Die Rastlosen - Philippe Djian - E-Book

Die Rastlosen E-Book

Philippe Djian

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Beschreibung

Marc fühlt sich von seiner Schwester, seinen Vorgesetzten und der Polizei beobachtet. Alle wissen, dass er ein Faible für junge Studentinnen hat und die talentierte Barbara ist plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Aber was kann er denn dafür? Der Höllentrip eines unverbesserlichen Schürzenjägers. "

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Seitenzahl: 251

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Philippe Djian

Die Rastlosen

Roman

Aus dem Französischen vonOliver Ilan Schulz

Titel der 2010 bei Éditions Gallimard, Paris

erschienenen Originalausgabe: ›Incidences‹

Copyright © 2010 Philippe Djian et Éditions Gallimard

Die deutsche Erstausgabe erschien

2012 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration: David Hockney,

›Pacific Coast Highway and Santa Monica‹,

1990 (Ausschnitt)

Oil on Canvas, 78 x 120’’

Copyright © David Hockney

Foto: Steve Oliver

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24264 5 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60197 8

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Das konnte er auch mit dreiundfünfzig noch – an einem herrlichen, in weißes Mondlicht getauchten Winterabend, drei Flaschen eines besonders starken chilenischen Rotweins im Blut, mit Vollgas die Bergstraße hinaufrasen.

Er fuhr einen Fiat 500 mit einem müden Motor, der jedoch sicherlich stark genug gewesen wäre, ihn in den Abgrund zu schleudern – aber er hielt das Steuer mit fester Hand umschlossen und hatte die Augen weit geöffnet.

Durch das heruntergekurbelte Fenster drang eiskalte Luft herein. In jeder Haarnadelkurve jaulten die Reifen. Es gab genug Dummköpfe, die im Laufe der Jahre auf dieser Straße in den Tod gefahren waren, er aber trotzte ihr weiterhin.

Noch nie hatte er sich dazu durchringen können, über Nacht in der Stadt zu bleiben, niemals – ganz egal was er gemacht oder getrunken oder genommen hatte. Niemand hatte ihn je davon abhalten können, sein Auto zu nehmen und nach Hause zu fahren. Nicht diese Straße jedenfalls, nicht diese verdammte Straße.

Auf dem Beifahrersitz saß eine junge Frau, auch sie offensichtlich betrunken. Er warf einen Blick auf sie und konnte es wieder nicht fassen, dass einem alten Prof wie ihm, mit abgetragenem Sakko und einem so winzigen Auto [6] noch das Glück beschert war, eine Studentin in seinen Bau zu schleppen, um sich mindestens bis zum Morgengrauen an ihr zu erfreuen.

Schon vor vielen Jahren war ihm klar geworden, dass für ihn der Zeitpunkt gekommen war, bestimmte berufsbedingte Vorteile zu nutzen – mangels anderer Formen der Anerkennung, auf die er sich besser keine Hoffnungen mehr machte.

Eines schönen Morgens war eine seiner Studentinnen von einem seltsamen Phänomen erfasst worden und hatte zu leuchten begonnen – von innen heraus, wie eine Laterne, ein wunderbares Schimmern –, eine junge Frau, die eigentlich nichtssagend und außerordentlich langweilig war, noch dazu komplett unfähig, auch nur eine gerade Zeile zu schreiben. Aber als er dann recht boshaft eine ihrer Arbeiten zerpflückte, überkam ihn plötzlich ein glühend heißer Hauch, der ihn blendete und verblüffte. Diese Studentin war die erste in einer ziemlich langen Reihe von Sexgespielinnen gewesen und eine der angenehmsten Liebhaberinnen seines Lebens überhaupt.

Sex mit vielen Studentinnen zu haben war letztlich keine Qual und auch kein allzu schwacher Trost. Es gab Typen, die sich und andere für weniger in die Luft sprengten.

Die Studentin, die ihn an diesem Abend begleitete und deren Name ihm entfallen war, hatte sich gerade erst in seinem Creative-Writing-Kurs angemeldet. Er hatte nicht eine Sekunde lang versucht, sich gegen die Anziehung zu wehren, die sie auf ihn ausübte – über alle Maßen auf ihn ausübte. Warum auch? Ein eiskaltes Wochenende stand bevor, wie geschaffen für Kaminfeuer und ein paar schöne Stunden. [7] Ihre Schmolllippen. Die drallen Hüften. Blieb nur zu hoffen, dass sie zu gegebener Zeit einsatzfähig wäre.

Sie schien kaum noch bei Bewusstsein. Nur der Gurt verhinderte, dass sie auf die eine oder andere Seite kippte. Zu Hause würde er erst mal Kaffee machen müssen.

Der Straßenrand war weiß, das Unterholz tiefschwarz. Er schlingerte über die Fahrbahn, folgte mit zusammengebissenen Zähnen dem weißen Mittelstreifen, der sich unter seinen Augen wand wie eine hungrige Schlange im roten Mondlicht.

Sie war dreiundzwanzig. Am frühen Morgen bemerkte er, dass sie leblos war – und kalt.

Nachdem der erste Schreck verflogen war, warf er mit einem Ruck die Decke zurück, sprang aus dem Bett und ging zur Tür, horchte. Im Haus war alles ruhig. Er lauschte angestrengt. Dann wandte er sich wieder dem Bett zu und betrachtete die Leiche des Mädchens. Zum Glück war kein Blut zu sehen. Immerhin. Im hellen Licht, das ins Schlafzimmer fiel, wirkte sie absolut unversehrt, milchweiß und glatt.

Kurz entschlossen zog er sich an. Er erinnerte sich, dass er sie den Weg vom Auto ins Bett fast hatte tragen müssen – sie war so munter gewesen wie ein Sack Kartoffeln und schien kurz davor, sich zu übergeben. Aber als sie sein Zimmer erreicht hatten, war sie auf einmal aufgewacht. Erfreut, da zu sein, bei ihm – endlich bei ihm. Hatte sich ihre Kleidung vom Leib gerissen, ihren Slip durchs Zimmer geschleudert. Er hatte keine Ahnung, was danach passiert war, aber eins war sicher: Sie hatten es getan. Daran bestand kein Zweifel.

Von diesen Studentinnen war eine umwerfender als die [8] andere – und diese hier, die man trotz der etwas kurzen Beine geradezu als Schönheit bezeichnen konnte, war keine Ausnahme. Selbst in diesem Zustand, mausetot und zunehmend kälter, war sie immer noch sehr anziehend. Er wandte den Blick ab.

Es würde Schwierigkeiten geben. Große Schwierigkeiten. Aber wie man es auch drehte und wendete, nichts würde diese arme Kleine wieder zum Leben erwecken. Man konnte nichts mehr für sie tun.

Die Sonne ging auf. Die Baumwipfel glitzerten. Der Boden lag unter einer dicken Schneedecke. Sich die Leiche vom Hals zu schaffen war im Augenblick wohl das Vernünftigste, was er tun konnte. Wer wollte schon Ärger mit der Polizei in diesem Land? Wer glaubte noch daran, man müsse nur unschuldig sein, um in Frieden gelassen zu werden? Er öffnete das Fenster.

Im Wald neben dem Haus war es still und friedlich. Krähen zogen ihre Kreise, Bussarde flogen im Zeitlupentempo und jagten. Unten im Tal trat der See aus dem Schatten und verwandelte sich in eine spiegelnde Fläche, über die schon die ersten Raddampfer glitten, herausgeputzt mit Girlanden und Fähnchen. Seine Schwester kam im Morgenrock in den Garten und rauchte ihre erste Zigarette. Sie sah zu ihm herauf.

»Hallo, Marianne«, rief er und winkte. »Schöner Tag, findest du nicht?«

»Verdammt, Marc. Du hast vielleicht einen Krach gemacht gestern Abend.«

»Krach, ich? Meinst du meinen Auspuff?«

»Es war jemand bei dir.«

[9] »Bei mir? Das hast du geträumt. Wahrscheinlich der Fernseher.«

Eine Dachlawine kam ins Rutschen und landete auf dem Boden, dumpf knirschend wie ein schweres Baiser. Er zuckte mit den Schultern und wandte sich ab. Es war noch zwei Wochen zu früh, aber eine Sekunde lang hatte er geglaubt, den Duft des Frühlings wahrzunehmen – als wären im Laufe der Nacht die ersten Blumen erblüht –, aber vielleicht hatte er sich getäuscht. Jetzt roch er nichts mehr. Eis und Schnee hatten alles wieder unter sich begraben.

Das Mädchen war so kalt wie ein Schinken, fast schon grau. Er holte tief Luft und begann, die Sachen der Unglücklichen einzusammeln.

Dann machte er sich daran, sie wieder anzuziehen. Er überlegte kurz, ob er den weißen Baumwollslip behalten sollte, dessen Innenseite leicht nach Urin roch, rückte ihren BH wieder zurecht, den sie nicht abgelegt hatte, rollte ihr die Strümpfe wieder hoch. Dabei fielen ihm einige Szenen der Party wieder ein, auf der sie gewesen waren, bevor sie sich zum Chalet aufgemacht hatten, einer so betrunken und hinüber wie der andere und beide kaum noch bei Sinnen.

Die Sonne strich jetzt über die andere Uferseite und ließ die Wälder in glühendem Rot aus der Dunkelheit hervortreten. Die Studentin war vollständig enthaart. Was für ein Trauerspiel, sie so daliegen zu sehen, erstarrt, unnütz, für immer ins Jenseits gegangen. Nach dieser unglaublichen Nummer, die sie geschoben hatten.

Seine Bemühungen und Gedanken verschafften ihm den Beginn einer Erektion. Aber sein Zeitplan war zu eng, er [10] schloss die Beine der jungen Frau. Eben hatte er unten die Kaffeemaschine gehört. In etwa zehn Minuten hätte er freie Bahn. Er nutzte den Moment und schluckte eine Handvoll Aspirin, bevor ihm endgültig der Schädel platzte.

Er vergewisserte sich, dass er nichts vergessen hatte – seine Schlüssel, sein Telefon, seine Karten, sein Geld, seine Arbeitstasche, seinen Hut, seine Gleitsichtbrille usw. –, dann warf er sie sich über die Schulter und ging auf Zehenspitzen ins Erdgeschoss hinunter, schwerbeladen mit seiner unseligen Last.

Zum Glück war er für sein Alter noch relativ fit, denn sie wog bestimmt 60Kilo und war wenig hilfsbereit – besonders auf der Treppe, wo man keinesfalls eine Stufe verfehlen durfte.

Auf dem Weg durch die Küche schnappte er sich einen Apfel, sein Frühstück. Draußen schien die Sonne, der Schnee knirschte unter seinen Füßen und zerstäubte wie Zucker. Es war schön und kalt. Er lehnte das Mädchen gegen die Autotür und begann, den Fiat mit einem von Total spendierten Eiskratzer von seiner frostigen Schale zu befreien. Er versuchte, an sein Seminar zu denken, wie er John Gardner vorstellen wollte – auch wenn er dann wieder als Verräter der französischen Literatur und unbelehrbarer Amerikafanatiker abgestempelt wurde.

Wer waren da die Verräter? Wer vertuschte denn die Wahrheit? Die Schwierigkeiten begannen, als er die junge Frau ins Auto verfrachten wollte. Die Beine stellten sich quer. Es war nicht viel Platz. Er musste rabiat werden. Die Knochen stauchen. Marianne konnte jeden Moment auftauchen und ihn fragen, was er da eigentlich gerade machte. [11] Was hätte er ihr denn sagen sollen? Nachbarn konnten jeden Augenblick auf der Straße vorbeikommen, Jogger konnten stehenbleiben und ihn ansprechen.

Beharrlich machte er weiter, steigerte sich hinein, drückte und presste, bis etwas nachgab – was genau, wollte er nicht wissen – und die Studentin endlich in seinem Fiat verstaut war. Er sah auf die Uhr und sagte sich, dass er keine Zeit verlieren durfte. Bevor er losfuhr, hupte er zwei Mal kurz – das war eines dieser seltsamen Rituale, die für Marianne und ihn im Laufe der Zeit zur Gewohnheit geworden waren und die sie beide gleichermaßen deprimierend fanden, aber dennoch beibehielten, obwohl seine Schwester schon lange nicht mehr ans Fenster kam und er den Rückspiegel keines Blickes mehr würdigte.

Seit einigen Tagen fragte er sich, ob er nicht einen Teil seines Auspuffs oder sogar die ganze Anlage verloren hatte. Zugegeben, der Fiat 500 war noch nie ein sonderlich diskretes Auto gewesen – den Traum, dass er sich eines Tages allen Widrigkeiten zum Trotz einen Audi kaufen könnte, am liebsten einen A8, hatte er längst aufgegeben –, aber nun war es, als würde sich irgendwo ein Traktor, ein frisiertes Motorrad oder ein Düsenflugzeug in Bewegung setzen. Er würde eine Lösung finden müssen. In letzter Zeit begannen die Leute in der Stadt, sich nach ihm umzusehen, wenn er vorbeifuhr. Es dauerte wohl nicht mehr lange, bis sie ihn erwischten und vielleicht mit Waffengewalt und Handschellen auf die Wache brachten, eine Pistole an der Schläfe – achtundvierzig Stunden vorher war einer der Englisch-Dozenten mitten auf der Straße brutal zu Boden gerissen und festgehalten worden, weil er irgendwie zu viele Punkte [12] auf seinem Führerschein hatte –, heutzutage protestierte nicht einmal mehr Human Rights Watch wegen so einer Lappalie, kein Mensch regte sich mehr über so was auf. Sonst würde Marianne ihm bestimmt schon bald zu verstehen geben, dass sie die Nase voll hatte. Darauf konnte man sich verlassen. Sie würde seine nächtlichen Streifzüge nicht mehr lange dulden – außer, er besorgte sich ein Fahrrad und fettete regelmäßig die Kette.

Auf halbem Weg hielt er am Straßenrand hinter einem schneebedeckten Wäldchen. Die Luft war frisch, jeder Atemzug wirbelte als weißer Hauch im Sonnenlicht herum. Er nahm sich die Zeit, seine Hose hochzukrempeln. Seine Wangen waren schon gerötet. Von denen seiner Mitfahrerin konnte man das nicht behaupten. Bevor er sich ihrer annahm, rief er seine Mails ab. Vergewisserte sich, dass nicht über Nacht ein Kontinent ausgelöscht oder von einem Virus infiziert worden war, aber die Zeitungen meldeten nichts dergleichen. Schönes Wetter stand auf dem Programm, kalt und trocken, das übliche Gemetzel da und dort.

Er nickte kurz und rüstete sich innerlich für den Aufstieg. Der Pfad war steil, schwer zugänglich und kaum passierbar, einige Wegstücke verlangten großes Geschick. Er würde patschnass, atemlos und von kaltem Schweiß überströmt oben ankommen und etwas zerknitterter und unordentlicher vor seine Studenten treten, als ihm lieb war – aber es lief eben nicht immer alles wunschgemäß, man musste sich den Geschehnissen anpassen.

Die Studentin hatte sich graublau verfärbt, dabei war es nicht einmal besonders kalt. »Was für ein Elend«, grübelte er wehmütig, als er sich über sie beugte, um sie unter den [13] Achseln zu packen. Was für eine Tragödie, man durfte gar nicht darüber nachdenken. So jung und schon dahingerafft. Wie absurd das war, wie himmelschreiend. Und wie übel man auch ihm dabei mitspielte. Wie konnte man ihm das antun, dieses arme Mädchen unter seinem Dach, in seinem Bett hopsgehen zu lassen. Warum hatte man nicht gleich noch einen draufgesetzt und ihm einen Dolch in die Hände gelegt? Es war wirklich mies. Er verzog das Gesicht und lud sie sich auf die Schultern.

Marianne und er hatten diese Felsspalte zufällig entdeckt, als er einst plötzlich fast hineingefallen wäre. Er hatte über dem Abgrund gehangen, über einem tiefen Loch, das gut versteckt in einem vermoosten Steilhang klaffte, und verdankte sein Leben einzig und allein seiner Schwester, die ihn gepackt und mit aller Kraft hochgezogen hatte. Nachdem sie wieder zu Atem gekommen waren, hatten sie sich noch einmal zitternd über den Schlund gebeugt, dessen Rachen sich im Boden öffnete und der leicht auch einen Ochsen oder ein Pferd verschluckt hätte.

Sehr bald lief ein Rinnsal von eiskaltem Schweiß zwischen seinen Schulterblättern hinunter. Er rauchte einfach zu viel. Er würde sich ernsthaft mit diesem Problem auseinandersetzen müssen, daran bestand kein Zweifel mehr. Seine Lunge brannte. Seine Waden brannten. Wenn er noch ein paar Jahre so weitermachte, würde er mit hängender Zunge und auf Knien über den Boden schleifen.

Wie auch immer, kaum hatte er sein Ziel erreicht, die Leiche der Studentin abgeworfen und sich mit gespitzten Ohren versichert, dass ihn niemand beobachtet hatte, zündete er sich eine an. In den Niederungen des Lebens waren [14] Winstons seine engsten Verbündeten. Zusammen mit der kühlen Luft, die nach Schnee und frischem Gras duftete, reichte es schon fast zur Glückseligkeit. Mit dem Anflug eines Lächelns betrachtete er die aufleuchtende Glut. Um ihn herum herrschte nun so tiefe Stille, dass er das leise Knistern des verbrennenden Tabaks hörte. Im Winter war die Stille der Wälder auf den Hügeln phantastisch, sie erfüllte alles ringsumher.

Obwohl er gute Wanderschuhe von Galibier trug, waren seine Socken ebenso durchnässt wie der untere Teil seiner Hosenbeine, die ursprünglich hellbeige und nun dunkelbraun waren. Überhaupt hatte seine Kleidung während des Aufstiegs ziemlich gelitten – zweimal war er auf einer Eisplatte ausgerutscht, und er hatte sich mit seiner schweren Last zwischen Steinblöcken und tiefhängenden Ästen durch Wegengen zwängen müssen. Aber er hatte keine Zeit mehr, nach Hause zu fahren und sich umzuziehen. Wie hatte er nur so dumm sein können. Er hätte sich denken müssen, dass er es nicht schaffen würde, mit dem Mädchen auf dem Buckel da hochzusteigen und weiß und unbefleckt wie eine knospende Lilie wieder runterzukommen. Plötzlich sah er sich wieder in Shorts, fast noch ein Kind, voller Staub und getrockneter Erde. Sich und Marianne. Direkt in die Badewanne verfrachtet. Brutal abgeschrubbt von dieser schrecklichen Frau.

*

Barbara. Zwei Tage danach, die Ereignisse begannen bereits ihren Lauf zu nehmen, war ihm der Name wieder [15] eingefallen. Barbara. Diesen vollkommen albernen Vornamen hatte er so schnell wie möglich verdrängt, denn er wurde der Studentin nicht gerecht, die sich in seinem Kurs schon früh als ziemlich begabt erwiesen hatte und nicht allzu schlecht schrieb. Er hatte sie sofort bemerkt. Sie war blond, wirkte brav und schüchtern, eine von der Sorte – aber ihr Herz loderte wie eine Handvoll glühender Kohlen. Er stand auf und warf einen Blick aus seinem Bürofenster. Die Erinnerung an Barbara rührte ihn. Es gab nur wenige Studenten, aus denen man etwas herausholen konnte, die Anlass zu Hoffnung gaben. In all diesen Jahren hatte er scharenweise Studenten vorüberziehen sehen, aber die, die zu einer substanziellen Arbeit fähig waren, konnte man an den Fingern einer Hand abzählen. Man musste mit einem Minimum an Genius gesegnet sein. Man hatte es, oder man hatte es nicht. Er selbst hatte es nicht. Um ein Haar wäre er in den ersehnten Hafen eingelaufen, hätte das gelobte Land erreicht. Aber wer nicht von vornherein ein Mindestmaß an Genius besaß, brauchte sich gar nicht abzumühen – in der ersten Rede, die er gewöhnlich zu Semesteranfang hielt, warnte er vor übermäßigem Optimismus und allzu großem Selbstbewusstsein, denn nur wenige Auserwählte gelangten ans Ziel. Selbst an die zweite Garde war schwer heranzukommen. Selbst gute Drehbuchautoren waren selten. In gut fünfzehn Jahren war er nur zwei oder drei Auserwählten begegnet, zwei oder drei, die dazugehörten und seine Kurse erleuchtet hatten. Sandkörner in der Wüste. Da das so selten vorkam, versetzte es einen in ehrfürchtiges Erstaunen – wenn man im Unterricht auf solch ein Kleinod stieß.

Er sah dem Polizeibeamten nach, der ihm gerade seinen [16] Ausweis zurückgegeben hatte und nun den Parkplatz für ordentliche Professoren und motorisch Behinderte überquerte. Die Versuchung war groß gewesen. Ganz kurz war er versucht gewesen, die Wahrheit zu sagen, zu bekennen, dass sie das Fest gemeinsam verlassen hatten und in seinem Bett gelandet waren. Aber er hatte sich rechtzeitig zusammengenommen. Die ungeschminkte Wahrheit hätte niemandem weitergeholfen.

Die Bäume begannen auszuschlagen. Der Polizist vollzog auf dem Parkplatz ein hektisches und geräuschvolles Wendemanöver und fuhr mit achtzig über den Campus davon. Nicht dass ihre kurze Begegnung ihn verärgert hätte – im Gegenteil, sie hatten sich sogar ein bisschen unterhalten –, aber er war gerade über Funk verständigt worden, ein Auto hätte das Schaufenster eines Juweliergeschäfts im Zentrum eingerammt. Millionen Euro hatten sich verflüchtigt.

Was für ein spannender Beruf. Der herannahende Frühling machte ihn bestimmt noch angenehmer – man ließ den Arm aus dem heruntergekurbelten Fenster hängen, konnte anhalten und etwas trinken, ohne sich rechtfertigen zu müssen, konnte hübsche Frauen beschatten, auf Kosten des Steuerzahlers mittagessen, eine Waffe tragen usw., hatte der Polizist ihm erklärt. Ein Beruf voller Abenteuer, und noch dazu an der frischen Luft.

Wie auch immer, niemand hatte die besagte Barbara und ihn an diesem Abend zusammen hinausgehen sehen. Eine grundlegende Vorsichtsmaßnahme, die er immer beachtet hatte, seit er sich auf diese Art von Beziehungen einließ. Mit einer Studentin zu schlafen fand auch heute noch wenig Zustimmung, und es kam nicht selten vor, dass man [17] seine Stelle verlor, wenn man einmal vor den Disziplinarausschuss gestellt worden war – er machte meistens Schluss, bevor es Schwierigkeiten gab, man sie Arm in Arm erwischte, also kurz gesagt die Vorsicht nachließ. Er hatte sich an die Arbeit hier gewöhnt. Er hatte nicht die geringste Lust, seine Stelle für Dinge aufs Spiel zu setzen, die er selbst als Zerstreuungen und Nebensächlichkeiten betrachtete.

Der Himmel leuchtete. Er räumte seine Sachen auf und klemmte sich einen Stapel Arbeiten unter den Arm. Als er zur Tür ging, stand die Sonne gerade im Zenit. In der Cafeteria schlang er ein Sandwich hinunter, denn es war recht unwahrscheinlich, dass Marianne ihnen einen deftigen Eintopf zubereitet hatte. Der Tod von Barbara hatte ihm zunächst einmal den Appetit verdorben, aber an diesem Morgen fühlte er sich besser, und für die Ruhe, die er gegenüber dem Polizisten bewahrt hatte, diese Kaltblütigkeit und den hervorragenden Auftritt, den er hingelegt hatte, hatte er eine Belohnung verdient – obwohl ihm die Prüfung nicht sonderlich schwergefallen war, denn er befand sich in seinem Revier, hinter seinem Dozentenschreibtisch, und der Polizist hatte sich in einer schwächeren Position gefühlt. Zeitweise, wie gerade jetzt wieder, ernährte sich Marianne ausschließlich von Magerquark mit 0% Fett, ohne dass er hätte erklären können, warum – genauso wenig wie sie selbst übrigens, aber das tat nichts zur Sache.

Mit ein paar Münzen in der Hand begab er sich zum Kaffeeautomaten. Er zündete sich eine Zigarette an. Er hatte schon so manches Bußgeld kassiert, weil er gegen das Rauchverbot an öffentlichen Orten verstoßen hatte, aber er konnte nichts dafür. Man hatte ihn vergiftet. Man hatte ihm die [18] stärkste aller Drogen verabreicht, von allen Drogen verursachte sie die größte Abhängigkeit. Diese verfluchten Männer, diese Zigarettenfabrikanten, diese Agenten des Bösen, diese ausgemachten Dreckskerle waren echte Genies, fantastische Chemiker.

Er stand mit dem Rücken zum Raum und sah den Möwen zu, wie sie über dem See durch die Luft segelten. Die Maschine mahlte seinen Kaffee, ein Becher fiel heraus und nach ihm ein Stäbchen zum Umrühren, als eine Hand seine Schulter streifte.

Er konnte nur äußerst selten eine zu Ende rauchen, ohne dass eine Zwanzigjährige entsetzt die Augen verdrehte und meinte, sie hätte keine Lust, wegen ihm Kehlkopfkrebs zu bekommen. Er seufzte, setzte ein gezwungenes Lächeln auf und drehte sich um. Er wusste, dass er kein gutes Beispiel abgab – wenn er sich von Kopf bis Fuß in seinen geliebten Nikotinduft einhüllte. Vor ihm stand eine bald fünfzigjährige, ziemlich gut aussehende Frau. Eine solche Erscheinung war auf dem Campus eine Seltenheit, aber er empfand sie als sehr angenehm – früher oder später bekam man zu viel von der ewig straffen Gesichtshaut.

»Ich bin die Mutter von Barbara«, sagte sie.

»Oh, tut mir leid. Sehr erfreut«, antwortete er und streckte ihr unvermittelt die Hand hin.

Viele Studentinnen konnten dem Wunsch nicht widerstehen, sich ihrer Mutter anzuvertrauen – obwohl er sie dringend gebeten hatte, den Mund zu halten. Ein Geheimnis zu bewahren ging anscheinend für die meisten von ihnen über ihre bescheidenen Kräfte. Wenn er jemals Schwierigkeiten gehabt hatte, war das der Grund gewesen. Er war [19] sofort auf der Hut – eines Tages hatte ihm eine Mutter ihr Glas ins Gesicht geschüttet, als er gemütlich bei der Anlegestelle zu Mittag aß.

Sie nahm seinen Arm und sagte: »Setzen wir uns doch, bitte, kann ich mit Ihnen sprechen?«

Er blickte auf und sah sie kurz an. Es war nicht sehr voll, aber sie zog ihn zu einem Tisch, der weit abseits stand. Hinter den Panoramafenstern war es heiß, obwohl draußen ein kalter Wind wehte. »Ich will Sie nicht stören«, sagte sie.

»Aber ganz und gar nicht«, antwortete er. »Sie stören mich nicht im Geringsten. Was möchten Sie trinken?«

Er bestellte Kaffee für sie beide. »Sie sind ihr Dozent. Sie hat mir von Ihnen erzählt.«

Er versuchte in den Augen dieser Frau zu lesen. Was wollte sie? Was wusste sie? Er versuchte vergeblich, ihre Gedanken zu erraten, und bemerkte dabei, dass ihr Kinn ein schönes Oval bildete. Erstaunlich, wie es die Frauen heutzutage schafften, attraktiv zu bleiben – man musste sich nur einmal Sharon Stone ansehen.

»Erzählen Sie mir von ihr, von Barbara, meiner Tochter.«

»Ich soll Ihnen von ihr erzählen?«

»Ja, erzählen Sie mir von ihr, bitte.«

Später, als er schön langsam den Berg hinauf nach Hause fuhr – er lächelte den Radarfallen zu und ließ sich von zwei schneidigen Motorradpolizisten überholen, die er mit einem leichten Kopfnicken grüßte –, dachte er an das Gespräch zurück, das er mit Barbaras Mutter geführt hatte. Die Arme machte sich solche Sorgen. Sie fragte sich, ob nicht ein Unglück geschehen sei.

[20] Er hatte versucht, sie zu beruhigen. Aber ohne besonderen Nachdruck, ohne ihr übertriebene Hoffnungen zu machen. Man musste leider immer mit dem Schlimmsten rechnen, hatte er ihr zugeraunt, während er seine Finger auf ihr Handgelenk legte – das sehr schmal und sehr weiß war. »Ich bin zufrieden mit ihr«, hatte er schnell hinzugefügt. »Ich bin froh, dass sich mir jetzt die Gelegenheit bietet, Ihnen das zu sagen. Ich bin sehr zufrieden mit ihr. Ich verspreche mir viel von ihr.«

Was hätte er anderes sagen können? Er machte auf halber Strecke halt, parkte hinter der noch gefrorenen Böschung und inspizierte die Umgebung, bevor er den Weg einschlug, den er zwei Tage zuvor mit der Leiche von Barbara auf den Schultern gegangen war. Er verzog leicht das Gesicht, als er dieses Bild wieder vor sich sah. Aber wenn das Schicksal erst einmal seinen Lauf genommen hat, fragte er sich, was hilft es da, sich nachträglich zu wehren?

Es war nicht mehr ganz so kalt wie letztes Mal. Der Frühling näherte sich mit großen Schritten. Hier und da waren ein paar Schneeglöckchen zu sehen.

»Ich soll Ihnen von ihr erzählen?«, hatte er geantwortet. »Sie kennen sie bestimmt besser als ich. Haha. Hahaha, davon bin ich überzeugt«, gluckste er verunsichert. Das lag doch auf der Hand – dass eine Mutter ihre Tochter besser kannte als der erstbeste Dozent. Die Kaffees schimmerten und dampften in ihren Tassen wie Flugobjekte.

»Eben nicht«, meinte sie. »Genau das ist das Problem. Ich kenne sie nicht.«

»Tja, wissen Sie, wer kann schon behaupten, die jungen Leute zu kennen?«

[21] »Hören Sie… Ich kenne Barbara erst seit ein paar Monaten.«

Er zögerte einen Augenblick. »Das ist natürlich etwas anderes«, sagte er launig.

Er hatte bewusst einen scherzhaften Ton angeschlagen, um auf die verblüffende Äußerung dieser Myriam Dingsda zu reagieren, die sich ihm so mir nichts, dir nichts vorgestellt hatte, aber ihm wurde schnell klar, dass sie es genau so meinte, wie sie es sagte.

»So was kann passieren, wissen Sie«, hatte sie sich verteidigt. »Schauen Sie mich nicht so an.«

Obwohl er diesmal keine schwere Last dabeihatte, war er außer Atem, als er oben auf der Anhöhe angelangt war. Das war der Preis für seinen Seelenfrieden, die Garantie dafür, dass an diesem Ort kein Massenauflauf zu erwarten war. Er ließ sich eine Minute nieder und rauchte eine Zigarette. Vermischt mit der frischen Luft und mit den zuckergussglasierten Tannen ringsum fand er sie einfach köstlich. Er fühlte sich ruhig und entspannt. Er hatte das Beste aus dem Tag gemacht. Alle Verdachtsmomente gegen ihn hatte er schon im Ansatz abgewehrt. Jetzt waren auch seine letzten Befürchtungen verflogen. Niemand hatte sie zusammen gesehen. Niemand, nicht einmal ihre Mutter, wusste etwas über die besondere Art ihrer Beziehung – anscheinend hatte Barbara ihre Zunge in Zaum gehalten. Er konnte aufatmen. Sich den Freuden dieses fantastischen hellen Tabaks hingeben.

Sein Herz klopfte. Er stand ein paar Meter von der dunklen, moosbewachsenen Felsspalte entfernt – ein Schlund voll kalter, lautloser Finsternis. Aber uff!, was für eine Erleichterung. Er war froh, dass er sich immer einer strikten [22] Disziplin unterworfen hatte, dass er mit den Studentinnen immer einige grundlegende Vorsichtsmaßnahmen beachtet hatte. Nun konnte er aufatmen. Das Abwehrsystem hatte funktioniert, das Sicherheitsprinzip sich bezahlt gemacht.

Man musste sich auf den Bauch legen und an die Felskante heranrobben, um einen Blick nach unten zu werfen, in diesen Schacht namenloser Schwärze. Wenn er daran zurückdachte, wie er damals fast dort hineingestürzt wäre, bekam er Gänsehaut. Später hatten seine Schwester und er einmal ein totes Reh gefunden, das auf halber Höhe an einem schmalen Felsvorsprung hängengeblieben war und sich wahrscheinlich das Rückgrat gebrochen hatte. Im darauf folgenden Sommer war nichts mehr davon übrig gewesen, nicht einmal ein Knochen.

Barbaras Leiche war es genauso ergangen. Sie lag zwar da unten im Dunkeln, man konnte sie aber deutlich erkennen – ihr Fall war von einem schmalen, feuchten Überhang aufgehalten worden, der die Form einer Klinke hatte.

Mit dem Kopf über dem Abgrund blieb er einen Moment lang liegen und überlegte, was zu tun sei. Natürlich war die Wahrscheinlichkeit, dass der Blick eines Jägers, Spaziergängers oder von sonst irgendwem auf die sterblichen Überreste der Studentin fiel, äußerst gering. Aber sie war vorhanden. Raben kreisten am blauen Himmel, und er ließ sich einen Moment von ihnen ablenken, bevor er sich wieder mit dem Problem beschäftigte, dass irgendein verirrter Suffkopf oder ein grässlicher Pilzesammler die Leiche entdecken könnte.

Es war nicht unmöglich, an sie heranzukommen. Es war nicht unmöglich, in diese Felsspalte hinabzusteigen – wenn [23] er sich recht erinnerte – und an die Leiche von Barbara heranzukommen. Wenn man gut aufpasste, wo man hintrat. Man musste nur vorsichtig sein, gründlich prüfen, wo man Halt suchte, und sich genügend Zeit für den Abstieg nehmen. Und für den Aufstieg. Aber die Mühe lohnte sich.

Es ging darum, alles richtig zu machen. Sein Instinkt hatte ihn dazu getrieben, sich die Leiche vom Hals zu schaffen, und sich die Leiche vom Hals zu schaffen hieß, sie musste verschwinden – den Blicken entzogen werden, selbst wenn es auch so eher unwahrscheinlich war, dass jemand sie sah. Aber soeben hatte sich seine Befürchtung bestätigt, dass der Job nur zur Hälfte erledigt war. Er nahm seine Brille ab und steckte sie ein. Das kommt davon, dachte er, wenn man überstürzt handelt. Natürlich war er an jenem Morgen sehr spät dran gewesen, hatte sich der Leiche der jungen Frau so schnell wie möglich entledigt und war dann ohne einen Blick zurück davongeeilt, um das Seminar über John Gardner und die Moral in der Literatur zu halten, aber das war keine Entschuldigung. Er hatte sich nicht sonderlich geschickt angestellt, so einfach war das, und oft musste man am Ende für seine Fehler büßen.

Die Felswand war steil und rutschig. Zum Glück trug er gute Schuhe und wusste ungefähr, wie man die Sache anpacken musste – er hatte bei den Gebirgsjägern gedient. Ein paar Steine lösten sich auf seinem Weg und fielen ins Leere. Um kein Risiko einzugehen, drückte er sich so eng wie möglich an die Felswand und stieg vorsichtig hinab. Die Angst kommt mit dem Alter, dachte er, während er sich der Leiche Barbaras näherte, die Angst kommt, wenn wir uns dem Tod bewusst werden.

[24] Er war auf dem Felsvorsprung angelangt und bemerkte, dass seine Kleidung aussah, als hätte er sich im Schlamm gewälzt. Ein echtes Fiasko. Er verzog das Gesicht. Dann wandte er sich der Leiche der Studentin zu, deren grauer Teint nun ins Violette spielte. Sie schien auf einer Art Dorn festzusitzen.

Er konnte sie mit der Fußspitze erreichen, und auch das nur, wenn er sein Bein durchstreckte. Er stieß sie an. Mit der Fußspitze. Er musste sie über die Kante schieben, damit sie ihre Reise in die Finsternis wiederaufnehmen konnte, aber das war nicht so einfach, wie es schien. Da hing etwas fest. Kalter Schweiß lief ihm über den Rücken, während er wütend versuchte, die Leiche in den Abgrund zu stoßen, er wimmerte, japste, fluchte lauthals. All das brach die Stille des Waldes, die ansonsten nur von fernem Vogelgeschrei oder dem Rauschen der Blätter gestört wurde – harmlose Nettigkeiten im Vergleich zu den Schimpftiraden und Wehklagen, die jetzt vom Grund dieser dunklen Grotte emporschallten und sie in eine Echokammer verwandelten.

Aber gerade als seine unfruchtbaren Bemühungen ihm den Rest zu geben drohten, als er seine letzten Reserven in die Schlacht warf, als er sich mit den Fingerspitzen an eine Wurzel klammern musste, hörte er ein lautes Geräusch wie von einem Reißen, und die Leiche der Studentin fiel in den Abgrund.

»Hallo?«, rief eine Stimme über ihm. »Hallo?«

Er erstarrte, sein Herz hörte auf zu schlagen.

»Hallo?«, rief die Stimme noch einmal. »Ist da jemand? Alles in Ordnung?«

Er drückte sich in den Schatten der Felswand und biss [25] sich auf die Lippen. Jetzt hieß es schnell entscheiden. Die richtige Wahl treffen.

»Können Sie mich hören? Ist alles in Ordnung?«

Ihm war sofort klar, mit was für einer Sorte Mensch er es zu tun hatte. Sich noch länger zu verstecken war zwecklos. Es war die Sorte Mensch, die Blinde zum Überqueren der Straße zwang und sich in Sachen einmischte, die sie nichts angingen. Der Großteil der linken Lehrer gehörte zu diesem Schlag. »Alles okay, keine Sorge«, antwortete er und kletterte ins Licht.

»Sind Sie ganz sicher?«

*

Richard Olso war Leiter des Fachbereichs Literatur, und das hatte gerade noch gefehlt. Dass Richard auch nur im Entferntesten in diese Geschichte verwickelt wurde. Es war wirklich das Letzte, was man sich wünschte.

Hatte er etwas gesehen? Hatte er etwas bemerkt?

»Marc? Was machen Sie denn hier, mein Lieber? Was haben Sie in diesem Loch verloren?«

Dieser Typ konnte gar nicht anders als einen misstrauisch beäugen.

»Mir ging es wie Ihnen«, antwortete er, als er sich aus der Spalte hievte. »Ich habe genauso reagiert wie Sie. Mir schien, ich hätte einen Schrei gehört, einen Hilferuf, aber ich habe mich getäuscht, da war nichts. Beim Hochklettern bin ich mit dem Fuß umgeknickt. Aber ich glaube, es ist alles in Ordnung.«

»Dann waren das bestimmt Sie.«

[26] »Was?«

»Bestimmt waren Sie es, den ich gehört habe. Ich habe gehalten, weil ich ihr Auto gesehen habe. Und dann das Getöse gehört, das Sie veranstaltet haben.«

»Ich gehe gern hier spazieren«, antwortete er und zeigte auf den Wald, dessen Wipfel im goldgelben Sonnenlicht funkelten. »Früher war das unser Revier. Marianne und ich kannten es in- und auswendig. Unsere Eltern wollten unbedingt auf dem Land leben, unsere Mutter war ja auch Vegetarierin. In den ersten Frühlingstagen komme ich gerne hierher. Es gibt Momente, da ist das Licht einfach wunderbar.«

Dass man Richard zum Leiter des Fachbereichs Literatur befördert hatte, war ein echter Skandal. Richard war jünger als er, weniger lang im Dienst und gab nur ein armseliges Komparatistikseminar, und doch hatte man Richard auf den Posten berufen und nicht ihn, so himmelschreiend ungerecht das auch sein mochte.