Die Kunst des Soldaten - Anthony Powell - E-Book

Die Kunst des Soldaten E-Book

Anthony Powell

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Beschreibung

Der zwölfbändige Zyklus »Ein Tanz zur Musik der Zeit« —­ aufgrund­ seiner inhaltlichen­ wie formalen Gestaltung immer wieder mit Mar­cel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« verglichen —­ gilt­ als­ das­ Hauptwerk des­ britischen Schriftstellers Anthony Powell und gehört zu den bedeutendsten Romanwerken des 20. Jahrhunderts. Inspiriert von ­dem ­gleichnamigen Bild des französischen Barockmalers Nicolas Poussin, zeichnet der Zyklus ein facettenreiches Bild der englischen Upperclass vom Ende des Ersten Weltkriegs bis in die späten sechziger Jahre. Aus der Perspektive des mit typisch britischem Humor und Understatement ausgestatteten Ich­-Erzählers Jenkins — der durch so­ manche­ biografische­ Parallele­ wie­ Powells­ Alter ­Ego­ anmutet — bietet der »Tanz« eine Fülle von Figuren, Ereignissen, Beobachtungen und Erinnerungen, die einen einzigartigen und auf­schlussreichen Einblick geben in die Gedanken­welt der in England nach wie vor tonangebenden Gesellschaftsschicht mit ihren durchaus merkwürdigen Lebensgewohnheiten. Im achten Band bilden die letzten Jahre des Zweiten Weltkriegs den historischen Hintergrund.

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Inhaltsverzeichnis
Titelseite
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Editionsplan

Anthony Powell

Die Kunst des Soldaten

RomanEin Tanz zur Musik der Zeit –Band 8Aus dem Englischen übersetzt von Heinz Feldmann

Elfenbein

Die Originalausgabe erschien 1966unter dem Titel

»The Soldier’s Art« bei William Heinemann, London.Band 8 des Romanzyklus »A Dance to the Music of Time«TheSoldier’s Art

©John Powell and Tristram Powell, 1966

Die Übersetzung dieses Bandes wurde mit freundlicher Unterstützung der Brougier-Seisser-Cleve-Werhahn-Stiftung ermöglicht.

© 2017 Elfenbein Verlag, Berlin

Einbandgestaltung: Oda Ruthe

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-941184-83-1 (E-Book)

ISBN 978-3-941184-43-5 (Druckausgabe)

1

Ich erstand meinen großen Militärmantel gleich zu Anfang dieser ganzen Sache, und zwar in einem der Läden in der Nachbarschaft der Shaftesbury Avenue, wo sie neben Offiziersausstattungen und Sportartikeln auch Theaterkostüme verleihen oder verkaufen. Die Atmosphäre im Inneren, bedrohlich wie in einem orientalischen Basar, suggerierte heimliche Geschäfte, verstohlenen, wenn vielleicht auch nicht ungesetzlichen Handel, und sie erhöhte noch meine Anspannung bei diesem für mich neuen Unterfangen. Der Verkauf fand im oberen Stockwerk statt, in einem dunklen, mysteriösen, mit Skiausrüstungen und Reithosen drapierten Raum, in dessen hinterem Bereich zwei kopflose Puppen in steifer Habachtstellung hinter den Glasscheiben einer hohen Vitrine ausgestellt waren. Eine dieser Figuren trug das mit glitzernden diagonalen Streifen besetzte Trikot eines Harlekins; die andere die scharlachrote Galauniform eines Infanterieregiments – allegorische Gestalten, so schien es mir, die den Dualismus des sie umgebenden antithetischen Warensortiments repräsentierten: das Zivile und das Militärische, Arbeit und Spiel, Distanziertheit und Involviertheit, Tragödie und Komödie, Krieg und Frieden, Leben und Tod.

Der Verkäufer, gebeugt, schon älter, mit Bart und dem der Atmosphäre angemessenen Gebaren eines levantinischen Händlers, holte den Mantel aus einem verborgenen, im Halbdunkel liegenden Winkel und half mir ehrerbietig in dieses doppelreihige, mit Messingknöpfen besetzte, steif-faltige, khakifarbene Kleidungsstück. Er knöpfte es mit schnellen, knochigen Fingern zu und schlug die Aufschläge bis zum Hals hoch; dann trat er zwei Schritte zurück, um die Wirkung zu prüfen. In dem dreiseitigen großen Spiegel in meiner Nähe überprüfte auch ich die Rückenansicht des bis zu den Waden hinunterreichenden Mantels und wurde mir dabei bewusst, dass ich, sozusagen kraft dieser militärischen Kostümierung, bald wie Alice durch den Spiegel in eine Welt schweben würde, die nicht weniger rätselhaft war als die jenes Mädchens.

»Wie gefällt er Ihnen, Sir?«

»Gut, denke ich.«

»Wie für Sie gemacht.«

»Er passt sehr gut.«

Er löste jetzt langsam, einen nach dem anderen, die Knöpfe. Dabei starrte er schweigend vor sich hin, so als ob er über etwas nachdenke.

»Ich glaube, ich kenne Ihr Gesicht«, sagte er.

»Wirklich?«

»War es ›Die mittlere Wache‹?«

»War was die mittlere Wache?«

»Die Theateraufführung, in der ich Sie gesehen habe.«

Ich habe absolut kein schauspielerisches Talent, überhaupt keins – ein grundlegendes Handicap bei fast allem, was man im Leben unternimmt; aber andererseits besitzen schließlich auch viele Schauspieler herzlich wenig davon. Es bestand kein Grund dafür, dass er nicht annehmen sollte, die Bühne könne genauso gut mein Beruf sein wie jeder andere auch. Doch mit etwas identifiziert zu werden, das vielleicht eine Spur profunder war als eine altmodische Farce, die das lärmend-fröhliche Leben in der Waffenkammer eines Schiffes der Royal Navy zum Gegenstand hat, wäre möglicherweise meinem Selbstwertgefühl zuträglicher gewesen; ich hielt aber eine nähere Beschreibung meiner persönlichen Umstände bei dieser Gelegenheit für zu mühsam und auch für fehl am Platz. Ich nahm deshalb seine Einschätzung, so ernüchternd sie auch war, ohne Widerspruch hin und beschränkte mich lediglich darauf zu verneinen, dass ich in diesem besonderen Klamaukstück mitgespielt hätte. Er half mir aus dem Mantel und schüttelte mit ernster Miene die Falten glatt.

»Und wofür wird dieser gebraucht?«

»Welcher?«

»Der Mantel – wenn ich mir die Frage erlauben dürfte?«

»Nur für den Krieg.«

»Oh«, sagte er begierig, ›Der Krieg‹ …«

Es war offensichtlich, dass ihn die jüngsten politischen Er­eignisse völlig unberührt gelassen hatten; dass er ein Alter erreicht hatte, in dem er vielleicht desillusioniert war von den Gemeinplätzen des Lebens – ein zu eifriger Theaterbesucher, um noch für irgendetwas anderes außer den Schauspielkritiken in der Presse, so mittelmäßig sie auch geschrieben sein mochten, Zeit erübrigen zu können und um den Zeitungsberichten über die internationalen Krisen zu erlauben, die Lebhaftigkeit seiner ästhetischen Betrachtungen zu umwölken. Das war eine verständliche Einstellung.

»Ich werde mir die Aufführung merken«, sagte er.

»Tun Sie das bitte.«

»Und Ihre Adresse?«

»Ich nehme ihn gleich mit.«

Die Zeit war knapp. Jetzt, wo der Vorhang aufgegangen war zu dem alten Lieblingsstück – »Der Krieg« –, in dem mir, wie es schien, eine Statistenrolle zugedacht war, würden die Tage, die mir noch verblieben waren, bevor ich mich meiner Einheit anzuschließen hatte, für die Kostümprobe genutzt werden müssen. Ich durfte die Stichworte nicht verpassen. Je mehr ich darüber nachdachte, desto angemessener erschien mir die Metapher. Außerdem, die Kleidung macht den Mann aus – wenn nicht den ganzen, so doch einen großen Teil von ihm, besonders wenn es sich um die Uniform handelt. Nach ein paar Minuten hielt ich das Paket, ein ziemlich sperriges, in Händen.

»Ich hab versucht, ihn handlich zu verpacken«, sagte er. »Aber ich vermute, das Theater ist gleich in der Nähe.«

»Das Theater des Krieges?«

Er sah mich eine Sekunde lang verwirrt an, dann, meine Bemerkung für ein dunkles Bonmot aus der Welt des Theaters haltend, nickte er anerkennend.

»Ich wünsche Ihnen eine lange Laufzeit«, sagte er und schlug seine alten, mageren Hände wie zum Applaus zusammen.

»Danke.«

»Einen guten Tag, Sir, ich habe zu danken.«

Ich verließ den Laden, erlaubte mir aber noch einen letzten Blick auf die beiden prächtig gekleideten Puppen, die von ihrem Glasgefängnis aus die düster-beklemmende Welt der mit Tweed und Whipcord behangenen Kleiderbügel überblickten. Wenn ich es recht bedachte, waren diese kopflosen Figuren viel­leicht gar nicht antithetisch, sondern repräsentierten vielmehr »Ehre und Witz, in der Hölle sie sitz’«, auf die sich der Teufel in Kiplings Gedichtbezieht. Sie saßen hier zwar nicht, sondern standen, aber die genaue Körperhaltung war nur Nebensache. Der eigentliche Punkt war, dass sie genau die richtige Kleidung trugen, während ihre Kopflosigkeit – ähnlich der Au­genbinde der Liebe und der Justitia – sehr wohl auf die unerbittliche Vorbestimmtheit ihres gemeinsamen Schicksals hinweisen mochte, eines Schicksals, das selbst der Krieg nicht ändern konnte. Ja, der Krieg, der diesen beiden Attributen, »Ehre und Witz«, wahrscheinlich ein unbegrenztes Feld der Verwirklichung bot, würde ihre letztliche Fatalität eher noch intensivieren als mildern. Während ich in dem blassen, wie unwillig gewährten Sonnenschein des Londoner Dezembers, einem fahlen, doch so vertrauten Licht, über diese Vermutung nachgrübelte, erkannte ich die Weinhandlung wieder, die mir wegen der Flasche Portwein – wenn denn jene Flüssigkeit so bezeichnet werden konnte –, die Moreland und ich Jahrhunderte zuvor an jenem Sonntagnachmittag mit so großen Hoffnungen gekauft hatten, die aber zu trinken wir dann später gänzlich unmöglich fanden, ewig im Gedächtnis bleiben wird.

Wenn ich jetzt von einer beunruhigenden, doch gleichzeitig auch monotonen Gegenwart aus zurückblickte, erschienen mir diese Tage mit Moreland als eindeutig arkadisch. Auch das drohende Arbitrium zum Kriege hin (so der ziemlich geschraubte Ausdruck von Premierminister Chamberlain in seiner Radioansprache) hatte den Wochen, die mit dem Kauf des Militärmantels endeten, eine gewisse makabre Erregtheit verliehen. Jetzt, etwa vierzehn Monate später, schien jener Tag kaum weniger weit zurückzuliegen als die Opferung der Flasche Portwein. Das Letzte, das ich von Moreland (in einem von Isobels Briefen) gehört hatte, war, dass eine musikalische Verpflichtung ihn nach Edinburgh gebracht habe. Aber auch diese Information war mir schon vor langer Zeit geschickt worden, kurz nach meiner eigenen Ankunft bei der Division. Seit damals tat ich nun schon eine Million Jahre lang Dienst in diesem Hauptquartier, besaß ich kein Eigenleben außerhalb der Armee, hatte ich keinen Meister außer Widmerpool und keine Tischgenossen außer Biggs und Soper.

In der Zwischenzeit hatte der Krieg selbst verschiedene Phasen durchlaufen, einige davon äußerst unbehagliche: Frankreich war besiegt, Europa überrannt, eine Invasion Englands stand drohend bevor, der Luftkrieg über London war eröffnet. Im Zusammenhang mit dem letzteren Aspekt berichtete Isobel auch von dem spezielleren Ereignis eines Volltreffers auf Barn­bys Fresken im Donners-Brebner-Gebäude. Meine Erinnerungen an diese Bilder waren jetzt genauso verschwommen wie die an Barnby selbst, der gegenwärtig als Tarnungsoffizier bei einer entfernt stationierten Einheit der Royal Air Force Dienst tat. In der letzten Zeit gingen die Dinge zwar ein wenig aufwärts – in der westlichen Sahara zum Beispiel –, aber die allgemeine Situation bot noch beträchtlichen Raum für Verbesserungen, ehe man sie auch nur im geringsten Maße als zufriedenstellend betrachten konnte. Die Offiziersmesse F, von Widmerpool als »… tief, aber nicht der Bodensatz des Stabs beim Divisionshauptquartier« definiert, vermochte nichts an meinem Gefühl zu ändern, dass vieles im Argen lag in dieser Welt.

Nach dem ersten Luftangriff auf unseren Ort – bei dem tausend Menschen getötet wurden, was in diesem Stadium des Krieges als eine sehr große Zahl für eine Provinzstadt in einer Nacht erachtet wurde – befahl Generalmajor Liddament, der Divisionskommandeur, dem Verteidigungszug, den ich vor­über­gehend kommandierte, innerhalb des Bereichs, in dem die Soldaten ihre Quartiere hatten, in der Zeit zwischen dem Ertönen des Fliegeralarms und der Entwarnung Maschinengewehre aufzustellen. Dies war nichts als Drill – und Schießen gar nicht vorgesehen, außer es ergaben sich ungewöhnliche Umstände, Sturzflugbombardierungen zum Beispiel; und natürlich hatte das Kommando normale Flugabwehrbatterien eingerichtet. Angekündigt durch den melancholischen, dem rituellen Klagegeschrei barbarischer Totenfeiern ähnlichen Grabgesang der Sirenen, pflegten die deutschen Flieger immer kurz vor Mitternacht – sie hatten einen langen Weg zurückzulegen – und prinzipiell etwa eine halbe Stunde, nachdem ich eingeschlafen war, aufzutauchen. Sie flogen stets in verhältnismäßig großer Höhe quer über die Stadt, kreisten dann tiefer herunter und brummten schließlich genau auf ihre Bahn zurück, bevor sie, manchmal auf gut Glück ein paar Brandbomben in der unmittelbaren Nachbarschaft der Messe abwerfend, zu dem ernsthafteren Geschäft der Bombardierung von Docks und Schiffswerften weiterflogen. Dieses Kreisen über dem Hafen dauerte an, bis es Zeit für sie wurde umzukehren. In solchen Nächten ließ sich, nachdem die Waffen zurück zum Waffenlager gebracht und die Abteilungen in ihre Unterkünfte entlassen waren, nicht mehr viel Schlaf einfangen.

Die letzten abgehackten, erstickten Noten des zu Ende gehenden Alarms erinnerten mich stets an unangemessen gespielte Musikinstrumente, an General Conyers und seine Wiedergabe von Gounod oder Saint-Saëns auf dem Cello zum Beispiel oder an jenen auch oft Saint-Saëns spielenden Günstling Morelands, den wie ein Pirat aussehenden Mann mit dem altmodischen Holzbein und der Klappe über einem Auge, der in einer der Nebenstraßen des Piccadilly Circus auf seiner Fiedel herumkratzte. Immer noch verschlafen, begann ich mich im Dunkeln anzuziehen, denn in dem vorhanglosen Schlafzimmer Licht anzuschalten hätte das mühevolle Anbringen der Verdunklungsbretter an dem Fenster vorausgesetzt. Vielleicht war es ja eine lohnende Aufgabe, die musikalischen Variationen der verschiedenen Formen des Fliegeralarms zu studieren. Wo Isobel lebte, auf dem Land, übermittelte der Pfarrer, als Hauptluftschutzwart, den örtlichen Alarm persönlich über Telefon. Entweder um die Ernsthaftigkeit der Benachrichtigung zu betonen oder weil das Intonieren für einen Mann seines Berufes zur zweiten Natur geworden war, sprach er die Worte stets in einem imitierenden Ton und gab seiner Stimme das heulende Auf und Ab der Sirene:

»… Fliegeralarm … Fliegeralarm … Fliegeralarm … Fliegeralarm … Fliegeralarm … Fliegeralarm …«

Solche Träumereien flogen mir aus den Schatten des Zimmers zu, ebenso wie die Hoffnung, dass die deutsche Luftwaffe, eingedenk der Dauer ihres Rückflugs, ihre nächtlichen Aktivitäten nicht mit allzu großer teutonischer Gewissenhaftigkeit in die Länge ziehen möge.Am folgenden Tag würde ein dreitägiges Manöver des Kommandos beginnen, und dann würde, was meinen Verteidigungszug anging, Schlaf vielleicht ebenso schwer zu bekommen sein. Die Luft draußen auf der Straße war schneidend kalt, obwohl sich inzwischen spärliche Anzeichen des Frühlings in der umliegenden Landschaft, in der heckenlose Felder durch ramponierte Steinmauern voneinander getrennt waren, bemerkbar machten. Das Mondlicht musste gegen den schnell wachsenden Bereich der künstlichen Illumination ankämpfen, die jede Verdunklung belanglos erscheinen ließ. Ich hatte die Abteilungsposten nacheinander zu inspizieren. Die Flak erzeugte bereits einen beträchtlichen Lärm. Einmal schlug ein winziger Granatsplitter mit einem blechernen Scheppern wie bei einer Attacke mit einem Blasrohr gegen das Metall meines Helms. Die Maschinengewehrabteilung an der Ecke des Sportfelds, die als letzte aufzusuchen war, hatte ihre Waffe bereits in eine schussbereite Stellung gebracht und eröffnete mir in einem eher entschuldigenden Ton, dass sie gerade eine Salve abgefeuert habe.

»Waren es leid, hier nur herumzuhängen und zuzusehen, wie sie diese Dinger abwarfen«, sagte Unteroffizier Mantle, »und so haben wir dann eine der Leuchtraketen heruntergeholt, ehrlich gesagt.«

Seine Brille gab ihm das Aussehen eines gebildeten, gelehrten Mannes, das so gar nicht zu einer solchen ungeduldigen und heftigen Handlung passte. Er war ein junger, energiegeladener Unteroffizier, der als einer der Kandidaten für eine Offizierslaufbahn vorgesehen war, wenn dies nicht durch Oberst Hogbourne-Johnson verhindert wurde, der in der letzten Zeit Zeichen der Obstruktion in diesem Bereich zu erkennen gegeben hatte.

»Wir werden für diese Ladungen Bericht erstatten müssen.«

»Ich werd daran denken, Sir. Ich hatte allerdings noch ein paar in der Hinterhand. Das ist immer gut für den Fall, dass es eine dieser unangekündigten Munitionsinspektionen gibt.«

Eine unförmige, untersetzte Gestalt in einem Regenmantel kam aus der Dunkelheit auf uns zu. Das Kleidungsstück war so lang, dass es ihr fast bis auf die Fersen reichte. Sie erwies sich als Bithel. Es war unmöglich zu sagen, warum er zu dieser Nachtstunde während eines Luftangriffs herumwanderte. Seine Dienste als verantwortlicher Offizier der Feldwäscherei konnten in diesem Augenblick wohl kaum gefragt sein. Als er uns erreichte, sagte er:

»Man kann bei diesem Lärm einfach nicht schlafen.«

Er sagte das in einem gereizten Ton, so als ob die leicht zu erreichende Abhilfe von der verantwortlichen Autorität aus irgendeinem Grund verweigert worden sei.

»Ich hab auch diese Pillen nicht mehr«, fuhr er fort. »Ich bin mir nicht mal sicher, ob man die überhaupt noch bekommen kann. Werden nicht mehr verkauft, wie so viele andere nütz­liche Artikel heutzutage. Ich hielt es für klüger, einen Helm aufzusetzen. Ist sowieso Vorschrift, nehme ich an. Ich wusste gar nicht, dass du oder jemand anders vom Divisionshauptquartier bei solchen Gelegenheiten Dienst hat. Organisiert nicht das Einsatzkommando diese Pom-Pom-Schnellfeuerkanonen? So heißen die doch, glaube ich. Dann gibt es da noch das Bofors-Geschütz. Das ist auch eine Flugabwehrkanone, nicht wahr? Schwedisch. Ich sollte viel mehr über die Royal Artillery und ihre Funktionen wissen. Man hat ja als Infanterist nichts damit zu tun, obwohl ich einiges aufgeschnappt habe, seit ich bei der Division bin.«

Er lächelte verlegen und sah, wie immer, aus, als erwarte er eine Abfuhr. Einige Monate zuvor hatte er seinen unor­dent­lichen Schnurrbart abrasiert, den er trug, als er sich, von irgendeinem hinterwäldlerischen Zweig der Landwehr kommend, unserem früheren Bataillon anschloss. Diese physische Veränderung, die mehr im Einklang mit seinen anderen natürlichen Eigenschaften stand, betonte in seinem großen Mondgesicht noch zusätzlich die unglaublich stümperhafte Anpassung seiner falschen Zähne. Dass Bithel so vergleichsweise lange das Kommando über die Feldwäscherei behalten hatte, grenzte an ein Wunder. Sein Überleben war hauptsächlich der Tatsache zuzuschreiben, dass diese Einheit nur aus Gründen administrativer Zweckmäßigkeit mit der Division verbunden war, nie einen offiziellen Bestandteil von ihr bildete und folglich auch kurzfristig von ihr abgezogen werden konnte. Dementsprechend wurde ihr auch nie eine große disziplinarische Aufmerksamkeit zuteil. Zudem hatte Bithel insofern Glück, als Feldwebel Ablett sein Untergebener war, der wahrscheinlich den größten Teil der Verwaltungsarbeit leistete. Es gab noch einen weiteren Grund, der eine Rolle dabei spielen mochte, Bithels Absetzung, die letztlich unumgänglich war, hinauszuzögern. Er sprach gewöhnlich enthusiastisch von seiner eigenen Verbindung mit der Welt des Theaters – Prahlereien, die sich bei näherer Untersuchung darauf reduzierten, dass er einige Monate lang an dem Theater der Provinzhauptstadt, in der er eine Zeitlang ein prekäres Leben gefristet hatte, am Empfang tätig gewesen war. Er hatte den Job verloren, als das Schauspielhaus in ein Kino umgewandelt wurde, aber einige Krümel thespischen Prestiges hingen, zumindest seiner eigenen Einschätzung nach, immer noch an Bithel, so dass, als der für die Feldhygieneeinheit verantwortliche Offizier – traditionell der Impresario der Unterhaltungstruppe der Division – mitten in den Probearbeiten erkrankte, das Unternehmen Bithel übertragen wurde, der auch als Produzent und Regisseur eine ganz passable Show auf die Beine stellte.

Dennoch, dass er früher oder später geschasst werden würde, stand außer Frage. Widmerpool, der als Stellvertretender Assistent des Generaladjutanten in der passenden Position war, um diese Maßnahme in die Wege zu leiten, war sehr darauf bedacht, ihn bei der ersten Gelegenheit abzuservieren; er hätte es zweifellos längst getan, wenn die Feldwäscherei zu unserer Abteilung gehört hätte. Widmerpools Missfallen hatte nicht nur verständliche allgemeine Gründe; bei ihm kam noch hinzu, dass er – ganz uncharakteristischerweise, denn gewöhnlich war er bei solchen Dingen gut informiert – den von Bithel sporadisch propagierten Mythos, ein Bruder eines Offiziers gleichen Namens und gleichen Regiments zu sein, der im Ersten Weltkrieg mit dem Victoria-Kreuz ausgezeichnet worden war, geschluckt hatte. Es schien keinen Grund zu geben, warum nicht auch der jüngere Bruder eines Victoria-Kreuz-Trägers bei der Führung der Feldwäscherei versagen sollte, aber Widmerpools Fantasie war zu einem früheren Zeitpunkt irgendwie von dieser Legende zeitweise gefangen gewesen, so dass sich bei ihm bittere Gefühle entwickelten, als sich die Geschichte als offensichtlich unwahr erwies. Jetzt stand Bithel da und starrte mit angestrengter Aufmerksamkeit auf das Maschinengewehr, so als ob er eine solche Waffe zuvor noch nie gesehen hätte.

»Was das Div. H. Q. angeht, so hat allein der Verteidigungszug Dienstbereitschaft, wenn es einen Luftangriff gibt – eine von diesen Ideen des Generals, alle auf Zack zu halten.«

Bithel nickte ernst zu der Erklärung, warum wir jetzt das Sportfeld bewachten. Zufälligerweise hatten er und ich seit jenem Abend kaum miteinander gesprochen, als er, wie er es selbst formulierte, »ein Glas zu viel getrunken« hatte, nachdem er in der Schule für chemische Kriegsführung auf Castlemallock durch die Gaskammer gelaufen war. Die Bewegungen der Feldwäscherei hielten ihren Offizier, einen Leutnant, ihrer Natur entsprechend in einem fast permanenten Zustand des Herumreisens durch das Einsatzgebiet des Verbands, während meine eigenen Pflichten, so trivial sie auch sein mochten, zu zahlreich und verzweigt waren, um mir viel Zeit für gesellschaftliche Kontakte mit anderen Abteilungen des H. Q. zu lassen. So hatten wir bis zu diesem Augenblick nur gelegentlich ein kurzes Wort miteinander gewechselt, und zwar gewöhnlich wenn wir bei den periodischen Versammlungen aller Offiziere des Hauptquartiers zu einem Vortrag oder einer Strafpredigt des Generals nebeneinandersaßen. Dies war das erste Mal, dass wir uns begegneten, ohne von einer Menge anderer Menschen umgeben zu sein.

»Nimmt einen ganz schön mit, Nacht für Nacht so aus dem Bett zu müssen«, sagte er. »Sollen wir eine Runde um das Sportfeld drehen?«

Sein Mitgefühl war nicht ohne eine Spur von Verzweiflung. Nur wenige Offiziere konnten in diesem Augenblick weniger ›auf Zack‹ ausgesehen haben als er.

»Warte, bis ich diese Maschinengewehrstellung kontrolliert habe.«

Ich stellte fest, dass bei dieser Abteilung alles in Ordnung war. Bithel und ich schlenderten über den Rasen auf den baufälligen Cricketpavillon – oder waren es Umkleidekabinen? – zu, ein kleines Gebäude aus Holz, nicht viel größer als eine Hütte. Es hatte in der letzten Zeit einigen Ärger wegen dieses Baus gegeben, denn Biggs, der für Sport zuständige Stabsoffizier, hatte gerade in dem Augenblick den Schlüssel dazu verlegt, als der Privatbesitzer des requirierten Sportfeldes Bänke oder Gartensitze dort lagern wollte. Widmerpool hatte sich stark darüber beklagt, wie viel Zeit wegen dieser Sache vergeudet worden sei, und war zu Recht sehr verärgert über Biggs gewesen, für den die Hütte und ihr Schlüssel fast zu einer Obsession geworden waren. Ich prüfte, ob man die Tür richtig zugesperrt hatte, nachdem sich der Schlüssel wieder eingefunden hatte und die Sitze dort untergebracht waren. Sie ließ sich nicht öffnen. Dafür hatte Biggs wohl gesorgt.

Der Lärm der Kanonade um uns herum nahm an ­Stärke zu. Ein Geruch wie schwelendes Gummi, ein stinkender, wi­derlicher Mief, überlagerte jetzt die weniger penetranten Ausdünstungen von Ruß und Rauch. Zur entfernten Seite der Stadt hin – in Richtung Hafen – beschrieben, schnell vor und zurück schweifend, die dünnen grünen Strahlen der Suchscheinwerfer weite, einander schneidende Bögen gegen den östlichen Horizont, kürzer und länger werdend, kürzer und länger, kürzer und länger, während sich zielstrebig ihre Bahnen kreuzten. Dann, ganz plötzlich, bildeten diese verschiedenen, im Zickzack verlaufenden Lichtwinkel eine gemeinsame Spitze am Himmel, einen kleinen elliptischen Kreis, durch den hin und wieder ein winziger Gegenstand, sich wie ein ärgerliches, in einer Flasche gefangenes Insekt bewegend, schnell dahinschoss. Als ob sie in bewusst gesteuertem Gleichklang zu den methodischen Schwankungen der Suchscheinwerfer reagierten, zogen jetzt abwechselnd aufglühende und wieder verblassende Wolkenmassen hinauf, die so ein halbes Dutzend ständig neuer, komplizierter Pastellfarbkompositionen aus Schwarz und Lila, Grau und Safran, Rosa und Gold entwarfen. Aus diesem prächtigen Firmament – das, transzendental gesprochen, eine bevorstehende Offenbarung von hoch oben anzu­drohen schien – senkten sich nun langsam, wie japanische La­ternen bei einer Feierlichkeit, zwanzig oder mehr Leuchtkugeln herab, ausgelöst von den angreifenden Flugzeugen. In Zweier- oder Dreiergruppen zusammenhängend, drifteten sie zunächst ziellos in dem leichten Wind und verloren auch nach längerer Zeit kaum an Höhe, sondern schwankten nur leicht hierhin und dorthin und verwandelten sich in nahezu bewegungslose Lampen, die an immens langen Drähten von einer unsichtbaren Decke herabzuhängen schienen. Plötzlich, wie auf ein zuvor vereinbartes Signal für den Höhepunkt des Spektakels, einer Standardszene der Mitternachtsshow, hin, stiegen von unten Wolken pechschwarzen Rauchs wirbelnd hoch und trafen auf diese schwebenden, flimmernden Fackeln. Auch zu ebener Erde loderten jetzt unregelmäßige Gruppen von Flammen auf, wie Nester nächtlicher Schmiedefeuer in dem Industriegebiet Mittelenglands. Die ganze Welt war in einen grässlichen, blaugrauen Glanz getaucht, theatralisch und sinister zugleich, ein Licht, das weder Tag noch Nacht war, ein Halbdunkel an den Grenzen Plutos. Der Gestank verbrannten Gummis war ekelhafter denn je. Bithel fummelte am Gürtel seines Regenmantels herum.

»Es hat Ärger wegen eines Schecks gegeben«, sagte er.

»Deines?«

»Ich glaube, das war der eigentliche Grund, der mich wach gehalten hat; das, und dass ich diese Pillen nicht mehr habe. Aber vielleicht kommt ja alles wieder in Ordnung, denn ich hab das Geld bezahlt – hab mir ein wenig von dem Postoffizier geliehen, genauer gesagt –, aber Schecks machen einem immer Kummer. Sie sollten abgeschafft werden.«

»Vielleicht geschieht das ja nach dem Krieg.«

»Das wird zu spät für mich sein.«

Er sprach in einem sehr ernsten Ton.

»Eine große Summe?«

»Eine Sache von ein paar Pfund – aber er ist geplatzt.«

»Kannst du das nicht geheim halten?«

»Ich glaube, bis jetzt weiß der SAGA noch nichts.«

Von Bithels Standpunkt aus gesehen war das ein wichtiger Punkt. Sonst hätte Widmerpool vielleicht die Gelegenheit gefunden, auf die er wartete. Ich war im Begriff, Bithel mein weiteres Mitgefühl auszudrücken, als eine tiefe Explosion, die die Erde zu spalten schien, die Luft zerriss und das allgemeine Bum-Bum-Bum der Kanonen übertönte und dann von den Hügeln der Umgebung in bebenden, dröhnenden Wellen wieder zurückgeworfen wurde. Bithel schüttelte den Kopf. Für den Augenblick war seine Aufmerksamkeit von seinen eigenen, zweifellos besorgniserregenden Schwierigkeiten abge-lenkt.

»Das muss ein Volltreffer gewesen sein«, sagte er.

»Es hörte sich so an.«

Er setzte zu sprechen an, stoppte aber sofort wieder, weil er offensichtlich seine Meinung darüber geändert hatte, wie er die Frage formulieren solle. Nachdem er sich augenscheinlich dazu entschlossen hatte, ihr eine andere Form zu geben, stellte er sie in einem bewusst schüchternen Ton.

»Du hast mir mal gesagt, du bist ein Leser – wie ich –, nicht wahr?«

»Ja, das stimmt. Ich lese ziemlich viel.«

Ich machte nicht länger den Versuch, diese Gewohnheit zu verheimlichen, trotz all der unerwünschten Implikationen, die das hatte. Zumindest ordnete sie mich einer erkennbar seltsamen Kategorie von Menschen zu, von denen man weniger zu erwarten brauchte als das normale Verhalten.

»Ich liebe ein gutes Buch, wenn ich die Zeit dazu habe«, sagte Bithel. »Zum Beispiel St. John Clarkes ›Wie durch ein Wunder‹. Etwas Ernsthaftes, an dem man lange zu lesen hat.«

»Zufälligerweise hab ich das nicht gelesen.«

Bithel schien sich meiner Antwort kaum bewusst zu sein. Offensichtlich war St. John Clarkes Roman ihm nur Nebensache, nicht das eigentliche Ziel, auf das seine allgemeine Frage gerichtet war. Obwohl es, wenn er sich in der Stimmung für ein vertrauliches Gespräch befand, unmöglich zu erraten war, was er als Nächstes sagen würde, waren solche Erklärungen Bithels stets der Beachtung wert. Er hatte etwas Besonderes auf dem Herzen. Als er mir die nächste Frage stellte, lag eine Art Inbrunst in seiner Stimme.

»Hast du dir je Magazine wie ›Chums‹ oder ›Boy’s Own Paper‹ gekauft, als du ein Junge warst?«

»Natürlich – ich hab sie gewöhnlich in gebundenen Jahres­ausgaben gelesen. Ich habe einen Schwager, der liest sie immer noch.«

Es war Errys einziges Laster, das er allerdings verborgen hielt, so als ob es ihn eines Mangels an Ernsthaftigkeit und sozialem Verantwortungsgefühl überführe. Bithel antwortete etwas, aber so, als ob sie absichtlich zu diesem Zweck abgegeben worden seien, ertränkten plötzliche konzentrierte Salven von Flakfeuer seine Äußerung.

»Was hast du gesagt?«

Bithel sagte wieder etwas.

»Ich kann dich immer noch nicht verstehen.«

Er kam näher an mich heran.

»… Held …«, rief er.

»Du fühlst dich wie ein Held?«

»Nein … ich …«

Der Lärm ließ nach, aber er musste immer noch aus Leibeskräften schreien, um sich verständlich zu machen.

»… mir immer vorgestellt, dass ich der Held dieser Geschichten bin.«

Diese geschrienen Worte waren bei dem Getöse der Kanonen kaum hörbar. Er schien zu glauben, er biete mir mit ihnen ein Stück beispielloser psychologischer Offenbarung seinerseits.

»Das tut doch jeder«, schrie ich zurück.

»Jeder?«

Er war enttäuscht von dieser Antwort.

»Ich bin sicher, mein Schwager tut es noch heute.«

Bithel war nicht im Geringsten an meines eigenen oder irgendeines anderen Schwagers Neigung zur Selbstidentifizierung beim Lesen von Romanen interessiert. Das war verständlich, denn er wusste ja nichts von Erridges Existenz. Zudem wünschte er nur über sich selbst zu sprechen. Er war zwar gänzlich auf dieses Thema konzentriert, behielt aber seinen entschuldigenden und zugleich nachdrücklichen Ton bei.

»Ich dachte nur neulich nachts – als der Jerry zuerst rübergeflogen kam –, dass ich jetzt genau die Erfahrung mache, über die ich als Junge immer gelesen hatte.«

»Wie meinst du das?«

»›Zum ersten Mal unter Beschuss geraten‹ – das war stets ein großer Moment in der Karriere des Helden. Daran musst du dich doch erinnern. Wenn er ›zeigen konnte, was in ihm steckt‹, wie es in der Geschichte gewöhnlich hieß.«

Er lachte, als ob er sich für einen solchen gewagten Flug seiner Fantasie entschuldigen wolle. Dabei entblößte er die Doppelreihe seiner Schmierentheaterzähne.

»›Das Rattern der Musketen von fernen Hügeln‹ – ›ein kleiner Sandschauer, hochgespritzt von einer Kugel vor der Bastei‹?«

Diese konventionellen Wendungen aus den Abenteuergeschichten für Jungen mochten Bithel vielleicht dazu ermutigen, tiefer in Beobachtungen über das Leben einzutauchen. Und in der Tat fühlte er sich von diesen Klischees bewegt.

»Das ist es«, sagte er. Er sprach mit größerer Lebhaftigkeit als sonst. »Das ist genau das, was ich meine. Was für ein wunderbares Gedächtnis du hast. Was du gesagt hast, bringt mir diese Storys wieder richtig zurück. Ich war ein großer Leser als Junge. Einer dieser nachdenklichen kleinen Kerle. Bin leider nicht dabei geblieben.«

All dies erinnerte mich ein wenig daran, wie Gwatkin, mein früherer Kompanieführer, heimlich im Kompaniebüro über Kiplings »Hymne an Mithras« gebrütet hatte; aber während Gwatkin über derartiges literarisches Material als Konsequenz seiner eigenen Besessenheit von dem Zauber des Soldatenlebens meditierte, waren Bithels Grübeleien ganz anderer Art. Bei Bithel führte die Erinnerung an seine frühere Vorliebe für Geschichten über militärische Leistung bloß zu einem sehr natürlichen Erstaunen darüber, dass er selbst in diesem Moment verhältnismäßiger Gefahr keine größere persönliche Furcht hegte.

»Genau genommen erlebte man ja Luftangriffe – geriet man ja unter Beschuss, wenn du so willst – damals, als wir noch ›Boy’s Own Paper‹ lasen. Während des Ersten Weltkriegs, meine ich.«

»Ach, ich nicht«, sagte Bithel. »Die Zeppeline kamen nie in die Nähe eines der Orte, wo wir lebten, als ich ein Kind war. Das ist es ja, warum ich so überrascht war, dass mir das hier nichts mehr ausmacht. Ich bin mehr so der nervöse Typ, weißt du. Ich musste einmal vor Gericht eine Zeugenaussage machen, ein ziemlich widerlicher Fall – hatte nichts mit mir zu tun, Gott sei Dank, ich war nur Zeuge –, und ich dachte, meine Beine sacken unter mir weg. Aber diese Sache, die wir jetzt um uns herum hören, macht mir wirklich keine Sorgen. Der schlimmste Moment ist immer der, wenn der Alarm einsetzt, meinst du nicht auch?«

Das Problem der Furcht stellt sich unausweichlich von Zeit zu Zeit, wenn man sich im Krieg befindet. Wird es zu Situa­tionen kommen, in denen ihre Wirkung auf die Sinne vielleicht unerträglich schwer zu kontrollieren ist? Wie Bithel hatte auch ich ziemlich häufig über dieses Thema nachgedacht. Ich war zu dem sehr vorläufigen Schluss gekommen, dass die Furcht selbst weniger direkt mit der unvermeidlichen Gefahr verbunden ist, als man zunächst annehmen mag; obwohl natürlich diese Gefahr, wenn sie mehr oder weniger unbestimmt in ihrer Antriebskraft zunimmt, vielleicht – nein, ganz gewiss – den Graphen der Furcht steil in die Höhe treiben wird. Nachts im Bett, Monate bevor die Luftangriffe auf unseren Ort begannen, überkam mich manchmal so etwas wie panische Angst, und ich wälzte mich dann in meinem Schlafsack aus keinem anderen Grund hin und her als dem Gefühl, dass das Leben völlig aus den Fugen geraten zu sein schien. Das war ein Zustand nervöser Anspannung – wie ihn Bithel für sich beschrieben hatte –, der sich ganz gewiss auch in Friedenszeiten einstellen konnte und den ich vielleicht damals auch am eigenen Leib erlebt, jetzt aber vergessen hatte, wie so vieles von dieser verlorenen Welt. Zur gleichen Ebene gehörte, dass ich jetzt manchmal wach lag und Qualen vergeblichen sexuellen Verlangens durchlitt, Wolken verderbter Fantasien über meinem Feldbett schwebten, Träumereien der Lüsternheit, besonders hervorgerufen, so schien es, von der abstoßenden militärischen Umgebung. Ja, es war oft nötig, mich daran zu erinnern, dass Niedergeschlagenheit, sorgenvolle Stimmungen und das Gefühl, verfolgt zu werden, nicht notwendigerweise die Folgen des Dienstes in der Armee oder der Tatsache sind, dass man zu einer Nation gehört, die sich im Krieg befindet, obwohl depressive Geisteszustände jetzt automatisch mit diesen in Verbindung gebracht zu werden scheinen.

Der gegenwärtige Luftangriff war, wie Bithel angedeutet hatte, eher spektakulär als alarmierend, ja, hatte sogar jetzt, wo ich völlig wach und angezogen war, eine leicht stimulierende Wirkung, solange ich mich nicht an die Langeweile des für den folgenden Tag angesetzten dreitägigen Manövers erinnerte, das nach einer schlaflosen Nacht durchzustehen sein würde. Andererseits, wenn Bomben nun auf das Spielfeld fielen, würde sich eine solche sorglose Stimmung schnell zum Schlechteren wenden, besonders, wenn das Maschinengewehr einen Treffer abbekäme und uns damit die Chance zu einer Vergeltung genommen wäre. (Man könnte an dieser Stelle vielleicht hinzufügen, dass drei oder vier Jahre später das Gefühl, von Luftangriffen stimuliert zu werden, völlig verpufft war.) Wie auch immer, Bithel verlangte nicht länger einen Kommentar zu seinen eigenen Meditationen über eine ›Feuertaufe‹. Er wandte sich jetzt wieder seinen persönlichen, vorwiegend finanziellen Sorgen zu, um die seine Gedanken sowieso fast immer kreisten.

»Ich hoffe nur, es wird alles in Ordnung gehen mit dem Scheck«, sagte er. »Es fing damit an, dass die Soldabteilung den Frontzuschlag in jenem Monat zu spät auf mein Bankkonto überwiesen hatte.«

Eine solche Situation konnte sich in der Tat von Zeit zu Zeit ergeben. Sie war die Folge des Fehlens methodischen Handelns, möglicherweise auch ausgesprochener Inkompetenz auf Seiten der betreffenden Finanzabteilung des Kriegsministeriums; vielleicht auch zurückzuführen auf die ökonomische Unfähigkeit oder tiefsitzende Boshaftigkeit jener, die Pennistone später »diese Gruppe hochgebildeter Affen« zu nennen pflegte und die letzten Endes im Schatzamt für solche Dinge zuständig waren. Was auch immer der Grund war, die Soldaten mussten gelegentlich auf ihren Sold verzichten, was manchmal zu solchen individuellen Katastrophen wie der Bithels führte.

»Ich sehe sehr wohl, dass es Theater geben wird«, sagte er, »aber mit etwas Glück wird es nicht zu einer Verhandlung vorm Militärgericht kommen.«

Zwei oder drei nicht ganz so laute Detonationen waren der letzten großen Explosion gefolgt. Jetzt ebbte der Lärm ab, und der Umfang des Sperrfeuers reduzierte sich langsam, aber spürbar. Ganz plötzlich schwiegen die Kanonen dann völlig, so wie Hunde in der Nacht, die dich mit ihrem Bellen stundenlang wach gehalten haben, sich plötzlich dazu entschließen, stattdessen lieber einzuschlafen. Ein paar Sekunden lang herrschte absolute Stille. Dann hörte man eine Zeitlang von weither das verzweifelte Scheppern der Glocke eines Feuerwehrautos oder Krankenwagens, bis auch dessen Echos wieder traurig im Wind erstarben. Diesem diskordanten Läuten folgte bald ein großer Lärm: lautes Rufen, das Starten von Lastwagen, Autogehupe »… der Krach von Hupen und Motoren, die im Frühling Sweeney zu Frau Porter bring’ …« Gewaltige Rußflocken, wie riesige, die Nachtluft erkundende Motten, schwebten im Zwielicht dahin. Der Gestank brennenden Gummis ging langsam über in einen Geruch spezifisch chemischen Charakters, in dem Acetylendämpfe vorzuherrschen schienen. Endlich kam das tröstliche, langgezogene Heulen der Entwarnung. Bei ihren ersten Tönen setzte, so als ob er auf diese Weise angekündigt worden sei, in dicken Tropfen der Regen ein. Einige Minuten später hatte sich der Schauer in dichte Ströme verwandelt, und der frische Duft neu benetzten Grases verdrängte bald all die anderen Gerüche.

»Also los, decken Sie das Maschinengewehr zu, Unteroffizier.«

»Sollen wir jetzt hier Schluss machen, Sir?«

»Tun Sie das.«

»Ich glaub, ich geh jetzt auch wieder ins Bett zurück«, sagte Bithel. »Ich bezweifle, dass ich noch viel Schlaf kriege. Ich bin jetzt froh, dass ich meinen Regenmantel mithabe. Ich brauch ihn wirklich mehr als einen Helm. Schreckliches Klima hier drüben. Macht, dass man zu viel von diesem Porter, wie sie das Bier hier nennen, trinkt. Mehr, als man sich leisten kann. Nur, um die Feuchtigkeit aus den Knochen zu halten. Komm mich doch mal in der G-Messe besuchen. Du wirst Barker-Shaw mögen, den Offizier der Feldsicherheitspolizei. Er ist Professor – Philosophie, glaube ich – an einer Uni. Kann mich nicht erinnern, an welcher. Kluges Gesicht. Der Mann, der die Hygieneabteilung kommandiert, ist auch ein kluger Kopf. Du solltest mal hören, wie der den Militärzahnarzt über das Sterilisieren aufzieht.«

Unsere Wege trennten sich jetzt. Unteroffizier Mantle führte seine Männer in die Mannschaftsunterkunft zurück. Ich setzte meine Runde zu den anderen Maschinengewehrstellungen fort, entließ die Leute und machte mich auf den Weg zu meinem Bett.

Die F-Messe lag nur ein paar Minuten zu Fuß von dem letzten Posten entfernt. Sie war in einer Doppelhaushälfte aus rotem Backstein untergebracht, in einer der Villen in einer Seitenstraße, die sich bis hinunter zur Stadtgrenze erstreckte. Wenn man durch die Eingangstür trat, überfiel einen sogleich ein Alptraum an Freudlosigkeit und Verschmutzung, an all der melancholischen Schäbigkeit in ihrer schlechtesten Form, der jedem Nest von Schlafzimmern anhaftet, in dem nur Männer schlafen; ein Gesetz der Natur, das von dem Charakter jeder rein männlichen Behausung erfüllt wird, selbst wenn sie in Gebäuden untergebracht ist, denen wegen ihres Alters oder ihrer historischen Assoziationen eine gewisse Ehrwürdigkeit zukommt. Von solchen Bezügen war das Haus der F-Messe jedoch weit entfernt, zumindest von einer historischen Bedeutung, von der man behaupten konnte, sie sei hier im Entstehen begriffen. Während des Tages konnte man von seinen Fenstern aus jenseits der Vororte graue steinige Hügel, Berge fast, erkennen; in einer anderen Richtung, jener der Hafenanlagen, auf die sich kürzlich die Luftangriffe konzentriert hatten, reckten sich Kräne und Fabrikschornsteine hoch, jenseits von denen ein aus dem Landesinneren kommendes Gewässer sich zum Meer hin verbreiterte – »dem unergründet’, salzig’, uns entfremdend’ Meer«. Etwa eine halbe Meile von der Messe entfernt, aber immer noch zum selben Wohngebiet gehörend, beherbergten zwei oder drei ziemlich hohe Häuser mit Ausnahme der Hilfsdienste das gesamte Divisionshauptquartier. Einige verstreute Universitätsgebäude in der Nachbarschaft vermochten es nicht, der Umgebung auch nur den Hauch einer akademischen Atmosphäre zu vermitteln.

»Es gibt sowieso schon keinen Platz in dieser verdammten Messe«, sagte Biggs, der für den Sport beim Stab zuständige Offizier, zu mir, als ich zum ersten Mal dort eintraf. »Und jetzt kommen auch noch Sie daher, Jenkins, und vergrößern das Gedränge und brauchen einen zusätzlichen Platz an diesem elenden, wackeligen Tisch, den man uns geliefert hat, um daran zu essen, und sind ein weiterer Körper, der die Zinkbadewanne im oberen Stockwerk belegt, die sie Bad nennen – kein Rasieren im Badezimmer, denken Sie daran, absolut verbotten. Was sollen eigentlich Ihre Aufgaben sein bei der Division?«

Als Hauptmann mit den Ordensbändern des Ersten Weltkriegs und kahl wie eine Billardkugel hatte er vielleicht auf eine streng-klassische Weise gut ausgesehen, als er jünger war; jedenfalls war das seine eigene Meinung gewesen. Jetzt aber, mitchronisch geröteten Wangen, setzte erzunehmend Fleisch an, seine große Knollennase lag zwischen scharfen, furchtsamen Augen, und sein Mund mit dem kleinen Amorbogen schnappte dauernd auf und zu wie ein Gummiventil. Die ungewöhnlich stark ausgebildete Muskulatur seines Brustkastens, der Schultern und des Gesäßes gaben ihm die Aura eines ›starken Mannes‹ im Zirkus – einer ›starken Frau‹ fast – oder eines professio­nellen Gewichthebers, der im Begriff ist, der Warteschlange vor einem Theater eine Freilichtvorführung zu geben. Seine Stimme, harsch und unsicher, bezeugte den Verfolgungswahn, der ihn peinigte – jenen in der Armee nicht ungewöhnlichen Zustand, in dem man stets damit rechnet, dass plötzlich ein Vorgesetzter auftaucht – so wie im Märchenspiel der König der Dämonen aus einer Falltür im Fußboden hervorschießt – und etwas an einem auszusetzen hat. Im Zivilleben Sportmanager in einem Seebadeort war Biggs gerade dabei, so hörte ich später, sich von seiner Frau scheiden zu lassen, ein langwieriges, mühseliges und teures Verfahren, über das er sich häufig zu beschweren pflegte.

»Ich gehöre zum Büro des SAGA.«

»Für wie lange?«

»Weiß ich nicht.«

»Wie hat Major Widmerpool das Recht auf einen Assistenten bekommen, möchte ich gerne wissen?«

»Ein Brief vom Kriegsministerium.«

»So, und weiter?«

»Ich soll ihm dabei helfen, Rückstände bei solchen Sachen wie Militärgerichtsverfahren und Requirierungsansprüchen aufzuarbeiten.«

»Ich hab auch jede Menge Rückstände«, sagte Biggs. »’ne verdammt große Menge. Doch mir geben sie keinen Assistenten. Aber ich beneide Sie nicht, Jenkins. Es ist ein Hundeleben. Und vergessen Sie eines nicht, vergessen Sie es ja nicht: Keiner ist ärmer dran in der ganzen Armee als ein Fähnrich. Andere Ränge haben ihre Rechte, die mit nur einem Stern haben keine. Das gilt besonders für das Div. H. Q.; und hinzu kommt, Major Widmerpool ist ein Pedant und will alles ganz genau gemacht haben. Er hatte mich vorher mal auf dem Kieker, kann ich Ihnen sagen, weil meine Vorgehensweise nicht den Bestimmungen entsprechen würde. Er achtet teuflisch auf die Einhaltung der Bestimmungen.«

Danach verlor Biggs das Interesse an diesem Thema, das ja auch wirklich nicht besonders interessant war, außer in dem erwähnten Hinblick darauf, dass überhaupt einen Assistenten bekommen zu haben eine Leistung seitens Widmerpools war, die Respekt verdiente. Niemand außer einem unermüdlichen Erzeuger von Arbeit um ihrer selbst willen hätte eine Hilfskraft für seinen Job für nötig gehalten und, könnte man hinzufügen, im normalen Verlauf der Dinge sie auch zugestanden bekommen, selbst wenn man sie als notwendig erachtet hätte. Widmerpool hatte das geschafft. Zufälligerweise war die Abordnung eines Offiziers niedrigen Ranges an die Einrichtung zusätzlich dadurch in einem gewissen Maße gerechtfertigt, dass kurz vor meiner Ankunft bei der Division Prothero, der den Verteidigungszug kommandierte, vom Motorrad gefallen war und sich das Bein gebrochen hatte. Während er im Krankenhaus lag, wurden mir sowohl seine Pflichten als auch die von Widmerpool an mich delegierten Aufgaben zugeteilt.

»Du wirst sehen, es gibt hier eine Menge Arbeit zu tun«, sagte Widmerpool an meinem ersten Morgen. »Eine ganze Menge. Wir werden an den meisten Tagen bis spät abends dransitzen.«

Diese Warnung stellte sich als berechtigt heraus. Es standen gerade verschiedene Kriegsgerichtsverfahren an; ein weiteres war soeben abgeschlossen worden, aber Widmerpool hielt das Urteil für nicht mit dem Gesetz vereinbar. Ein Soldat, der zeitweise seinen Verstand verloren und zwei Zivilisten angegriffen hatte, war in dem Prozess freigesprochen worden. Widmerpool war wegen dieser Sache in einen komplizierten Briefwechsel mit der Abteilung des obersten Militärrichters verwickelt. Solche Dinge nahmen viel von meiner Zeit in Anspruch, zumal ich den größten Teil der Woche draußen mit militärischen Übungen verbrachte. Obwohl ich ihn im Verlauf der letzten zwanzig Jahre, seit der Zeit, als wir zusammen auf der Schule gewesen waren, hin und wieder – wirklich nur hin und wieder – getroffen hatte, fand ich, dass es jetzt, wo ich unter ihm arbeitete, Seiten an Widmerpool gab, die mir verhältnismäßig unvertraut waren. Die Natur der meisten Menschen, die mit den Augen eines Untergebenen betrachtet werden, wird, von unten besehen, mit schärferem Blick beurteilt. Dieser neue Sichtwinkel eröffnete mir, zum Beispiel, wie schwierig es war, mit ihm zusammenzuarbeiten, und zwar besonders wegen seiner Geheimniskrämerei, die sich aus seiner dauernden Furcht, ja fast Obsession, herleitete, von ihm selbst erledigte Aufgaben könnten jemand anderem zugeschrieben werden. An meinem ersten Morgen bei der Division sprach Widmerpool ausführlich über seine eigenen Methoden. Er saß bereits an seinem Tisch, als ich das Zimmer betrat. Er nahm seine Brille ab und putzte sie heftig. Dabei setzte er eine Miene herzlicher, militärischer Leutseligkeit auf.