Die Heldenmutter - Wolfgang Hohlbein - E-Book

Die Heldenmutter E-Book

Wolfgang Hohlbein

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Beschreibung

Eigentlich ist Lyra nur ein armes Bauernmädchen, doch dann findet sie das Kind der erschlagenen Elfenprinzessin und muß fliehen. Denn dieses Neugeborene wird gejagt, weil eine alte Prophezeiung es zum Befreier des Landes erklärt.

Um dem Kind ein Leben in Krieg und Kampf zu ersparen, greift Lyra selbst zum Schwert. Gegen den übermächtigen Feind steht ihr nur ein Helfer zur Seite - der mächtige Zauberer Dago. Doch kann sie einem Mann vertrauen, der aus den Nichts zu kommen scheint?

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Seitenzahl: 915

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Wolfgang und Heike

Hohlbein

Lübbe Digital

Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG erschienenen Werkes
Lübbe Digital und Gustav Lübbe Verlag
in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG
© 1989 und © 2009 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG,
Köln
All rights reserved
Lektorat: Ruggero Leò
Datenkonvertierung eBook:
Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-8387-0612-2
Sie finden uns im Internet unter
www.luebbe.de

Erstes Buch

1

Es war ein Morgen im Frühherbst. Die zaghaften Strahlen der aufgehenden Sonne versprachen noch einen warmen Tag, aber schon glitzerte der erste Raureif im Gras. Der Biss des Windes war kalt, und sein Heulen erinnerte an weiß überzuckerte Berge und Wolfsspuren im Schnee.

Lyra stand früh auf wie immer, schon lange vor Sonnenaufgang, um den Beginn der Arbeiten zu überwachen und selbst mit Hand anzulegen, wo es sein musste - natürlich nicht mehr bei den schweren Feldarbeiten. Jetzt half sie allenfalls noch beim Melken der Kühe oder beim Schweine- und Hühnerfüttern. Aber es gab eine Menge anderer Dinge, die sie noch tun konnte und auch tat. Sie war sich nicht einmal sicher, ob das alles wirklich leichter war als ihr normales Tagewerk: Sie musste die Gruppen einteilen, die aufs Feld gingen, die bestimmen, die auf dem Hof blieben und dort arbeiteten, dazu all die großen und kleinen Querelen schlichten, die so zu dem Leben auf dem Hof gehörten wie das morgendliche Krähen der Hähne und der Geruch nach Kuhstall und Hühnermist.

Sie war erleichtert, als auch die Letzten aufbrachen und sie selbst endlich das Gesindehaus verlassen und in den Stall gehen konnte. Nach dem Durcheinander von Stimmen, dem Streiten und Lärmen und dem kleinlichen Quengeln derer, die sich benachteiligt oder von ihr gegängelt fühlten, erschien ihr die Arbeit bei den Kühen wie eine Erholung. Aber als sie sich nach dem Eimer bückte, wurde ihr übel. Es war nicht das erste Mal, dass ihr das passierte, im letzten Dreivierteljahr; aber so schlimm wie jetzt war es eigentlich nur in den ersten drei oder vier Wochen gewesen. Die Übelkeit kam plötzlich, so warnungslos wie ein Hieb. In ihrem Mund sammelte sich bitterer Speichel, und ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Gleichzeitig wurde ihr schwindelig.

Lyra blieb sekundenlang in der unnatürlich verkrampften Haltung stehen, zu der sie ihr angeschwollener Leib gezwungen hatte, presste die Hand gegen die Lippen. Es tat weh, aber es gelang ihr, den Brechreiz niederzukämpfen und sich zitternd aufzurichten.

Leicht beschämt bemerkte Lyra, dass sie nicht allein im Stall war und die anderen sie anstarrten. Mit einer Anstrengung, die ihre Kräfte beinahe überstieg, richtete sie sich ganz auf und ging langsam zur Tür.

Ihr Magen rebellierte noch immer. Aber sie schluckte die bittere Galle, die sich unter ihrer Zunge sammelte, tapfer herunter und beeilte sich, den Stall zu verlassen. Es war albern und vielleicht sogar gefährlich, aber sie wollte sich um keinen Preis vor den anderen Mädchen übergeben müssen, auch wenn dies nur natürlich gewesen wäre in ihrem Zustand. Für einen kurzen Moment glaubte sie die Blicke der anderen wie dünne spitze Messer im Rücken zu fühlen, denn nur in den allerwenigsten lag Mitleid. Ihr Verhältnis zu den anderen Mägden und Stallfrauen war niemals sehr gut gewesen, aber seit sie Orans Kind bekam, war die Kluft, die sie voneinander trennte, noch größer geworden. Lyra litt darunter: unter der Ablehnung, der Kälte, die ihr wie eine Mauer entgegenschlug, wann immer sie versuchte, sich einer der anderen zu nähern, den zahllosen mehr oder weniger offenen Spitzen, den Blicken, in denen sich Missgunst und Schadenfreude mischten. Sie litt darunter, mehr, als sie sich selbst gegenüber einzugestehen bereit war. Auch wenn sie wusste, dass die Verachtung, die die anderen für sie empfanden, zu einem guten Teil nur aus Neid geboren war. Neid und wohl auch Furcht, weil Oran unberechenbar war und niemand vorherzusagen wusste, wie weit und mit welcher Offenheit er sich vor Lyra stellen mochte. Nicht einmal sie selbst; sie vielleicht am allerwenigsten.

Sie trat auf den Hof hinaus und atmete ein paarmal tief durch. Die kalte Luft tat gut. Über das frisch gepflügte Feld, an das der nach einer Seite offene, U-förmig angelegte Hof grenzte, strich der kalte Wind und brachte mit dem Wohlgeruch des nahen Birkenhaines zusätzliche Linderung. Die Sonne war als schmaler, flammendroter Kreisausschnitt über den Gipfeln der Berge erschienen. Lyra liebte diese kurze Spanne zwischen Dämmerung und hellem Tag. Hinter den getönten Scheiben des Haupthauses flackerte noch das gelbe Licht der Öllampen, und im Gras glitzerte noch ein Hauch des Taus, in den sich der Raureif verwandelt hatte, als die Dämmerung heraufzog. Der Tag war erwacht, aber noch müde.

Lyra blieb mit halb geschlossenen Augen stehen und wartete, dass die Übelkeit nachließ. Doch plötzlich erwachte ein ziehender, peinigender Schmerz in ihren Lenden.

Sie erschrak. Es ist noch zu früh! dachte sie. Sie hatte noch mehr als zwei Wochen. Siebzehn Tage, wenn sie richtig gerechnet hatte. Und wenn die Übelkeit und die Schmerzen bedeuteten, dass das Kind jetzt schon kam, dann würde es sterben; oder vielleicht schwach und sein Leben lang kränklich sein. Oran würde sie vom Hof jagen, wenn sie ihm ein totes Kind oder gar einen Krüppel gebar.

Lyra zwang sich zur Ruhe. Was sie spürte, war ganz normal, nur ungewohnt. Sie hatte bisher ausgesprochenes Glück gehabt mit ihrer Schwangerschaft. Ihr Leib hatte sich allmählich gerundet, und dann und wann - vor allem in den ersten Wochen - war ihr vor dem Zubettgehen oder morgens nach dem Aufwachen übel und schwindelig gewesen, sodass sie liegen geblieben war und abgewartet hatte, bis ihre Eingeweide aufhörten zu rebellieren. Aber das war auch alles gewesen. In den letzten Wochen hatte sie nur noch unter Schmerzen mit Oran schlafen können - worauf er keine Rücksicht genommen hatte. Beides hatte sie als naturgegeben hingenommen und abgewartet, bis ihre Schönheit mehr und mehr den Zeichen der Schwangerschaft wich und er von selbst die Lust an ihr verlor und die Nächte wieder mehr in Felis' als in ihrem Bett verbrachte. Oran war ein harter Mann, dem das Wort Rücksicht fremd war. Doch er konnte auf seine Art auch gutherzig und sanft sein. Sie hätte es schlechter treffen können.

Nein, dachte sie. Es war ganz normal und hatte wahrscheinlich nichts zu bedeuten. Sie war einundzwanzig. Fünfzehn Jahre harter Arbeit auf dem Hof hatten ihren Körper kräftig wie den eines Mannes werden lassen, auch wenn sie ihr nichts von ihrer herben Schönheit genommen hatten. Lyra schalt sich in Gedanken eine Närrin. Sie war nicht die erste Frau auf der Welt, die ein Kind bekam. Das Fleckfieber, das sie vor zwei Jahren durchgemacht hatte, war schlimmer gewesen.

Trotzdem zitterten ihre Knie, als sie sich umwandte. Einen Moment überlegte sie, ob sie ins Haus zurückgehen und Oran um die Erlaubnis bitten sollte, sich eine Stunde hinzulegen. Sie war sicher, dass er ihr diesen kleinen Wunsch nicht abschlagen würde. Aber dann fiel ihr ein, dass es noch früh war und Oran jetzt wahrscheinlich mit Felis beim Morgenmahl saß.

Sie stand sich im Grunde gut mit Felis - so gut eben, wie sich eine Großmagd mit einer Bäuerin stehen konnte, deren Mann mehr Nächte in ihrem als im Bett seiner Gattin verbrachte -, aber seit sie das Kind erwartete, war ihr Verhältnis mehr und mehr abgekühlt, und Lyra ging ihr aus dem Weg, wo immer es möglich war. Felis und Oran waren seit zwei Jahrzehnten verheiratet, aber es war Felis nicht gelungen, dem Hof einen Erben zu schenken. Vielleicht war die Zeit, in der sie es konnte, schon vorbei. Sie war noch immer eine schöne Frau, trotz des harten Lebens an Orans Seite, aber das Alter hatte bereits die Hand nach ihr ausgestreckt, hatte Spuren in ihr Antlitz gegraben, ihrem Haar den Glanz und ihrem Körper die Geschmeidigkeit genommen, die Oran so an Lyra bewunderte.

Lyra schlug den Weg zur Heuscheune ein. Das Gebäude stand noch leer und wurde nur als Schuppen benutzt. Die beiden Wagen und allerlei Gerumpel waren darin untergebracht, und solange die Heuernte noch nicht eingefahren und das Winterfutter nicht geschnitten war, kam kaum jemand dorthin.

Innen herrschte noch Nacht, als sie das lang gestreckte Gebäude betrat. Ein schwacher Geruch nach feuchtem Stroh und Hühnermist schlug ihr entgegen, und einen Moment lang blieb sie stehen, damit sich ihre Augen an das schwache Licht gewöhnten. Es war still, aber zusammen mit ihr war auch ein kühler Windhauch hereingekommen, der den Staub aufwirbelte und die Strohbüschel zwischen den Dachschindeln rascheln ließ. Irgendwo klapperte Metall; ein Schatten huschte auf lautlosen Pfoten davon und verschwand in einer Ecke. Für einen Augenblick kam ihr das Gebäude beinahe wie ein großes, gutmütiges Wesen vor, das sie durch ihr plötzliches Erscheinen aus dem Schlaf gerissen hatte.

Sie lächelte flüchtig über die Vorstellung, lehnte die Tür hinter sich an, ohne sie ins Schloss zu drücken, und ging an den abgestellten Wagen und Gerätschaften vorbei in den rückwärtigen Teil des Schuppens. In ihren Eingeweiden wühlte noch immer ein dumpfer Schmerz, aber er war jetzt eher störend als quälend. Die Stille und die Dunkelheit hüllten sie ein wie ein beschützender Mantel, und die frische Luft auf dem Hof hatte ihr gut getan. Sie würde sich ein paar Augenblicke auf dem Heuboden ausruhen und dann zur Arbeit zurückgehen. Die Kühe mussten gemolken werden. Ihren prallen Eutern war es vollkommen egal, ob sie sich unwohl fühlte oder nicht.

Es bereitete ihr Mühe, die steile Leiter zum Boden hinaufzusteigen; die Stufen ächzten hörbar unter ihrem Gewicht. Sie war außer Atem, als sie auf dem Zwischenboden anlangte.

Nur durch ein paar Ritzen im Dach sickerte graue Helligkeit, die aber die Schwärze, die sie umgab, nicht vertrieb, sondern eher noch betonte. Sie sah nicht viel mehr als Schatten und schwarze, tiefenlose Flächen. Aber sie musste nichts sehen. Der Heuboden war ihr vertraut, jeder Zentimeter seiner verrotteten Bohlen und durchhängenden Dachbalken; vertraut aus langen einsamen Stunden, in denen sie sich hier oben verkrochen und still in sich hineingeweint hatte. Er war ihr Versteck, ihre Zuflucht, beinahe ihre Heimat; das einzige Zuhause, das sie jemals gehabt hatte. Die niemals ganz weichende Dunkelheit hier oben war ihre Verbündete, ihre Vertraute. Die Dunkelheit hatte ihre Tränen getrocknet, wenn Oran sie geschlagen oder Felis sie gescholten oder auf andere Weise gedemütigt hatte; sie hatte ihre Angst geteilt, als ihr klar wurde, dass sie schwanger war, und ihre Erleichterung gesehen, als sie begriffen hatte, dass Oran sie nicht von seinem Hof und nicht einmal aus seinem Bett jagen würde. Das war keineswegs selbstverständlich gewesen: Sie hatte wochenlang gezögert, zu ihm zu gehen und ihm zu sagen, dass sie einen Sohn von ihm erwartete. Sie wusste, dass es ein Sohn sein musste, denn wenn es ein Mädchen war, würde Oran sie davonjagen oder das Kind kurzerhand ertränken. Als sie endlich den Mut aufbrachte, hatte sie trotzdem noch vor Angst geweint und kaum ein Wort herausbekommen. Oran wäre nicht der erste Bauer, der sich mit einer seiner Mägde amüsierte und sie mit Schimpf und Schande aus dem Haus jagte, wenn die Freuden seiner Nächte Folge trugen. Aber Oran war ein guter Mann; wenn auch auf seine Art.

Geduckt, die linke Hand halb über den Kopf erhoben und Halt an den feuchten Dachsparren suchend, tastete Lyra sich weiter. In der Mitte des Bodens stand eine Kiste; eigentlich nur noch ein Teil davon - Boden, Stirn- und zwei der Seitenwände. Lyra hatte sie schon vor langer Zeit so herumgedreht, dass ihr stehengebliebener Teil wie ein Schutzschild zur offenen Seite des Bodens wies und sie vor neugierigen Blicken schützte, sollte sich doch einmal jemand hier herauf verirren.

Aber heute war der Raum hinter ihrem improvisierten Schutzschild nicht leer: Im Schatten der Kiste, eng aneinander gedrängt, lagen zwei Menschen.

Lyra blieb abrupt stehen, schlug erschrocken die Hand vor den Mund und unterdrückte im letzten Moment einen überraschten Ausruf. Ihr erster Impuls war, herumzufahren und davonzulaufen, so schnell sie konnte. Aber der Schrecken, der sie für einen Moment sogar ihre Übelkeit vergessen ließ, lähmte sie auch gleichzeitig. Als sie sich wieder beruhigte, blieb eine sonderbare Mischung aus Furcht und Neugier zurück.

Für endlose Sekunden blickte sie auf die beiden Körper und wusste nicht, was sie tun sollte. Dann beugte sie sich - die warnende Stimme in ihrem Inneren missachtend - vor, ging langsam in die Hocke und versuchte, die Gesichter der beiden im schwachen Licht zu erkennen.

Es waren ein Mann und eine Frau. Ein sehr großer Mann und eine sehr kleine Frau, das konnte sie erkennen, obwohl sie im Halbdunkel nicht viel mehr als Schatten waren und ihre Mäntel wie Decken über sich gebreitet hatten; die beiden Körper darunter waren so verschlungen, dass sie kaum sagen konnte, was zu wem gehörte. Ihr erster Gedanke, nämlich dass es sich um ein Paar hier vom Hof handelte, das diesen Ort entdeckt hatte und versehentlich eingeschlafen war, nachdem sie sich geliebt hatten, war falsch gewesen. Natürlich, auf dem Hof lebten fast fünfzig Mägde und Knechte, aber selbst auf einem so großen Anwesen wäre es aufgefallen, wenn ein Paar am Morgen nicht da war. Nein, die beiden stammten nicht vom Hof. Nicht einmal aus der Gegend.

Einen Moment lang kämpften zwei grundverschiedene Gefühle in Lyra miteinander: die Furcht, die noch immer in ihr nagte und sie zu warnen versuchte, und die Neugier, herauszubekommen, wer diese beiden waren. Aber die Neugier siegte, und nach einem Augenblick beugte sich Lyra weiter vor und hielt sich mit der Hand am Rand der Kiste fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Die Gesichter der beiden kamen ihr seltsam vor: so gegensätzlich, wie man sich zwei menschliche Gesichter nur vorstellen konnte, dabei aber beide von einem Schnitt, wie sie ihn noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen hatte.

Das Gesicht des Mannes wirkte auf den ersten Blick grobschlächtig. Aber bei genauerem Hinsehen zeigte sich, dass es, nur im Schlaf erschlafft war und gezeichnet von einer tiefen Erschöpfung: breit, mit großen, eine Spur zu dicht beieinander stehenden Augen und buschigen Brauen, die unter einem auffallend tiefen Ansatz schwarzer Haare standen. Sein Kinn wirkte eckig, aber um den Mund spielte ein sanfter Zug, der nicht ganz zu seiner kantigen Männlichkeit passen wollte. Auf seinen Wangen glänzte der blaue Schimmer eines zwei oder drei Tage alten Bartes. Die Erschöpfung hatte tiefe Schatten unter seine Augen gemalt, und seine Mundwinkel zuckten in regelmäßigen Abständen, ganz leicht nur, aber trotzdem sichtbar, als hätte er einen üblen Traum. Das Gesicht eines Barbaren, dachte Lyra. Aber wenn, dann eines Barbarenprinzen.

Sie verlagerte ihr Gewicht ein wenig, beugte sich noch weiter vor und stützte sich nun auch mit der rechten Hand am Boden ab, um die Frau genauer in Augenschein zu nehmen. Neben der Gestalt des Mannes, die selbst jetzt, halb zusammengekrümmt und unter zwei übereinander gelegten Mänteln verborgen, eindrucksvoll wirkte, kam sie ihr vor wie ein Spielzeug: klein, zart bis an die Grenzen der Zerbrechlichkeit und von seltsam blassem Teint, der ihre Haut fast durchsichtig erscheinen ließ. Ihr Antlitz war schmal und so klein, dass Lyra es in ihren Händen hätte verbergen können, und ihre Züge wirkten - Lyra fand keinen Ausdruck, der besser gepasst hätte - edel. Die hoch angesetzten Wangenknochen schimmerten wie kleine weiße Narben durch die Haut, und die geschlitzten, leicht schräg stehenden Augen gaben ihr etwas Exotisches. Plötzlich kam Lyra dieses Gesicht - oder vielleicht auch nur ein Gesicht wie dieses - seltsam bekannt vor. Aber sie wusste nicht, weshalb. Ihre Brauen und das Haar, von dem nur eine einzelne Strähne unter ihrem tief in die Stirn gezogenen Kopftuch hervorsah, waren schlohweiß.

Lyra richtete sich behutsam auf, schüttelte verwirrt den Kopf und sah sich um. Neben dem schlafenden Riesen lagen ein Schild und ein zusammengerollter, metallbeschlagener Waffengurt, in dessen Schlaufe ein gewaltiges, glänzendes Schwert steckte, und halb unter dem Schild verborgen ein brauner Leinensack. Daneben, nur unzureichend mit einer Hand voll hastig zusammengerafftem Stroh zugedeckt, lagen die Reste eines Huhnes.

Die verrücktesten Gedanken schössen Lyra durch den Kopf. Die beiden waren mit Sicherheit keine Herumtreiber, die sich im Schütze der Nacht hier hereingeschlichen hatten, trotz des gestohlenen Huhnes. Aber wer waren sie dann? Vielleicht ein Liebespaar, das gegen den Willen seiner Eltern durchgebrannt war?

Lyra lächelte über den Gedanken, kaum dass sie ihn gedacht hatte. Die Waffen des schwarzhaarigen Barbaren bewiesen, dass er ein Edelmann sein musste oder wenigstens sehr reich. Nicht einmal Oran hatte ein Schwert aus Stahl, obwohl er einer der wohlhabendsten Bauern im Umkreis vieler Tagesreisen war, und ...

Ein plötzlicher Schmerz zuckte durch ihren Leib; nicht mehr als ein rascher, dünner Stich, aber doch so heftig, dass sie die Balance verlor. Sie fing sich sofort wieder, aber ihr Fuß rutschte weg und verursachte ein leises, scharrendes Geräusch auf dem Holzboden.

Die Lider des Mannes flogen mit einem Ruck auf. Lyras Herz schien zu stocken. Das Scharren ihres Fußes war kaum hörbar gewesen, nicht mehr als das Huschen einer Ratte im Stroh, aber der Fremde musste über die scharfen Sinne eines Raubtieres verfügen, eines gejagten Raubtieres. Seine Hand zuckte mit einer Bewegung, die beinahe zu schnell war, als dass Lyra sie überhaupt noch sah, unter dem Mantel hervor, packte ihr Gelenk und riss sie mit einem kraftvollen Ruck nach vorne. Sie fiel, stieß einen hellen, erschrockenen Schrei aus und begann in wilder Panik mit den Beinen zu strampeln, als sich der Mann mit einem Ruck von seinem Lager erhob, sie herumwirbelte und an sich presste, den freien Arm von hinten um ihren Hals schlang und die Hand auf ihren Mund presste, alles in einer einzigen, ungeheuer kraftvollen, gleitenden Bewegung. Er war ein Raubtier.

»Sho-Kai!«, ertönte eine harte Stimme. »Nehmet geterul!«

Lyra verstand die Worte nicht, wohl aber ihren Sinn.

Halb wahnsinnig vor Furcht und von den Schmerzen in ihrem Leib gequält, hörte sie auf, sich zu wehren. Schreien konnte sie ohnehin nicht, denn die gewaltige Hand des Mannes presste ihr gleichzeitig Mund und Nase zu, und sein Arm schnürte ihr zusätzlich den Atem ab.

»Lass sie los, Sjur«, sagte eine zweite Stimme. »Du bringst sie ja um!«

Der Mann gab ein unwilliges Knurren von sich, lockerte aber den Würgegriff um Lyras Hals und nahm nach kurzem Zögern auch die Hand von ihrem Gesicht. Lyra stöhnte, sog gierig die Lungen voller Luft und hustete qualvoll. Ihr Blick trübte sich; für einen Moment sah sie die Gestalt der Frau, die sich ebenfalls auf die Knie erhoben hatte, nur als verzerrten Schatten. Sjur konnte sie gerade noch rechtzeitig loslassen. Lyra kippte zur Seite, fing den Sturz instinktiv mit den Händen ab und übergab sich würgend. Ein Krampf schüttelte ihren Körper. Tränen des Schmerzes füllten ihre Augen, und ihr würgendes Stöhnen wurde zum Schluchzen.

»Du armes Ding - hier, nimm das. Das wird dir gut tun.« Eine Hand berührte sie an der Schulter, nicht die schwieligen harten Finger Sjurs, sondern die weiche, kühle Hand seiner Begleiterin, streichelte flüchtig ihre Wange und hielt ihr ein winziges Fläschchen vor das Gesicht.

»Atme es ein«, sagte sie. »Es wird dir helfen.«

Lyra zögerte. Übelkeit und Schmerzen vernebelten ihre Sinne, aber irgendetwas sagte ihr, dass die fremde Frau nichts Böses wollte, und so gehorchte sie.

Dem Fläschchen entströmte ein äußerst unangenehmer Geruch, aber was immer es enthielt, es wirkte, und es wirkte schnell. Schon nach wenigen Atemzügen verschwand die quälende Übelkeit, und auch der Schmerz sank wieder auf ein erträgliches Maß herab, wenn er auch nicht ganz wich.

»Ich ... danke Euch«, stammelte Lyra. Mühsam setzte sie sich auf, fuhr sich mit dem Unterarm über die Lippen und sah die beiden Fremden abwechselnd an. Das Gesicht des Mannes wirkte ausdruckslos, aber seine Augen glitzerten misstrauisch, und seine Hände blieben geöffnet, um sofort zupacken zu können, falls sie zu schreien oder davonzulaufen versuchte. Lyra schauderte, als sie seine Hände genauer betrachtete. Er hätte ihr mit der gleichen Leichtigkeit, mit der er sie gepackt und herumgezerrt hatte, auch das Genick brechen können.

»Fühlst du dich jetzt besser?«, fragte die Frau. Ihre Stimme hatte einen angenehmen Klang. Sie hörte sich freundlich an.

Lyra nickte und versuchte zu lächeln, aber sie spürte, dass eher eine Grimasse daraus wurde.

»Sherim g'thal«, sagte Sjur. Seine Begleiterin antwortete in der gleichen, Lyra unverständlichen Sprache und schüttelte den Kopf. Dann wandte sie sich wieder an Lyra. »Es tut mir Leid, dass Sjur dir weh getan hat«, sagte sie freundlich. »Er war nur erschrocken, weil du so plötzlich da warst.«

»Ich ... komme oft hier herauf«, stammelte Lyra. Beinahe kam sie sich selbst bei diesen Worten albern vor, aber wenn es in ihr ein Gefühl gab, das im Moment noch stärker war als die Furcht, dann war es ihre Verwirrung.

»Wie ist dein Name, Kind?«, fragte die Fremde. Es kam Lyra seltsam vor, dass sie sie Kind nannte - sie konnte kaum älter sein als sie selbst. Gleichzeitig strahlte sie aber auch eine Überlegenheit und Ruhe aus, die diese Wortwahl rechtfertigte. Lyra kam sich in ihrer Nähe wirklich ein bisschen wie ein hilfloses, verschüchtertes Kind vor, und es lag nicht nur an der Anwesenheit des schwarzhaarigen Hünen.

»Lyra«, antwortete sie nach kurzem Zögern. »Mein Name ist Lyra.«

»Lyra.« Die Fremde nickte und schwieg einen Moment, als wiederhole sie das Wort ein paarmal in Gedanken, um sich an seinen Klang zu gewöhnen. »Ein hübscher Name«, sagte sie schließlich. »Mein Name ist Erion. Du lebst hier auf dem Hof?«

Lyra nickte. »Ja. Schon seit ... seit vielen Jahren. Aber ich bin nicht hier ... geboren. Ich ... bin ...«

Etwas Seltsames geschah. Lyras Worte wurden immer schleppender, ihre Stimme verlor an Kraft, und sie spürte mit einer Mischung aus Erschrecken und rasch stärker werdender Resignation, wie sie die Gewalt über ihr Denken zu verlieren begann. Es war ihr unmöglich, den Blick von den schwarzen, grundlosen Augen Erions zu lösen: Augen, die direkt in die verborgensten Abgründe ihrer Seele schauten und deren Blick ihren Willen so mühelos auslöschte wie der Sturm eine kleine Kerze. Lyra begriff plötzlich, dass Erion mehr tat, als nur mit ihr zu reden, viel mehr. Es war ihr ganz klar, dass ihr Wille dem Ansturm eines anderen, stärkeren unterlag. Erions Willen. Aber es war ihr gleich. Sie hatte nicht die Kraft, dagegen zu kämpfen. Nicht einmal die, Zorn oder Unmut zu empfinden.

»Du wirst niemandem verraten, dass du uns getroffen hast, nicht wahr, Lyra?«, sagte Erion. Ihre Stimme war sanft, kaum mehr als das Rauschen von Wind in den Büschen, und trotzdem von einer eindringlichen, befehlenden Kraft, der Lyra nichts entgegenzusetzen hatte. Sie schüttelte den Kopf. Selbst diese kleine Bewegung verlangte ungeheure Überwindung.

»Du wirst gehen und vergessen, dass du uns überhaupt gesehen.hast«, fuhr Erion fort. Lyra glaubte, ein leises Beben in ihrer Stimme zu vernehmen.

»Ich werde es vergessen«, murmelte Lyra. »Ich werde niemandem verraten, dass ...« Sie sprach nicht weiter. Etwas in ihr begann sich gegen die Kraft zu wehren, die ihren Willen niederzwang, etwas, gegen das sie so machtlos war wie gegen Erions Flüstern.

»Du wirst vergessen, dass du uns getroffen hast«, sagte Erion noch einmal. »Du wirst uns vergessen und mit niemandem darüber reden. Es hat uns gar nicht gegeben.« Sie brach ab.

Einen Herzschlag lang blickte sie Lyra noch an, dann senkte sie den Kopf, strich sich mit einer unbewussten Geste die Strähne weißen Haares, die ihr in die Stirn gefallen war, zurück und seufzte hörbar. »Es hat keinen Sinn, Sjur«, sagte sie. »Sie ist zu stark. Oder ich zu schwach.«

Der Vorhang vor Lyras Sinnen zerriss mit einem kurzen, schmerzhaften Ruck. Verwirrt fuhr sie sich mit der Hand über die Augen und starrte Erion an, von neu erwachendem Schrecken erfüllt. »Ihr ... Ihr seid eine Zauberin!«

Erion lächelte traurig. »Ja. Aber keine besonders Gute, fürchte ich.«

»Versuch es noch einmal«, verlangte Sjur.

Lyra sah erstaunt auf. Irgendwie war ihr bisher noch gar nicht der Gedanke gekommen, dass Sjur ihre Sprache sprechen könnte. Aber er tat es, wenn auch mit einem sonderbaren, dunklen Akzent, der sein barbarisches Äußeres noch unterstrich.

Erion schüttelte den Kopf. »Es hat keinen Sinn, Sjur«, antwortete sie. »Ich bin zu schwach.« Sie zögerte einen Moment, bevor sie weitersprach. »Und ich kann nicht jeden hier auf dem Hof unter meine Kontrolle bringen, selbst wenn ich es wollte. Vielleicht ist es auch besser so. Schließlich können wir uns nicht ewig hier oben verkriechen. Lass uns hinuntergehen. Diese Menschen hier sind einfache Bauern, die für ihre Gastfreundschaft bekannt sind.« Die letzten Worte klangen beinahe flehend.

»Bist du sicher?«, knurrte Sjur. Seine linke Augenbraue rutschte ein Stück nach oben und verschwand fast unter seinem Haaransatz. Er trug nur einen kurzen, in der Art eines einfachen Lendenschurzes geschnittenen Rock um die Hüften. Und jetzt, als er aufrecht saß und den Mantel abgestreift hatte, konnte Lyra sehen, dass sein Haar bis weit über die Schultern reichte. Auch sein nackter Oberkörper war außergewöhnlich stark behaart, und unter der tiefbraunen Haut seiner Oberarme und Schultern zeichneten sich Muskelstränge wie dicke knotige Stricke ab.

»Mein ... mein Herr ist ein guter Mann«, flüsterte Lyra unsicher. »Ich bin sicher, dass er euch freundlich aufnehmen wird.«

»So?«, machte Sjur. Der Blick seiner dunklen Augen bohrte sich in den ihren. »Und was ist dein Herr?«

Lyra verstand die Frage nicht gleich, aber sie spürte den unterdrückten, beinahe drohenden Ton in seiner Stimme.

Ihr Blick glitt über die armlange Klinge des Schwertes neben Sjur und kehrte zu seinem Gesicht zurück. Mit einem Mal war sie fast sicher, dass er den Hof mit Gewalt in seine Hand bringen konnte, wenn er es wirklich wollte. Ganz allein.

»Der ... der Herr eben«, sagte sie verstört. »Oran. Er ist der ... der Bauer, und ...«

Sjur schnitt ihr mit einer unwilligen Geste das Wort ab. »Das meine ich nicht«, sagte er. »Was ist er für ein Mensch, was tut er, was denkt er, was macht er? Kann man ihm trauen?«

Lyra wollte nicken, blickte Sjur aber statt dessen nur mit wachsender Unruhe an und zuckte schließlich mit den Achseln. »Ich weiß es nicht«, gestand sie.

»Ist er wenigstens ...«

»Lass es gut sein, Sjur«, unterbrach ihn Erion. »Wir müssen ihm vertrauen, wohl oder übel. Und es wird nicht lange dauern.«

Sjurs Misstrauen schien keineswegs besänftigt. Trotzdem stand er nach einem Augenblick auf, reckte in einer kraftvollen, unbewussten Bewegung seine mächtigen Schultern, bückte sich nach seinen Kleidern und begann sich ohne sichtliche Hast anzuziehen. Es waren die Kleider eines Kriegers, wie Lyra erwartet hatte: dunkle, eng anliegende Hosen, ein graues Leinenhemd und ein schwerer, aus beinhartem Leder gearbeiteter und mit winzigen schimmernden Metallplättchen zusätzlich verstärkter Brustharnisch; dazu passende Stiefel und ein wulstiger, mit einem Federbusch geschmückter Helm, den er allerdings nicht aufsetzte. Lyra sah ihm wortlos zu, während er sich ankleidete und seinen Waffengurt umband. Vorhin, als sie das Schwert neben ihm im Heu gesehen hatte, war ihr die Waffe gewaltig vorgekommen, an seiner Seite wirkte sie fast klein.

Erion rührte sich während der ganzen Zeit nicht. Sie trug ihre Kleider bereits - ein fast durchsichtiges, aus einem seidenähnlichen Material gefertigtes weißes Kleid, das jedoch mit zahllosen Flecken übersät und überall eingerissen war, als wäre sie damit durch dichtes Unterholz gerannt. Unter der weißen Seide schimmerten die silbernen Pailletten eines Panzerhemdes, und aus dem schmalen geflochtenen Gürtel um ihre Taille ragte der ziselierte Griff eines Dolches.

Erion stand auf, als Sjur seinen Schild wie den Panzer einer Schildkröte auf dem Rücken befestigte. Lyra bemerkte eine Anzahl dunkler runder Punkte von rostroter Farbe auf dem glänzenden Metall und schauderte. Dankbar griff sie nach der Hand, die ihr Erion entgegenstreckte.

»Wie viele seid ihr auf dem Hof?«, fragte Sjur, als sie losgehen wollten.

»Fünfzig«, antwortete Lyra wahrheitsgemäß. »Die Mägde und Alten mitgezählt.«

»Fünfzig? Und wie viele davon sind Männer?«

Erion seufzte. Zwischen ihren dünnen weißen Brauen entstand eine tiefe Falte. »Kannst du an nichts anderes mehr denken, Sjur?«, fragte sie. »Diese Leute sind nicht unsere Feinde. Sie sind Fremden gegenüber freundlich - wenn du ihnen nicht gerade mit dem Schwert in der Faust guten Tag sagst. Wir haben nichts zu befürchten.« Der Ton, in dem sie diese Worte hervorbrachte, machte deutlich, dass sie das Thema damit für beendet erklärte. Sjur antwortete nicht mehr, sondern zuckte nur stumm mit den Achseln. Aber das misstrauische Funkeln in seinen Augen blieb.

Erion schenkte ihm einen letzten, warnenden Blick, bückte sich nach ihrem Mantel und warf ihn mit einer raschen Bewegung über. Gleichzeitig löste sie den Knoten ihres Kopftuches und streifte es ab.

Lyra erstarrte.

Im schwachen Licht des Dachbodens war Erions Gesicht nur unscharf zu sehen, aber die Beleuchtung reichte aus, die dünnen, spitz zulaufenden Ohren und Erions hohe Stirn zu erkennen. Sie wusste plötzlich, warum ihr dieses Gesicht so fremd und gleichzeitig auf seltsame Weise bekannt vorgekommen war. Die weiße, beinahe durchscheinende Haut, das schneefarbene Haar, die sanften – und gleichzeitig edlen, eine Spur zu edlen - Züge; sie hatte es hundertmal gesehen, auf Bildern und Stickereien, dieses Gesicht aus Milch und Licht, ein Gesicht, das beinahe menschlich war und doch unendlich fremd blieb, solange man es auch betrachtete.

»Ihr ... Ihr seid ...«, stammelte sie. Plötzlich versagte ihre Stimme. Ein eisiges, lähmendes Gefühl des Unglaubens durchfuhr sie.

Erion konnte gerade noch die Hand ausstrecken und sie zurückhalten, als sie vor ihr auf die Knie sinken wollte.

»Herrin!«, flüsterte sie. »Verzeiht, dass ich Euch nicht gleich erkannt habe. Ihr ... Ihr seid eine Elbin!«

Erion lächelte voller traurigem Spott. »Ja, Kind«, sagte sie. »Aber das ist wahrhaftig kein Grund, vor mir auf die Knie zu fallen.«

Lyra blickte sie verwirrt an, und Erion machte eine einladende Geste nach unten und fuhr fort: »Ich bin eine Elbin, das stimmt, aber im Moment bin ich vor allem eine sehr hungrige Elbin. Lass uns nach unten gehen und deinen Herrn um eine Mahlzeit und seine Gastfreundschaft bitten.«

2

Es war heller Morgen geworden, als Lyra vor den beiden Fremden aus der Scheune trat. Im ersten Moment sah sie sich beinahe ängstlich um, aber der Hof war leer. Der größte Teil des Gesindes arbeitete schon auf den Feldern. Der Sommer neigte sich seinem Ende entgegen, und der Wolfsweizen war noch nicht vollends eingeholt; wie nahezu in jedem Jahr zu dieser Zeit war es ein Wettlauf mit den Launen der Natur, bei dem jede Minute zählte und jede Hand gebraucht wurde. Trotzdem gab es noch genug Bedienstete im Haupthaus, und sobald Lyra die Tenne verlassen hatte, würde der Blick eines Dutzends verborgener Augenpaare ihr und ihren beiden Begleitern folgen.

Lyra verjagte den Gedanken und machte sich mit einer einladenden Handbewegung auf den Weg, ohne sich dabei umzusehen. Erion und Sjur traten hinter ihr aus dem Gebäude und nahmen sie in die Mitte, als sie zum Haupthaus hinübergingen. Lyra gewahrte eine rasche, huschende Bewegung hinter der offen stehenden Tür des Kuhstalles. Ein Augenpaar blitzte auf, dann hörte sie das Rascheln von Stoff und das hastige Trappeln nackter Fußsohlen. Sie unterdrückte ein Lächeln, hatte sich jedoch gut genug in der Gewalt, die Schultern zu straffen und aufrecht und mit höher erhobenem Haupt als gewohnt zwischen der Elbin und ihrem hünenhaften Begleiter einherzugehen. Ihr Herz raste noch immer, und hätte sie nicht die Hände unter ihrer Schürze verborgen, dann hätte jeder sehen können, wie sehr sie zitterten. Aber sie verspürte jetzt keine Angst mehr, sondern eine schwer zu beschreibende Mischung zwischen Unglauben, Freude und Stolz. Stolz, dass gerade sie es gewesen war, die die Elbin entdeckt hatte. Und Freude, einer echten, lebenden Elbin gegenüberzustehen, wie eine Gleichgestellte an der Seite eines Wesens einherzuschreiten, dessen Welt so weit entfernt von der ihren und so fremd und anders war, dass sie immer wieder verstohlen den Blick wandte, als müsse sie sich jede Sekunde neu davon überzeugen, dass es wirklich existierte. Sie hatte eine Elbin getroffen, eine wirkliche Elbin, eines jener sagenumwobenen Lichtwesen, deren Land unerreichbar in den tiefen Wäldern des Westens lag und die so hoch über den Menschen standen wie diese über den Skrut-Barbaren des Ostens, vielleicht höher; etwas, von dem die meisten Menschen Zeit ihres Lebens nur zu träumen wagten.

Aber das helle Licht des Morgens enthüllte nicht nur die volle, überirdische Schönheit der Elbin, sondern auch den bemitleidenswerten Zustand, in dem sie und ihr Begleiter waren. Erions Kleider waren zerfetzt und nur noch Lumpen, und ihre Haut war mit kleinen, mehr oder weniger verheilten Kratzern übersät. Um ihr linkes Handgelenk spannte sich ein stark verschmutzter, fest angelegter Verband, auf dem dunkelbraune Flecken eingetrockneten Blutes eine schlimme Wunde verrieten. Auf ihren Wangen lagen Schatten, als hätte sie eine schlimme Krankheit hinter sich, und der Blick ihrer schräg gestellten Augen verriet Erschöpfung.

Auch Sjur befand sich in kaum besserer Verfassung. Sein linkes Bein schien verletzt zu sein. Er humpelte, und obwohl er sich Mühe gab, diese Beeinträchtigung durch eine bestimmte Art des Gehens auszugleichen, war sie trotzdem nicht zu übersehen. Die Finger seiner rechten Hand spielten nervös am Griff des Schwertes, und jetzt, im hellen Tageslicht, sah Lyra, dass eine breite Strähne seiner schwarzen Löwenmähne mit Blut verklebt war. Auf seinem breiten Barbarengesicht und den muskulösen Unterarmen, die unter dem Umhang hervorschauten, fielen die zahllosen kleinen und größeren Wunden nicht so auf; er war der Typ Mann, bei dem man Narben und Verletzungen direkt erwartete und nicht weiter erstaunt war, sie zu sehen. Aber auch seine Wangen waren eingefallen, und um seine Lippen lag ein verbissener Zug, der den gewollt gleichgültigen Ausdruck auf seinem Gesicht Lügen strafte. Sein Blick huschte beständig über den Hof, tastete hierhin und dorthin, erkundete Türen und Fensteröffnungen und vielleicht auch mögliche Hinterhalte - oder Fluchtwege. Es war der Blick eines Gehetzten, dachte Lyra, und eine winzige Spur von Furcht mischte sich in die Ehrfurcht, die sie ergriffen hatte. In einem Punkt hatte sie recht gehabt mit ihrem ersten Gedanken, als sie das ungleiche Paar auf dem Heuboden fand: Vor wem auch immer, sie waren auf der Flucht.

Lyra hatte nur einen Moment wirklich darüber nachgedacht, wer dieser schwarzhaarige Gigant sein mochte. Ein Edelmann wahrscheinlich, aber keiner, der irgendeinem Volk entstammte, von dem sie schon einmal gehört hatte. Vielleicht war er einer der sagenumwobenen Kämpfer aus dem Geschlecht der Schwarzelben, von dem nur sehr alte und dunkle Geschichten noch zu berichten wussten. Oder ein Elbenkrieger. Sie hatte gehört, dass kaum ein lebender Mensch jemals ein Mitglied der Kriegerkaste der Elben zu Gesicht bekommen hatte. Wenn Sjur ein typischer Vertreter dieses Geschlechtes war, dann verstand sie die Gründe dafür.

Lyra verscheuchte den Gedanken. Sie erreichten das Haus, aber Sjur zögerte, die Tür zu öffnen, und hielt auch Lyra mit einer knappen, befehlenden Geste zurück. »Dein Herr ist dort drinnen?«, fragte er. Seine Augen glitzerten misstrauisch.

Lyra nickte.

»Wer noch?«, fragte Sjur. Seine Art zu reden hatte sich geändert: Er sprach jetzt schnell, fast ohne Betonung, stieß die Worte beinahe hervor.

»Felis«, antwortete Lyra. »Sein Weib. Und ein paar Diener.«

»Ein paar Diener? Wie viele?«, wollte Sjur wissen. War es Zufall oder Absicht, dass sich seine Hand bei diesen Worten ein wenig fester um den Schwertgriff schloss? In seiner Haltung - und vor allem in seiner Stimme - lag plötzlich wieder etwas Drohendes, und zu Lyras Enttäuschung sprang ihr dieses Mal Erion auch nicht bei, sondern sah sich wie ihr Begleiter misstrauisch auf dem Hof um.

»Wie viele?«, fragte Sjur noch einmal, als sie nicht sofort antwortete, und seine Stimme klang deutlich schärfer. Der Griff, mit dem er ihren Arm umspannte, begann zu schmerzen. Lyra überlegte hastig. »Sieben«, sagte sie. »Sieben oder acht. Aber alles nur Frauen und Kinder. Niemand, vor dem Ihr Angst haben müsstet.«

Ihre Worte waren dumm, das begriff sie im gleichen Moment, in dem sie sie aussprach; und eine Beleidigung dazu. Es gab auf diesem Hof niemanden, den Sjur fürchten musste. Aber der Hüne schien ihr die Bemerkung nicht übel zu nehmen. Er nickte nur knapp und stieß die Tür mit einem unnötig harten Ruck auf.

Lyra ging voraus. Das Haus umfing sie mit Dunkelheit und Stille, als hätte sich die Nacht auf ihrem Rückzug vor dem heraufziehenden Tag hier drinnen verkrochen. Eine der Mägde kam ihnen entgegen, als sie durch die halb dunkele Diele gingen, erstarrte einen Moment beim Anblick der sonderbaren Fremden und ergriff lautlos die Flucht. Sjurs Schultern füllten die Diele fast zur Gänze aus; er musste gebückt und stark nach vorne geneigt gehen, um nicht mit dem Kopf gegen die gehobelten Balken zu stoßen, die die Decke trugen.

Sie erreichten Orans Zimmer. Lyra blieb stehen, um Erion vorbeizulassen, aber die Elbin schüttelte den Kopf und machte eine rasche Bewegung zur Tür hin. Lyra zögerte. Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Sie wusste selbst nicht, warum, aber das Gefühl des Stolzes, das sie ergriffen hatte, wandelte sich in Unbehagen bei der Vorstellung, in Orans und Felis' Kammer zu treten und die beiden Fremden mitzubringen. Trotzdem wandte sie sich gehorsam um, schob den Riegel zurück und öffnete die Tür, ohne anzuklopfen.

Oran saß beim Morgenmahl, wie sie erwartet hatte. Der schwache Geruch nach gebratenem Fleisch hing in der Luft, und über dem Feuer im Kamin brodelte ein gusseiserner Topf mit Glühwein. Obwohl es bereits taghell im Zimmer war, brannte die Öllampe unter der Decke noch immer. Oran war nicht allein. Felis war bei ihm. Sie hockte mit angezogenen Beinen auf seinen Knien, hatte einen Arm um seinen massigen Hals geschlungen und die andere Hand in sein Hemd geschoben. Ihr Haar hing offen herab, nicht zu einem strengen Knoten zusammengebunden, wie sie es normalerweise trug, und ihr Nachtgewand enthüllte mehr von ihrer Gestalt, als es verbarg. Bei Lyras Eintreten fuhr sie abrupt hoch, fiel dabei fast von Orans Knien und hielt sich im letzten Moment an der Tischkante fest.

Der Ausdruck von Schrecken auf ihren Zügen schlug übergangslos in Zorn um, als sie Lyra erkannte. »Was erlaubst du dir!«, zischte sie. Ihr Gesicht flammte vor Zorn, aber in ihren Augen war auch ein schwacher Hauch von boshaftem Triumph, den sich Lyra im ersten Moment nicht erklären konnte. Und als sie diesen Triumph verstand, erschrak sie. Es freute Felis, dass Lyras Auftritt Oran den Spaß verdarb.

»Wer hat dir erlaubt, hier hereinzukommen?«, fuhr Felis in scharfem Ton fort. »Du Schlampe hast anzu ...«

Sie stockte mitten im Wort. Ihre Augen weiteten sich, und der Zorn auf ihren Zügen schlug abermals um und machte einer Mischung aus tödlichem Erschrecken und schierem Unglauben Platz. Von einer Sekunde auf die andere verlor ihr Gesicht jede Farbe. Ihre Lippen zitterten. Sie schien etwas sagen zu wollen, brachte aber keinen Laut hervor.

Lyra trat einen weiteren Schritt in den Raum hinein und wich gleichzeitig ein Stück zur Seite, um Erion Platz zu machen. Die Elbin ging ruhig an ihr vorbei, blieb einen Schritt vor Orans Weib stehen und maß sie mit einem Blick, der Felis wie eine geprügelte Hündin den Kopf einziehen ließ. Lyra unterdrückte mit Mühe das Gefühl gehässiger Schadenfreude, das der Anblick in ihr aufsteigen ließ. Einen Moment lang weidete sie sich noch an Felis' unübersehbarer Hilflosigkeit, dann wandte sie sich - mit einer genau überlegten Bewegung, die ihren Triumph erkennen ließ - an Oran und senkte scheinbar demütig den Kopf.

»Herr«, sagte sie ruhig. »Es sind Besucher gekommen, die Euch und Euer Haus um Gastfreundschaft bitten.«

Oran hatte bisher nicht den geringsten Laut von sich gegeben, sich nicht einmal gerührt, sondern nur sie und die Elbin abwechselnd angestarrt. Der Ausdruck in seinen Augen war undeutbar. Langsam stand er auf, ging mit steifen Schritten um den Tisch herum und trat zwischen Erion und Felis. Es war sicher Zufall, und doch wirkte die Bewegung auf Lyra ganz so, als wolle er auf diese Weise den Blickkontakt zwischen ihnen unterbrechen, ehe Felis sich von ihrem Schrecken erholen und etwas Unbedachtes tun oder sagen konnte.

Hinter der Elbin trat Sjur gebückt durch die niedrige Tür. Seine mächtige Gestalt schien den geschnitzten Rahmen fast zu sprengen, und für einen Moment hatte Lyra die verrückte Vorstellung, er würde wie ein Korken im Flaschenhals einfach darin stecken bleiben.

Endlich brach Oran das Schweigen. »Gäste«, sagte er. »So.« Sekundenlang blickte er Erion ausdruckslos an, ehe ihm endlich einzufallen schien, was sich in einer Situation wie dieser - und für einen Mann wie ihn - geziemte. Er senkte das Haupt. Aber seine Verbeugung wirkte eher gezwungen als unterwürfig. Lyra starrte ihn erschrocken an. Wusste er denn nicht, wem er gegenüberstand?

Aber schon seine nächsten Worte bewiesen Lyra, dass er sehr wohl wusste, mit wem er sprach. »Ich heiße Euch auf meinem Hof willkommen, hohe Herrin«, sagte er. Seine Stimme klang kalt und ohne die geringste Spur echter Ehrerbietung. Lyra spürte, dass er die Worte nur sprach, weil er sie sprechen musste.

In Sjurs Augen blitzte es zornig auf. Er überragte Oran um mehr als Haupteslänge, obwohl er sich in der niedrigen Kammer nicht einmal zu seiner vollen Größe aufrichten konnte. Aber Oran hielt seinem Blick gelassen stand. Lyras Verwirrung wuchs. Oran schien etwas zu wissen, was ihr unbekannt war, anders war sein unverschämtes Verhalten nicht zu erklären. Erion war eine Elbin!

Das Schweigen begann peinlich zu werden. Lyra sah die Elbin hilfesuchend an, aber Erion blickte nicht in ihre Richtung, sondern fixierte Oran mit einem Blick, in dem mühsam zurückgehaltenem Zorn.

Schließlich hielt es Lyra nicht mehr aus. Mit klopfendem Herzen löste sie sich von ihrem Platz und trat auf Oran zu. »Erion und Sjur begehren Eure Gastfreundschaft, Herr«, sagte sie. Ihre Stimme zitterte. Allein der Gedanke, dass sie die Worte ein zweites Mal sprechen musste, um Oran zum Antworten zu bewegen, wäre ihr eben noch nicht in den Sinn gekommen.

»Mein Haus steht jedem offen, der Hilfe begehrt oder in Not ist«, erwiderte Oran steif, ohne den Blick von Sjurs Augen zu lösen. Seine Stimme zitterte ein ganz kleines bisschen, aber nicht vor Furcht oder Unterwürfigkeit. Es war etwas anderes. »Selbst einem Barbaren aus Skrut!«

Seine Worte waren wie ein Schlag in Lyras Gesicht. Für die Dauer eines Atemzuges starrte sie Sjur aus weit aufgerissenen Augen an, dann stieß sie einen kurzen, spitzen Schrei aus, schlug erschrocken die Hand vor den Mund und wankte zurück, bis sie gegen den Tisch stieß. Der Schrecken traf sie mit der gleichen überwältigenden Wucht wie zuvor Freude und Ehrfurcht. Sie musste alle Kraft aufbieten, um nicht hysterisch aufzuschreien oder zu weinen; ihre Gedanken drehten sich wild im Kreis. Einem Barbaren ans Skrut, hatte Oran gesagt. Skrut! Sjur war ein Skruta! Sie war nur zu diesem einen Gedanken fähig, immer und immer wieder. Ihre Hände zitterten, glitten haltsuchend über die Tischplatte hinter ihrem Rücken und stießen Teller und Krüge um.

»Reiß dich zusammen, Schlampe!«, schnappte Felis. Auch ihre Stimme zitterte; Orans Eröffnung musste sie mit der gleichen Wucht getroffen haben wie Lyra. Ihre Worte waren nicht viel mehr als ein Versuch, ihre Furcht in Zorn umzuwandeln und auf Lyra zu entladen.

Erions Kopf ruckte bei Felis' Worten mit einer abgehackten Bewegung herum. In die Herablassung auf ihren Zügen mischte sich Zorn. Aber sie beließ es dabei, Felis einen Moment lang scharf anzusehen, und wandte sich dann wieder an Oran.

»Ihr wisst, wer wir sind, Oran«, sagte sie. »Gut. Das erspart uns lange Erklärungen.« Sie lächelte, kalt, schnell und ohne die geringste Spur irgendeines anderen Gefühles als Verachtung. Was vorher Sanftmut und Liebreiz an ihr gewesen waren, wandelte sich in Härte und angespannte Bereitschaft. Lyra begriff mit einem Male, dass sie einer Kriegerin gegenüberstand.

»Ich weiß nicht, wer Ihr seid«, antwortete Oran ruhig. »Doch ich habe Augen zum Sehen und weiß, was Ihr seid.« Er schwieg einen Moment, gab sich dann einen sichtbaren Ruck und fuhr mit deutlich veränderter Stimme fort: »Doch das ändert nichts an meinen Worten, Herrin. Das Gesetz der Gastfreundschaft ist heilig in meinem Haus. Was mein ist, gehört Euch. Tretet ein und bleibt, solange Ihr wollt.« Dabei deutete er eine leichte Verbeugung an, ohne Sjur indes dabei auch nur für die Dauer eines Lidzuckens aus den Augen zu lassen. Lyra hatte das bestimmte Gefühl, dass er eigentlich hatte sagen wollen: solange es unbedingt sein muss.

Erion antwortete rasch, als spüre sie das Unausgesprochene hinter Orans Worten und wolle ihm zuvorkommen, mit den ebenso passenden, formellen Worten: »So nehmt meinen Dank und mein Schwert. Ich werde Euer Haus verteidigen, als sei es das meine.«

Ein lautloses Aufatmen schien durch den Raum zu gehen, als Erion ebenfalls eine Verbeugung andeutete und sich wieder aufrichtete. Es waren nicht mehr als Floskeln, so sinnlos wie alt, aber mit ihnen schien eine Hürde genommen zu sein. Oran entspannte sich sichtlich und deutete auf den mit Speisen reich gedeckten Tisch. »Nehmt Platz, Erion«, sagte er, noch immer steif, aber nicht mehr ganz so abweisend und kalt wie zuvor. »Ihr müsst hungrig und erschöpft sein von der langen Reise. Ich schicke gleich nach frischem Fleisch und Wein.«

Er wollte in die Hände klatschen, um eine der Mägde herbeizurufen, aber Sjur streckte blitzschnell den Arm aus und ergriff sein Handgelenk. In Orans Gesicht zuckte es. Lyra hatte am eigenen Leib gespürt, wie hart Sjurs Griff war.

»Woher weißt du, dass wir eine lange Reise hinter uns haben?«, fragte er misstrauisch. Seine freie Hand lag auf dem Schwert. Oran versuchte seinen Arm loszureißen, aber Sjur schien seine Bemühungen nicht zu bemerken.

»Es ist ein weiter Weg von Skrut hierher«, sagte Oran gepresst. »Und Euer Aussehen ist nicht das von Leuten, die in einer bequemen Kutsche gereist sind.«

Sjur knurrte und ließ seine Hand los. Oran taumelte einen Schritt zurück, starrte den Riesen mit unverhohlenem Hass an und massierte mit der Rechten sein Handgelenk.

»Du brauchst nicht nach den Dienern zu rufen«, sagte Sjur mit einer Geste zum Tisch. »Das da ist mehr als genug für uns. Wir sind nicht wählerisch.«

Oran starrte ihn an. Lyra konnte die Spannung, die zwischen den beiden ungleichen Männern herrschte, beinahe mit den Händen greifen.

»Wir kredenzen denen, die uns um Gastfreundschaft ansuchen, keine Reste«, mischte sich Felis ein. Sie hatte sich wieder gefangen. Ihr Gesicht war noch immer grau vor Schrecken, aber ihre Stimme war fest, beinahe schon wieder aggressiv. Mit einer schnellen Geste deutete sie auf Lyra. »Wenn Ihr nicht wollt, dass wir die Diener rufen, dann kann sie ja frische Speisen holen.«

Lyra wartete Sjurs Antwort nicht ab, sondern ging mit raschen Schritten zur Tür. Sie hatte noch immer Angst; panische Angst. Sie war froh, aus diesem Raum und besonders aus Sjurs Nähe entkommen zu können. Aber Erion hielt sie mit einem raschen Griff zurück, als sie an ihr vorbei wollte. Lyra unterdrückte im letzten Moment den Impuls, die Hand der Elbin abzustreifen.

»Verzeiht, Oran«, sagte die Elbin. »Aber ich möchte, dass sie bleibt.«

Lyra sah aus den Augenwinkeln, wie Felis' Gesicht erneut vor Zorn aufflammte. Oran zog verwirrt die Brauen zusammen und sah sie einen Moment überrascht an. Lyra wich seinem Blick aus. »Wenn es Euer Wunsch ist, Hohe Herrin«, sagte er steif.

»Es ist mein Wunsch.« Erion ließ Lyras Arm los und sprach im gleichen, eine Spur zu kühlen Tonfall wie Oran; aber sie beherrschte diese wortlose Art, ihre wahren Gefühle auszudrücken, ungleich besser als er. »Die Speisen, die für Euch gut waren, reichen auch für uns. Es ist, wie Sjur sagte - wir sind nicht sehr anspruchsvoll.«

Was sie sagte, war eine Beleidigung für Orans Gastfreundschaft, das musste ihr klar sein. Aber Lyra hatte das Gefühl, dass jedes einzelne ihrer Worte ganz genau überlegt war. Oran hielt ihrem Blick einen Herzschlag lang stand, nickte dann abermals und wiederholte seine einladende Geste zum Tisch hin. Diesmal leiste ihr Erion Folge, und auch Sjur löste sich von seinem Platz und sank auf den niedrigen lehnenlosen Hocker am Kopfende des Tisches.

Oran tauschte einen undeutbaren Blick mit Felis, runzelte abermals die Stirn und ließ sich wieder auf den Stuhl nieder, auf dem er gesessen hatte, bevor Lyra den Raum betrat. Erion machte eine einladende Geste, und auch Lyra zog sich einen Schemel heran - wenn auch so weit wie möglich entfernt von Oran und Sjur. Einzig Felis machte keinerlei Anstalten, sich zu setzen. Der Zorn auf ihren Zügen war nicht mehr zu übersehen. Und sie gab sich auch gar keine Mühe, ihn zu verhehlen. Sekundenlang starrte sie Lyra hasserfüllt an, dann fuhr sie herum und stürmte aus dem Zimmer. Lyra hörte ihre Schritte die Treppe hinaufpoltern. Gleich darauf fiel die Tür ihres Schlafgemaches mit einem Krachen zu, das durch das ganze Haus zu hören sein musste.

Lyra runzelte besorgt die Stirn. Sie kannte Felis, viel zu gut, wie ihr manchmal schien. Erion hatte sie gedemütigt, vor ihrem Mann und ihrer schlimmsten Rivalin, einer Dienstmagd dazu. Sie würde es nicht vergessen.

»Verzeiht«, sagte Oran leise. »Felis ist ... ein wenig unbeherrscht.«

Die Elbin antwortete nicht auf seine Worte, und Oran deutete ihr Schweigen richtig und wechselte abrupt das Thema. »Ihr habt eine weite Reise hinter Euch?«, fragte er. Sein Blick verriet plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, Unsicherheit. Er kam Lyra vor wie ein Mann, der sich bisher mit aller Kraft zusammengerissen hatte und nun am Ende seiner Beherrschung angekommen war.

Sjur griff nach einem Stück Braten, biss hinein und nickte, ohne Oran anzusehen. »Ja«, sagte er mit vollem Mund. Irgendwie hatte Lyra erwartet, dass er schlingen würde wie ein Tier, aber er aß langsam und kaute jeden Bissen bedächtig durch, ehe er ihn hinunterschluckte.

Erion lächelte entschuldigend und griff ebenfalls nach einem Stück Fleisch, aß aber noch nicht. »Das haben wir, Oran«, sagte sie, »und wir sind erschöpft und müde. Wir haben die letzte Nacht auf Eurem Heuboden verbracht.«

Oran wirkte überrascht. »Warum?«, fragte er. »Mein Haus ...«

»Es war nach Mitternacht, als wir Euren Hof erreichten«, unterbrach ihn Erion. »Wir wollten Euch und die Euren nicht aus dem wohlverdienten Schlaf reißen.« Sie legte das Stück Fleisch, das sie genommen hatte, mit einer fast grazilen Bewegung auf den Rand des Tellers zurück, griff unter ihren Mantel und förderte einen Silberheller zutage.

Oran blickte sie überrascht an.

»Wir haben eines Eurer Hühner genommen«, erklärte Erion. »Das dürfte als Bezahlung ausreichen. Ich hoffe, Ihr verzeiht Sjur und mir. Wir waren hungrig.«

Oran starrte die Münze an und wusste nun ganz offensichtlich überhaupt nicht mehr, wie er sich verhalten sollte. Er machte eine Bewegung, als wolle er das Geldstück zurückschieben, schien sich aber dann darauf zu besinnen, dass Erion dies durchaus als Beleidigung auffassen mochte, und steckte sie mit einem Achselzucken ein.

»Ich will Euch nichts vormachen, Oran«, sagte Erion. Sie nahm ihr Stück Fleisch wieder auf, biss ein winziges Stückchen davon ab und fuhr fort: »Sjur und ich sind nicht ... nicht offiziell in diesem Teil des Landes.« Sjur sah auf und starrte die Elbin alarmiert an, aber Erion sprach weiter, ohne seinen warnenden Blick zu beachten. »Ihr scheint ein ehrlicher Mann zu sein, Oran. Dies zeigt sich allein aus der Tatsache, dass Ihr keinen Hehl aus Eurer Abneigung Sjur gegenüber macht. Deshalb will ich auch ehrlich zu Euch sein.«

Es schockierte Lyra ein wenig, die Elbin mit vollem Munde reden zu sehen, aber Erions Hunger schien groß genug, sie alle Förmlichkeiten vergessen zu lassen.

»Ehrlich?«, fragte Oran.

»Kann man Euren Dienern und Knechten trauen?«, fragte Erion.

Oran überlegte einen Moment, griff unsicher nach einem tönernen Becher mit Wein und schlug ein paar weitere Augenblicke damit heraus, sehr langsam und umständlich zu trinken. »So weit man Weibervolk und Knechten trauen kann, ja«, sagte er. »Sie schwatzen gerne und oft. Aber sie werden Euch nicht verraten, wenn Ihr das meint.«

»Das beste wäre gewesen, wenn niemand von unserer Anwesenheit wüsste«, fuhr Erion fort. »Aber wie die Dinge liegen, geht das jetzt nicht mehr.«

Oran starrte sie an. Lyra konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Und als er endlich sprach, tat er es mit einer Offenheit, die Lyra erschreckte. »Es geht um Euren Begleiter«, sagte er. »Die Männer aus Skrut sind hier nicht gerne gesehen. Es könnte zu ... einem Unglück kommen, wenn bekannt würde, wer er ist.«

»Es geht nicht nur um ihn«, entgegnete Erion. »Auch, aber nicht nur. Wir sind in einer ...« sie tauschte einen raschen, beinahe unmerklichen Blick mit Sjur- »in einer geheimen Mission unterwegs. Niemand darf erfahren, dass wir hier sind.«

»Euch droht keine Gefahr, Hohe Herrin«, sagte Oran überzeugt. »Aber Sjur. Wer hat Euch gesehen, auf dem Weg hierher?«

»Niemand«, antwortete Erion rasch. Beinahe zu rasch, fand Lyra. Das Wort klang fast wie ein Schrei. Wie ein Mensch, der sich verzweifelt bemüht, selbst an das zu glauben, was er sagt, es aber nicht kann. Erions und Sjurs Äußeres straften ihre Worte Lügen. Sie hatten gekämpft. »Wir sind Städten und Dörfern aus dem Weg gegangen, und es war Nacht, als wir uns Eurem Hof genähert haben. Kein lebender Mensch weiß, dass es uns gibt. Außer Euren Leuten.«

Oran machte eine wegwerfende Handbewegung. »Macht Euch darum keine Sorgen«, sagte er. »Sie werden schweigen, wenn ich es ihnen befehle. Und sie werden erst recht schweigen, wenn Ihr es ihnen befehlt. Was mir Sorgen bereitet, ist er.« Er deutete auf Sjur, der kurz von seinem Essen aufsah und sich dann wieder auf das Fleischstück in seinen Händen konzentrierte, als ginge ihn das alles nichts an.

»Kaum jemand weiß hier, wie ein Mann aus Skrut aussieht«, fuhr Oran nachdenklich fort. »Das könnte von Vorteil sein. Wir könnten ihn als Krieger aus dem Norden ausgeben, der zu Eurem Schutz bei Euch ist.«

»Ihr habt ihn auch erkannt«, wandte Erion ein.

»Ich bin ein alter Mann, Herrin«, antwortete Oran. »Alt genug, um mich an die Winterkriege erinnern zu können.«

Sjur sah abermals von seinem Essen auf. Sein Körper spannte sich ein ganz kleines bisschen, und das misstrauische Glitzern erwachte wieder in seinen Augen. Oran hielt seinem Blick stand, aber nicht lange.

»Es ist lange her«, fuhr Oran, wieder an Erion gewandt, fort. »Der Krieg ist längst vorbei, und die Zeit heilt manchen Schmerz. Sjur ist wohl kaum alt genug, um damals dabei gewesen zu sein.«

Seine Worte klangen nicht sehr überzeugend, aber Erion schien sich, wenigstens für den Moment, mit dieser Erklärung zufrieden zu geben. »Dann sollten wir uns auf diese Geschichte einigen«, sagte sie. »Sjur ist ein Krieger von den Eisinseln. Mein Wächter.« Sie lächelte bei diesen Worten, als enthielten sie eine Wahrheit, die nur ihr und Sjur bekannt war. »Ihr müsst das nicht tun, Oran. Ihr wisst, dass Ihr Euch damit in Gefahr bringt. Ich will Euch nicht verhehlen, dass Ihr ... Unannehmlichkeiten bekämet, würde man uns auf Eurem Hof finden.« Der Gleichmut, mit dem sie diese Worte hervorbrachte, erstaunte Lyra. Sie drängte Oran fast einen Vorwand auf, sie und Sjur von seinem Hof zu weisen.

»Die Gefahr ist weniger groß, als es scheint«, sagte Oran abwertend. »Die meisten Knechte halten einen Skruta für ein fünf Manneslängen großes Ungeheuer, das kleine Kinder frisst und vier Arme hat und Feuer speit. Sie würden einen Skruta nicht einmal erkennen, wenn Sjur sich als solcher vorstellen würde.«

Seltsamerweise lachte Sjur über seine Worte, und nach kurzem Zögern stimmte auch Oran in dieses Lachen ein, wenn es auch etwas gequält klang.

»Wie lange wollt Ihr bleiben?«, fragte er. »Ich meine, wenn Euer Hiersein geheim ist ...«

»Nicht lange, hoffe ich«, sagte Erion. »Wir waren mit ... einem Freund verabredet, drüben in dem kleinen Wald bei Euren Feldern. Aber er ist nicht gekommen.«

Oran schwieg, aber gerade, was er nicht sagte, sprach seine eigene Sprache. Erions Geschichte hörte sich nicht sehr überzeugend an, obwohl sie gerade erst damit begonnen hatte. Vielleicht war es wirklich so, wie man sich erzählte: dass Elben nicht in der Lage waren, zu lügen. »Und Ihr hofft, dass Euer ... Freund noch kommt«, sagte er nach einer Weile. »Und dass er Euch hier findet.«

»Ja«, sagte Erion. Dann lächelte sie, sah Oran fast entschuldigend an und schüttelte den Kopf. »Um ehrlich zu sein, Oran - wir haben die Hoffnung fast aufgegeben. Wir ... waren lange unterwegs, und Euer Wald war der letzte Ort, an dem wir hofften, ihn zu treffen oder wenigstens eine Nachricht vorzufinden.«

Oran maß ihren zerschlissenen Mantel mit einem eindeutigen Blick, hob wieder seinen Becher und trank. Dabei blickte er die Elbin über den Rand des Trinkgefäßes hinweg unverwandt an. »Dieser ... Freund«, sagte er halblaut. »Wird er noch kommen? Hierher?»

»Kaum«, antwortet Erion. Ihre Nervosität war jetzt nicht mehr zu übersehen. »Nicht, wenn ... wenn ihm niemand sagt, wo er uns findet. Aber wir haben keine Möglichkeit, ihn von unserem Hiersein in Kenntnis zu setzen.«

»Und deshalb möchtet Ihr, dass ich einen meiner Männer zu ihm schicke«, vermutete Oran.

»Das wäre ... sehr freundlich«, antwortete Erion. Lyra spürte, wie schwer es der Elbin fiel, die wenigen Worte auszusprechen. Sie lieferte sich und Sjur Oran aus. Vollkommen.

Oran setzte seinen Becher ab, angelte nach einer Beere und zerquetschte sie zwischen den Lippen. Seine Augen wurden schmal. »Und wo ist dieser Freund?«, fragte er mit seltsamer Betonung.

Erion zögerte. Ihr Blick wandte sich hilfesuchend an Sjur, aber so wie zuvor beachtete sie der breitschultrige Skruta gar nicht, sondern starrte nur Oran unverwandt an. »In ... Caradon«, antwortete die Elbin schließlich. Es fiel ihr sichtlich schwer, diese beiden Worte auszusprechen. Ihre schlanken weißen Finger spielten nervös mit dem Stiel ihres Glases.

»Caradon?« Oran überlegte einen Moment, aber was er schließlich sagte, war nicht das, worüber er nachgedacht hatte. »Das ist ein weiter Weg, Herrin. Eine Woche hin und eine Woche zurück, und unterwegs lauern viele Gefahren. Und es ist Erntezeit - Ihr habt die Felder gesehen, die noch nicht eingeholt sind. Ich weiß nicht, ob ich einen Mann für so lange Zeit entbehren kann.«

»Wir bezahlen dafür«, sagte Sjur, ohne Erion Gelegenheit zu geben, selbst zu antworten. Er sprach ganz ruhig, aber es war etwas in seiner Stimme, was die Überlegenheit auf Orans Zügen für einen Moment erschütterte. »Sag uns, wie hoch der Ausfall ist, den du hast. Wir werden ihn ersetzen. Und du bekommst noch mehr, für dein Stillschweigen. Wir sind keine Bettler.«

»Es geht nicht um Geld, sondern ...«

»Solltest du allerdings auf den Gedanken kommen«, fuhr Sjur unbeeindruckt fort, »deinen Mann statt nach Caradon in die nächste Garnison zu schicken, um uns an die Eisenmänner zu verkaufen, dann bedenke bitte, dass ich bestimmt noch Zeit finde, dir die Kehle durchzuschneiden, bevor sie mich töten können. Mein Wort darauf.«

Oran erbleichte. Seine Hand spannte sich so fest um den Becher, dass das tönerne Gefäß hörbar knackte. »Wenn ich dich ausliefern wollte, Skruta«, stieß er hervor, »dann könnte ich es tun, ohne dass du es auch nur merken würdest. Und ich wäre kaum so dumm, hierzusein, wenn die Soldaten kämen, um dich abzuholen.«

Sjur wollte auffahren, aber Oran sprach rasch und mit leicht erhobener Stimme weiter: »Aber ich werde es nicht tun, Sjur. Ihretwegen.« Er wies mit einer zornigen Kopfbewegung auf Erion. »Glaube ja nicht, dass ich dich schonen würde, wenn du allein wärest. Wärest nur du gekommen, dann hätte ich dir die Kehle durchgeschnitten, im gleichen Moment, in dem du mein Haus betreten hast. Aber du bist nicht allein, Sjur, und Erion ist eine Elbin. Wir verehren die Elben und befolgen ihre Befehle, ohne darüber nachzudenken.«

»Das scheint sowieso nicht deine starke Seite zu sein«, sagte Sjur giftig. »Das Denken, meine ich.«

Orans Lippen pressten sich so fest zusammen, dass sie wie eine dünne weiße Narbe in seinem Gesicht aussahen. Seine Hände zitterten.

»Sjur! Oran!» sagte Erion scharf. »Ich bitte euch, hört mit dem Streiten auf – beide!«

Sjurs Blick flammte vor Zorn, und Orans kaum weniger. Aber sie gehorchten beide - wenn auch erst nach Sekunden - und ließen sich wieder zurücksinken. Gegen ihren Willen musste Lyra Oran fast bewundern. Es gehörte schon mehr als nur Trotz dazu, einem Mann wie Sjur solche Worte ins Gesicht zu schleudern.

»Bitte!«, sagte Erion noch einmal. »Verzeiht Sjurs unbedachte Worte, Oran. Er weiß nichts von der Freundschaft, die unsere Völker miteinander verbindet. Wir ... haben viel erlebt, ehe wir hierher kamen, und bittere Erfahrung hat ihn misstrauisch werden lassen.«

»Dann sollte er sich hüten, vor lauter Misstrauen nicht mehr Freund und Feind auseinander halten zu können«, erwiderte Oran zornig. »Ich stehe auf Eurer Seite, Herrin, ohne irgendwelche Wenn und Aber. Es ist mir gleich, wer sich in Eurer Begleitung befindet und warum. Wenn es sein müsste, dann würde ich Euch mit meinem Leben verteidigen, und jeder meiner Männer würde dasselbe tun. Aber ich lasse mich nicht in meinem eigenen Haus von einem Barbaren aus Skrut beleidigen, ganz gleich, ob er unter dem Schutz der Gastfreundschaft steht oder nicht.« Er starrte Sjur noch einen Augenblick lang hasserfüllt in die Augen, leerte seinen Becher und atmete hörbar ein. Doch als er weitersprach, wich die Erregung aus seiner Stimme.

»Ich war unfreundlich zu Euch, Herrin. Bitte verzeiht das.«