch warmen, rötlichen Sonne des Spätsommers landete, doch ich wusste, dass sie nicht in der Maschine war.

Im Allgemeinen hatte ich keine solchen Vorahnungen – das machte man mir fast zum Vorwurf –, aber an jenem Morgen hatte ich Judith gesagt, dass unsere Tochter bestimmt nicht im Flugzeug sein würde und dass sie mit der Fleischbestellung besser warten solle. Wie ich darauf kam? Ich hatte es ihr nicht erklären können. Judith meinte, dass sie uns doch bestimmt angerufen hätte.

Ich zuckte die Achseln. Meine Frau hatte vermutlich recht. Und trotzdem war ich eine knappe Minute später wieder davon überzeugt, dass Alice nicht kommen würde.

Als Roger aus dem Flugzeug stieg, erklärte er, dass sie seit zwei Tagen nicht zu Hause aufgetaucht sei. Ich erwiderte nichts und umarmte die Zwillinge, die sich aus der Abwesenheit ihrer Mutter anscheinend nichts machten und unbefangen gähnten.

»Ihr habt tolles Wetter hier«, sagte er zu mir. »Das wird ihnen guttun.«

[6] Kinder, die aus der Stadt ankamen, waren meistens ziemlich blass, manchmal mit dunklen Schatten unter den Augen, und die beiden Kleinen waren da keine Ausnahme.

Außer Hörweite der beiden kleinen Mädchen erklärte mir Roger im Vertrauen, er habe genug. Das hätte er nicht zu sagen brauchen. Man sah es ihm an.

»Hmm«, sagte ich, »und was ist es diesmal? Ein Film? Ein Theaterstück?«

»Weiß der Teufel, Francis. Es ist mir scheißegal, was dahintersteckt. Ich hab die Schnauze voll, Francis. Sie kann mir gestohlen bleiben.«

Er hatte viel Geduld aufgebracht, das ließ sich nicht leugnen, aber ich konnte ihn nur ermuntern, die Ohren steifzuhalten – vor allem da ich das Schreckgespenst, für die Zwillinge sorgen zu müssen, falls die Ehe in die Brüche ging, mit Riesenschritten auf uns zukommen sah, eine Erfahrung, die Judith und ich vor zwei Jahren schon einmal gemacht hatten, als die beiden so etwas wie eine zweite Hochzeitsreise unternommen hatten, um zu versuchen, ihre Beziehung zu retten.

Mit sechzig wollte ich von gewissen Dingen nichts mehr hören. Ich sehnte mich nach Ruhe und Frieden. Ich wollte lesen, Musik hören, am frühen Morgen in den Bergen oder am Strand spazieren gehen. Mich um Kinder zu kümmern, auch wenn sie mein eigenes Fleisch und Blut waren, wie Judith mir gern in Erinnerung rief, interessierte mich so gut wie gar nicht mehr. Ich war auch nicht mehr der Jüngste, und ich hatte mich seinerzeit um Alice und ihre Schwester gekümmert und war überzeugt, das gesamte Spektrum der möglichen Erfahrungen schon gemacht zu haben – meine [7] Zeit war kostbar, auch wenn ich praktisch keine Zeile mehr schrieb.

Als man mir nach beendigter Mahlzeit den Auftrag erteilte, mit den Mädchen ans Meer zu fahren, ehe sie den Garten auf den Kopf stellten, verzog ich das Gesicht, denn ich hatte gerade vor, mich mit meinem Laptop auf dem Schoß im angenehmen Halbdunkel meines Arbeitszimmers im ersten Stock niederzulassen, in meinem Sessel also, die Hände hinter dem Kopf verschränkt – oh, wie wünschte ich mir, der Tod möge mich eines Tages so ereilen anstatt in einer Klinik, mit Schläuchen in der Nase –, doch all das fiel ins Wasser, wie von der Spitze eines Wolkenkratzers, all das schwand dahin. Dank zweier achtjähriger, von ihrer Mutter im Stich gelassener Mädchen. Ich bot ihnen ein paar Süßigkeiten an, und sie warteten draußen auf mich, während ich Alice anzurufen versuchte, doch sie meldete sich nicht.

»Weißt du, Roger, ich steh auf deiner Seite, glaub mir. Ich kenne sie schließlich. Was sagst du, zwei Tage? Achtundvierzig Stunden? Na ja… also… da hat sie schon schlimmere Sachen gemacht, nicht wahr? Das ist vielleicht noch kein Grund zur Panik…«

Meine Worte sollten beruhigend wirken. Ich selbst hatte, was Alice anging, keinerlei Grund, mir Sorgen zu machen, nur weil sie zwei Tage nichts von sich hatte hören lassen, mal abgesehen von der Gewissheit, die ich beim Aufwachen empfunden hatte, sie nicht aus dem Flugzeug steigen zu sehen. Ich wusste nicht, wie ich das zu deuten hatte, aber die Sache ging mir nicht aus dem Kopf. Alice [8] verschwand manchmal eine ganze Woche lang. Warum also sollten diese zwei Tage Unbehagen in mir hervorrufen?

»Ich wette, dass wir noch vor Ablauf des Wochenendes von ihr hören«, fügte ich schließlich hinzu.

Das Risiko, mich zu irren, war gering. Alice verlor nie ganz den Kopf. Hatte sie nicht sogar einen Banker geheiratet? Dabei war sie damals vor allem mit Musikern, Gammlern und Junkies zusammen gewesen. Man musste schon einen gewissen Durchblick haben, um mitten in dieser Bande einen Banker zu entdecken. »Du hast uns einen schönen Schrecken eingejagt«, hatte ich an ihrem Hochzeitstag zu ihr gesagt. Zur Antwort hatte sie mir nur einen vernichtenden Blick zugeworfen.

Am Tag darauf erzählte mir Roger von blauen Flecken, die Alice auf Schenkeln und Brüsten habe. Ich hatte schlecht geschlafen. Die Zwillinge hatten Alpträume gehabt, und Roger hatte auf meinen Rat hin 4mg Rohypnol eingenommen. »Blaue Flecken, sagst du?« Ich runzelte die Stirn und betastete ein paar überreife Mangos im Gemüseladen, wo ich immer einkaufte. »Was soll das heißen, Roger?«

Ich musste den ganzen Nachmittag daran denken. Ich fragte mich, ob sie es mir jemals ersparen würde, mir Sorgen um sie zu machen. Es sah nicht so aus. Roger versuchte sie mehrmals zu erreichen, aber ohne Erfolg.

Bei Einbruch der Dunkelheit kam Wind auf, und Roger half mir, den Sonnenschirm zuzumachen und all das wegzuräumen, was vom dröhnenden Sturm in den finsteren Himmel geschleudert werden konnte. Die Böen wehten die trockenen Blüten der Bougainvillea gegen die Hauswand, [9] bis sie abfielen. Das Leuchtfeuer strich über eindrucksvolle dicke, schwarze Haufenwolken.

Judith kam kurz vor dem Gewitter zurück. Aus San Sebastián. Der Sturm sei ihr auf der ganzen Strecke auf den Fersen gewesen, erklärte sie. Schon am Nachmittag hatte das Wetterleuchten begonnen.

Die Zwillinge glichen einander wie ein Ei dem anderen, aber Anne-Lucie, der ein halber Finger fehlte, sprang auf und verkündete, sie werde ihren Badeanzug anziehen. Ein Versprechen sei ein Versprechen. Draußen, am Ufer des Atlantiks, wurden weißliche Schaumfetzen vom starken Wellengang in die Luft geschleudert und zerstoben in den Palmen, die den Strand säumten. Man musste schreien, um sich verständlich zu machen. Roger schien völlig neben der Spur zu sein.

Abends war im Schwimmbad nur wenig Betrieb – an jenem Tag war niemand da –, und wir setzten uns vor die Fensterwand, hinter der der ziemlich aufgewühlte Atlantik zu sehen war. Der Anblick war großartig – man hatte den Eindruck, am Bug eines Ozeandampfers zu sein, der sich durch die Gischt voranbewegte.

Judith war verblüfft. »Wenn du meine Meinung hören willst, Roger, ich bin überzeugt, dass Alice ein intelligenter Mensch ist. Sie ist aus dem Alter raus, in dem man irgendwelche Dummheiten macht. Wir sollten ihr vertrauen. Ab und zu braucht sie einfach einen Tapetenwechsel, was weiß ich. Das ist nun mal so. Was ist daran so schlimm?«

Ich behielt Lucie-Anne im Auge, die schon etwas gar lange unter Wasser schwamm, und nickte, um Judith beizustimmen.

[10] »Was daran so schlimm ist?«, kreischte Roger. »Was daran so schlimm ist, Judith, das fragst du?«

Unsere Blicke begegneten sich. Ich hatte nie behauptet, meine Tochter sei eine Heilige. Ihre Neigung zu Eskapaden war allgemein bekannt. In unserem Milieu sprach sich alles herum. Ich wusste nicht so recht, was ich mir hätte vorwerfen sollen.

»Sieh mich bitte nicht so an! Ich finde, dass ich meine Kinder gut erzogen habe. Ich habe unzählige Tage und Nächte darauf verwandt, ihnen den Unterschied zwischen Gut und Böse beizubringen. Monate und Jahre, Roger. Ich bin nicht schuld daran, mein Lieber.«

Ich stand auf, um Anne-Lucie aus dem Schwimmbecken zu ziehen, nachdem sie sich anscheinend das Handgelenk verstaucht hatte. Dann vertraute ich sie ihrem Vater an, um etwas schwimmen zu können.

Bald würde ich sechzig werden. Die Ärzte rieten, viel zu schwimmen und sich gesund zu ernähren, wenn man alt werden wollte. Zwei Ratschläge, die ich leicht befolgen konnte.

Nach einer Woche beschlossen wir, die Polizei zu benachrichtigen. Die Gezeiten wurden größer. Roger machte kaum noch den Mund auf. Wir hatten alle möglichen Anrufe getätigt, ihre Freunde und die Freunde ihrer Freunde befragt und selbst andere, die sie, na ja, nicht sonderlich schätzten, aber niemand wusste etwas, niemand hatte sie gesehen oder in den letzten zehn Tagen mit ihr gesprochen, niemand wusste, wo sie war.

Judith fuhr wieder nach San Sebastián, und ich blieb also [11] fast eine Woche mit Roger und den Mädchen allein. Ich fragte mich, ob er gedenke, Hungers zu sterben. Er war knapp dreißig und hatte schon schütteres Haar.

»Ich sage dir nicht, dass es leicht ist, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, Roger. Ich sage nur, dass es leicht ist, eine Frau zu verlieren. Das ist ein kleiner Unterschied. Die Augen zu öffnen und zu sehen, dass sie nicht mehr da ist, dass man sie verloren hat.«

Ich ließ ihn manchmal irgendwo zurück und traf ihn ein oder zwei Stunden später an derselben Stelle wieder an, untätig und halb schlafend. Das nannte er vermutlich kämpfen.

Wir verbrachten einen ganzen Vormittag mit den Polizeibeamten, auf jeden Fall lange genug, um zu begreifen, dass wir von dieser Seite nichts zu erwarten hatten – diese Männer und Frauen kehrten abends heim und hatten ihre eigenen Probleme mit ihren Ehepartnern, ihren Kindern, ihren Nachbarn. Auch wenn sie sich nicht offen lustig machten, hatte man nicht den Eindruck, sie würden alle Hebel in Bewegung setzen, um uns Alice zurückzubringen.

Allmählich überkam auch mich eine gewisse Unruhe. Die Stunden zogen sich in die Länge, waren völlig substanzlos. Ich ging oft mit den Zwillingen nach draußen. Wenn wir heimkehrten, lag ihr Vater meistens auf dem Sofa ausgestreckt – er war nicht gerade in Höchstform.

Ich übernahm das Kochen – Judith musste ihren Aufenthalt jenseits der Grenze verlängern, um eines jener Häuser am Meer zu verkaufen, deren Preise in den letzten Monaten in die Höhe geschossen waren. Das Wetter blieb unbeständig. Alice. Meine Tochter. Ich dachte die ganze Zeit an [12] sie. Diverse Szenen kamen mir wieder in den Sinn. Das Kochen, zum Beispiel. Ich hatte ihr das Kochen beigebracht. In den zwei Jahren, in denen wir zusammengewohnt hatten – nach dem Unfall bis zu dem Tag, an dem ich Judith heiratete –, hatte ich mich bemüht, den Schicksalsschlag zu dämpfen, indem ich ihr ein paar einfache Rezepte beibrachte, ein Omelett mit Pfefferschoten zum Beispiel, oder ein Ragout aus flambierten Nieren. Dabei sprachen wir miteinander und schafften es so zu überleben. Eine echte Leistung.

Ich schaltete einen Detektiv ein. Roger schlug vor, die Kosten zu teilen, aber ich weigerte mich. Ich entschied mich für eine Frau, eine gewisse Anne-Marguerite Lémo, die fünfhundert Meter von meinem Haus entfernt wohnte und mit der zusammen ich die Schulbank gedrückt hatte.

Den Auskünften zufolge, die ich hier und dort hatte einholen können, war Anne-Marguerite die Beste in ihrer Branche. Ich suchte sie sogleich auf, um ihr unser Problem zu unterbreiten.

Wir hatten uns, na, seit wenigstens vierzig Jahren aus den Augen verloren und tauschten alte Erinnerungen aus, widmeten ein paar lange Minuten der Aufarbeitung unser beider Leben. Sie hatte einen Sohn. Ihr Mann war an einem Herzinfarkt gestorben. Sie hatte keinen schlechten Hintern für eine Privatdetektivin, die nicht mehr ganz jung war.

Anne-Marguerite hatte von dem Unfall gehört, bei dem meine Frau und eine meiner beiden Töchter im Herbst 1996 umgekommen waren. Die Zeitungen hatten damals ausführlich darüber berichtet. Ich nahm ihre [13] Beileidsbekundung entgegen und erklärte ihr, weshalb ich sie aufsuchte.

Ich gab ihr zweitausend Euro für den Anfang. Mit der Begründung, dass wir früher gute Freunde gewesen waren, nahm sie nur die Hälfte an. Sie übertrieb. Jeder vögelte damals mit jedem oder jeder. Sie machte sich gewissenhaft ein paar Notizen, während es draußen vor den Fenstern ihres Büros im Stadtzentrum, das sie sich mit einer Versicherungsagentur teilte, regnete.

»Wir werden Alice bald wiederfinden«, sagte sie und reichte mir die Hand.

Endlich ein bisschen Begeisterung. Endlich jemand, der mir ein freundliches Lächeln schenkte. Sie drückte mir energisch die Hand.

Anne-Marguerite Lémo. Fast meine Nachbarin. Was war die Welt doch für ein winziges Dorf mit lächerlichen Zufällen!

Roger flog ein paar Tage später wieder nach Paris. Ich hielt ihn nicht zurück, im Gegenteil, ich hatte ihn sogar dazu ermuntert. Mir war es bei weitem lieber, mich allein um die Zwillinge zu kümmern, als seine trübselige Anwesenheit ertragen zu müssen – die meine Beklemmung unweigerlich vergrößerte.

Wir vereinbarten, uns bei der geringsten Neuigkeit zu benachrichtigen, und ich begleitete ihn zum Flugzeug, nachdem ich ihm zwei Xanax gegeben und ihm einigermaßen freundschaftlich den Rücken getätschelt hatte.

Es gab keine bessere Großmutter für die kleinen Mädchen als Judith – sie liebten sie heiß –, und daher musste ich [14] ihnen abends nicht auch noch die Gutenachtgeschichte vorlesen. Zumindest nicht, wenn Judith da war.

Ich fragte mich, ob sie dabei war, die ganze Uferstraße der Playa de la Concha zu verkaufen, auf jeden Fall sahen wir sie nur selten. Wenn sie heimkehrte, erkundigte sie sich nach unserem Befinden. Wenn sie wieder wegfuhr, gab sie mir verschiedene Anweisungen.

Sie behauptete, mit Arbeit überlastet zu sein. Jegliche Form von Sexualität zwischen uns war sozusagen inexistent.

Ich las den Zwillingen aus dem Tagebuch der Bridget Jones vor, bis es im Schlafzimmer mäuschenstill wurde und ich mit angehaltenem Atem rückwärts aus dem Raum schlich.

Sobald es Nacht wurde und ich allein war, konnte ich es mir nicht verkneifen, Anne-Marguerite anzurufen, obwohl ich genau wusste, dass es nichts Neues gab, weil sie nicht angerufen hatte, aber mein blöder Anruf schien sie nie zu stören oder zu verärgern, im Gegenteil, sie zeigte sich immer sehr fürsorglich. Dafür war ich ihr dankbar. Ich hatte das Bedürfnis, über Alice zu sprechen, je mehr Zeit verging. Allein durch das Aussprechen ihres Namens hatte ich das Gefühl, sie zu beschützen.

Als in der Presse zum ersten Mal von ihrem Verschwinden berichtet wurde, durchfuhr es mich eiskalt, und mein Telefon klingelte unablässig. In Alices Milieu lechzte man geradezu nach Neuigkeiten, und die Hälfte aller Schauspieler und Schauspielerinnen des Landes – die andere Hälfte ließ ich in der Warteschleife – bestand darauf, mir mit ihren Klagen die Ohren vollzuquatschen. Die Wolkendecke am [15] Himmel war niedrig. Jedes Mal wenn ich auflegte, überraschte mich der Blick der Zwillinge, der auf mir ruhte, und ich fluchte innerlich darüber, dass ich in ihrem Beisein über das Verschwinden ihrer Mutter gesprochen hatte – wo war ich bloß mit meinen Gedanken? –, bis mein Handy erneut vibrierte.

Nachmittags schaltete ich die Vibrierfunktion aus – die Klingeltöne hatte ich schon lange abgestellt. All dieses Wehklagen, all diese Tränen waren zu einem dumpfen, finsteren Singsang geworden, der mir nicht guttat.

Ich deckte eine festliche Kaffeetafel, damit sie mir verziehen, dass ich vergessen hatte, ihnen ein Mittagessen zuzubereiten, und tischte zwei große Schalen Müsli und Puffreis auf – ich hatte noch immer die Angewohnheit, die Küchenschränke mit Frühstücksflocken und H-Milch zu füllen, wenn die Zwillinge da waren.

Anne-Marguerites Sohn war im Gefängnis. Das teilte sie mir mit, als ich für diesen kleinen Imbiss Crêpes zubereitete. Sie zuckte die Achseln. Ein schiefgegangener Einbruch. Ich blickte sie eine Weile ungläubig an, während das Öl in meinen Pfannen heiß wurde und rauchte – wenn man nicht gerade masochistisch veranlagt ist, ist die Vater- oder Mutterrolle doch wirklich die schlimmste, die einem zufallen kann. Da gibt’s Beispiele zuhauf, keine Frage.

»Ich habe an Sie gedacht, als ich die Zeitung aufgeschlagen habe«, fuhr sie fort. »Es könnte gut sein, Francis, dass Ihnen eine ziemlich unangenehme Zeit bevorsteht.«

So war es. Mit oder ohne Presse. Mit oder ohne Freunde. Mit oder ohne Telefon.

[16] In Anbetracht der Vergangenheit meiner Tochter sowie der täglichen Vernehmungen gelangten die Polizeibeamten zu der Überzeugung, dass meine Tochter mal wieder ausgerissen war oder dass es sich einfach um die x-te obszöne Episode in ihrem Privat- oder Berufsleben handelte.

Was nicht etwa heiße, wie man mir mitteilte, die Ermittlungen würden eingestellt, aber ich müsse begreifen, dass alle Spuren ergebnislos geblieben seien und die Nachforschungen ohne neue Hinweise zu diesem Zeitpunkt kaum Fortschritte machen könnten. Ob sie weitersuchen würden? Selbstverständlich würden sie weitersuchen. Es helfe jetzt auch nichts, wenn ich unfreundlich werde. Wer tappe schon gern im Dunkeln? Wer wünsche sich nicht einen schnellen, glücklichen Ausgang dieser Geschichte? Welchem Polizeibeamten liege es nicht am Herzen, mir meine Tochter gesund und unversehrt wiederzubringen?

Der Inspektor, der mir diesen Vortrag gehalten hatte, steigerte meine Angst, denn ich hatte die Möglichkeit, meine Tochter könne sich in Lebensgefahr befinden, noch gar nicht in Betracht gezogen. »Ich habe mir das nicht eine Sekunde vorgestellt, Anne-Mar. Zumindest nicht bewusst. Woher hätte ich die Kraft nehmen sollen, mir das vorzustellen? Wie kann man sich etwas vorstellen, das einen auffressen kann?«

Anne-Marguerite nickte. Sie hatte drei Tage in Paris Nachforschungen betrieben und kam mit leeren Händen zurück. Ich begann mich wirklich allein zu fühlen. Die Anwesenheit der Zwillinge – die Roger noch immer nicht abgeholt hatte, da er offensichtlich noch unter Schock stand – erleichterte die Sache zwar etwas, aber ich hatte erst dann [17] eine richtige Atempause, wenn Anne-Marguerite uns besuchte und mich ablöste, denn auf diese Weise kam ich ohne große Mühe in den Genuss ihrer Anwesenheit und das wohltuende Gesäusel ihrer Gespräche, ohne daran teilnehmen zu müssen.

Ich hatte es Judith und ihrer sinnbildlichen Abwesenheit sowie ihrer geringen Hilfsbereitschaft zu verdanken, dass ich mich in dieser unangenehmen Situation befand.

Zehn Ehejahre hatten uns ziemlich aufgerieben, sie und mich. Wir waren geradezu groggy. Vermochten uns nicht zu erklären, was ablief. Wie betäubt. Es gelang uns nicht, die Sache in Worte zu fassen, aber wir taten nicht so, als hätten wir nichts gemerkt.

Sie war oft unterwegs. Immer häufiger. Es kam nicht selten vor, dass sie für mehrere Tage verschwand, und ich begnügte mich mit ihren Erklärungen, versuchte nicht, die Einzelheiten ihres Zeitplans zu erfahren. Ich war verblüfft, als ich entdeckte, welch unüberwindbare Mauer sich zwischen uns erhob. Sich tief in die Augen zu schauen nützte nichts mehr. Wenn sie wegfuhr, wünschte ich ihr eine gute Fahrt. Sie versprach, mich anzurufen. Und das tat sie – ohne jedoch ihre Pauschale zu überziehen.

Wie auch immer, mich mit den Zwillingen allein zu lassen, kam einem echten Tiefschlag gleich. Wo mir so angst und bang war. Aber das konnte ich ihr nicht sagen.

An jenem Abend hatte sie mit spanischen Geschäftsleuten in einem Apfelweinkeller zu Abend gegessen und sich nicht früher freimachen können.

»Du hättest nicht anrufen sollen, um zu sagen, dass du gleich kämst«, sagte ich. »Sie haben auf dich gewartet.«

[18] »Ich hätte fast ein Stachelschwein überfahren.«

»Ich habe irrsinnige Mühe gehabt, sie zu Bett zu bringen. Nach deinem Anruf.«

»Das hat mich aufgehalten. Ich konnte nicht weg, ehe es die Straße überquert hatte. Was hätte ich sonst machen sollen?«

Es klingelte an der Tür. Anne-Marguerite wollte sogleich wieder kehrtmachen, weil sie meinte, sie würde uns stören, doch ich ließ nicht locker und stellte die beiden einander vor.

Anne-Marguerite oder Anne-Mar, die ich inzwischen wie ihr Sohn A.M. nannte, war vorbeigekommen, um zu hören, ob mit den Zwillingen alles gut lief, und ich sah ganz kurz eine Mischung aus Dankbarkeit und Verärgerung in Judiths Augen aufblitzen.

Mit fünfzig war Judith ohne jeden Zweifel immer noch durchaus begehrenswert – und ich wusste nicht recht, ob auch ich es noch war. Ich hatte den großen Fehler begangen, von ihr zu erwarten, dass sie Johanna, Alices Mutter, ersetzte, und jetzt wurde deutlich, wohin uns dieser Wahnsinn geführt hatte, zu dieser unweigerlichen, verhängnisvollen Entfremdung, zu diesem langsamen Hinsiechen, dessen Voranschreiten Judith und ich fasziniert und zugleich gelähmt mit ansahen.

A.M. tat es leid zu sehen, was ich durchmachte, aber sie wusste selbst, wie dumm man im Schmerz reagieren konnte – ich solle ihr glauben –, und deshalb wolle sie mich nicht noch zusätzlich belasten.

Alice war seit einundzwanzig Tagen verschwunden – ich [19] schluckte täglich 160mg Pantoprazol, um mein Sodbrennen zu bekämpfen.

A.M. war wieder nach Paris gefahren, um neue Fährten aufzunehmen, aber ohne jeden Erfolg.

»Wie sehen Sie denn die Situation? Sagen Sie mir, ob Sie die Sache für aussichtslos halten, A.M. Mir ist die Wahrheit lieber. Hören Sie, wenn Sie etwas erfahren haben, und sei es nur ein winziges Detail, dann sagen Sie es mir. Auch wenn es nur eine Ahnung ist.«

»Noch ist nichts verloren, Francis. Für mich handelt es sich um eine Entführung. Das habe ich Ihnen schon gesagt. Ich bin überzeugt, dass sie noch lebt.«

Sehr beruhigend, wenn sie mir sagte, ich bin überzeugt, dass Alice noch lebt.

Ich hatte Roger angerufen. Ich hatte ihn stöhnen und jammern lassen und ihn dann gebeten, er solle seine Töchter abholen. Warum? Musste ich ihm etwa eine Erklärung dafür geben? »Weil ich nicht mehr zwanzig bin, Roger. Natürlich liebe ich sie. Natürlich bin ich vernarrt in sie. Das ist nicht das Problem.« Und eine knappe Stunde später hatte Judith mich aus Madrid angerufen, um mir zu sagen, wie herzlos ich sei. Wie unverfroren diese Frau sein konnte!

Aber ich hatte nicht nachgegeben. Roger war am folgenden Tag mit dem Flugzeug eingetroffen, und wir wechselten kaum ein paar Worte, während die Zwillinge ihre Koffer packten. Er schien mir gar nicht so aufgelöst, wie ich erwartet hatte, nachdem er am Telefon so gejammert und gestöhnt hatte. Abgesehen von einer Falte der Verbitterung im Mundwinkel sah er gar nicht so schlecht aus – er war von Natur aus blass.

[20] Die Eukalyptusbäume vor dem Haus verloren ihre Rinde. Ich war sauer auf ihn, weil er mich gezwungen hatte, ihn zu bitten, seine Kinder abzuholen, und beobachtete die hin- und herschwingenden Lampions, die die Mädchen für das am Vortag veranstaltete Fest, von dem ich mich noch nicht richtig erholt hatte, an die untersten Äste gehängt hatten. Meine verstorbene Tochter Olga hatte wunderschöne Laternen in allerlei Formen gebastelt, als sie in ihrem Alter gewesen war. Sie war handwerklich sehr begabt gewesen.

Als sie endlich in Richtung Flugplatz abgerauscht waren, fragte ich mich mit gesenktem Kopf, ob ich nicht einen Fehler begangen hatte. Was für eine Stille auf einmal. Was für eine Leere.

Was für eine Leere rings um mich.

Ich zündete ein Feuer im Kamin an – es sollte prasseln und die Schatten an den Wänden tanzen lassen – und setzte mich mit dem Briefwechsel von Flannery O’Connor, der sich schon oft als gute Medizin bewährt hatte, in einen Sessel. Es wurde Abend. Die spanische Küste war schon in Dunkelheit gehüllt, und die ersten Sterne leuchteten über dem Garten auf. Aber Alices Verschwinden bedrückte mich.

Ohnmacht ist die schlimmste Folter.

A.M. wusste das. A.M. verstand das. Sie war so nett und kam vorbei. Sie hatte vermutlich begriffen, dass Judith und ich nicht mehr im siebten Himmel schwebten und dass ich etwas Unterstützung brauchte angesichts der Stürme, die mir entgegenkamen, der Taifune, die meinen Weg kreuzten.

»Sie sieht noch sehr gut aus«, erklärte sie. »Toller Busen.«

[21] »Allerdings. Soweit ich weiß, hat sie nie ein Kind gestillt. Das erklärt so manches.«

Ich stand auf, um uns zwei Bloody Mary zu mixen – sie hatte eine Schwäche dafür.

Sie kam gerade aus dem Gefängnis zurück, von einem jener unangenehmen Besuche, die sie ihrem Sohn abstattete – bei der Gelegenheit tauschten wir jeweils auf groteske Weise die Rollen, und ich bot ihr ausnahmsweise meine Schulter zur Stütze an. Ich wusste inzwischen alles über Jérémie Lémo. Ich hätte ihn inmitten einer Menschenmenge wiedererkannt, ohne ihn je gesehen zu haben.

Am Tag, an dem ich A.M. ins Sprechzimmer begleitete, war ich einen Augenblick verblüfft über die Ähnlichkeit zwischen dem Original und der Beschreibung, die seine Mutter mir von ihm gegeben hatte.

Er betrachtete mich seinerseits voller Misstrauen. Ich wusste, dass er fünfundzwanzig war, doch er wirkte viel jünger, da konnte er die Stirn noch so sehr in Falten legen.

A.M. erklärte, ihr Sohn sei für jedes einzelne ihrer weißen Haare verantwortlich. Er hatte seine Mutter gerade eine Nutte genannt, nachdem er sich geweigert hatte, mir die Hand zu geben, und daher gingen sie und ich enttäuscht zu meinem Auto zurück, wobei uns der Westwind vom Atlantik her entgegenwehte.

Wir klappten das Verdeck zurück. Die Vorstellung, dass ihr Sohn uns für ein Liebespaar gehalten hatte, ließ uns letztlich lächeln.

[22] A.M. war genauso alt wie ich. Was hätte mich daran reizen sollen, mir eine Geliebte zu nehmen, die genauso alt war wie ich, während ich nur von lebenslustigen jungen Frauen träumte, wie sie aufreizender kaum sein konnten… Übrigens hatte mich in dieser Hinsicht Philip Roths letzter Roman total entmutigt und tagelang völlig deprimiert.

A.M. war absolut nicht abstoßend. Alt heißt nicht abstoßend. Aber ihr Körper entsandte, zumindest in Richtung meines Körpers, keinerlei Signal mehr, das war alles. Die Batterien, die irgendwo in den Tiefen versteckt waren, schienen leer zu sein. Aber das hieß nicht, dass sie hässlich war oder einen unangenehmen Geruch verbreitete, das möchte ich doch klarstellen.

Sie hatte sehr regelmäßige Züge. Auf manchen Fotos aus den siebziger Jahren glich sie Juliette Gréco – mit ihrer ursprünglichen Nase.

Judith war mit ganzem Herzen dabei, wenn sie Häuser verkaufte. Vor zehn Jahren hatte sie mir das Haus verkauft, in dem wir heute wohnten, und ich konnte bezeugen, was für ein Talent sie darin besaß, Immobiliengeschäfte abzuschließen. Wie A.M. auf dem Gebiet der Ermittlung war Judith die Beste in ihrem Bereich. Alle interessanten Objekte wurden von ihr betreut. Sie kannte das Land wie ihre Westentasche und verstand etwas von ihrem Beruf. Sie sprach Russisch und Spanisch. Manche Typen kamen aus dem Ural oder der Taiga mit Koffern voller Geldscheine, die ich ab und zu mehrere Tage im Haus aufbewahren musste, auf die Gefahr hin, dass man mir die Kehle durchschnitt, und sie schloss die Geschäfte in der Sprache des Käufers ab – [23] Russisch machte sie gesprächig –, ein Service, den keine andere Agentur anzubieten hatte und der für unsere Brüder aus dem Osten, die herkamen, um etwas Ruhe und Frieden zu finden, reine Meeresluft zu atmen und sich die Gischt des Atlantiks um die Nase wehen zu lassen, ein absolutes must war. Die Russen warfen gern ihr Geld zum Fenster hinaus. Der Bürgermeister und die Mitglieder des Gemeinderats waren extra nach Sankt Petersburg gefahren, um ihre Region anzupreisen und die Vorteile aufzuzählen, die ein Wohnsitz oder ein Investment dort hatte. Und das Ergebnis davon war, dass Judith kaum noch Zeit für mich hatte.

Nichts zwang sie, ihren Terminkalender bis zum Gehtnichtmehr zu füllen. Aber wir machten die schwerste Zeit seit unserer Hochzeit durch und hatten uns darauf geeinigt, ein bisschen Abstand zu nehmen. Die Immobiliengeschäfte in San Sebastián erlebten eine wahre Blütezeit.

Wenn sie daran dachte, brachte sie mir Zigaretten mit. Sie reichte mir eine Stange und sagte: »Weißt du, diese Frau… Ich habe nichts gegen sie, aber –«

»Nein, hör zu… ich weiß, worauf du hinauswillst, aber –«

»Im Gegenteil, ich wäre nie auf die Idee gekommen –«

»Sie hat alles getan, was in ihrer Macht stand. Das weiß ich. Man kann ihr nicht den geringsten Vorwurf machen. Ich weiß, dass sie alles getan hat. Sie ist wirklich ausgezeichnet. Glaub mir das.«

Die Spannung zwischen uns war zwar noch nicht sehr groß, aber ständig spürbar. Ich wusste nicht, ob es ein Zeichen dafür war, dass sie ein Verhältnis hatte, oder nur der Ausdruck ihrer Frustration – jenseits der Grenze gab es [24] ganze Horden von hombres mit von Brillantine glänzendem Haar.

»Man kann ja nicht behaupten, dass die Polizei bessere Arbeit leistet als sie«, fügte ich hinzu. »Sie sind keinen Schritt weitergekommen.«

Sie ermaß besser als jeder andere, was ich durchmachte, da sie die Tragödien kannte, die ich schon früher erlebt hatte, und daher ließ sie mich in Ruhe, trotz der nicht gerade glänzenden Laune, die ich an den Tag legte.

Ich hatte lange gebraucht, um mich davon zu überzeugen, dass keine Frau jene ersetzen würde, die ich verloren hatte. Ich war im Schneckentempo auf das Licht der Erkenntnis zugelaufen, so dass sich alles – oder wenigstens das Wesentliche – vor meinen Augen verschlechtert hatte, ohne dass ich es gemerkt hatte.

Ich glaube, ich hatte sie einfach entmutigt.

Nun, da mein Leben eine andere Wendung nahm und ich nicht mehr imstande war, irgendetwas zu tun, stellte ich solche Überlegungen an – das entsetzliche Verschwinden meiner Tochter wirkte sich auf mich wie eine Curarespritze aus, deren Gift mich jeden Tag ein wenig stärker lähmte. Kann ein Mann im Abstand von zwölf Jahren seine beiden Töchter verlieren? Kann einem das Schicksal so hart zusetzen?

Allein der Gedanke daran ließ mich zittern. Ich konnte mir dagegen durchaus vorstellen, dass keine halbwegs vernünftige Frau – und das war Judith ganz bestimmt – den Wunsch hatte, nach der Rückkehr von der Arbeit einen Typen wie mich im Haus anzutreffen und sich mit seiner deprimierenden Anwesenheit abzufinden. Daher konnte [25] ich gut verstehen, dass sie es abends nicht eilig hatte, heimzukommen.

Ich hatte sie entmutigt. So einfach war das.

Vermutlich durfte ich sogar froh sein, dass sie mich noch nicht verlassen hatte. Es würde nicht mehr lange dauern, davon war ich inzwischen fast überzeugt. Wenn ich ein paar Atemübungen mit Blick auf den Atlantik machte, gelang es mir nicht mehr, meine Lungen mit Luft zu füllen. Manchmal kam Judith und massierte mir die Schultern.

Ich rief Roger an, denn von sich aus meldete er sich nicht. »Ich möchte, dass du mich anrufst, hörst du? Selbst wenn es nichts Neues gibt, ich möchte, dass du mich anrufst. Das kannst du doch wohl tun, oder? Selbst wenn du mir nur sagst, dass es nichts Neues gibt, okay? Du kannst von mir aus gern wehklagen, aber tu, was ich dir sage.«

Die Polizei gab schließlich zu, dass ein Monat ohne jegliche Nachricht kein gutes Zeichen sei. »Sind Sie etwa nur hergekommen, um mir das zu sagen?«, fragte ich. »Und das zu zweit?«

Ich schlief kaum noch oder höchstens in kurzen Abständen. Meine Nächte waren in ein gutes Dutzend Zeiträume eingeteilt, in denen sich Schlaf und Wachsein abwechselten. Und daher schlief ich drei- oder viermal am Tag ein, egal wo, im Supermarkt, in einer Bar oder im Zeitschriftenladen.

Die Leute wussten, worunter ich litt, und manche Händler boten mir einen Stuhl an und hatten Mitleid mit mir, wenn mir der Kopf auf die Brust sank. Es sah fast so aus, als bemühe sich die halbe Stadt, mir die Schultern zu [26] tätscheln. Als sie vom Tod meiner Frau und meiner Tochter erfahren hatten, hatten sie für die beiden mehrere Messen lesen lassen. Mit Chorgesängen – manche Leute waren eigens dafür aus den Bergen hergekommen.

Die meisten von ihnen hatten Alices Karriere verfolgt – eine so hübsche junge Frau und eine so gute Schauspielerin, zweifellos der Stolz ihres Vaters –, und es verging kaum ein Tag, ohne dass ich einer Frau begegnete, die mir den gesamten Lebenslauf meiner Tochter aufsagte – ohne natürlich bei gewissen weniger ruhmreichen Episoden zu verweilen.

»Warum nimmst du nicht den Wagen?«, riet mir Judith. »Geh doch in Spanien einkaufen…«

»Was soll ich denn in Spanien?«, entgegnete ich.

Außerdem hatte ich überhaupt keine Lust, Auto zu fahren. Ich hatte auch keinen Hunger. Wenn ich allein war, aß ich nichts. Ich dachte nicht daran. Wenn A.M.