Wie die wilden Tiere - Philippe Djian - E-Book

Wie die wilden Tiere E-Book

Philippe Djian

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Marc ist ein angesagter Künstler, als Vater und Ehemann hat er jedoch versagt. Eines Morgens liest er in der Metro eine junge Frau mit einer Alkoholvergiftung auf und bringt sie zu sich nach Hause. Kurz darauf ist Gloria schon wieder weg, die schicke Einrichtung zertrümmert, der Kühlschrank leer, und die Drogen sind geklaut. Dennoch kümmert sich Marc um sie, als sie wiederauftaucht. Denn an ihr hofft er wiedergutzumachen, was er bei seinem Sohn versäumt hat.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 216

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Philippe Djian

Wie die wilden Tiere

Roman

Aus dem Französischen vonOliver Ilan Schulz

Titel der 2011 bei Éditions Gallimard, Paris,

erschienenen Originalausgabe: ›Vengeances‹

Copyright © 2011 by Philippe Djian et Éditions Gallimard

Die deutsche Erstausgabe erschien 2013 im Diogenes Verlag

Covermotiv: Collage von Tullio Zanovello, ›Trophäe‹, 2013

Copyright © Tullio Zanovello

Für Année

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2017

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24408 3

ISBN E-Book 978 3 257 60339 2

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] »Mille vies ne sont pas suffisantes,

Mille hommes ne sont pas assez forts.«

[7] Am schlimmsten erwischte es die ganz Jungen, da gab es gar keinen Zweifel, mit ungefähr zwanzig. So um den Dreh. Man brauchte sie sich nur anzuschauen.

Richtig klar geworden war mir das während einer kleinen Feier bei unseren Nachbarn, ein paar Tage vor Weihnachten. Mein achtzehnjähriger Sohn Alexandre hatte die Anwesenden zunächst in Schockstarre und dann in Panik versetzt, als er sich eiskalt eine Kugel in den Kopf jagte. Und auf das Buffet krachte.

Ich war nach Hause gegangen und hatte Elisabeth geweckt – sie wachgerüttelt, ihrem Tablettenschlaf entrissen. »Schau, Elisabeth! Schau!«, hatte ich mit leiser, noch zitternder Stimme gemurmelt. »Schau, was passiert ist. Schau dir das Blut an meinen Händen an!« Angeblich hatte ich danach Rotz und Wasser geheult. Konnte tagelang nicht trocken bleiben.

[8] Elisabeth hatte alles getan, um ihm darüber hinwegzuhelfen, ihn zu trösten, aufzumuntern, aber er wollte nichts hören. Sein Sohn war tot, und er wollte sich einfach nur betrinken – sich so schnell wie möglich volllaufen lassen, auf der Stelle, bevor der Schmerz erwachte. Das hielt er für eine ziemlich gute Lösung, einen akzeptablen Kompromiss. Er hatte sehnlichst darauf gehofft, dass Elisabeth ein paar Wochen oder Monate verreiste. Noch nie hatte er sich etwas so sehr gewünscht, noch nie hatte er sich so danach verzehrt, dass ihre Firma sie ans andere Ende der Welt schickte und er allein sein konnte. Aber sie hatte durchgehalten, das musste er zugeben. Sie hatte ihn nicht fallenlassen.

Am schlimmsten erwischte es die, damit musste man sich abfinden, die noch nicht einmal zwanzig waren. Als die Bahn wieder anfuhr, traf es ein Mädchen zwei Sitzreihen vor ihm – eine Blonde, die seit der letzten Station laute Rülpser von sich gab –, nun also trat sie den Beweis an, dass sie tatsächlich die kaputtesten und armseligsten von allen waren. Kotzte sich in die Schuhe, und das am frühen Morgen. Starrte verstört auf die Bescherung. Verpestete den ganzen Wagen mit säuerlichen Weindünsten. Wie reizend. Mehr kann man nicht tun, um seinen Teamgeist zu demonstrieren.

[9] Ihm fehlten die Worte, so schrecklich entwürdigend fand er das für ein Mädchen – noch dazu machte sie keine halben Sachen und hatte das Vorderteil ihres Rocks und einen ganzen Jackenärmel besudelt. Als er sah, wie sie ihren Mund verzog, glaubte er, sie würde einen wütenden Schrei ausstoßen, stattdessen kippte sie auf die Seite und glitt geräuschlos zu Boden.

Es war noch sehr früh am Morgen. Bis auf einige schlaftrunkene und schweigsame Schichtarbeiter, die weiter hinten saßen, war das Abteil leer. Die Hochbahn überquerte den Fluss, und das Mädchen rutschte durch ihr feuchtes Erbrochenes, als der Zug eine ausgedehnte Kurve Richtung Westen beschrieb, wo die oberen Stockwerke der Hochhäuser in der Sonne leuchteten wie glühende Kohlen.

Ich hatte keine große Lust, ihr zu helfen. Eine Zeit lang achtete ich nicht auf sie. Bis zu meiner Haltestelle dauerte es nur noch ein paar Minuten, und um mich rauszuhalten, genügte es, so lange wegzuschauen, die Graffitis an der Decke zu studieren oder – warum nicht? – die Verhaltensregeln für Notfälle zu lesen. Irgendjemand würde sich schon um sie kümmern. Ich war sauer auf das [10] Mädchen, weil ich wegen ihr wieder an Alexandre denken musste – er hatte zwei Alkoholvergiftungen gehabt, bevor er seiner kurzen Existenz ein Ende setzte, und dieses Mädchen erinnerte mich wieder daran, wie abgefuckt sie waren, wie tief die Wurzeln des Bösen reichten. Dieser Racker hatte mich völlig fertiggemacht.

»Das hätte uns auch fertig gemacht«, meinte Michel etwa sechs Monate nach dem Tod von Alexandre, dabei sah er ihm tief in die Augen und legte die Hand auf seine Schulter. »Du hast eine miese Zeit hinter dir, Alter, das wissen alle hier. Es wäre uns nicht anders ergangen, Marc, Alter, kein bisschen anders. Es hätte uns umgehauen.«

Michel hatte ihn eine Weile fixiert, ihn umarmt und dann aufgefordert, seine fünfundvierzig Kerzen auszublasen. Alle hatten geklatscht. Außer Elisabeth, die schon auf Distanz zu ihm gegangen war.

Dennoch schleifte Marc die junge Frau über den Bahnsteig – wobei er auf seine eigene Kleidung achtete – und schaffte es, sie auf eine Holzbank zu setzen, obwohl ihm niemand Beistand leistete, sich in der dünngesäten morgendlichen Menge keine barmherzige Seele fand.

Er betrachtete das Mädchen eine Weile und reimte [11] sich die teuflische Mischung zusammen, die sie getankt haben musste, empfand aber keinerlei Mitleid für sie. An einem Automaten kaufte er eine Flasche Wasser und hielt sie ihr hin. Sie hatte die Augen zwar einen Spalt geöffnet, es war aber dennoch unmöglich abzuschätzen, was sie mitbekam. »Überfordert« traf es nicht. »Total überfordert« traf es schon ein bisschen besser.

»Abgefuckt« passte nicht schlecht. Es war ziemlich kalt.

»Du bist durchgeknallt. Du bist echt total durchgeknallt«, seufzte Michel. »Kauf dir doch einen Hund, keine Ahnung, oder geh in die Kirche oder Blut spenden… Marc, ich bitte dich, du hast dir nichts vorzuwerfen. Hör auf damit. Für den allgemeinen Wahnsinn kann man sich nicht verantwortlich fühlen. Tu dir das nicht an, stell dich nicht dümmer, als du bist.«

Er goss Marc einen kräftigen Schluck Gin ein, wie schon so oft an diesem Abend. »Und?«, fing er wieder an. »Was willst du mit ihr machen? Hast du dir das überlegt? Und wenn Elisabeth aufkreuzt?«

»Sehr witzig.«

»Täusch dich nicht. Vielleicht kennst du sie nicht so gut, wie du denkst.«

»Michel hat recht«, sagte Anne, als sie mit [12] Gläsern eines perlenden, leuchtenden Getränks zurückkam. »Du kennst sie nicht so gut wie ich. Elisabeth ist hart im Nehmen…«

Die Musik kam von einem Wall-of-VoodooAlbum, das er ihnen geschenkt hatte.

»Wenn es einen Preis gäbe für den Typen, der sich den größten Ärger einhandelt«, fuhr Michel fort, »hättest du die besten Chancen. Kein Zweifel.« Er leerte sein Glas in einem Zug und schlüpfte zugleich in seine Jacke. »Also. Ich sage dir, was wir machen. Wir holen sie. Wir geben ihr ein bisschen Geld und bringen sie in die Stadt zurück. Jetzt sofort. Wir tun, was wir tun müssen.«

»Als ich los bin, schlief sie noch.«

»Dann wecken wir sie. Da mach dir mal keine Sorgen.«

Machte ich mir sowieso nicht wirklich.

Soweit ich mich erinnerte, hatte sich Alexandre das erste Mal mit zwölf betrunken. Der Notarzt musste kommen, und seine Mutter, Julia, mit der ich damals zusammenlebte, hatte mir die gesamte Verantwortung zugeschoben, sie beklagte meinen Mangel an Fürsorglichkeit, meine Unreife, meine kriminelle Unbekümmertheit und so weiter.

Aber letztlich hatte ich das Sorgerecht bekommen, denn ich hatte auf die Erziehung verwiesen, [13] die ein Jugendlicher bei dieser Frau erhalten würde, dass sie ein schlechtes Vorbild sei, usw. – das hatte sie nun davon.

Alles in allem war es nicht immer einfach zwischen ihm und mir, es lief nicht immer ideal, aber wir schafften es, zusammen zu leben, wir kriegten es tatsächlich hin. Das habe ich nicht vergessen. Als Elisabeth dazugekommen war, hatte sich unser Verhältnis verschlechtert. Und dabei hatten wir alles drangesetzt, um es wieder zu verbessern, ich ebenso wie Elisabeth, die Frau, mit der ich nun mein Bett, mein Schlafzimmer und mein Zuhause teilte – in guten wie in schlechten Zeiten. Keine Chance. Vernünftigen Argumenten war der Junge nicht mehr zugänglich, mit Reden kam ich nicht mehr richtig an ihn ran. Wie sollte ich ihn fragen, was nicht in Ordnung war, wenn ich nur immer wieder dieselbe blöde Antwort erhielt?

Ich konnte nicht behaupten, dass ich ein übermäßig klares Bild hatte von der Phase zwischen Julias Verschwinden und Elisabeths Ankunft – das lag größtenteils an meinem Singleleben, das mich meistens spät und fast immer betrunken nach Hause kommen ließ –, aber ich wusste, dass Alexandre und ich uns immer recht gut verstanden hatten.

Ich war überzeugt, dass ich in jenen Jahren einen annehmbaren Vater abgegeben hatte. Ich hoffte, er [14] erinnerte sich auch noch daran, als er in mir nur noch seinen schlimmsten Feind zu sehen schien – oder bestenfalls ein Wesen von einem anderen Stern. Aber ich war mir nicht sicher.

Ich sah ihm zu, wie er mit seinen Freunden spielte und auf Bäume kletterte. Wir wohnten in der Nähe eines Sees, sie badeten, sie hatten ihren Spaß, und ich bereute keine Sekunde, dass seine Mutter uns verlassen hatte. Was für ein undurchsichtiger Schleier legt sich über den Verstand eines Mannes, wenn er sich für eine Frau entscheidet, für eine bestimmte Frau unter so vielen? Wann genau trifft ihn die Einsicht wie ein Schlag ins Gesicht, doch er kann nicht mehr zurück? Wann ist er verloren? Ich für meinen Teil hatte jedenfalls vollkommen danebengelegen. Nach einigen Monaten sexueller Ausschweifungen im Anschluss an unsere Hochzeit hatte sich auf geheimnisvolle Weise ein gewisser Überdruss eingeschlichen, innerhalb weniger Jahre war unsere Beziehung versandet, eine Schicht legte sich über die nächste, schließlich war ich ihrer Liaison mit dem Gefrierkostlieferanten auf die Spur gekommen und hatte lange darüber nachgedacht, sie darauf anzusprechen, weil ich hoffte, dass in mir ein bisschen Eifersucht oder etwas anderes erwachen würde, aber die Leere, die ich im Grunde meines Herzens spürte, war fast schon erschreckend.

[15] Deshalb wollte ich über einen langen Zeitraum, wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, so schnell wie möglich wieder weg und redete nur kurz mit ihr, dann drehte ich schon wieder eine Runde mit Alexandre oder traf mich mit ein paar Freunden auf einen Drink – und klagte über die Probleme von Vätern unter dreißig und die steigenden Preise für Babysitter.

»Ich hab’s satt, mit einer Nutte zu leben«, sagte ich eines Morgens zu ihr. »Ich möchte, dass du deine Sachen packst.«

Sie ging zum Bett und zog einen Koffer darunter hervor, um mir zu zeigen, dass sie schon gepackt waren.

Es war keine besonders gute Idee gewesen, dieses Mädchen mit nach Hause zu nehmen, mit ihr heimzufahren und sie in seinem Gästezimmer unterzubringen. Er wurde selbst nicht schlau daraus. Er fühlte sich, als hätte er in Trance gehandelt oder unter dem Einfluss eines verhängnisvollen Zaubers, im Übrigen war das Morgenlicht merkwürdig hell gewesen und die Luft eisig.

Zum Glück lag das Viertel noch verlassen da. Das Mädchen war ekelhaft betrunken. Zu Hause hatte Michel eine Nachricht hinterlassen und ihn für den Abend eingeladen. Als er vor der Tür stand [16] und seine Schlüssel suchte, hatte sich das Mädchen an ihn geschmiegt, und nun stank auch er wie ein ganzer Schweinestall. Wie konnte so was passieren? So was Ekliges.

Seit er sie ins Bett gebracht hatte, schlief sie tief und fest. Bis jetzt hatte er noch nicht wirklich Gelegenheit gehabt, ihr Gesicht genauer zu betrachten, und obwohl es im Zimmer dunkel war, sah es so aus, als sei sie trotz alledem recht hübsch, und dafür schämte er sich ein bisschen. Hätte er beim erstbesten Obdachlosen genauso gehandelt? Tja. Sicher nicht. Ganz bestimmt nicht. Das musste er sich eingestehen.

Von der Terrasse aus bot sich ein weiter Blick auf die Hügel in der Ferne. Zwischen den Bäumen lange Abschnitte des Flusses, träge glitzerndes Nass. Als sie am Ufer des Sees wohnten, fand er, dass von dieser stehenden Wassermasse eine Art Spannung ausging. Das dahinfließende Wasser bereitete ihm hingegen überhaupt keine Probleme. Im Gegenteil. Er hatte sogar ein paar Liegestühle aufgestellt, damit man dieses Schauspiel unter idealen Bedingungen genießen konnte, und es musste schon wirklich sehr kalt oder sehr schlechtes Wetter sein, dass er auf seine kontemplative Sitzung verzichtete. Der Fluss wirkte auf den Geist wie eine Reinigungskassette auf einen Tonkopf. Seit dem [17] Tod von Alex gab er sich diesen Kontemplationen noch ausdauernder hin.

Irgendwann fand Elisabeth, er ginge zu weit. Trübsal blasen nütze nichts. Aber wer hatte denn behauptet, dass Trübsalblasen etwas nützen müsse? Es war nicht ihr Sohn, der sich das Hirn weggepustet hatte. Wahrscheinlich war es deshalb für sie nicht so schwer. Schön. Gut. Vielleicht hatte er einen Riesenfehler begangen, als er ihr das sagte, denn er wusste ja, wie empfindlich sie war, wie sehr sie sich in Wortgefechte und Auseinandersetzungen hineinsteigerte, aber er hatte doch recht. Mit dem Ergebnis, dass er sie seit dem Herbst kaum zu Gesicht bekommen hatte und sie sich verzog, wenn er ihr auf einer Party begegnete.

»Sie wird zurückkommen«, versicherte ihm Michel. »Halte dich bereit. The readiness is all. Aber ich an ihrer Stelle würde mir auch gründlich überlegen, ob ich mit dir zusammenleben wollte. Schließlich kennt sie dich ganz gut.«

»Ich habe gehört, dass sie mit irgendeinem Idioten ins Bett geht, so einem Italiener.«

»Ist doch egal, was die Leute erzählen. Konzentrier dich lieber auf deine Arbeit. Deine letzten Sachen sind beschissen.«

»Du verdienst einen Arschvoll Geld. Mit meinen beschissenen Sachen.«

[18] »Ja, ich weiß. Furchtbar. Mein Leben ist die Hölle auf Erden. Apropos, was war eigentlich heut früh los? Du wolltest doch extra kommen, um die Sachen zu unterschreiben.«

»Ich habe meine Meinung geändert. Ich gebe keine Garantie mehr. Sag dieser Frau, dass ich kein Hellseher bin. Wir haben auch keine Erfahrung damit. Ich kann ihr nicht garantieren, dass es zehn Jahre hält. Von der Luftverschmutzung ganz zu schweigen. Sag ihr das.«

»Das werde ich ihr ganz bestimmt nicht sagen. Unmöglich. Einer von uns beiden muss ja einen kühlen Kopf bewahren.«

»Übrigens, ich muss dir was erzählen. Ich habe ein Mädchen aufgesammelt, ein besoffenes Mädchen.«

»Das ist nicht dein Ernst, oder?«

»Doch, sie ist bei mir.«

»Das ist nicht dein Ernst!«

Seine Antwort bestand aus einem Seufzer, dann warf er an Michel vorbei einen Blick auf die Anwesenden und berichtete ihm kurz. Die Wohnung war voll. Man konnte sich auf Anne verlassen, wenn es darum ging, die richtigen Leute einzuladen und für einen gelungenen Abend zu sorgen, es gab unbegrenzt zu essen und zu trinken, es war alles da, um Spaß zu haben und sich anzutörnen, Marc hatte [19] also überhaupt keine Lust, an das Mädchen zu denken und an den Ärger, den er sich vielleicht für nichts und wieder nichts einhandelte, für einen unverständlichen Moment der Schwäche, für ein Formtief, das ihn bei ihrem Anblick ereilt hatte, als sie lammfromm und leichenblass in der eisigen Luft auf der Holzbank hin und her wankte. Dabei spendete er doch an alle Hilfsorganisationen – er schickte Schuhe, Bekleidung, Medikamente, Schecks, Konserven – warum hatte er also auch noch am frühen Morgen den barmherzigen Samariter spielen müssen, was war nur mit ihm los? Egal, wie sturzbetrunken oder high er gewesen war, so weit hatte er es noch nie getrieben mit der Nächstenliebe.

Machte das Älterwerden auch noch gefühlsduselig?

Ein Teil der Einrichtung war kurz und klein geschlagen, meine Sachen waren zerfetzt, verstreut, kaputt. Die Lebensmittel aus dem Kühlschrank waren auf dem Küchenboden verteilt, die Flaschen zerschmettert, meine Klamotten in alle Richtungen geschmissen, und das lächerliche Gramm Stoff, das ich in meiner Hausapotheke verwahrte, hatte sich ebenso in Luft aufgelöst wie meine Schlaftabletten.

»Was habe ich dir gesagt…«, meinte Michel [20] kopfschüttelnd. »Das hast du jetzt von deiner Nächstenliebe, das ist der Dank. Na prächtig. Das hat dir gerade noch gefehlt. Eine, die weiß, wie man sich benimmt. So eine bitch. Wo ist bloß dein Glücksstern abgeblieben?« Er bückte sich und sammelte die Reste meiner Gibson zusammen, die das Mädchen zertrümmert hatte. Zerstreut richtete ich eine Stehlampe auf. »Ich glaube, ich bin reif für eine Woche im Hotel«, sagte ich.

»Vergiss das Hotel. Versuchen wir lieber, einen Koffer zu finden. Um das hier kümmere ich mich morgen. Aber tu mir einen Gefallen. Mach dir schon mal ein paar Gedanken über die neue Einrichtung. Diese Fuck-off-Attitüde bringt dich nicht weiter, das ist nicht gut für deinen Kopf. Du musst begreifen, dass Gleichgültigkeit und Unentschlossenheit ihren Preis haben. Man muss kein Unmensch sein, nur weil man sich über die Farbe seiner Vorhänge Gedanken macht, okay? Für ein Minimum guten Geschmacks musste noch niemand in der Hölle schmoren. Und es ist auch noch nie ein intelligenter Typ dadurch zum Vollidioten geworden.«

Während er damit beschäftigt war, ein paar Sachen aufzulesen, die er in einen Koffer stopfte, machte ich eine Runde durchs Haus. In meinem Schlafzimmer bemerkte ich plötzlich etwas Merkwürdiges: Das Foto von Alexandre, das ich in einer [21] Schublade meines Nachttischs aufbewahrte, war verschwunden. Nur der Rahmen war noch da.

»Glaubst du, sie kannte ihn?«

Ich zuckte mit den Schultern. Ich hatte keine Ahnung. Er hatte mir nie viel von den Leuten erzählt, mit denen er zu tun hatte. Nach der Trennung von Julia und nachdem ich das Sorgerecht für ihn bekommen hatte, waren wir in eine gemeinsame Wohnung gezogen, und jeder hatte dem anderen sofort volle Freiheit gewährt, deshalb schnüffelte ich genauso wenig in seinem Leben herum wie er in meinem. Ich fand, dass er sehr reif war für sein Alter. Manchmal kam ich spät von einem Konzert, einer Party oder irgendwas anderem zurück und fand ein fertiges Essen vor – aus diesem Grund war es mir ziemlich oft so vorgekommen, als sei es relativ einfach, ein Kind großzuziehen.

Er sah Alexandre, wenn er morgens aufstand. Bevor er arbeiten ging, überließ er den Jungen dem Au-pair-Mädchen – das meistens hübsch, meistens blond war – und tauchte erst ziemlich spät wieder auf, zu vorgerückter Stunde. Manchmal sah er ihn das ganze Wochenende über nicht. Aber er vergaß nie, ihm Geld dazulassen, sich regelmäßig nach ihm zu erkundigen, ihn zu fragen, wie es in der Schule lief, wie es seinen Lehrern ging, usw.

[22] Seiner Überzeugung nach hatte der Abstieg der westlichen Welt mit dem 11.September begonnen – ein Abstieg, der nun auf fast natürliche Weise seinen Tiefpunkt erreichte –, und seit diesem Tag fühlte er sich wie von einem Strudel gepackt und rettungslos nach unten gerissen und so gleichgültig gegenüber allem, dass er manchmal nicht mehr genug Energie hatte, um sich nach Hause zu schleppen.

Immer öfter wurde ihm bewusst, dass er seiner Rolle bei Alexandre nur sehr bedingt gerecht wurde, aber er schaffte es nicht, das zu ändern. Sein eigenes Leben beanspruchte ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit, und er musste schon auch ein wenig auf sich selbst achten, seine Kräfte schonen, um dem alltäglichen Ansturm standzuhalten. Er konnte sich nicht vierundzwanzig Stunden am Tag um seinen Sohn kümmern. Es war kein Spaziergang. Das Leben war kein Spaziergang. Eher ein Gewaltmarsch.

Michel behauptete, er würde sofort mit Marc tauschen – leider kam das Geld von Annes Seite, was ihm jeglichen Mut nahm und jegliches Aufmucken im Keim erstickte. »Aber dennoch…«, meinte er. »Frei zu sein hat unzweifelhaft Vorteile. Man kann heimgehen mit wem man will und wann man will. Kann alle Möglichkeiten ins Auge fassen. Beim Essen fernsehen. Auch mal nichts sagen. Und [23] vieles mehr. In fremden Wohnungen übernachten. Die nächstbeste Schlampe vögeln. Ich kenne so einige, die das gern mitnehmen.«

Der Himmel war tiefschwarz. Der Duft der lauen Nacht erinnerte ein bisschen an Waffeln. Sie standen mit einem Glas in der Hand und glänzenden Augen auf Michels Balkon und schauten einem Mädchen mit kurzem Rock und hellem Slip nach. Auf der anderen Seite der breiten Straße glitzerten die Lichter der leeren Büros – die höheren Stockwerke verloren sich in der Dunkelheit.

»Nicht schlecht, wie du das hinkriegst mit deinem Sohn«, fuhr er fort. »Ihr macht das gut. Die Zeit heilt alle Wunden. Ihr macht das gut, alle beide. Die Zeit hat euch in die Hände gespielt. Wirklich. So, und jetzt komm mit. Ich muss dir jemand vorstellen. Los!«

Sie gingen in einen anderen Raum, und Michel stellte ihm eine junge Frau namens Elisabeth vor, mit der er noch am selben Abend Sex hatte – bis zur Morgendämmerung.

Als er etwas später die Augen öffnete, so gegen Mittag, noch ganz benommen von den Exzessen der Nacht, betrachtete er die schlafende Frau neben sich und spürte, dass zwischen ihnen geheime Bande bestanden. »Ja, das wundert mich nicht«, sagte Michel am anderen Ende der Leitung, »ich [24] war mir zu neunzig Prozent sicher. Ich habe mir gleich gedacht, dass sie dein Typ ist. Und sag mal, vögelt sie gut?«

»Sie raucht im Bett, das ist das Einzige, was mich stört.«

Eigentlich war er immer noch verzaubert. Er schickte Alex übers Wochenende weg.

Sie blieb ein paar Tage bei ihm. Allein. Über Nacht bis zum Morgen, und dann wieder den ganzen Tag bis zum Abend. Er musste sich zurückhalten, um sie nicht dauernd zu vögeln, er befürchtete, er würde wie ein Verrückter erscheinen, ein Sexmaniac, ein Unersättlicher, aber die Pillen von Michel wirkten wie kleine Bomben und verlangten jedes Mal nach einer neuen Runde.

Zum Glück war er so geistesgegenwärtig gewesen, Alexandre von diesem Schlachtfeld fernzuhalten. Während sie ein Bad nahm, fragte er sich, wie er sie seinem Sohn vorstellen würde, falls sich etwas Längeres daraus ergeben sollte. Wie könnte im Zweifelsfall ein Zusammenleben aussehen? Gut, die Schlafzimmer lagen an den entgegengesetzten Enden des Hauses, außerdem gab es zwei Bäder, plus eine Terrasse, einen weitläufigen Wohnraum und eine große Küche, aber wäre das ausreichend? Diese Situation war völlig neu für sie. Fünf Jahre [25] lang hatte er keine Frau nach Hause eingeladen – außer an den wenigen Wochenenden oder während der kurzen Ferien, die Alexandre bei seiner Mutter verbrachte.

Er war total überrascht, dass er schon über die verschiedenen Szenarios nachdachte, die sich durch den Einzug Elisabeths ergeben könnten. Sie hatten sich gerade erst kennengelernt.

Aber nachdem sie drei Tage komplett miteinander verbracht hatten, in denen sie kaum ein Auge zugemacht und kaum Luft geholt hatten, war er wieder zu sich gekommen, war aufgewacht und hatte sich entschlossen, während er in die Dusche stieg, dass er Elisabeth anbieten würde, zu bleiben, einzuziehen bei ihm und Alexandre, seinem Sohn, den sie schon bald kennenlernen würde.

Da sie auch gerade aufgewacht war, fragte er sie geradeheraus.

»Morgen bin ich in Shanghai«, antwortete sie – wie in Trance.

Er zögerte eine Sekunde. »Das macht nichts«, sagte er und verzog das Gesicht. »Ich bin fest entschlossen, Sie so zu nehmen, wie Sie sind… Ich bin nicht viel zu Hause. Wir werden uns nicht im Weg sein. Probieren wir es aus. Lassen Sie Ihre Möbel, wo sie sind. Wir fahren zu Ihnen, packen einen Koffer, drehen den Gashahn zu, dann nehme ich [26] Sie wieder mit, und die Sache ist gelaufen. Ich schlage vor, dass wir das jetzt gleich tun, solange wir noch die Kraft dafür haben – einverstanden? Denn ich brauche Sie nur anzusehen, Elisabeth, und… Hm, wie kann ich Ihnen das wenigstens einigermaßen elegant sagen?«

Alexandre kreuzte erst im Laufe des Abends auf. Nachdem sie das letzte Mal miteinander geschlafen hatten, waren sie auf die Terrasse gegangen, damit sie nicht mehr so erhitzt aussahen. Beim Duschen hatte sie ihm einen runtergeholt, um ihn ein bisschen zu erleichtern und es ihm zu ermöglichen, sein Gerät, so gut es eben ging, in seine Jeans zu packen.

Als es dunkel wurde, hatten sie sittsam einen auf den Galapagosinseln gedrehten Tierfilm angesehen, schließlich die Nachrichten, die den Zusammenbruch der ersten Banken verkündeten – die Ratten verließen das sinkende Schiff –, und den Wetterbericht – in diesen frühen Herbsttagen verloren die Bäume ihre Blätter, und die Luft kühlte ab. Sie hatte den Kopf an seine Schulter gelehnt, während überall auf der Welt Taifune, Zyklone und Erdbeben auf Überschwemmungen, Seuchen und Vulkane folgten.

Anne meinte, die Sache könne kein Zufall sein, und das Mädchen wisse ganz genau, wer Marc sei, oder sie habe ihn erkannt.

[27] »Sie ist jedenfalls nicht gerade ein Fan von dir.«

»Ach ja? Und warum? Ich habe sie noch nie gesehen.«

Anne hatte sich und ihm einen Gin-Martini eingeschenkt. Es wurde Abend, die untergehende Sonne spiegelte sich im Hochhaus auf der anderen Seite des Boulevards – während ein leichter, von den Hügeln kommender Wind wehte –, und als er den Duft der Nacht erkannte, hielt er einen Moment lang nachdenklich inne.

Niemand konnte von sich behaupten, er sei ein Engel. Niemand konnte beteuern, er sei absolut unschuldig. Aber er hatte nichts Schlimmes auf dem Gewissen, nichts sehr Ausgefallenes, nichts Spezielles – nichts jedenfalls, was erklären konnte, warum das Mädchen seine Sachen so zugerichtet hatte.

Anne ermunterte ihn: »Denk mal scharf nach. Manchmal sind die Sachen so offensichtlich, dass man nicht darauf kommt. Die meisten Männer in meinem Bekanntenkreis hätten es verdient, in der Hölle zu schmoren. Ich wüsste nicht, warum du eine Ausnahme sein solltest.«

Er blieb lange allein und überlegte, während Anne sich zum Ausgehen fertig machte, eine knallenge Hose anzog, ihr Make-up auffrischte, dann fiel ihm ein, dass die einzig schlimme Sache, die er [28] getan hatte und die die erwähnte Bestrafung verdiente, die Tatsache war, dass er den Selbstmord seines Sohnes nicht hatte verhindern können.

»Hey«, meinte sie, als sie in ein Taxi sprangen, »ich weiß genau, was du denkst. Jetzt kannst du dir vorstellen, in welche Richtung das geht, auch wenn manches noch im Verborgenen liegt. Das Leben ist so sonderbar, dass uns nichts mehr überraschen kann. Selbst wenn man es wollte.«

»Weißt du, manchmal kommt es mir vor, als sei Alex da, gleich hier neben mir, und wolle mit mir reden. Durch dieses Mädchen kommt alles wieder hoch. Schau dir die Härchen auf meinem Arm an.«

Er verbrachte den Abend an der Bar, in Gesellschaft von ein paar Gläsern und ansonsten völlig unbeteiligt an allem um ihn herum, der schrecklichen Musik, den Gesichtern, den Gesprächen, die man mit ihm anfing und bei denen er schon nach einer Minute abschaltete.

Er durfte sich nicht wieder den Depressionen überlassen, in die er nach dem Tod von Alex verfallen war und die Elisabeth vertrieben hatten. Sie war heute nicht da – und weiß Gott, ihre Anwesenheit hätte vieles leichter gemacht, wäre eine große Hilfe für ihn gewesen – und er wusste ganz genau, warum. Am Ende hatte sie sich geschlagen gegeben, hatte eingestanden, dass sie seinen Kummer und sein [29]