Marlène - Philippe Djian - E-Book

Marlène E-Book

Philippe Djian

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Beschreibung

Marlène ist etwas weltfremd, aber immer im Auge des Orkans, den sie selbst verursacht. Seit sie da ist, ist das Leben von Dan und Richard noch komplizierter. Die beiden Freunde müssen sich seit ihrer Rückkehr aus dem Krieg im zivilen Alltag zurechtfinden. Nun brechen alte Traumata auf, und die Gefühle spielen verrückt.

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Seitenzahl: 246

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Philippe Djian

Marlène

Roman

Aus dem Französischen von Norma Cassau

Diogenes

Für Année

Mädchen

Das war sicher nicht die beste Lösung. Er lief Gefahr, die Situation zu verschlimmern, und die war ohnehin schon brenzlig. Aber sie weigerte sich, ihm aufzumachen, ihm zuzuhören, also rammte er mit der Schulter die Tür ein.

Auf der Schwelle zögerte er, erschöpft, kurz davor, es bleiben zu lassen. Sie hob den Kopf und sah ihn gleichgültig an, er hätte irgendwer, irgendwas sein können. Es gab keine Heizung, eiskalte Luft stand im Raum.

Hör mal, sagte er. Komm was essen. Lass mich überlegen.

Sie drehte sich auf ihrem Stuhl weg, zum Fenster, an dem kleine Schollen angetauter Schnee hinabrutschten.

Mona, ich rede mit dir, sagte er hinter ihr.

Er hatte noch keine Zeit gehabt, sich umzuziehen, jetzt betrachtete er die Spuren seiner Schritte auf dem Boden, den Abdruck seiner noch feuchten Sohlen auf dem hellen Holz. Er verzog das Gesicht, diese Art Details brachte ihn aus der Fassung. Einen Augenblick lang wippte er von einem Fuß auf den anderen, dann zog er sich zurück, ohne ein weiteres Wort.

Verschnaufpause

Nath seufzte, ihre Tochter machte sie wahnsinnig. Sie wusste nicht mehr, wie sie mit ihr umgehen sollte, ihrem Gefühl nach hatte sie alles probiert, ihre Energie war aufgebraucht.

Er sagte nichts, am anderen Ende. Er wusste das alles.

Dan, ich brauche eine Verschnaufpause, stöhnte sie.

Draußen dämmerte es, in den Häusern rundherum gingen die Lampen an. Er saß in der Falle. Gut, gab er schließlich von sich. Aber du, pass auf, was du tust.

Wenn du an meiner Stelle wärst.

Ich sag’s ja nur.

Verheißung

Er sah zu Mona, die in einem Sessel eingeschlafen war. Dass sie nun bei ihm wohnte, und sei es nur ein paar Tage, passte ihm überhaupt nicht. Mit ihrem Charakter. Er mochte sie, aber aus der Ferne, und sicher nicht von morgens bis abends. Sie war kaum angekommen, da hatte er schon eine Tür eingerammt. Das verhieß nichts Gutes. Und wenn ihre Mutter schon die Flinte ins Korn warf, was sollte er dann tun? Er, der sich mit achtzehnjährigen Mädchen, in deren Herz und Kopf es brodelte wie in einem Schwefelkessel, nicht auskannte und sich auch überhaupt nicht auskennen wollte. Er war unfähig. Er war gerade fähig genug, sich um sich selbst zu kümmern. Und das auch nur, wenn keiner seine mühevoll errichtete Ordnung störte.

In der Nacht war nämlich ein Sturm losgebrochen. Kein außergewöhnlicher – zerstörte Gärten, ein paar umgefallene Bäume, beschädigte Dächer, Sirenen, Feuerwehr, Fernsehen weg, Stromausfälle und so weiter –, aber darauf hätte er momentan getrost verzichten können, sogar jetzt, wo sie ruhig und regungslos dalag, zahm schlief und harmlos aussah, konnte er in Monas Anwesenheit nichts Gutes sehen.

Er brauchte frische Luft. Es war nicht sehr kalt, der Wind hatte sich fast gelegt, und der Himmel war wieder glatt wie ein Laken aus schwarzem Satin, ohne eine einzige Falte. Von der Straße waren die meisten Sturmschäden beseitigt worden, die sie unpassierbar gemacht hatten – allerdings nicht unpassierbar genug, um zu verhindern, dass Mona bis vor seine Tür gelangte, verdammt noch mal, während er draußen gerade das Holzmehl einer alten Tamariske wegfegte, die an Ort und Stelle zerlegt worden war. Die Nacht roch noch nach frisch gesägtem Holz, nach herbem Harz. Überall funkelten Glassplitter, und da waren noch ein paar, die schicksalergeben und schweigsam im Halbdunkel den Schutt einsammelten und ihn schlurfend am Straßenrand auf‌türmten. Man musste wohl oder übel mithelfen. Das kam bei den Leuten gut an. So einen hatten sie gern als Nachbarn. Redete nicht viel, aber packte immer mit an. Sah gut aus, außerdem. Und steckte seine Nase nicht in fremde Angelegenheiten, was selten genug vorkam.

Augenbrauen

Nath hatte sich in Schale geworfen. Dan hatte sie mit seinen Warnungen etwas nervös gemacht, aber sie hatte nicht vor, darauf zu hören. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Sie fühlte sich, als hätte sie Fieber. Unwohlsein, Schuldgefühle, Aufregung. Das ganze miese Programm. Sie goss sich ein Glas ein und versuchte, ruhig sitzen zu bleiben, bis es Zeit war.

Im Grunde fragte sie sich, wie sie es so lange zusammen ausgehalten hatten, durch was für einen Kraftakt, durch welches finstere Wunder. Ihre Mutter als Schlampe zu beschimpfen. Und so von oben, mit Verachtung. Lieber Gott, nach wem kam sie bloß.

Sie schüttelte sich, kniff sich in die Wangen, um sie zu röten, dann sprang sie in ein Taxi.

Dabei hatte sie mit dem Typ nicht mal geschlafen. Nicht, dass sie keine Lust gehabt hätte, aber so war es nun mal. Sie war keine Schlampe. Nur eine einsame Frau. Und das machte sie manchmal halb wahnsinnig. Aber Mona kümmerte das einen Dreck, klar.

Er hatte nicht gerafft, dass sie verheiratet war. Er hatte die Augenbrauen gerunzelt. Er wirkte nett, nicht besonders smart. Mein Mann arbeitet auf einer Bohrinsel, hatte sie ihm gesagt. Wir sehen uns nicht oft. Sie zuckte mit den Schultern. Wechseln wir das Thema, schlug sie lächelnd vor. Er sei in der Versicherungsbranche. Okay, sagte sie, vergessen wir’s. Lass uns lieber tanzen gehen.

Er stützte sich auf seinen Ellbogen und runzelte wieder die Augenbrauen, als sie sich anzog. Er war jung. Das Mädel, das er mal heiraten würde, würde ein ganz einfaches Leben haben, dachte sie.

Anwesenheit

Dan stellte seinen Wecker immer auf vier Uhr morgens, aber er wachte stets früher auf, machte seine Übungen und hörte dabei Radio, dann ging er einige Kilometer laufen, immer dieselbe Runde, und zählte dabei die Schritte mit. Wieder zurück, konnte der Tag losgehen. Er machte sich an den Haushalt.

Er zerbrach sich nicht mehr den Kopf darüber, dass er keine Nacht länger als ein paar Stunden schlief. Er hatte andere Sorgen. Diesmal hatte er die Augen geöffnet und in die Dunkelheit gelauscht, sein gewohnter Reflex, und sofort gespürt, dass etwas anders war. Es wies im Haus nichts auf Monas Anwesenheit hin, aber wenn es etwas gab, worauf er sich noch verlassen konnte, dann war es dieser Instinkt, den er entwickelt hatte, diese überlebensnotwendige Wachsamkeit, diese Fähigkeit, eine unsichtbare Anwesenheit in der nächsten Umgebung zu wittern, und sei es noch so still und finster um ihn. Er hatte es sich nicht eingebildet. Er blieb, obwohl üblicherweise mit einem Sprung auf den Beinen, ein paar Minuten auf dem Bett sitzen, mit feuchter Stirn, die Beine untergeschlagen, und versuchte, seine Lage zu sondieren, diese dumme ärgerliche verstörende neue Lage.

Als sie um einiges später in der Küchentür auftauchte, im Jogginganzug, barfüßig, verschlafen, kam er eben aus dem Supermarkt und packte die Einkäufe aus.

Was war das für ein Geräusch heute mitten in der Nacht, fragte sie gähnend.

Sie meinte das Rudergerät, das Vor- und Zurückgleiten des Sattels und das Surren des Schwungrads, wenn er beim Einatmen an den Griffen zog.

Na dann, sagte sie. Da werd ich mich wohl dran gewöhnen müssen.

Versteckt hinter der geöffneten Kühlschranktür, stockte er, verzog das Gesicht.

Er wusch sich noch einmal die Hände, während sie sich zum Frühstück an den Küchentisch setzte.

Ich dachte, du wolltest immer für mich da sein, meinte sie. Anytime, anywhere. Oder wie war das gemeint.

Er stellte ihr den Kaffee und eine Schale hin.

Deine Mutter hat es nicht leicht. Lass sie mal machen mit deinem Vater, misch dich nicht ein.

Sie streckte die Hand nach dem Kaffee aus. Ich wusste ja, dass ich hier nicht willkommen bin, seufzte sie, aber trotzdem. Das, von dir. Scheiße, Mann.

Er drehte sich zum Fenster, hinter dem ein blasser, unbeständiger Himmel lag. Er wartete darauf, dass sie aufstand, damit er den Tisch abräumen und mit dem Lappen über das Resopal wischen konnte, dessen perfekter Glanz ihm ein kurzes zufriedenes Lächeln abrang.

Es gab noch etwas, das er konnte und das ihn in extremen Situationen mehrmals gerettet hatte. Schnelle Entscheidungen treffen.

Halb

Innerhalb weniger Monate war Richard wieder in die Breite gegangen, seine Gestalt wirkte schwerfälliger, aber das kratzte ihn nicht. Mach dir keinen Kopf um meine Linie, feixte er und umarmte Dan grob.

Sie setzten sich an einen kleinen schlichten Tisch, einer dem anderen gegenüber, mitten im Stimmengewirr.

Im Winter lege ich immer ein bisschen zu, sagte er.

Wenn die schönen Tage kamen, schmolzen seine Polster wieder. Ohne dass er auf Fett, Zucker oder Alkohol verzichten musste, was so manchen zur Verzweif‌lung brachte und zur Folge hatte, dass sich die Mädchen mit den ersten Sonnenstrahlen nach ihm umdrehten. Mit siebenunddreißig und seiner gar nicht üblen Mistkerlvisage war er noch gut im Rennen. Der Gedanke tröstete ihn, während sein Blick Dan folgte, der sich mit seinem leichtfüßigen Gang durch die Tür und über den Flur entfernte. Stellte man ihn vor die Wahl, er würde nicht mit Dan tauschen wollen. Lieber halb lebendig als halb tot. Eine Frage des Temperaments.

Richard strich sich über das Kinn, während er kurz in Gedanken an Mona und diese vertrackte Geschichte dachte, die sie mit ihrer Mutter am Laufen hatte. Das würde er beizeiten regeln. Wenigstens hatten sie die Hütte nicht abgefackelt. Wenn sonst nichts war im Leben außer diesen kleinen Familienproblemen. Kein Grund, sich verrückt zu machen. Dan wollte, dass die Dinge klar waren, dass es keine Missverständnisse gab. Die gab es nicht. Die konnte es nicht geben. Mona war Richards Tochter. Dieser verdammte Dan, dachte er kopfschüttelnd. Lächelnd stand er auf und wandte sich wieder seiner Beschäftigung zu.

Blitz

Nath hatte ein Weilchen durchatmen und die Abwesenheit Monas, die sie auf die Palme brachte, genießen wollen, aber es lief nicht gut. Hätte sie sich denken können. Sie war keine zwanzig mehr, eigentlich sollte sie nichts mehr aus der Fassung bringen. Mit zusammengebissenen Zähnen föhnte sie noch Scotty trocken – einen weißen bösartigen Zwergpudel –, dann zog sie sich einen Anorak über ihren Kittel, weil sie draußen eine Zigarette rauchen wollte.

Sie überquerte den Parkplatz, um sich in die Sonne zu stellen und nachzudenken, aber Nachdenken brachte nichts. Marlène war unterwegs. Sie kam her. Und sich in die Sonne zu stellen brachte auch nichts, denn der Ostwind war kalt, und keine Wärme drang zu ihr durch, nichts strich ihr zart übers Gesicht. Es gab Momente, da fühlte sich das Leben nicht anders an, ein Licht ohne Wirkung, ein totes Leuchten, eine Attrappe, ein schlechter Scherz. Immer fiel man darauf rein.

Wart mal, bis du sie kennenlernst, sagte sie.

Dan war auf seine Art auch nicht lustiger, aber wenigstens lebte sie nicht mit ihm zusammen.

Ich bin verflucht, oder, sagte sie weiter.

Dan sah sich das Fotoalbum an, das sie aufgeblättert vor ihn hingelegt hatte. Er hatte von Marlène schon gehört, sie aber nie leibhaftig getroffen. Nath sprach über dieses Thema nicht. In der Folge war ihm fast entfallen, dass sie eine Schwester hatte. Auf einem Foto der beiden, auf dem sie um die zwanzig waren, war Marlène die mit der Brille. Sosehr Nath schon damals sexy, strahlend und geschmeidig gewesen war wie junges Gras, so steif und stumpf war Marlène, als hätte sich boshaft eine Wolke über sie geschoben.

Du hast alles begriffen, meinte Nath.

Draußen hatte die Sonne ihren Höchststand erreicht.

Weißt du, fuhr sie fort, wenn Marlène hier wäre, da an deinem Platz, würde es Strippen regnen. Es ist nicht sehr nett, das zu sagen. Sie ist meine Schwester. Aber es gibt solche Leute. Es gibt Leute, die Blitze anziehen oder was weiß ich, irgendeine Katastrophe, was gerade geht. Das kann ich nicht gebrauchen. Vor allem nicht jetzt.

Dan hielt seine Nase über die Schale mit schwarzem Kaffee, der zum Abkühlen am Tischrand stand. Nath mochte ihn stark, sie nahm die dreifache Menge. Das Zeug machte Herzrasen.

Sie wartete, bis Dan gegangen war, und streckte sich einen Moment aus, bevor sie in den Salon zurückgehen würde, um diese verdammten Köter einzuseifen, die sie anbleckten. Sie musste jetzt jeden Moment der Ruhe bis zum Abend genießen, wenn sie Marlène am Bahnhof abholen würde.

Ravioli

Auf dem Weg hielt Dan bei der Bank, um seinen Rentenscheck einzulösen. Die Uhrzeit war günstig, es waren nicht viele Leute da – in diesen Kasernenstädten waren die Konten der meisten Typen im Minus, sie zogen es vor, dass man sie vergaß, und gingen lieber in die Kneipe an der Ecke, als in ihrer seelischen Not vor den Schaltern herumzuschleichen. Er hatte das selbst nur zu gut gekannt, und wenn er aus dem Ruder lief, schlitterte er auch heute noch manchmal um Haaresbreite am Abgrund entlang. Er holte Geld, wies etwas davon für seine Mutter an und verbrachte den Nachmittag beim Bowling – Pinsetter warten, Bahnen ölen und so weiter, dreimal in der Woche –, und als er bei Dunkelheit heimkam, klagte Mona, sie sterbe gleich vor Hunger. Über alldem hatte er nicht mehr an sie gedacht. Er hatte ein Sandwich gegessen.

Du musst nicht auf mich warten, sagte er.

Ich hab den Dosenöffner nicht gefunden.

Aus einer Küchenschublade holte er ein Jagdmesser und zeigte ihr, wie sie nicht vor einer Dose Ravioli mit Fleischfüllung verhungerte.

Er beobachtete, wie sie aß, und stellte sie sich bei einem Überlebenstraining in feindlichem Territorium vor.

Warum lachst du, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf und lächelte dabei zufrieden, er rechnete ihr an, dass in ihrer Frage kein aggressiver Ton mitschwang. Mona hatte nicht nur diese eine Seite. Dasselbe galt für die Welt. Übrigens kam es vor allem abends vor, dass ein Lichtstrahl durchsickerte, bevor er in den dunklen Schwaden seiner Alpträume versank und er die Möglichkeit einer Rückkehr an die Oberfläche erahnen konnte.

Du hast einen guten Appetit, sagte er.

Sie schüttelte den Kopf, mit vollem Mund. Dann schob sie ihren Teller von sich und verkündete, ich werd in diesem Kaff sowieso nicht ewig bleiben. Da er nichts antwortete, fügte sie hinzu, ich werd ja sehen, wie es läuft.

Er blieb stumm. Er war froh, dass sie nicht seine Tochter war. Er würde nicht um sie bangen müssen. Aber immerhin, Eier hatte sie.

Haarschneider

Richard hatte drei Monate kassiert, aber das war kein Problem. Das würde ihn nicht davon abhalten, es wieder zu tun. Da konnten sie ihn so lange einsperren, wie sie wollten. Draußen oder drinnen eingesperrt sein, was machte das für einen Unterschied. Ob im Sitzen oder mit Vollgas, die Freude war die gleiche. Die Trunkenheit war sein ständiger Begleiter. Mit oder ohne Alkohol. Mit oder ohne Speed. Die Welt um ihn raste.

Aber so war das in diesem Land. So dankte man es ihnen.

Er sah zu dem Kerl hoch, der ihm den Schädel rasierte.

In drei Wochen komm ich raus, sagte er ihm. Reservier es so lange für mich.

Der Kerl schaltete den Haarschneider aus. Okay, ich hab aber jemand, entgegnete er grimmig. Das ist blöd für mich, weißt du.

Richard drehte den Kopf und sah ihn über seine Schulter hinweg an.

Aber es geht schon, fuhr der andere fort. Ich reservier’s dir. Musst nicht gleich ausflippen.

Richard schloss die Augen. Er war dann doch froh rauszukommen.

Kondenswasser

Dan war nicht neugierig, oder nicht mehr, was aufs Gleiche herauskam. Er war nicht sonderlich erpicht darauf, sie zu sehen, und hatte es keinesfalls eilig, ihre Bekanntschaft zu machen. Aber Nath hatte ihn frühmorgens angerufen, als er gerade ärgerlich auf Monas Haare starrte, die er in der Duschtasse entdeckt hatte. Kannst du kommen, bat sie ihn. Und bevor er antworten konnte, hatte sie aufgelegt.

Das geht ja gut los, meinte sie und nestelte dabei entnervt am Reißverschluss ihrer Windjacke herum. Sie hat den Schlüssel von der Gepäckaufbewahrung verbummelt.

Wie, verbummelt.

Ach, was weiß ich, klär du das mit ihr. Ich bin spät dran.

Sie ging und warf in einem Flockenwirbel die Tür hinter sich zu. Er nutzte die Gelegenheit und wusch sich die Hände. Mit blassrosa Flüssigseife, nicht eben nach seinem Geschmack. Beim Herauspumpen landete ärgerlicherweise ein Spritzer mitten auf seiner Brust. Er war einen kurzen Augenblick verdutzt.

Ist mir auch schon passiert, hörte er eine Stimme hinter sich sagen. Dieses schreckliche Ding.

Marlène trug dieselbe Brille wie auf dem Foto. Tagsüber trage sie Kontaktlinsen, aber die seien im Koffer, den sie am Bahnhof abholen müsse. Eigentlich trage sie Brille und Linsen im Wechsel. Sie hatte nicht mit Schnee gerechnet. Sie kannte die Region nicht. Sie hoffte, dass es ihr gefallen und Nath sich die Zeit nehmen würde, ihr die Umgebung zu zeigen. Sie verstand nicht, wie sie diesen blöden Schlüssel hatte verschludern können. Es tat ihr leid, ihn mit dieser Sache behelligen zu müssen. Das ist wirklich freundlich von Ihnen. Das ist wirklich sehr nett von Ihnen, sagte sie. Die Stadt wirkt klein und friedlich, sagte sie und wischte das Kondenswasser von den Scheiben. Friedlich ist wichtig.

Er drosselte das Tempo, zeigte ihr die wichtigen Geschäfte, wobei er es vermied, sie anzuschauen. Der Schnee hält sich hier nicht lange, sagte er, in ein paar Stunden spricht keiner mehr drüber.

Er übergab sie der Obhut eines Bahnangestellten, den er vom Bowling kannte, ein Stammgast – der Typ hatte eine beeindruckende Erfolgsquote bei kniff‌ligen Splits vorzuweisen –, und übte sich in der Cafeteria vor einem Hellen in Geduld, bis Marlène ihr Schlüsselproblem geregelt hatte.

Draußen klarte es auf. Er senkte den Blick auf den immer noch klebrigen Seifenklecks, der seinen Sweater befleckte. Er berührte ihn mit der Fingerspitze. Er war schmierig und machte ein unangenehm schmatzendes Geräusch. Er zwang sich, an etwas anderes zu denken. Diese Frau, diese Marlène, sie schien etwas verpeilt zu sein, oder.

Als sie sichtlich erleichtert wiederauf‌tauchte, bot sie ihm von der Pommestüte an, über die sie sich soeben hermachte. Ich weiß, ich sollte nicht, sagte sie achselzuckend.

Sie hatte einen Koffer und eine Kiste dabei. Sie hielt nach einem Gepäckwagen Ausschau, aber er griff mit der einen Hand nach der Kiste und nahm mit der anderen den Koffer. Sie betrachtete ihn einen Augenblick reglos, während er leichten Schrittes in Richtung Ausgang lief.

Toiletten

Dass jemand einen 7–10 löschte, kam nicht alle Tage vor. Die letzten beiden Pins räumen, die noch stehen, die beiden am weitesten voneinander entfernten, das war fast ein Wunder. Profis schafften das im Schnitt bei hundertfünfzig Würfen nur ein einziges Mal. Reine Glückssache. Dan hatte Feierabend und beobachtete den Spieler, der sich am Kopf kratzte und am Rand der Bahn ein ratloses Gesicht machte.

Draußen wurde es dunkel. Dan trank immer ein Glas an der Bar, bevor er nach Hause ging. Die Musik war nicht besonders, und es war eher laut – das Klackern der Bälle, die Pins, die in alle Richtungen flogen, der Lärm etc. –, aber die Bowlinghalle war sein Hafen der Ruhe, sein Niemandsland, man könnte auch sagen, sein Floating-Tank. Manchmal fragten Typen ihn, wie es lief, oder Frauen stiegen auf einen Hocker neben ihm, aber er wusste, wie er um sich herum ein Vakuum schuf, und wenn er mit den einen oder anderen mal ein Wort wechselte, dann war das schon mehr als genug, es war sein Maximum an Geselligkeit.

Nath wusste das. Sie wusste alles, was sie wissen musste.

Es hielt sie nicht davon ab, ihm Marlène aufzuhalsen, ohne eine Sekunde zu bedauern, dass sie ihm völlig rücksichtslos den einzigen Moment des Sichgehenlassens, der Entspannung stahl. Es werde ihn schon nicht umbringen, fand sie. Und nicht nur werde es ihn nicht umbringen, es werde ihm guttun.

Was redest du da, hatte er erwidert. Ich kenn sie nicht mal, was soll ich ihr erzählen, du bist witzig.

Okay, hör zu, ist gut, tu mir den Gefallen. Gib dir einen Ruck. Ich setz sie ins Taxi. Ich lege jetzt auf.

Warte, nicht auf‌legen.

Aber zu spät, es hatte keinen Sinn. Dann war Marlène aufgekreuzt und seitdem nicht mehr von den Toiletten zurückgekommen. Gute zehn Minuten. Das war lang. Er versuchte, den Moment zu nutzen und sich zu überlegen, was er ihr vorschlagen könnte, aber er hatte keine Ahnung, nicht den kleinsten Schimmer, in seinem Kopf herrschten Leere und Dunkelheit. Er wusste nicht einmal mehr, was es bedeutete, mit einer Frau auszugehen. Dem Typen, der sich am 7–10 versuchte, schien auch nichts einzufallen.

Dan wartete ab, bis er loslegte – und den Wurf vermasselte, weil der Ball direkt in die Rinne rollte –, und stand dann auf, um nachzusehen, was mit Marlène los war.

Vor der Tür zögerte er und versicherte sich erst, dass niemand ihn beobachtete, bevor er die Frauentoiletten betrat.

Es roch nach kitschigem und billigem, leicht blumigem Parfum, die Deko war verschnörkelt, die Waschbecken muschelförmig. Kurz nachdem er sie einige Male ohne Erfolg gerufen und einen Blick über die WC-Türen gewagt hatte, entdeckte er Marlène auf einer Kloschüssel, reglos, schlaff gegen die Trennwand gelehnt, wie eine Stoffpuppe, die Augen geschlossen, die Brille schief, noch einige Blätter zartrosa Toilettenpapier in der Hand.

Er hatte genug gesehen, ließ los, fiel auf die Füße und entriegelte im Nullkommanichts mit seinem Generalschlüssel die Tür. Sie öffnete die Augen und blickte ihn verstört an, ganz fahl im Gesicht. Sie rührte sich nicht, die Wange an die Wandverkleidung gequetscht, der Hals verdreht, ihr Slip hing unter den Knien. Ohne ein Wort beugte er sich zu ihr und packte sie, hob sie von der Kloschüssel, um sie hinauszutragen.

Sie war wackelig auf den Beinen, alles an ihr war wackelig, ihre Knochen waren plötzlich wie aus Gummi. Er presste sie unsanft gegen ein Waschbecken, zog ihr blind, ohne hinzusehen, schnell die Unterhose hoch.

Einen Augenblick musste er sie an sich drücken, damit sie nicht umfiel. Er fluchte vor sich hin, bis er bemerkte, dass sie zu sich kam.

Oh. Oh, entschuldigen Sie. Das tut mir leid, stammelte sie schließlich.

Nicht doch, sagte er mit tiefer Stimme und brachte sich etwas auf Distanz. Ist nicht schlimm.

Klotz

Marlène erzählte, dass der Abend gut verlaufen sei. Dann schob sie nach, gut, aber mehr auch nicht, und lächelte abwesend. Nath, die Kaffeekanne in der Hand, stutzte kurz, während ihre Schwester sich an den von Sonnenlicht überfluteten Küchentisch setzte. Redselig ist er ja nicht gerade, sagte Marlène weiter, dann freute sie sich über den schönen Tag, der sich ankündigte. Konversation ist nicht ihre Stärke, seufzte Nath und schüttelte den Kopf. Kann man nichts machen. Richard ist auch nicht besser.

Ihr war etwas unwohl, weil sie Marlène gleich am Tag nach ihrer Anreise allein gelassen hatte, aber sie bereute es nicht. Sie hatte bekommen, was sie wollte. Deswegen würde sie nicht in der Hölle landen.

Als Wiedergutmachung und weil sie entspannter war und sich leichter fühlte als am Vortag, lud sie Marlène auf eine Spazierfahrt durch die Umgebung ein, vom am Reißbrett entworfenen Einfamilienhausviertel bis zu den hoch gelegenen, noch verschneiten Wäldern nördlich der Stadt, dann zum Stausee, wo man im Sommer baden konnte, und zum Militärstützpunkt, über das Kaufhaus, das Freiluftkino, die Diskothek und die Tankstellen, hinter denen sich eine weite und flache, karge Ebene ausdehnte, durch die sich eine schnurgerade breite, scheinbar endlose Straße zog.

Man muss das Kleinstadtleben mögen, meinte Nath, als sie auf dem Bowling-Parkplatz hielten. Kann schon vorkommen, dass man sich langweilt.

Während sie zum Eingang gingen, sah sie ihre Schwester an und dachte, dass es nicht leicht werden würde. Es wurde langsam dunkel, und die überdimensionalen Pins der Leuchtreklame auf dem Dach blinkten schon in der diesigen Abenddämmerung.

Sie setzten sich an den Tresen. Es war nicht das Ritz, auch nicht das Carlton, die paar Typen an der Bar beachteten sie nicht, trotzdem erkannte Nath in ihrer Schwester, die sich auf ihrem Stuhl wand wie ein Wurm, bald das komplexbehaftete, sich in seiner Haut unwohl fühlende, halb verlorene Mädchen wieder, das sie als dessen Schwester die gesamte Kindheit wie einen Klotz mit sich herumgeschleppt hatte.

Hör auf damit, flüsterte sie ihr zu. Alles ist gut.

Marlène rang sich widerwillig zu einem kleinen Glucksen durch und bemühte sich um Haltung.

Du solltest dir eine andere Brille zulegen, riet Nath. Ehrlich.

Brille

Dan verstand davon nichts. Er hatte keine Meinung. Ehrlich. Ihn beunruhigte vielmehr der Überraschungsbesuch, den sie Mona abstatten und von dem sie nicht ablassen wollten. Sie hatten getrunken, während sie auf ihn warteten, und ihre Augen glänzten etwas zu sehr.

Ich bin so gespannt, sie zu sehen, sagte Marlène zum x-ten Mal.

Er verzog das Gesicht. Zeit für Bier, er stand auf, um welches zu holen. Fast hätte er Lust gehabt zu verschwinden, sollten sie sehen, wie sie zurechtkamen.

Wer ist das Mädel neben Nath, fragte ihn ein Veteran am Tresen.

Ihre Schwester.

Ich wusste nicht, dass sie eine Schwester hat.

Dan nickte, nahm die Biere entgegen und kehrte zum Tisch zurück.

Ich will keinen Krieg, sagte Nath. Sie ist schließlich volljährig.

Ich kann dir nichts raten. Ich werde mich nicht zwischen euch stellen.

Das wird schon wieder, da bin ich sicher, meinte Marlène. Wir machen einen Neuanfang.

Sie sahen sie stumm an. Auf der anderen Seite der Glasfront ging ein kalter Mond am Himmel auf. Auf dem Parkplatz lärmten und lachten ein paar Typen in Dienstkluft und mit dem vorgeschriebenen Haarschnitt. Autos parkten ein.

Hab ich etwas Unpassendes gesagt, fragte Marlène.

Dan war mit dem Motorrad unterwegs, so dass er einige Minuten vor den Frauen eintraf, mit besorgter Miene, aber erfrischt, zudem entschlossen, Mona vorzuwarnen, dass sie eine gewisse Überraschung erwartete – falls das die Dinge abmildern konnte.

Im Wohnzimmer und in der Küche brannte Licht. Er registrierte das zähneknirschend. Er hoffte, dass alles bald wieder in den gewohnten Bahnen verlaufen würde.

Sie nahm gerade ein Bad. Daher der Bonbongeruch, der sich seit einigen Tagen dauerhaft in den Räumlichkeiten festgesetzt hatte und ihm unangenehm war. Er kündigte ihr durch die Tür den Besuch der beiden anderen an. Sie antwortete nicht. Er hörte das Wasser rauschen.

Im selben Augenblick ließ eine Art Scheppern das Blut in seinen Adern gefrieren, ihm stockte der Atem. Es kam von draußen. Er wankte, ergriffen von einer dieser Panikattacken, die ihn manchmal heimsuchten. Er lehnte sich gegen die Wand, sein Kiefer bebte.

Bevor es ihm jedoch den Boden unter den Füßen wegriss, erkannte er Marlènes Stimme, sie rief oh mein Gott, ogottogott.

Er öffnete die Augen wieder, schluckte. Er blieb kurz stehen, biss sich in die Faust, wischte sich über die feuchte Stirn, bevor er mit weichen Knien hinausging, um zu sehen, was passiert war.

Marlène hatte sein Motorrad umgenietet. Sie hatte es nicht nur umgefahren, es war gegen die Garagentür geknallt, die ebenfalls gelitten hatte. Sie konnte alles erklären, aber er hörte nicht hin und ging zu seinem Motorrad, um es aufzurichten.

Es tut mir so, es tut mir so leid, jammerte sie hinter ihm.

Er verzog das Gesicht, gleichzeitig wurde ihm bewusst, dass Nath nicht dabei war.

Sie hat es sich im letzten Moment anders überlegt, erklärte Marlène. Ich habe sie zu Hause abgesetzt. Wenn ich das gewusst hätte.

Sie schien wirklich bestürzt. Bekloppt, aber bestürzt.

Ich weiß nicht, wie mir das passieren konnte, fing sie wieder an.

Er musterte sie finster, dann wieder seine geschrottete Maschine und die Garagentür mit der Delle. Auch wenn das ein hoher Preis war, auf diese Weise würde es wenigstens keine Konfrontation zwischen Mutter und Tochter geben. Nicht heute Abend jedenfalls. Nicht bei ihm. Wer weiß, wie die Sache ausgegangen wäre.

Er blickte in den schwarzen Himmel und registrierte die künstliche Ruhe, die dort herrschte. Marlène suchte akribisch die Stoßstange des Autos nach Kratzern ab. Er fragte sie, wo ihre Brille abgeblieben sei.

Sie werden lachen, sagte sie.

Zu dem Vergnügen kam es nicht mehr, denn sie verstummte, Mona war soeben in der Tür erschienen.

Rückspiegel

Auf dem Rückweg umspielte ein leichtes Lächeln Marlènes Lippen, sie war ein wenig betrunken und brillenlos. Es hatte sich nicht ergeben, dass sie ihre Nichte aufwachsen sah, aber die Freude, mit der sie sie in die Arme geschlossen hatte, wirkte noch nach. Ein Mordskerl, eine Schönheit, ein intelligentes Mädchen, wenn sie auch offensichtlich diese Schroffheit an sich hatte, die sämtlichen Heranwachsenden eigen war – vor allem, wenn es um die Mutter ging.

An einer Ampel im Zentrum, wo vor den neonbeleuchteten Bars reges Treiben herrschte, trommelte sie auf dem Lenkrad und warf einen Blick in den Rückspiegel. Sie dachte über Dan nach, ein komischer Kauz. Dann konzentrierte sie sich aufs Fahren und vergaß ihn wieder.

Um sich keine unangenehme Bemerkung ihrer Schwester einzufangen, verschwieg sie das kleine Unglück, das ihr beim Parken passiert war, und betonte, was für einen tollen Abend sie gehabt hätten.

Nath zog ein Gesicht und ging ins Bett.

Das war just, als Marlène ihr ohne Umschweife ankündigte, dass sie schwanger sei. Ich wollt’s dir lieber sagen, fügte sie hinzu.

Mistkerle

Man sah es nicht. Man sah es noch nicht. Sie beobachtete Marlène über ihre Schulter hinweg im Badezimmerspiegel, während sie sich mit ungewohnter Inbrunst die Zähne putzte und ihre Schwester über den Rand der beigefarbenen, thermogeformten Acrylbadewanne stieg. Nath fragte sich, ob sie nicht die Gelegenheit nutzen sollte, sie ein für alle Mal zu ertränken.

Bummel nicht zu lange rum, sagte sie ihr. Wir haben noch eine Menge vor.

Es war schönes Wetter, ein leuchtender Märzhimmel, von durchdringendem, grellem Blau. Nath stand nachdenklich am Küchenfenster und cremte sich das Gesicht ein. Die italienische Kaffeemaschine brodelte, Richard war hinter Gittern, Mona hatte das Weite gesucht, Marlène war ihr vor die Füße gefallen wie ein Sack Zement, und an den Rest, an ihr eigenes Gefühls- und Sexualleben, hatte der Herrgott schlichtweg nicht gedacht. Schlechtes Wetter hätte jetzt gerade noch gefehlt.

Die Welt war voller Mistkerle. Nath plädierte dafür, ein paar Typen zu finden, die dem Arsch, der Marlène vor die Tür gesetzt hatte, weil sie schwanger war, eine Abreibung verpassten. Oder jedenfalls dafür sorgten, dass er so was nicht wieder tat. Aber Marlène spielte die Zaghafte, die Seele in Person, und lehnte eine Strafexpedition strikt ab. Nath hatte den Kopf geschüttelt. Zum Henker, ich versteh dich nicht.

Ihre Schwester war nicht eben ein Geschenk, aber das war natürlich kein Grund.