Ein heißes Jahr - Philippe Djian - E-Book

Ein heißes Jahr E-Book

Philippe Djian

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Beschreibung

Eines Morgens stößt Greg auf eine Reportage über das ›Mädchen mit den Zöpfen‹, das 2018 mit ihrem Klimastreik eine globale Bewegung ausgelöst hatte. Über zehn Jahre sind seitdem vergangen, und wenig hat sich getan. Gerade noch hat Greg gegen sein Gewissen Forschungsergebnisse über die Schädlichkeit eines Pestizids gefälscht. Gleichzeitig unterstützt er seine Nichte Lucie und ihr Engagement für das Klima. Als er dabei die Umweltaktivistin Véra kennenlernt, wird Gregs Weltbild auf den Kopf gestellt.

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Seitenzahl: 218

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Philippe Djian

Ein heißes Jahr

Roman

Aus dem Französischen von Norma Cassau

Diogenes

Es war das erste Mal – und er war Gott weiß nicht streitbar und begehrte sonst nie offen gegen die Geschäftspraktiken seines Schwagers auf –, dass er ihn herausfordernd ansah und sich nur schwer zurückhalten konnte, ihm den Stapel Papier um die Ohren zu schlagen. Er zögerte einen Augenblick, dann lockerte er den Griff und ließ wortlos alles auf den Boden fallen. Er verließ das Büro und knallte die Tür hinter sich zu. Bebend vor Wut, durchquerte er die Empfangshalle, für den Pförtner mit dem zu seinen Füßen dösenden Wolfshund hatte er nur ein kurzes Nicken übrig.

Er hatte immer schon gewusst, was für ein Schuft Anton war und dass das Labor, das seinen Namen trug, sich schon längst nicht mehr um Redlichkeit oder Ethik scherte.

Es war schon dunkel, aber die Hitze blieb drückend. Man musste unweigerlich das Gesicht verziehen, wenn man aus einem klimatisierten Raum trat. Er ging zu seinem Wagen auf dem Parkplatz, das Laub der Bäume rundherum war vom Wassermangel ganz knitterig. Er hätte sich gerne übergeben, bevor er sich hinters Steuer seines Porsches setzte. Er kam nur an die Thermosflasche mit Wasser unter dem Vordersitz heran und trank ein paar Schlucke. Es war nicht zu warm. Nicht so effektiv wie eine Kühlbox, aber ihm genügte das. Sein Name stand darauf. GREG. Jeder hatte seine eigene Thermosflasche mit Namen darauf gehabt. Er wischte sich über Gesicht und Nacken. Der Himmel war von unheimlicher Tiefe. Er seufzte. Anton hatte ihn dermaßen am Arsch, es war lächerlich.

Er stieg in seinen Porsche, machte einen Halt beim Feinkostladen. Räucherlachs war im Moment nicht zu bekommen.

Seine Wohnung lag zum See hinaus und hatte eine Terrasse. Anton konnte ihm das alles nehmen, er brauchte nur mit dem Finger zu schnippen. Die Situation war schwer zu ertragen. Er hatte nicht aufgepasst, und jetzt hatte er den Salat.

Zur Beruhigung, und um seine Wut abzuschütteln, rauchte er einen Joint bei voll aufgedrehter Klimaanlage. Er schaltete den Fernseher ein, nahm sich ein Bier und döste weg. Mitten in der Nacht wachte er auf, über den Bildschirm flimmerte gerade eine Jugendliche, die vom Klima sprach, sich um die Zukunft sorgte und jeden Freitag die Schule schwänzen wollte. Die Reportage war rund zehn Jahre alt. Er sah dem Mädchen lange und gedankenverloren zu, dann schloss er die Augen.

 

Als er am nächsten Morgen ankam, fiel sein Blick auf Anton, der am Pool auf und ab ging, das Telefon am Ohr. Manchmal war er wie eine Karikatur. Ringsum war vermutlich kein Grashalm mehr zu finden, der nicht zu Stroh geworden war, aber Antons Rasen behielt sein zartes, strahlendes Grün.

Sie begrüßten sich per Handzeichen. Greg hatte es nicht eilig, ihn zu treffen. Er ging ins Haus und in den Salon, zu seiner Schwester. Sylvia beobachtete Anton durch die Fensterfront, der marschierte immer noch auf und ab, die Kappe tief ins Gesicht gezogen.

Wie du siehst, ist er verärgert, sagte sie.

Ja, ich auch, aber ich kann nicht einfach alles unterschreiben. Immerhin geht es um öffentliche Gesundheit, du weißt, was das heißt, öffentliche Gesundheit.

Du übertreibst, Greg.

Anton hatte auch sie in der Hand. Auf eine andere Art. Es brachte jetzt nicht mehr viel, mit ihr darüber zu diskutieren. Sylvia hatte sich für eine Seite entschieden. Sie hatte einen Fels gebraucht, und Anton war eins neunzig groß und um die hundert Kilo schwer. Greg konnte seiner Schwester keine Vorhaltungen machen. Manche Frauen stehen auf diese großen Affen.

Mir kommt es vor, als wäre es schon wieder so heiß wie letztes Jahr, sagte er, um die Unterhaltung auf ein anderes Thema zu lenken.

Ja, ihr werdet ordentlich braten.

Hab ich ihnen auch gesagt. Sie wollen nach Sonnenuntergang anfangen, aber das wird auch nichts ändern. Bei einem Heavy-Metal-Konzert sollte man schon ein bisschen ins Schwitzen kommen, falls du dich erinnerst. Ich habe überlegt, Ohrstöpsel mitzunehmen.

Jedenfalls lässt du sie nicht aus den Augen.

Zur Not nehme ich sie an die Leine.

Er verdrehte die Augen, als sie aus ihren Zimmern kamen, sie waren für diese Art von Event etwas kurz bekleidet und nicht übel geschminkt, aber er sparte sich den Kommentar. Er war für ihre Erziehung nicht verantwortlich. Gott sei Dank. Sie hatten beide Temperament. Die Ältere, Aude, war gerade zwanzig, machte aber schon eine Weile, was sie wollte. Er war wirklich froh, nicht ihr Vater zu sein. Und Anton weigerte sich manchmal, den Vater zu spielen, wenn sie mal wieder seine Nerven überstrapazierte. Sie war schließlich nicht seine Tochter, sondern Sylvias, ihm konnte das herzlich egal sein. Lucie hingegen, vierzehn Jahre alt und ebenso wenig Antons Tochter, schrieb schon mal Briefe an den Präsidenten und forderte ihn auf, zu den Neonikotinoiden oder der anhaltenden Feinstaubbelastung Stellung zu nehmen, Lucie mischte sich in alles ein, sie hatte Charakter.

Wahrscheinlich gab es in der ganzen Stadt keinen Mann, der gerne ihr Vater gewesen wäre. Und ihrer war getürmt.

Sie machten unterwegs einen Stopp, um etwas zu essen. Er wollte vermeiden, dass sie mit leerem Magen beim Konzert ankamen. Er parkte in der VIP-Area – ein flaches Gelände weiter unten, das von einem Typen mit Hund bewacht wurde, früher ein Kartoffelacker, heute zu nichts mehr zu gebrauchen – und brachte die Mädchen zur eigens errichteten Tribüne. Die Sonne ging unter.

Anton war ein Kotzbrocken, aber er war nicht dumm. Er war rund um die Uhr mit Publicity für sich und sein Labor beschäftigt, das als Sponsor des Events auf‌trat, wobei er gerne das Bild des entspannten Chefs abgab, barfuß in seinen Mokassins, umgeben von hoch spezialisierten Nerds ohne Krawatte, Verrückte, Dreißigjährige mit Bärten wie Holzfäller, in T-Shirts und Gummistiefeln. Haha. Der Arsch.

Wie dem auch sei, die beiden Mädchen waren glücklich. Es war sehr voll, und die Hitze des Tages konnte sich kaum auf‌lösen. Manche hockten in den Bäumen, andere spazierten über das trockene Gras, wieder andere tummelten sich ungeduldig vor der Bühne, bis die erste Gruppe eine Coverversion von Sunn O))) spielte. Der Organisator, ein Typ mit einem weißen Zopf und Ringen an jedem Finger, umarmte Greg fest und zwinkerte den Schwestern zu, die schon headbangten wie die Besessenen. Die Kerle spielten so laut, dass der Wald dröhnte. Manchmal tat das gut. Sie waren nicht seine Töchter, aber doch immerhin seine Nichten. Und mehr wollte er auch nicht.

Bald waren sie total verschwitzt. Er verteilte Wasserflaschen, forderte sie auf zu trinken, sich nicht zu entfernen. Über ihren Köpfen bildete sich im Laufe des Abends ein klebriger Hitzeschwaden, sodass einer der Sänger sich zwischen zwei Songs nackt auszog. Diese Showeinlagen aus dem letzten Jahrhundert gehörten eben dazu und hatten noch einige Anhänger, aber den meisten entlockten sie heute nur ein Lächeln, manche kippten sich wirklich noch Blut über den Schädel, ritzten sich oder zerdepperten ihre Instrumente an den Verstärkern, wie es schon ihre Väter Jahrzehnte zuvor getan hatten. Wie ein Verrückter wirbelte der Frontmann mit seinem Penis vor den ersten Reihen herum, und alle flippten aus.

Später in der Nacht versammelten sich die eingeladenen Gäste in einem geschmückten Partyzelt, während das übrige Publikum im Dunkeln auseinanderging. Das Labor hatte zweihundert Einladungen verschickt, die sich die Leute aus den Händen gerissen hatten. Aude sah ihren Onkel herausfordernd an, als sie nach einem Champagnerglas griff. Er muckte nicht.

Er fragte sich, welche Art von Kerl sie sich eines Tages schnappen würde. Spannend, das musste er sehen.

In der Ferne jaulten Hunde, und man hörte das Rattern des Hubschraubers, der das Gelände überwachte und mit Suchscheinwerfer immer im Kreis flog, als würde er durch eine Suppe rühren.

Greg wollte aufbrechen, er machte sich auf die Suche nach Aude. Sein Magen zog sich leicht zusammen.

 

Die ersten Probleme kamen einen Monat später auf. Einige der Untersuchungsergebnisse, die Anton gefälscht und Greg schlussendlich doch mit seiner Unterschrift bezeugt hatte, erregten bei der Gesundheitsaufsicht Verdacht. Die Sache wurde heiß.

Musste ja so kommen, knirschte Greg, ich hab dir gesagt, das fällt uns auf die Füße. Du hältst sie alle für Idioten. Aber denen kannst du mit deinen Zahlen nichts vormachen. Sie werden alles noch mal sehen und kontrollieren wollen.

Darum kümmern sich unsere Anwälte, war Antons Antwort. Wir müssen nur ein paar Vorsichtsmaßnahmen treffen. Ich zähle auf dich, um einige Dokumente verschwinden zu lassen. Du bist der Fachmann. Wir könnten das am Wochenende erledigen. Je früher, desto besser.

Greg schüttelte den Kopf. Anton, dann werden sich weiter Leute damit vergiften. Und wir sind schuld. Statt das Zeug verbieten zu lassen, haben wir die Schleusen geöffnet. Wer soll denn daran glauben. An so ein Wunder. Das ist doch grotesk.

Ja. In gewisser Weise. Natürlich.

Außerdem kann ich am Wochenende nicht, Lucie ist bei mir.

Greg, ich meine das ernst. Wir müssen schnell sein. Wenn das Kind erst mal in den Brunnen gefallen ist, du weißt schon. Lucie kann doch im Auto warten, es wird sie nicht umbringen. Greg, ich bestehe darauf. Oder lass uns das heute Abend machen, das ist noch besser. Sie kann ja so lange was gucken.

Greg fragte sich, warum er ihm immer nachgab. Vielleicht, weil es das Einfachste war. Vielleicht, weil er im Grunde fühlte, dass er ihm nicht gewachsen war, dass der Kampf schon von vornherein verloren war. Anton hatte die Statur eines Rugbyspielers, aber das allein war es nicht. Genauso wenig wie die Tatsache, dass er sein Chef war und seine Schwester vögelte. Nein. Plötzlich gab er jeden Widerstand auf und stimmte zu. Ohne einen blassen Schimmer, warum. Dennoch erinnerte er sich an das eine Mal, als er Anton standhaft angeblickt hatte, und rief sich die Szene immer wieder in Erinnerung. Die Ausnahme bestätigte die Regel, zugleich rettete sie die letzten Reste seines Selbstwertgefühls.

Kaum dass es dunkel geworden war, fuhren sie ins Labor. Der Pförtner schien sich kaum auf den Beinen halten zu können, so müde sah er aus. Zu seinen Füßen schlief wie immer der Hund. Wo er darüber nachdachte, konnte Greg nicht sagen, ob er diesen Hund jemals wach gesehen hatte.

Sie gingen hoch, vorbei an einer Reihe menschenleerer Büros. In Antons schlossen sie sich ein. Die Klimaanlage funktionierte fabelhaft. Selbst die Pflanzen erfreuten sich daran, sie leuchteten erstaunlich grün, dabei war auf der anderen Seite der Scheibe nur mehr Braun und Ocker, nach mehreren Jahren ohne Wasser war alles den Bach hinuntergegangen, die großen Regengüsse waren zu schnell vorbei, zu heftig, flossen sofort ab, der Boden konnte nichts aufnehmen.

Anton stapelte die Ordner auf einem niedrigen Tisch. Wortlos. Greg wusste, was er zu tun hatte. Die Scheiße einsammeln, für die sie verantwortlich waren, die Spuren ihrer dreckigen Finger beseitigen. Und die Liste war so lang, dass es ihn schmerzte. Das war der Preis für sein Apartment, seinen Porsche, seinen gut gepolsterten Alltagskomfort – zwei Augen zudrücken, wo er genau hätte hinsehen müssen. Immerhin hielt er den Kopf über Wasser, balancierte nicht mehr am Abgrund und hangelte sich nicht mehr auf der ganz dunklen Seite durchs Leben.

Sie hatten ordentlich zu tun, es waren viele Unterlagen, sie mussten die kleinsten Hinweise aufspüren, alles überprüfen, auch die Zahlen etc. Anton fütterte den Reißwolf. Ab und an warfen sie sich vielsagende Blicke zu. Das war nichts, worauf sie stolz sein konnten, natürlich nicht. Aber sie taten nur, was alle Labore taten. Die einen mehr, die anderen weniger. Mit mehr oder weniger Protektion von oben. Sie hatten keine Hemmungen. Die Bagatellisierung der Nebenwirkungen war eine Kunst für sich.

Greg nickte, um deutlich zu machen, dass er verstanden hatte, dass Anton es ihm oft genug gesagt hatte. Er rief Lucie an, um sie zu informieren, dass er noch ein Stündchen brauchte. Antons letzte Aktion entpuppte sich als uferlos, leitende Labormitarbeiter waren involviert, ein Haufen Dokumente musste durchgesehen und abgeglichen werden, Spuren verwischt, Gelände entmint, Rechner gesäubert werden.

Als sie mit dem Großen Hausputz fertig waren, bestand Anton noch auf einem Drink. Er war zufrieden, er schnauf‌te. Wenn sich abends alle Klimaanlagen der Stadt einschalteten, sobald die Leute nach Hause kamen, fix und fertig von der Hitze und der Übermüdung, fiel ständig der Strom aus. Kein Licht mehr, keine Eiswürfelmaschine.

Anton war einmal mehr dabei, ihm zu erklären, dass die Geschäfte von einer neuen Krise erschüttert wurden, mal wieder, und hätte er nicht gehandelt, sich nicht mit den Zahlen arrangiert, hätte das Schiff, an dessen Ruder er stand, schon längst Schlagseite bekommen. Ein Sanierungsplan hätte uns jetzt gerade noch gefehlt, erklärte er, als die Sicherung raussprang.

Ein leises Protestraunen ging durch den Raum. Wie durch Zauberhand erschienen auf den Tischen Kerzen. Echte und unechte mit Batterien, mit denen die lächelnden Chinesen sie nur so überschwemmten, ebenso wie mit Taschenventilatoren, Teleskopschirmen und kühlender Unterwäsche.

Anton beugte sich vor, um ihm sehr warmherzig den Arm zu drücken. Er hatte kräftige Hände, und seine freundschaftliche Geste zog üblicherweise das schmerzverzerrte Lächeln seines Opfers nach sich – ganz zu schweigen von den hellroten Fingerabdrücken auf milchiger Haut.

Ich weiß, das ist nicht leicht zu schlucken, sagte Anton. Aber die Alternative wäre noch viel schlimmer, glaub mir. Die Kunden wären abgesprungen, Verträge annulliert worden, und die Banken hätten uns im Nacken gesessen. Ich hocke mit meiner Nase nicht die ganze Zeit überm Mikroskop, nimm es mir nicht übel. Jedem seinen Platz. Ich habe mich dafür entschieden, das Unternehmen zu retten, stimmt. Aber vor allem habe ich für die Leute, die hier schuften, Arbeitsplätze gerettet, ich habe sie geschützt, jetzt kann ich zusehen, wie sie mit ihren Kindern im Gras spielen. Wir haben unsere Messer gezückt, nichts weiter, bisschen wie eine Straßenprügelei. Und ich mische mit.

Greg nickte nur. Er wartete, dass Anton endlich seinen Arm losließ, und trank sein Glas aus. In einer Ecke spielte jemand leise Klavier. In der Regel mochten Instrumente keine großen Temperatursprünge, und dieses hier schwächelte schon etwas – man hatte es in die Nähe des Eingangs gestellt, sodass es dem Zug ausgesetzt war, und davor war es für Bauarbeiten unter einer Plane verschwunden und hatte bei einem Feuer in den Toiletten tüchtig Löschwasser abbekommen, außerdem hatte es als Gerüst gedient, als die Decke gestrichen wurde –, ja, eine elegante Erscheinung war es nicht, seine Töne waren nicht mehr so klar, aber wenigstens kam der Klang nicht aus irgendeiner Dose oder Kiste.

Die Bar lag schräg gegenüber dem modernen Gebäudekomplex, in dem sich die SveOda-Labore befanden – jenes Unternehmen, das Anton von seinem Vater geerbt hatte und zu dessen Rettung aus einer schlimmen Lage er sich gerade beglückwünschte. Greg überlegte, ob Anton ihn zum Weinen bringen wollte. Er wandte seinen Blick der imposanten, im Dunkeln liegenden Eingangsfassade zu. Sie war tiefschwarz und wenig vertrauenerweckend, es war kein Detail zu erkennen. Wie oft hatte er einfach die Augen verschlossen, wie oft das Maul gehalten. Nichts auf der Welt war leichter als das.

Anton setzte ihn vor seinem Haus ab. Als sie sich verabschiedeten, Greg hatte schon einen Fuß draußen, neigte Anton sich zu ihm und dankte ihm für seine Hilfe. Man kann dir nichts abschlagen, antwortete Greg.

Ihre Blicke sagten mehr als tausend Worte. Dann wünschten sie sich Gute Nacht.

 

Lucie hielt eine alte Glasreinigerflasche in der Hand, die sie als Zerstäuber benutzte. Sie hatte das Display an einen Akku angeschlossen und betrachtete die junge Frau, die ein Buch geschrieben hatte – und heute natürlich einige Jahre älter war. Damals trug sie noch Zöpfe, sagte er und schnappte sich einen Fächer. Aber ich erkenne sie. Zehn Jahre älter, klar, aber man erkennt sie gut.

Er ließ sie das Ende des Interviews allein sehen und sprang voller Hoffnung unter die Dusche. Seit einigen Tagen war das Wasser unerträglich lauwarm. Zwar hatte er das Gefühl, dass es jetzt zwei oder drei Grad weniger waren, kein großer Unterschied also, aber besser als nichts, er hatte den Eindruck, es atmete sich etwas leichter, das ließ ihn hoffen.

Er wollte hinaus auf die Terrasse und ging in Shorts und mit nassen Haaren hinter Lucie vorbei, die sich beim Abspann Notizen machte. Lucie war noch ein Baby gewesen, als das Bild des Mädchens mit den Zöpfen über die Bildschirme um die Welt gegangen war. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Das Mädchen, das die Schule schwänzen wollte, um die Welt zu retten. Und kein Denkmal für sie, nicht einmal eine Briefmarke.

Seit wann interessierst du dich für sie, fragte er, ans Geländer gelehnt, über dem schwarzen Wasser, das von unten hochglitzerte.

Ich muss etwas über sie schreiben, zum Erscheinen ihres Buchs. Ich möchte sie fragen, wie sie die letzten zehn Jahre sieht. Ich werde sie treffen.

Er wandte sich ihr lächelnd zu. Er musterte sie einen Augenblick, dann nickte er, ja, das ist eine gute Idee.

Lucie machte keine halben Sachen. Sie sog alles auf, was sie zum Thema finden konnte, als würde es damit in die Annalen eingehen, dabei las kein Mensch mehr das Mitteilungsblatt der Schule. Ihr war das egal, sie tat es für sich. Von Zeit zu Zeit schloss sie die Augen und umnebelte ihr Gesicht mit einem leuchtenden Schleier.

Wenn sie bei ihm übernachtete, überließ Greg ihr sein Bett und schlief auf dem Wohnzimmersofa. Er ließ sie in Ruhe. Er hatte Verständnis. Die Spannungen zwischen Anton und Sylvia, die Rückkehr ihrer Schwester im Rollstuhl – Greg konnte sich die Stimmung gut vorstellen und versuchte, ausreichend für sie da zu sein. Ein Ersatz war das nicht für ihn, aber vielleicht doch ein bisschen. Manchmal gingen sie abends ins Kino oder bowlen. Das Rumpeln der Kugeln und umfallenden Kegel war nichts im Vergleich zu dem weißen Rauschen, vor dem sie floh.

Tatsache war, dass Aude vollkommen verrückt geworden war und trotz Beruhigungsmitteln den anderen das Leben zur Hölle machte. Manchmal hörte man das Gebrüll bis ans Ende der Straße. Beschwert hatte sich noch niemand, die Nachbarn schienen am Schicksal dieses armen, bis zu seinem Tod an den Rollstuhl gefesselten Mädchens Anteil zu nehmen und drehten einfach die Lautstärke hoch. Sie hasste jetzt Gott, die ganze Welt, und sie besonders. Dieser leblose Körper, diese wandelnde Leiche. Sylvia weinte zwar nicht mehr, aber ihre Augen waren durchgehend gerötet. Anton hingegen kam möglichst spät heim und stand morgens früh wieder auf. Greg sah ja, wie es lief. Er hatte sein Fett zweimal hintereinander wegbekommen, Aude hatte sich tobend an seinen Arm geklammert und ihm ins Ohr gebrüllt, seitdem hielt er seine Besuche kurz, ging immer nur auf einen Sprung vorbei und blieb auf Abstand zum Rollstuhl. Er war nicht verantwortlich für das, was geschehen war. Sie hatte ihn nicht gefragt, ob sie sich vom Gelände entfernen durf‌te. Jedes andere vernünftige Mädchen hätte das getan. Es gab grundlegende Sicherheitsregeln zu beachten. Vor allem, wenn es dunkel wurde. Alle Welt wusste das.

Er setzte sich in einen Liegestuhl und wartete, bis Lucie aus dem Bad kam. Wenn man sich nicht bewegte, war die Hitze fast erträglich. Aber er sollte sich nicht beklagen, das letzte Jahr war noch schlimmer gewesen. Ganze Wälder waren vertrocknet.

Das schlammige Plätschern des Seewassers war auf der Terrasse nur sehr leise zu hören. In ein Handtuch gewickelt kam sie aus dem Bad, machte ein Zeichen und verschwand in ihrem Zimmer. Ihm war nicht klar, ob sie wusste, was Anton und er eigentlich machten, oder ob sie nicht sehen wollte, dass sie genau die Art von Dreckskerlen waren, die wissentlich Leute vergifteten und gegen die Lucie und alle Welt aufbegehrten. Wenn draußen die Schreihälse mit ihren Plakaten demonstrierten, schlossen sie die Gittertore vor den Laboren, und das Wachpersonal zog sich ins Gebäude zurück. Dann sprachen Stiefvater und Onkel mit Lucie und erklärten, man könne doch nicht alle in einen Topf werfen, sie seien ja nicht das einzige Labor im Land, sie leugneten ja nicht, dass auch unehrliche darunter waren, schwarze Schafe, wie überall.

Sie waren freigiebig mit Informationen, wenn Lucie beiläufig auf das Thema zu sprechen kam. Aude war es immer egal gewesen, aber Lucie steckte ihre Nase überall hinein. Gleichzeitig waren sie immer bestrebt, die Wogen zu glätten, und blieben mit ihren Erklärungen stets vage, nebulös. Sie besänftigten sie, um sie zu besänftigen. Mit allen Mitteln. Und die Masche hätte auch bei vielen anderen gezogen, denn sie waren keine üblen Schauspieler, sie schreckten auch nicht davor zurück, mit der Hand aufs Herz zu schwören und ihre Unschuld mit der zittrig gebrochenen Stimme von tief Verletzten zu beteuern.

Sie kam im Nachthemd aus ihrem Zimmer und stellte sich vor ihn. Ich habe gerade gedacht, ob du nicht mitkommen möchtest, sagte sie. Es könnte dich interessieren.

Er gab sich einen Ruck und richtete sich auf, machte ein freundliches Gesicht. Nein, das ist nett, weißt du, ich kenne das alles auswendig. Ich habe ständig mit solchen Leuten zu tun.

Sie verschränkte die Arme. Ich möchte, dass du sie triffst, mich interessiert deine Meinung.

Auf dem See waren noch Raddampfer in Betrieb, Antiquitäten mit großen Schornsteinen. An der Anlegestelle war eine Schlange, manche fuhren nur hin und her und saßen auf dem offenen Deck, um ein bisschen Luft zu bekommen, außerdem war es der letzte Dampfer des Tages und kündigte sich mit großem Horn an.

Er ging wieder hinein und spulte zu der Stelle zurück, wo die junge Frau Werbung für ihr Buch machte, zehn Jahre nach ihren ersten Reden. Die Untertitel waren mittelmäßig, dafür war die Stimme angenehm. Er machte sich einen Get 27 in einem großen Glas, sah aber mit einem Auge weiter zu. Im Grunde bedauerte er nicht, Lucies Bitte nachgegeben zu haben. So stand er mindestens nicht als Letzter der Dummen da, als würde er der Zeit hinterherhinken. Sein Sohn wäre jetzt so alt wie sie. Greg versuchte sich vorzustellen, was er von ihr gehalten hätte. Wahrscheinlich hätte er begeistert mitgemacht.

Sein Sohn war in einem Alter gestorben, in dem die Verbindung zum Vater für gewöhnlich nicht die beste ist. Was sein väterliches Schuldgefühl nicht gerade abmilderte. Aber heute hatten sich die Wolken verzogen, und Vater und Sohn verstanden sich besser als früher. Es tat ihm nicht mehr weh. Alles war gut. Bis auf diese schreckliche, schlimme Sache, von der er ordentlich Sodbrennen bekam. Ihre Gesichter verblassten. Ihre Gesichter verschwanden, verschwammen, das von Nicky ebenso wie das von Denise. Fotos änderten daran nichts, er schaute sie nicht mehr an.

Er schenkte sich noch einen Get ein, die Stromversorgung war wiederhergestellt. Er löschte die Lampen und schaltete die Ventilatoren und die Eiswürfelmaschine ein. Nicky litt damals unter einem schweren Akneschub, und seine Laune war mies gewesen, aber seitdem hatten sie in Gedanken Frieden geschlossen, jedenfalls von seiner Seite aus. Mit Denise gestalteten die Dinge sich schwieriger, zwangsläufig. Sie hatte keine Hemmungen, sich bemerkbar zu machen, ihm zu erscheinen, sich vor ihm aufzubauen. Sie schenkte ihm nichts. Manchmal ließ er ihretwegen entmutigt den Kopf hängen.

Mechanisch reinigte und befüllte er die Wasserflaschen für den Kühlschrank. Der Mond wellte sich auf der Seeoberfläche, wo sich jetzt sonst nichts mehr regte. Er ließ sich auf das Sofa fallen, ohne sich die Mühe zu machen, es auszuklappen.

 

Eine Woche später fand das besagte Treffen statt, in den Räumlichkeiten ihrer Verlegerin, einer gewissen Véra, die Greg sofort ins Auge stach. Etwas wie ein Ruck durchfuhr ihn. Und abermals, als er die Hand berührte, die sie ihm zur Begrüßung entgegenstreckte.

Also, was denkst du. Wie war ich, fragte Lucie ihn ungeduldig, als sie hinaustraten. Du hast mich gefilmt. Das ist gut.

Er nickte. Ja. Du hast das super gemacht. Sie war cool, finde ich. Was mich nicht wundert. Mit ihren Zöpfen sah sie lustiger aus. Jetzt erinnert sie mich an Naomi Klein, aus verschiedenen Gründen. Was willst du trinken.

Wir sind ihrer Bewegung beigetreten. Wir haben in der Schule eine Gruppe gegründet, meinte Lucie aus heiterem Himmel.

Als er sie ansah, hatte Lucie ihn selbst schon fest im Blick. Er musterte sie einen Moment und wandte sich dann wieder der Speisekarte zu.

Ich weiß nicht, sagte er. Sie scheint okay zu sein. Man muss Überzeugungen haben im Leben.

Normalerweise war Lucie nicht sehr mitteilsam, Gefühlsausbrüche waren nicht ihr Ding. Aber jetzt sprang sie von ihrem Stuhl auf und warf sich an seinen Hals. Greg hatte höchstens mit einem angedeuteten Sympathielächeln gerechnet, vielleicht noch mit einem Zwinkern, aber das. Sie riss ihn fast vom Stuhl, in letzter Sekunde fing er sein Glas auf.

Als er sich gesammelt hatte, versicherte er Lucie, natürlich auf ihrer Seite zu sein, sie könne auf seine Unterstützung zählen, er werde hinter ihr stehen. Das war offensichtlich, was sie hören wollte. Vor lauter Freude bestellte sie eine zweite Cola.

Ich habe Angst, dass sie es nicht so gut aufnehmen wie du.

Klar werden sie sich Sorgen machen. Deine Mutter ist von Tag zu Tag angespannter, wegen deiner Schwester, und die Schmierereien am Laborgebäude fand Anton nicht so toll. Das ist nicht die beste Basis, ich will dir nichts vormachen, aber das kriegen wir schon hin, du und ich.

Gregs Haltung schien ihr zu passen. Sie wirkte ganz zufrieden mit ihrer Übereinkunft. Mit ihren vierzehn Jahren wandelte sie auf einem schmalen Grat, halb Frau, halb Kind, was beeindruckend anzusehen war, denn sie konnte blitzartig vom einen zum anderen wechseln.

Sie streckte sich. Und die Verlegerin, Véra, fragte sie, hat dir wohl gefallen.

Er zog seinen Fächer aus der Tasche und wedelte. Ja, kann man so sagen. Kann ich nicht leugnen. Zum Glück passiert so was nicht jeden Tag.

Sie hatten sich draußen hingesetzt, Lucie war gegen klimatisierte Luft.

Aha. Und seit wann.

Seitdem ich darüber nachdenke.

Alles ging heutzutage immer schneller, mit vierzehn begannen die Mädchen nachzudenken. Er beobachtete sie interessiert, während sie ihr Glas austrank. Kaum hatte sie dieses lang erwartete Interview hinter sich, hatte sie ihn schon um ihren Finger gewickelt. Er bewunderte ihr Geschick.

Er blickte sich kurz um, dann neigte er sich zu ihr. Also, sag das bloß keinem, aber ich bin stolz auf dich. Auf dein Engagement. Du wusstest, welche Probleme es dir einbringen würde, und hast es trotzdem gemacht, ich bin stolz auf dich. Wenn du noch eine Cola willst, bitte.

Vor ihrer Nase stießen zwei Rollerfahrer zusammen.

Die nerven mit ihren Rollern auf den Gehwegen, grummelte Greg.

Er lud sie zum Mittagessen ein. Zeigte ihr dabei ein paar Aufnahmen, die er während des Interviews gemacht hatte.