Der Klang geheimer Harmonien - Anthony Powell - E-Book

Der Klang geheimer Harmonien E-Book

Anthony Powell

0,0

Beschreibung

Der zwölfbändige Zyklus "Ein Tanz zur Musik der Zeit" —­ aufgrund­ seiner inhaltlichen­ wie formalen Gestaltung immer wieder mit Mar­cel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" verglichen —­ gilt­ als­ das­ Hauptwerk des­ britischen Schriftstellers Anthony Powell und gehört zu den bedeutendsten Romanwerken des 20. Jahrhunderts. Inspiriert von ­dem ­gleichnamigen Bild des französischen Barockmalers Nicolas Poussin, zeichnet der Zyklus ein facettenreiches Bild der englischen Upperclass vom Ende des Ersten Weltkriegs bis in die späten sechziger Jahre. Aus der Perspektive des mit typisch britischem Humor und Understatement ausgestatteten Ich­-Erzählers Jenkins — der durch so­ manche­ biografische­ Parallele­ wie­ Powells­ Alter ­Ego­ anmutet — bietet der "Tanz" eine Fülle von Figuren, Ereignissen, Beobachtungen und Erinnerungen, die einen einzigartigen und auf­schlussreichen Einblick geben in die Gedanken­welt der in England nach wie vor tonangebenden Gesellschaftsschicht mit ihren durchaus merkwürdigen Lebensgewohnheiten.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 433

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis
Titelseite
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7

Anthony Powell

Der Klang geheimer Harmonien

Roman 

Ein Tanz zur Musik der Zeit –Band 12

Aus dem Englischen übersetzt 

von Heinz Feldmann

Elfenbein

Die Originalausgabe erschien 1975unter dem Titel 

»Hearing Secret Harmonies« bei William Heinemann, London.

Band 12 des Romanzyklus »A Dance to the Music of Time«

Hearing Secret Harmonies 

©John Powell and Tristram Powell, 1975

Die Übersetzung dieses Bandes 

wurde mit freundlicher Unterstützung 

der Brougier-Seisser-Cleve-Werhahn-Stiftung ermöglicht.

© 2018 Elfenbein Verlag, Berlin

Einbandgestaltung: Oda Ruthe

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-941184-87-9 (E-Book)

ISBN 978-3-941184-47-3 (Druckausgabe)

1

Die von Süden heranfliegenden Enten ignorierten die vier oder fünf dumpf dröhnenden Explosionen drüben beim Steinbruch. Der obere Teil des im Licht der Abendsonne ganz korallenrosa leuchtenden Kalksteinfelsens, im Vordergrund von dominant rechteckiger Struktur und mit seitlich aufsteigenden stufenartigen Plattformen, projizierte an nebligen Morgen ein verblassendes Trugbild babylonischer Terrassen, die im Dunst über dem Gewässer schweben – der Palast und seine hängenden Gärten in Mr. Deacons »Kyros als Knabe«, im Hintergrund skizziert hinter einer Gruppe vorderasiatischer junger Männer (möglicherweise junger Perser) –, ein Bild, dessen Tiefenwirkung im Schatten der Eingangshalle der Walpole-Wilsons ebenso nebulös erschien. Von dem ausgehöhlten Bett des kleinen Flusses aus war das ganze Ausmaß des Steinbruchs nicht zu überblicken, ausgenommen der kaum sichtbare Gipfel des Steilhangs einer Schutthalde, der sich hochschob zu den bergigen Verklumpungen schwebender Watte am Horizont, zu den Verdichtungen weißer Wolken, hier und da perforiert von sich öffnenden und wieder schließenden Lücken aus zartestem blauen Licht. Es war ein warmer, windiger Nachmittag. Das Gewitter am Mittag hatte keinen Regen gebracht. Die eine Wiederkehr des Unwetters vortäuschenden Sprengungen rührten die schwach schwelende Erinnerungsglut der Kriegszeit auf und riefen, zusammen mit den Enten, Gedanken an einen Streit zwischen General Bobrowski und General Philidor über das Schießen von Wildvögeln wach. Die von den Vögeln eingenommene (und von dem Polen und dem Franzosen mit heftigen Gesten imitierte) Winkelformation war jetzt deutlich zu erkennen, während sich der Schwarm zielgerichtet und fast vertikal nach unten drehte und sich zwischen dem Schilf und den Seerosen am hinteren Ende des Teiches niederließ. Zwei Rauchsäulen stiegen über einer Gruppe blauschwarzer Bäume auf, die dicht zusammengedrängt jenseits des verstaubten Wassers stand und schiefergraue Diagonalen über die Decke aus pulverigem Splitt kritzelte, die träge und durchsichtig über der abgeschirmten Abbaustelle hing. Metallische Gerüche, ähnlich denen in einem Laboratorium, wehten aus einer westlichen Richtung herunter und überlagerten die aus der Nähe kommende Witterung von Füchsen.

»Hier ist einer«, sagte Isobel. »Zumindest überlegt er sich die Sache.«

Wir hatten bereits die Erdspalten weiter unten am Bach abgesucht und schon fast die Hoffnung aufgegeben. Ein einzelner Flusskrebs tauchte von unter den Steinen auf, und ihm folgten unmittelbar zwei weitere. Endlich hatten wir Glück. Die drei Flusskrebse, schwärzliche Miniaturhummer von makaber wissendemVerhalten, warteten in einem Schlammbecken unter der Oberfläche zögernd ab. Die Entscheidung übernahm dann der als Zweiter aufgetauchte Flusskrebs. Er ging mit aufgeregter Selbstgefälligkeit voran, geschäftig gefolgt von den beiden anderen. Alle drei klammerten sich an gegenüberliegenden Sei­ten des äußeren Rahmens des Eisenrings, der das runde Drahtnetz der Falle hielt, die am Rand des Gewässers unter der Oberfläche hing. Dann schossen sie im gleichen Moment über die Netzfläche auf den Leckerbissen aus Schmeißfliegenfleisch zu, der in der Mitte befestigt war.

»Möchtest du die Schnur halten, Fiona?«, fragte Isobel. »War­te eine Sekunde. Ein vierter ist gerade dazugekommen.«

»Geben Sie sie mir.«

Der dunkelhaarige junge Mann sagte das in einem bestimmenden Ton. Er war uns als Scorpio Murtlock vorgestellt worden, und es war offensichtlich, dass er von den drei anderen als Chef anerkannt wurde. Da Fiona keinen Versuch unternahm, entweder als Frau oder als unsere Nichte auf ihrem Vorrecht zu bestehen, händigte Isobel ihm das Stück Band aus, an dem die Falle hing. Sein schon bei der Ankunft erkennbarer Status bedurfte einiger Beobachtung, um voll erfasst zu werden. Es war schwer einzuschätzen, wie alt er war. Er mochte jünger sein als Barnabas Henderson, der andere junge Mann, den ich für Ende zwanzig hielt. Fiona selbst war einundzwanzig, soweit ich mich erinnerte. Die Frau, die uns als Rusty vorgestellt worden war (ein Nachname wurde nicht genannt), sah aus wie eine ramponierte Neunzehnjährige. Ich war erleichtert, dass sich die Flusskrebse als real existierend erwiesen hatten, nicht als eine verrückte Einbildung, sofort erkennbar als eines jener typischen Produkte bejahrter Fantasie, die alte Leute einem aufzutischen pflegten, als ich selbst noch jung war. Vier Flusskrebse hatten sich unbestreitbar gezeigt, ob sie gefangen wurden oder nicht, war kaum von Wichtigkeit. Die Situation war durch das, was bereits vorher gesagt worden war, sowieso schon auf eine höhere Ebene als die eines bloßen Sportereignisses gehoben. Diese höhere Bedeutung musste ebenfalls in Betracht gezogen werden.

»Man muss die Falle behutsam hochziehen, sonst hauen sie wieder ab«, sagte Isobel. »Die Frustrationen in ›Der alte Mann und das Meer‹ sind nichts dagegen.«

Murtlock, der immer noch das Band hielt, wickelte die drei­viertellange bläuliche Robe, die er trug, um sich, eine Art Kittel oder Kaftan, für Aktivitäten auf dem Land nicht allzu gut geeignet. Er kniete sich am Ufer nieder und strich sich eine Handvoll seines ungepflegten schwarzen Haares aus den Augen. Dann beugte er sich weit nach unten, um die Krus­tentiere zu inspizieren. Irgendwie ließ diese Haltung an einen Priester denken, der mit den religiösen Verrichtungen eines verborgenen Glaubens beschäftigt ist. Er war von kleiner, aber eindrucksvoller Statur. Das glänzende Amulett mit der eingeprägten Hieroglyphe, das von seinem Hals an einer Perlenkette herabhing, klatschte ins Wasser. Er ließ es eine Se­kunde lang unter der Oberfläche, während er in die Tiefe starrte. Dann, nachdem er gewartet hatte, bis sich auch der vierte Flusskrebs völlig dem verwesenden Snack hingab, hob er vorsichtig, wie ihm gesagt worden war, den Eisenring aus dem Wasser und nach oben, wo er zwischen den Kieselsteinen und dem Unkraut unter dem Ufervorsprung zu liegen kam.

»Den Eimer, Barnabas – die Handschuhe, eine von euch.«

Der Befehl war in einem strengen Ton gegeben, wie jedes Geheiß Murtlocks. Barnabas brachte umständlich den Eimer. Fiona hielt ihm die Gartenhandschuhe hin. Rusty, die gequält in sich hineingrinste, wand ihren Körper in wellenartigen Be­wegungen und summte. Murtlock ergriff einen Handschuh. Nachdem er ihn, ohne die Falle abzusetzen, die inzwischen auf seinen ornatähnlichen Kittel tropfte, geschickt über seine Finger gestreift hatte, nahm er die vier Flusskrebse einen nach dem anderen aus dem Netz und legte sie in den Eimer, der bereits zu einem Viertel mit Wasser gefüllt war. Er tat das mit geschickten, rituellen Gesten. Er hatte alles völlig unter Kontrolle.

Diese Gabe der Autorität, seine Fähigkeit, Menschen zu führen, war eine seiner charakteristischen Eigenschaften, die mir schon aus früheren Berichten über ihn bekannt waren. Anfangs hatte mich seine äußere Erscheinung, die nichts als zeitgenössisches romantisches Vagabundentum suggerierte, an diesem Ruf zweifeln lassen. Jetzt sah ich, dass zumindest einiges von dem, was ich gehört hatte, stimmte; dass der vagabundenhafte Stil die Fähigkeit einschließen konnte, seine Gefährten – namentlich Fiona – wie auch Flusskrebse und Pferde zu beherrschen. Die letztere Fertigkeit hatte er demonstriert, als die Gruppe im Verlauf des Morgens in einem kleinen, von Pferden gezogenen Wohnwagen angekommen war. Murtlocks eher durchschnittliche Bizarrheit hatte zweifellos etwas deutlich Priesterliches an sich, ein Eindruck, der sich unabhängig von dem Kniefall an dem Rand des Gewässers aufdrängte. Er hatte aber auch eine entschieden unpriesterliche Seite – eine Seite, die zweifelhaftes, wenn nicht ausgesprochen kriminelles Verhalten vermuten ließ. Auch dieser Aspekt war mit einer Art Fanatismus verbunden. Nach den Geschichten über ihn hatte ich solche besonderen Kennzeichen schon mehr oder weniger erwartet. Ein Novize in einem Kloster von Räubermönchen – das wäre vielleicht eine nicht allzu übertriebene Charakterisierung. Seinen Augen, blass, kalt, mit star­rem Blick, konnte man nicht einen gewissen Grad von Mag­netismus absprechen.

Barnabas Henderson war ein ganz anderer Fall. Er trug eine ähnlich blaue Robe, allerdings um eine Schattierung mehr ultramarin. Auch an seinem Hals hing ein münzähnlicher Ge­genstand. Sein Haar ging in Locken bis auf seine Schulter hinunter; hinzu kam der Schnurrbart eines chinesischen Zauberers. Seine große, quadratische Brille war aus gelbem Plastik. Die Kombination von Schnurrbart und Brille erzeugte eine Wirkung, die der jener einteiligen Pappvorrichtungen glich, die man in Spielwarengeschäften kaufen kann und bei denen Schnurrbart und Brille durch eine falsche Nase zusammengehalten werden. Das war nicht fair. Henderson war kein schlechtaussehender junger Mann, wenn ihm auch Murtlocks verwegene Grundhaltung und taktile Kompetenz abgingen. Hen­dersons nicht weniger eklektisch gewählte Kleidung war neuer, eine Spur sauberer, weniger überzeugend ein Teil seiner selbst. Murtlock war eindeutig der Star der Gattung und war zu Recht als gutaussehend angekündigt worden. Hendersons mil­dere Gesichtszüge hatten eine leicht schüchterne Unsicherheit behalten, seine Persönlichkeit schien, im Gegensatz zu der Murtlocks, von Natur aus nicht geeignet für die offensichtlich beabsichtigte Lebensführung. Es wurde behauptet, er habe eine vielversprechende Karriere als Kunsthändler aufgegeben, um diese weniger eingeschränkte Art zu leben zu ver­folgen. Vielleicht war das eine falsche Einschätzung und das neue Leben ihm begehrenswerter, weil es eher zusätzliche als weniger Beschränkungen mit sich brachte. Man konnte kaum bezweifeln, dass Henderson der Besitzer des gelb gestrichenen Wohnwagens war, dessen Holzwerk sich in einem Verfallszustand befand, der aber von zwei kräftigen Grauschimmeln gezogen wurde.

Auch die Frauen waren vorwiegend in Blau gekleidet. Rusty, die das Fluidum einer jungen Prostituierten umgab, hat­te dichtes, kurzgeschnittenes dunkelrotes Haar und tiefliegende, schimmernde Augen. Das waren ihre Pluspunkte. Sie war hochgewachsen, hatte eine blassgelbe Haut, große, gro­be Hände und vorstehende Schlüsselbeine. Da sie seit ihrer Ankunft kein einziges Wort gesagt, sondern nur hin und wieder gesummt hatte, konnte man sie nur nach ihrem Äußeren beurteilen, das zweifellos auf extensive sexuelle Erfahrung schließen ließ.

Fiona, die Tochter von Isobels Schwester Susan und Roddy Cutts, war eine hübsche Frau (»Fiona besitzt so etwas wie Glamour«, hatte ihr direkter Cousin Jeremy Warminster gesagt.) Sie war klein und hellhäutig und hatte kindliche Gesichtszüge und das aschblonde Haar ihres Vaters. In sonstiger Hinsicht ähnelte sie eher ihrer Mutter, ohne allerdings deren Hochgestimmtheit (ein Vorteil während der gesamten politischen, jetzt zu einem Ende gekommenen Karriere ihres Mannes) zu besitzen, die sich bei Susan immer einstellte, sobald eine Zusammenkunft von Menschen sich zu einer Party zu entwickeln versprach. Susan Cutts’ gelegentliche Anfälle von Melancholie schienen in letzter Zeit in Form eines tiefsitzenden Trübsinns auf ihre Tochter übergegangen zu sein und in Fiona den Platz ihrer früheren Neigung, den Wildfang zu geben, eingenommen zu haben.

Den Oberkörper der beiden Frauen bekleidete ein T-Shirt, das mit einem einzigen Wort beschriftet war: HARMONIE. Rusty trug Jeans, Fiona einen langen Rock, der bis zum Boden reichte. Seine Rüschen über das feuchte Gras schleifend ähnelte sie einer mittelalterlichen Dame aus der Rubrik eines illuminierten Stundenbuches, einer Prinzessin aus lange vergangener Zeit, die einer jetzt obsoleten Beschäftigung nachging. Die Erscheinung schien den Zusatz eines Schleiers und eines Hennins zu verlangen. Dieses mittelalterliche Fluidum Fionas mochte eine Rolle dabei gespielt haben, dass ich Murtlock als missratenen Knabenmönch typisierte. Die Rollen Rustys und Hendersons waren, wenn man sie ebenfalls für skurrile Gestalten in einem Tennyson’schen Mittelalter hielt, weniger genau zu bestimmen – Rusty vielleicht die als Page verkleidete entlaufene Geliebte eines treulosen Ritters und Henderson ein erfolgloser Troubadour, der seine Laute verlegt hat. Diesem reinen Fantasiegebilde stand auch das Motto nicht völlig entgegen, das jede der Frauen auf der Brust trug – ein in Worte gefasster launiger Hinweis, der sehr wohl in der Rubrik einer mittelalterlichen Handschrift vorkommen mochte, als Inschrift auf einem Banner oder dem Schild einer kleinen Figur am Rand. Alle vier waren barfuß und hatten sich – eine weitere mittelalterliche Komponente – lange ihre Füße nicht gewaschen.

Fiona (deren Geburt an die Aussöhnung ihrer Eltern nach Roddy Cutts’ fehlgeschlagenem Abenteuer mit der Kodierungsspezialistin während seines Kriegsdienstes in Persien erinnerte) hatte seit ihrer frühesten Jugend eine ziemliche Menge Ärger bereitet. Darin bildete sie einen völligen Kontrast zu ihren beiden älteren Brüdern: Jonathan – verheiratet, mehrere Kinder, schnell aufgestiegen in einer gefeierten Firma von Auktionatoren für die bildenden Künste; Sebastian – noch unverheiratet, stark süchtig nach Freundinnen, doch nicht weniger ambitioniert als sein Bruder, »im Computer-Geschäft«. Beide Söhne der Cutts waren, in der Manier ihres Vaters, unermüdlich in ihrem Drang, Gespräche zu führen, nicht zu stoppen, informativ, scharfsinnig auf den Gebieten ihrer jeweiligen Jobs. Fiona, die aus mehreren Schulen weggelaufen, zudem von mindestens einer verwiesen worden war, hatte ihren Status als schwierigen Fall dadurch verfestigt, dass sie, als sie sich mit vierzehn oder fünfzehn im Ausland aufhielt, an Typhus erkrankte und durch ihren Zustand jeden in große Aufregung versetzte. Ihr Verzicht auf ungestüme Formen der Rebellion zugunsten einer melancholischen Opposition datierte von einer unglücklichen Beziehung zu einem gutaussehenden, gutmütigen, aber verheirateten und nicht besonders jungen Elektriker. Seitdem war nichts mehr wirklich gut verlaufen. Fionas schulische Auszeiten hatten ihre Bildung nicht ausreichend beeinträchtigt, um sie daran zu hindern, ihren Lebensunterhalt in den journalistischen Außenbezirken der Hochglanzmagazine zu verdienen.

Niemand schien zu wissen, wo genau Fiona Scorpio Murtlock kennengelernt hatte und von welcher Natur eigentlich diese ihre allerneueste Beziehung war. Es wurde – zumindest von ihren Eltern – angenommen, dass sie Kohabitation einschließe. Ihr Onkel, Isobels Bruder Hugo Tolland, bezweifelte das. Hugos Meinungen zu dieser Art von Themen waren oft weniger als verlässlich, denn seine Neigung zur Übertreibung war der Akkuratesse abträglich, die stets interessanter ist als das Erfundene. In diesem Fall aber, wo Hugo sich mit der Begründung, dass, wenn Murtlock überhaupt an Sex interessiert sei, er den mit Gleichgeschlechtlichen vorziehe, für eine skeptische Haltung entschieden hatte, war seine Ansicht be­denkenswert. Wie Murtlock lebte, schien ebenso wenig er­fahrbar zu sein wie seine sexuellen Neigungen. Die Cutts, Roddy und Susan, waren stets sehr ›verständnisvoll‹ gegenüber den Capricen ihrer Tochter gewesen; sie blieben es auch weiterhin und akzeptierten das Regime Murtlock mit gewohnter Resignation.

Das Mitglied der Familie, das am ehesten in der Lage war, mit so etwas wie verlässlichem Wissen über Fiona und ihre Freunde zu sprechen, war Isobels unverheiratete Schwester Blanche Tolland, die es auch gewesen war, die uns angerufen und gefragt hatte, ob wir bereit seien, einem kleinen Wohnwagen, dessen letztliches Ziel sie nicht näher spezifizierte, für eine Nacht auf unserer Wiese Quartier zu gewähren. Blanches unbeschwerte, ehrgeizlose Natur, die in früherer Zeit der Anlass gewesen war, sie – nicht ganz ohne Grund – für ziemlich verschroben zu halten, hatte ihr in der letzten Zeit einen gewissen Status im Umgang mit einer Generation verliehen, die beträchtlich jünger war als ihre eigene, wobei Blanches zurückhaltende Persönlichkeit als diplomatische Kontaktstelle diente, als eine Art Agentur, über die beide Seiten ohne Vorurteil oder Gesichtsverlust über Verhaltensweisen verhandeln konnten. Diese Gutmütigkeit hatte, zusammen mit einer tiefsitzenden Neigung, Mühen unter oft misslichen Umständen auf sich zu nehmen, zu einer Beschäftigung in einem Tierasyl geführt, einem Job, den sie nun schon seit langem innehatte.

»Blanche begegnet den Tieren unter deren eigenen Bedingungen«, sagte ihre gleichfalls unverheiratete Schwester Norah. »Den jungen Leuten ebenso. In Wirklichkeit führt sie ein Asyl für beide Gruppen.«

»Meinst du damit, dass die jungen Leute Blanche als ein Tier sehen oder als eine andere junge Person?«, fragte ihr Bruder.

»Was von beidem vermutest du, Hugo?«, entgegnete Norah scharf. »Es stimmt, dich könnten sie leicht mit einem Affen verwechseln.«

Hugo, seit dem Tod seines Partners Sam eine eher traurige Gestalt, gelang es immer noch, eine Stimmung in Norah zu entfachen, die sie zu der Bemerkung veranlasste, dass »er nie in der zeitgenössischen Welt einen Platz für sich finden« werde. Aber man konnte Hugos Karriere, jetzt, wo er auf sich allein gestellt war und härter denn je in seinem Antiquitätengeschäft arbeitete, im Allgemeinen sehr wohl als nicht weniger zeitgenössisch ansehen als die irgendeines anderen Menschen. Was die meisten Mitglieder der Familie anging, war Sam, der, wie gesagt wurde, sein Leben als Seemann begonnen hatte, bis zu seinem Ende (wie Rusty) ohne Nachnamen geblieben. Es war während dieses Wortwechsels in Norahs Wohnung im Stadtteil Battersea, dass ich zum ersten Mal den Namen Scorpio Murtlock gehört hatte.

»Blanche sagt, dass Fiona unter dem Einfluss dieses neuen jungen Mannes Scorp Murtlock ein neues Leben angefangen habe. Nüchtern, ehrlich, ein Frühaufsteher, nicht zu reden von den Meditationen. Keine Spur von Drogen. Es handelt sich um eine Art Sekte. Religiös fast. Harmonie ist das große Ding. Sie haben eine besondere Grußformel, die sie untereinander verwenden. Ich kann mich nicht an die genauen Worte erinnern. Ganz schön eindrucksvoll. Sie waschen sich nicht oft, aber andererseits hat keiner aus der Familie Cutts je viel vom Waschen gehalten.«

»Wie kommt es, dass er auf den Namen Scorp getauft wurde?«, fragte ich.

»Die Kurzform von Skorpion, seinem Tierkreiszeichen.«

»Wie ist er so?«

»Blanche sagt, attraktiv, aber ein wenig unheimlich.«

An diesem Punkt bewies Hugo unerwartete Kenntnisse.

»Ich wusste nicht, dass Scorpio Murtlock Fionas Neuester ist. Ich bin ihm persönlich nie begegnet, aber ich hab vor Jahren von ihm gehört, als er im Antiquitätengeschäft tätig war. Zwei andere Antiquitätenhändler sagten mir, sie hätten einen sehr charmanten jungen Assistenten eingestellt.«

Norah war nicht bereit, Hugo das Murtlock-Feld völlig zu überlassen.

»Blanche sagt, er habe auch eine gruselige Seite.«

»Man kann gruselig und attraktiv sein. Es gibt verschiedene Formen von Gruseligkeit, genauso wie es auch verschiedene Formen von Attraktivität gibt.«

»Die Antiquitätenhändler waren vermutlich schwul?«

»Und wenn schon, das ist nicht der springende Punkt. Murtlock machte sich äußerst nützlich in dem Geschäft – das von Gartenmöbeln bis zu Oldtimern reichte –, so nützlich, dass die Besitzer selbst plötzlich kaum noch bestimmten, was gemacht wurde. Murtlock war dabei, sie langsam, aber sicher hinauszudrängen.«

»Blieb ihre Leidenschaft unbefriedigt?«

»Ich bin mir nicht sicher.«

»Sieht dir gar nicht ähnlich, Hugo, dir in solchen Dingen nicht sicher zu sein.«

»Einer von ihnen deutete an, er hätte was erreicht. Das war nicht der eher Nervöse von den beiden. Der Nervöse beschwerte sich, er habe begonnen, sich wie behext zu fühlen. Das waren seine eigenen Worte. Der Nichtnervöse sagte nach einiger Zeit auch, Murtlock habe etwas Unbehagliches an sich. Während sie sich noch fragten, wie sie ihr Problem am besten lösen könnten, kündigte Murtlock. Er hatte jemanden gefunden, den in die Mache zu nehmen sich mehr lohnte. Sein neuer Patron – ein Mann von einem gewissen Alter, noch älter als man selbst, wenn das vorstellbar ist – war offensichtlich mehr interessiert an dem, was Blanchie Murtlocks unheimliche Seite nennt, als an seinem Sex-Appeal. Sie haben sich bei irgend­einem Geschäftsabschluss kennengelernt.«

»Murtlock klingt nicht wie ein besonders wünschenswerter Freund für Fiona.«

»Blanche sagt, er bringe sie dazu, sich anständig aufzuführen.«

»Dennoch.«

»Susan und Roddy sind dankbar für jeden kleinen Lichtblick.«

»Sich sportlich bewegen, Meditation, kein Alkohol – das klingt nach einem ziemlich großen Lichtblick.«

»Für mich klingt das wie das gute alte einfache Leben«, sagte Hugo. »Dennoch, es ist ja schon ein Trost, dass man mit seinem Fuß nicht mehr in die Nadel einer Spritze tritt, wenn man demnächst in Blanchies Häuschen ist.«

»Du sprichst immer über deine Neffen und Nichten, wie Tante Molly über dich zu sprechen pflegte«, sagte Norah.

»Und über dich, meine liebe Norah, und über dich. Denk doch mal daran, wie Tante Molly immer über dich und Eleanor Walpole-Wilson herzog. Aber du hast ganz Recht, ich bin wie Tante Molly geworden. Ich hab das schon selbst gemerkt. Das Alter hätte mich in etwas weit Schlimmeres verändern können. Jeder hat sie gemocht. Ich schmeichle mir, dass ich in vielem so bin, wie sie gewesen wäre, wenn sie nicht geheiratet hätte.«

»Ich werde einen Schreikrampf kriegen, Hugo, wenn du so über die arme Eleanor sprichst.«

Die Norah-Tolland-Eleanor-Walpole-Wilson-Ménage war nach dem Krieg nicht wiederbelebt worden. Ihre Wege hatten sich, obwohl sie Freundinnen blieben, getrennt. Norah, die nie zufriedener war als im Krieg während ihrer Jahre als Fahrerin in einem der weiblichen Dienste, hatte einen Job in einer kleinen Autoverleihfirma angenommen, wo sie weiterhin eine Schirmmütze und eine khakifarbene Uniform trug. Später erhielt sie einen der Direktorenposten der Firma, die sich beträchtlich vergrößert hatte. Norah stand aber immer noch als Fahrerin zur Verfügung, besonders wenn ein langer Trip zum europäischen Festland anstand. Eleanor Walpole-Wilson ihrerseits hatte sich einen Sitz im Stadtbezirksparlament gesichert und war ganz in der Lokalpolitik aufgegangen. In späteren Jahren hatte sie eine enge Beziehung mit einer schwedischen Ärztin begonnen. Während sie bei dieser Freundin in Stockholm weilte, war sie erkrankt und gestorben. Neben einer kleinen Erbschaft hatte sie Norah zwei cholerische Möpse hinterlassen. Dieses Paar spürte, dass über ihre frühere Herrin gesprochen wurde, und begann nun, in der Wohnung hin und her zu laufen, herumzuschnüffeln und zu bellen.

»Oh, haltet die Klappe, Möpse«, sagte Norah.

Das in seinem Umfang begrenzte Lob, das Scorpio Murtlock dafür zuteilwurde, dass er Fiona Grenzen setzte, durfte, wenn es berechtigt war, nicht so einfach abgetan werden. Es wurde von Blanche wiederholt, als sie wegen der Wohnwagen­gruppe anrief. Nie besonders geschickt darin, etwas mit Worten plastisch zu beschreiben, konnte sie uns nicht viel an zusätzlichen Informationen über Murtlock vermitteln, und außer ihrem Namen wusste sie auch nichts über die Frau, Rusty. Bar­nabas Henderson dagegen besaß gewisse konventionelle As­pekte, namentlich, dass sein Vater im Krieg gefallen war und ihm genug Geld hinterlassen hatte, um sich eine Beteiligung an einer kleinen Firma zu kaufen, die mit Bildern handelte – ein kommerzielles Unternehmen, das er aufgegeben hatte, um Murtlock in die Wildnis zu folgen.

Blanches Versicherung, die Gruppe zeichne sich durch eine relative Kargheit aus – durch das, was Hugo »das gute alte einfache Leben« nannte –, wurde in gewisser Weise bei der Ankunft Fionas und ihrer Freunde dadurch bestätigt, dass sie jedes Angebot an Speisen und Getränken zurückwiesen. Nachdem wir ihnen einen Lagerplatz unter einigen Bäumen auf der von dem Haus abgelegenen Seite der Wiese zugeteilt hatten, machten sie sich sogleich an verschiedene kleinere Aufgaben im Zusammenhang mit dem Aufstellen des Wohnwagens und dem Anpflocken der Pferde. Wie sie sie ausführten, schien die strengen Verhaltensmaßstäbe erkennbar zu machen, die ihnen zugeschrieben wurden. Als Isobel und ich am frühen Nachmittag zu ihnen gingen, um zu sehen, wie sie zurechtkamen, hatten sie diese Verrichtungen erledigt. Frühere Verhandlungen darüber, wo der Wohnwagen seinen Platz haben sollte, waren mit Fiona geführt worden, während Murtlock mit verschränkten Armen schweigend dabeistand. Jetzt ließ er mehr Zeichen erkennen, dass er sich als die starke Persönlichkeit erweisen würde, als die er angekündigt worden war.

»Gibt es irgendetwas, das ihr alle gerne tun möchtet?«

Die Frage war an Fiona gerichtet. Murtlock übernahm es, sie zu beantworten.

»Es ist zu spät im Jahr, um übers Feuer zu springen.«

Er sagte das in einem nachdenklichen Ton, ohne eine Spur von Scherzhaftigkeit. Das war augenscheinlich die Haltung, die Blanche als ein wenig unheimlich bezeichnet hatte. Da wir damit einverstanden gewesen waren, dass sie den Wohnwagen bei uns aufstellten, gab es keinen Grund, dass sie, wenn alles in einem gewissen Rahmen blieb, nicht Beltane, das keltische Fest des Sommeranfangs, zelebrieren sollten, oder an was auch immer er dachte.

»Wir könnten ein großes offenes Feuer anzünden.«

»Zu nah an der Sommersonnenwende.«

»Etwas anderes also?«

»Ein Opfer.«

»Welcher Art?«

»Eines in Harmonie.«

»Wie Fionas T-Shirt?«

»Ja.«

Er lachte nicht. Er lächelte nicht einmal. Diese Bejahung verhinderte irgendwie jeden weiteren, in einem frivolen Ton geführten Kommentar, erzwang das Einverständnis, die Dinge nicht leichtfertig zu behandeln, auch Fionas T-Shirt nicht. Ich war mir allerdings nicht sicher, ob er mich nicht einfach aufziehen wolle. Auf den ersten Blick schien das wahrscheinlicher als diese vorgebliche Ernsthaftigkeit. Dennoch, eine gewisse Unsicherheit blieb; die Ambivalenz seines Verhaltens gab mir Rätsel auf. Das war zweifellos beabsichtigt; es ist dies schließlich eine wohlvertraute Methode, eine Art Vormachtstellung zu eta­blieren. Gegen das erklärte Ziel an sich – dass sich die Dinge in Harmonie befinden sollten – war kaum etwas einzuwenden. Es stützte die Behauptung, dass Fionas neueste Gruppe von Freunden strenge moralische Werte der einen oder anderen Art vertrat. Wie am besten eine von Harmonie geprägte Handlung zu erreichen sei, war eine andere Sache.

»Harmonie ist nicht einfach zu definieren.«

»Harmonie ist Macht – Macht ist Harmonie.«

»So sehen Sie die Dinge also?«

»So ist es, wie die Dinge sind.«

Er lächelte. Wenn Murtlock lächelte, zeigte sich sein Charme. Er war wieder ein Junge, der einen Witz machte, nicht ein fanatischer junger Mystiker. Allerdings handelte es sich bei ihm um einen Jungen, vor dem man besser auf der Hut war.

»Wie bringen wir an einem Samstagnachmittag eine Handlung zustande, die von Harmonie geprägt ist?«

»Durch die Elemente.«

»Welche Elemente?«

»Feuer, Luft, Erde, Wasser.«

Es war eine dumme Frage gewesen. Er lächelte wieder. Wir besprachen verschiedene Möglichkeiten, keine von ihnen besonders faszinierend. Die drei anderen hatten dabeigestanden. Murtlock schien sie in bloße Schatten seiner selbst verwandelt zu haben.

»Gibt es Wasser hier in der Nähe? Ich nehme es an. Es fühlt sich hier nach Wasser an.«

»Ein ziemlich großer Teich, gut zu Fuß zu erreichen.«

»Wir könnten ein Wasseropfer darbringen.«

»Jemanden ertränken?«

Er gab keine Antwort.

»Wir könnten dort Flusskrebse fangen«, sagte Isobel.

Da Improvisationen zur kurzfristigen Beschaffung der für diesen Sport notwendigen Ausrüstung relativ beschwerlich sein würden, deutete Isobels Vorschlag darauf hin, dass auch sie von Murtlocks Zau­ber nicht völlig unbeeinflusst geblieben war.

»Die Flusskrebse sind in dem Teich?«

»In den Tümpeln, die der Bach bildet, der aus ihm herausfließt.«

Er dachte nach.

»Man kann es nicht eigentlich einen Sport nennen, bei dem Blut vergossen wird.«

Ich weiß nicht, warum ich es für notwendig hielt, diese Einschränkung anzuführen – außer, dass man Voreingenommenheit gegenüber Sportarten, bei denen Tierblut fließt, leicht mit einer Weltanschauung in Verbindung bringt, die man bei Menschen erwartet, die sich in dem besonderen Stil Murtlocks und seiner Freunde kleiden. Falls ich aufgefordert worden wäre, den Kommentar zu begründen, wäre das mein Vorwand gewesen. Aggressive Handlungen gegenüber Flusskrebsen konnten vielleicht bei einem Nachmittagsprogramm, das sich der Harmonie widmen wollte, von vornherein ausgeschlossen werden. Wer vermochte das zu sagen? Harmonie sei auch Macht, hatte er gesagt. Macht würde über die Flusskrebse ausgeübt werden, falls sie gefangen wurden, aber möglicherweise die falsche Art von Macht. Er gab vor, vor einem Rätsel zu stehen.

»Sie meinen, dass es ohne Blut kein Vehikel für den Geist gibt?«

»Ich meine, dass Sie vielleicht das Töten nicht mögen.«

»Ich töte nicht, wenn ich nicht getötet werde.«

Er schien sich darüber zu freuen, eine Gelegenheit zu haben, diese Erklärung abzugeben – eine gnomische, zumindest. Sie klang wie das Apophthegma einer Berühmtheit der Sekte, der sie alle angehörten, klang wie die vertrauten Worte von den ›Abkürzungen zum Unendlichen‹, der ›Weisheit des Ostens‹, der ›Analecta der Weisen‹. Sie schien mir auch kürzlich irgendwo begegnet zu sein. Hatte ich sie nicht vor gar nicht langer Zeit gelesen? Der Standpunkt Murtlocks, seine Dominanz über Fiona und die anderen, wurde mir in gewissem Sinne ein wenig verständlicher, wenn er auch in vielen anderen Hinsichten obskur blieb.

»Ich glaub nicht, dass wir getötet werden. Der Tod als Folge des Flusskrebsfischens ist relativ selten.«

»Sie sprachen nicht vom Tod, sondern vom Töten.«

»Führt nicht das Letztere zwangsläufig zum Ersteren?«

»Es gibt das Töten – der Tod ist eine Illusion.«

Das führte bei der Entscheidung, wie der Nachmittag verbracht werden sollte, nicht weiter.

»Die Frage ist, ob Sie das Töten von Flusskrebsen als in der Harmonie betrachten würden.«

Sein Lächeln gab mir wieder das Gefühl, dass eher ich als er es sei, der töricht war.

»Töten steht nicht immer der Harmonie entgegen.«

»Lassen Sie uns dann Flusskrebse töten.«

Seltsamerweise gelang es ihm, nicht eigentlich unhöflich oder auch nur peinlich zu wirken, wenn er so etwas sagte. Es grenzte stets an einen Witz, doch an einen Witz, der nicht ganz zustande kam. Zumindest lachte man nicht. Man nahm einfach so hin, was er sagte, mochte es nun unverständlich sein oder nicht. Ich fragte mich, ob ich – wenn nicht eine Spanne von etwa vierzig Jahren zwischen uns läge – als Gleichaltriger ein Freund von Scorpio Murtlock hätte gewesen sein können. Die Anzeichen ließen das bestenfalls bezweifeln. Diese negative Vermutung war nicht beeinflusst von seiner mystischen und herrischen Art zu sprechen, und noch weniger von dem Stil seiner Kleidung. Beides wäre vielleicht in diesem Alter von mir bei einem Gleichaltrigen akzeptiert worden. Die Moden einer Generation, seien es die moralischen oder die physischen, können von einer anderen sowieso kaum beurteilt werden. Man kann sie nicht angemessen gleichsetzen. Insofern als sie gleichgesetzt werden konnten, waren die Hindernisse, die einem guten Verhältnis zu Murtlock entgegenstanden, unerheblich.

Der Widerwille gegen ihn, wenn es denn ein Widerwille war, rührte von dem Gefühl her, dass er etwas Bedrohliches mit sich bringe. Er wäre auch bedrohlich – vielleicht sogar bedrohlicher – in dem formellen Anzug eines Bankbeamten gewesen; seine bedrohliche Seite wurde eindeutig durch seine blaue Robe abgeschwächt. Seine liturgische, enigmatische Sprechweise war auch bewusst hart und unkultiviert. Wenn sie es nicht vergaßen, wurde diese Härte von Fiona und Henderson imitiert. Rusty sagte nie etwas. Ohne Zweifel war Murtlocks Anziehungskraft hauptsächlich diesem Bedrohlichen geschuldet, einer Eigenschaft, die sexuell verführerischer ist als gutes Aussehen, spektakuläre Kleidung, Autos usw., selbst als moralisierende Bemerkungen. Damit, dass sie jemand anderem ohne irgendein Zeichen des Widerspruchs oder der passiven Missbilligung erlaubte, das Heft in der Hand zu haben, bewies Fiona eine völlig uncharakteristische Fügsamkeit. Man konnte annehmen, dass sie und Rusty in Murtlock ›verliebt‹ waren. Wahrscheinlich teilte Henderson diese Leidenschaft. Bei Murtlock gab es keine Anzeichen dafür, dass er sich emotional zu einer dieser drei Personen hingezogen fühlte. Im Licht dessen, was über ihn berichtet worden war, wäre es erstaunlich gewesen, wenn das der Fall gewesen wäre.

»Was brauchen wir dazu?«

Diesmal sprach er in einem Ton praktischer Erkundigung.

»Ein kreisförmiges Drahtnetz, das von einem Stück Eisen zusammengehalten wird. So etwas wie der Rand eines alten Kochtopfs oder einer Bratpfanne würde gehen.«

»Der Kreis, die Gestalt der Vollkommenheit – Eisen, verabscheut von den Dämonen.«

»Diese Aspekte mögen ebenfalls hilfreich sein.«

»Das werden sie.«

»Zudem ein Stück vorzugsweise verwesendes Fleisch.«

»Von einem Opfer für eine Beschwörung nicht sehr verschieden.«

»In diesem Fall die Beschwörung von Flusskrebsen.«

»Die Flusskrebse sind eher unsere Opfer.«

Es dauerte einige Zeit, das nötige Gerät anzufertigen. Ein Leckerbissen zweifelhafter Frische wurde zwischen den Knochen gefunden, die wir für die Brühe beiseitegelegt hatten. Alle vier machten sich bei diesen Vorbereitungen nützlich: formten das Drahtnetz, maßen die Schnur aus, befestigten den verwesenden Köder. Als die Falle zusammengesetzt war, schwang Murtlock sie vorsichtig durch die Luft. Selbst in diesem Überprüfen, wie schwer sie war, das sein Verständnis für den Sport bewies, lag etwas von dem Schwenken der Weihrauchschale eines Priesters.

»Und nun?«

»Die Flusskrebsbecken, wenn man sie denn so nennen kann, liegen etwa eine Viertelmeile von hier.«

Der Bach floss durch armseliges Weideland, das in dichtes Gestrüpp überging, als die Abhänge zu seinem Verlauf hinunter steiler wurden. Nachdem die Falle zwischen den Steinen des Gewässers befestigt war, schien Murtlock zufrieden zu sein. Falls die anderen sich langweilten, wagten sie es während der langen Zeit, in der es kein Anzeichen eines Fangs gab, nicht, sich das anmerken zu lassen. Die Unterhaltung erlahmte völlig. Murtlock besaß in einem bemerkenswerten Maße jene vielleicht hypnotischen Kräften geschuldete Eigenschaft, die gewissen Personen anhaftet – nämlich die Gabe, anderen anwesenden Menschen die Pflicht aufzuerlegen, ihm seine eigenen Launen zu befriedigen. Wichtig war, dass Murtlock erhielt, wonach es ihn verlangte – in diesem Fall nach Flusskrebsen –, wenn sich die anderen dabei langweilten, war das ihre Sache. Ihm oblag keine besondere Verpflichtung, das zu verhindern. Als schließlich der Eisenkreis Anzeichen erkennen ließ, dass er die vermutlich magischen Eigenschaften besaß, die Murtlock ihm zugeschrieben hatte, und vier Flusskrebse in der Falle lagen, war dieser bescheidene, Murtlock offensichtlich Freude bereitende Erfolg aus irgendeinem Grund auch für mich außergewöhnlich erfreulich. Inzwischen ging der Nachmittag langsam in den Abend über. Murtlock ergriff wieder die Initiative.

»Wir werden jetzt zurückgehen. Beim Wohnwagen gibt es einiges zu tun. Barnabas muss den Pferden Wasser geben.«

»Sind Sie sicher, Sie wollen nicht bei uns zu Abend essen?«

»Ja.«

»Ich kann leicht schnell etwas zurechtmachen«, sagte Isobel.

»Dieser Tag ist ein Tag begrenzten Fastens.«

Fiona hatte das nicht deutlich gemacht, als wir einige Stunden vorher die Einladung zum Abendessen ausgesprochen hatten.

»Brauchen Sie sonst noch etwas?«

»Nein.«

»Eine Flasche Wein?«

Dann erinnerte ich mich, dass sie keinen Alkohol tranken.

»Nein – haben Sie eine Kerze?«

»Wir können Ihnen eine elektrische Taschenlampe leihen.«

»Nur für ein einfaches Feuerritual.«

»Kommen Sie mit zurück zum Haus. Wir suchen dann nach Kerzen.«

»Barnabas kann sie holen, wenn wir sie brauchen. Vielleicht ist es nicht nötig.«

»Legen Sie bitte keinen Waldbrand.«

Er lächelte darüber.

»Nur das Verbrennen von ein paar Lorbeerblättern.«

»Wie Sie sehen, ist Lorbeer genug vorhanden.«

»Kiefernzapfen?«

»Es stehen einige Koniferen oben an der Straße, auf der rechten Seite.«

»Wir gehen also jetzt zurück. Du nimmst den Eimer, Barnabas. Die Handschuhe liegen auf dem Boden, Fiona. Rusty, trag die Falle – nein, Rusty wird sie tragen.«

Niemand von ihnen durfte auch nur einen Moment lang vergessen, dass er oder sie zu gehorchen hatte. Als die Flusskrebs-­Utensilien eingesammelt waren, kletterten wir die Ufer­böschung hoch, die an diesem Teil des kleinen Flusses entlangführte. Der Pfad verlief zuerst quer über eine Weide und dann durch ein Wäldchen, dessen Boden dick mit wildem Knoblauch bedeckt war. An einem Punkt überlagerte der Geruch von Füchsen kurz dieses Aroma von Restaurants in Soho. Hier stoppte Murtlock. Während er durch eine Lücke zwischen den Zweigen zweier hoher Eichen spähte, hob er eine Hand, um seine Augen zu beschatten. Die anderen ahmten seine Haltung nach. In seiner Gegenwart schienen sie so gut wie keinen eigenen Willen zu besitzen. Murtlocks Kontrolle über sie war absolut. Die Äste der Eichen formten einen Rahmen für einen Flecken blauen Himmels zwischen den Wolken, die nun hier und da rosa gefärbt waren. In diesem unregelmäßigen Viereck des Lichts, über den Wiesen, die in Richtung von Gauntletts Farm lagen, schwebte ein Habicht. Dann, wahrscheinlich weil er eine Beute ausgemacht hatte, schoss er hinunter auf den Teich zu. Murtlock senkte seinen Arm. Die anderen taten es ihm gleich.

»Der Vogel des Horus.«

»Gewiss.«

»Sehen Sie oft Habichte in dieser Gegend?«

Er stellte die Frage in einem ungeduldigen, fast ärgerlichen Ton.

»Dieser eine hängt dauernd hier herum. Er war gestern in der Nähe unseres Hauses, und auch vorgestern. Er ist eine wohlbekannte örtliche Persönlichkeit. Vielleicht ein pensionierter Turmfalke aus einem Gedicht aus den dreißiger Jahren.«

Für jemanden seines Alters mochte das eine obskure Anspielung sein. Umso besser. Obskurität wäre mit Obskurität begegnet worden. Eine Sekunde später flogen die Enten wieder auf – entweder wegen des Habichts oder eines anderen beunruhigenden Umstands in ihrer Nähe, der Steinbruchseite des Teichs. In einem ebenso steilen Winkel aufsteigend wie bei seinem Niedergang zuvor nahm der Schwarm sofort die disziplinierte keilförmige Konfiguration an, die bei allen Entenflügen benutzt wird – der Anführer an der Spitze, gefolgt von allen anderen in der Form eines Fächers. Weiter und immer weiter aufsteigend, sich über kupferfarbene und grüne Buchen erhebend, erreichten die Vögel eine beträchtliche Höhe, ehe ein neu übermitteltes Kommando sie in eine frische Richtung drehte. Schnell wieder die gewohnte Formation bildend flogen sie hinein in die cremefarbigen gähnenden Wogen entfernter Wolken, hinter denen die Abendsonne träge unterging, und verschwanden in diesem opak glühenden Feuer. Den Initiierten, so überlegte ich, den antiken Wahrsagern wäre der Anblick von schicksalhafter Bedeutung gewesen.

»Welche Botschaft prophezeien die Vögel?«

Selbst wenn ich einräumte, dass Derartiges zu seinem Gebiet gehörte, versetzte mir Murtlocks Frage, genau in dem Augenblick gestellt, als mir selbst dieser Gedanke gekommen war, einen leichten Schock. Er hatte diese Worte sanft ausgesprochen, so als ob es ihn nun freue, meinen Gedankengang im Gegensatz zu meinem früheren Einwand zum Thema Tod und Töten als kohärent akzeptieren zu können. Selbst bei Menschen, die uns sehr vertraut sind, kann diese Art von impliziertem Wissen von dem, was in unserem Kopf vorgeht, kann das Erkennen unserer unausgesprochenen Gedanken – etwas, das durchaus nicht unüblich ist – ein wenig irritierend sein; in einem viel größerem Maß ist das jedoch der Fall, wenn dieser fremde junge Mann unsere Gedanken liest. Die Verschmelzung der Enten mit dem gedämpften Karmesinrot des Sonnenuntergangs war dramatisch genug gewesen, um Reflexio­nen über mysteriöse Dinge wachzurufen, und ein Thema wie Ornithomantie gehörte offenkundig zu den Gebieten, die ihn interessierten. Der Vorgang war vielleicht vergleichbar mit der Interkommunikation, wie sie die Vögel selbst praktizierten, bei ihrem einheitlichen Wechsel der Richtung, ihrer wohlgeordneten Neuformierung, ihrem schnellen erneuten Vorstoßen – diszipliniert wie Truppen beim Drill auf dem Exerzierplatz, oder besser: wie Flugzeuge, die über Funk erteilte Befehle befolgen.

Dieser im hohen Maße disziplinierte Aspekt des Entenver­haltens muss es zum Teil gewesen sein, der die Generäle ent­zückte, als beide mit solcher Leidenschaft die Dreiecksformation demonstrierten. Jener Abend kam mir jetzt lebhaft in die Erinnerung zurück. Nach den Dienstpflichten des Ta­ges – ich war der begleitende Offizier einer Gruppe von Mi­litärattachés – hatten wir noch in der Bar einer kleinen auberge in der Normandie zusammengesessen, wo wir einquartiert waren. Bobrowski hät­te beinahe sein Bier umgestoßen, als er die genaue Form des Schwarms demonstrierte. Philidor war ruhiger gewesen. Einige Jahre nach dem Krieg war Bobrowski – er lebte inzwischen im Exil, nicht länger in seinem Heimatland – von einem Taxi überfahren und getötet worden. Seltsamerweise kam, wie mir jemand von der französischen Botschaft sagte, Philidor, der inzwischen einen hohen Rang erklommen hatte, ebenfalls bei einem Autounfall ums Leben. Vielleicht war ein solcher Tod für Männer der Tat angemessen, besser als ein langsames Dahinsiechen. Ich wurde mir bewusst, dass mich ein mehr als üblich ausgeprägtes Gewahrsein menschlicher Sterblichkeit überkommen hatte, und ich fragte mich einen Moment lang, ob Murtlock für dieses Gefühl verantwortlich war. Das schien nicht unmöglich.

»Ich dachte ebenfalls gerade an römische Auguren.«

»Die untersuchten auch die Eingeweide von Tieren für ihre Prophezeiungen.«

Er sagte das mit einer gewissen Genüsslichkeit.

»Manchmal – wie Shakespeare anmerkt – ›verspotten traurige Auguren, was sie prophezeit‹.«

Ich musste einfach zurückschlagen. Murtlock gab keinen Kommentar. Ich hoffte, das Zitat hatte ihn zu Boden gestreckt. Den Rest des Weges dorthin, wo der Wohnwagen geparkt war, legten wir schweigend und ohne Zwischenfall zurück. An dem Wohnwagen würden unsere Wege sich trennen, falls die vier nicht mit ins Haus kommen wollten. Die Trennung verzögerte sich, als Mr. Gauntlett auf uns zukam.

»Guten Tag, Mr. Gauntlett.«

Mr. Gauntlett, der eine Schlüsselblume im Knopfloch trug, erwiderte den Gruß. Er ließ nicht im Geringsten erkennen, dass er unsere Gäste für ungewöhnlich bekleidet hielt. Er nickte ihnen freundlich zu, ohne das leiseste Anzeichen von Neugier, warum die Männer blaue Roben trugen.

»Sie haben nicht zufällig meine alte Hündin Daisy hier in der Gegend gesehen, Mr. Jenkins? Sie ist seit achtundvierzig Stunden verschwunden, und ich weiß nicht, wohin.«

»Haben wir nicht, Mr. Gauntlett.«

Mr. Gauntlett, ein Bauer, mit fast achtzig jetzt in Rente, wohnte nicht weit von uns entfernt in einem alten, baufälligen Bauernhaus, wo er – ein Witwer ohne Kinder, der einzige Überlebende einer großen Familie – sich selbst versorgte, ein Leben, das ihm zuzusagen schien, außer wenn ihm das Rheuma Ärger bereitete. Man sagte, in seinem Haus, das einer örtlichen Legende nach mit einem Mord im siebzehnten Jahrhundert in Verbindung gebracht wurde, spuke es. Obwohl er ein lebhaftes Interesse an der Vergangenheit besaß und gerne über solche Fragen wie ob die Römer die Kastanie in Britannien eingeführt hatten, diskutierte, versicherte er stets, dass die Geister ihn nie gestört hätten. Dieses Interesse an Geschichte mochte seine Gewohnheit erklären, sich archaische Wörter und regio­nale Redewendungen zu erlauben, die sonst nicht länger im Umlauf waren. Darin, dass er die Bedeutung des Stils – selbst eines bewusst theatralischen Stils – für die Bewältigung des Lebens stets im Auge behielt, ähnelte Mr. Gaunlett ein wenig General Conyers. Beiden war das gleiche Fluidum der Distinguiertheit gemeinsam, die Entschlossenheit, das dem Alter widerstehende gute Aussehen, aber vor allem dieses Gefühl für Stil. Mr. Gauntlett hatte mir einmal erzählt, dass er während seiner Dienstzeit bei einer Kavallerieeinheit seiner Grafschaft im Ersten Weltkrieg durch den Chaiber-Pass geritten sei – einen Hintergrund aus gewaltigen Bergen, nackten Felsen und wilden Bergvölkern, etwas, das aus irgendeinem Grund nicht im Geringsten seiner milden Art zu widersprechen schien.

»Vielleicht hat Daisy ja irgendwo in den Wäldern hier Junge geworfen. Wie sie es vor drei Jahren getan hat. Damals kam sie wieder nach Hause und machte ein großes Theater, damit ich mitkam zu einer Waldschlucht unten am Wasser, wo sie ihre Welpen gekriegt hatte. Die Hunde in der Gegend wussten davon. Die haben fast eine Woche lang die ganze Nacht gebellt, um die Füchse und so was zu vertreiben, aber diesmal hab ich sie nachts nicht bellen gehört.«

»Wir werden uns nach Daisy umsehen, Mr. Gauntlett, und ihr sagen, sie soll nach Hause gehen, wenn wir sie finden. Und wir geben Ihnen Bescheid, wenn wir auf ein Nest mit ihren Welpen stoßen. Wir haben alle gerade Flusskrebse gefangen.«

Ich sagte das in einem defensiven Ton, so als ob jeder unter dreißig stets blaue Roben zu diesem Sport trage. Ich fühlte mich ein wenig degradiert, dass Mr. Gauntlett mich mit einer solchen Gruppe überrascht hatte.

»So?«

»Wir haben vier an Land gezogen.«

Mr. Gaunlett lachte.

»Viele Jahre her, seit ich Flusskrebse fangen gegangen bin. Als Junge hab ich’s oft getan. Schmecken gut, die Krebse. Also, ich muss weiter und nach dem alten Mädchen suchen.«

Er war bereits weitergegangen, als Murtlock ihn ansprach.

»Suchen Sie in dem dichten Wäldchen in der Nähe der Mühlenruine.«

Er sprach mit einer seltsam tonlosen Stimme. Mr. Gauntlett zeigte sich überrascht, etwas Seltenes bei ihm. Er sah Murtlock jetzt genauer an, offensichtlich aufmerksam gemacht, nicht so sehr durch dessen exzentrische Kleidung als durch seine Kenntnis der Nachbarschaft.

»So?«

»Gehen Sie jetzt.«

Murtlock setzte ein Lächeln auf. Unmittelbar nachdem er die beiden kurzen Sätze geäußert hatte, überkam ihn eine subtile Veränderung. Es war, als ob er in eine fast augenblickliche Trance gefallen und dann sofort wieder aufgetaucht sei. Mr. Gauntlett war über den Rat sehr erfreut.

»Ich geh dann zu dem Wäldchen und nicht den Weg, den ich eigentlich nehmen wollte. Daisy könnte sich wirklich da aufhalten. Und ich danke Ihnen, wenn ich sie finde.«

»Bringen Sie ein Opfer dar, wenn Sie sie finden.«

»Was?«

»Es wäre gut, Lobeer- oder Erlenblätter in einem Rechaud zu verbrennen.«

Mr. Gauntlett lachte herzlich. Der Vorschlag schien ihn nicht so sehr zu überraschen, wie man hätte annehmen können.

»Ich werde am Sonntag in der Kirche zusätzlich etwas auf den Teller legen. Das ist ganz richtig. Das ist es, was ich tun sollte.«

»Besänftigen Sie die Schatten Ihrer Behausung.«

Mr. Gauntlett lachte wieder. Ich weiß nicht, ob er das als eine Anspielung auf sein Haus verstand oder ob es wirklich das war, was Murtlock meinte. Was immer seine Absicht war, er vermittelte zweifellos den Eindruck, dass er mit der Nachbarschaft vertraut sei. Vielleicht hatte er sich bereits nach Spukhäusern in der Gegend erkundigt, und das Wäldchen in der Nähe der alten Mühle war dabei irgendwie zur Sprache gekommen. Murtlock wäre durchaus dazu fähig gewesen. Mr. Gauntlett wandte sich wieder ab, um seine Suche nach Daisy fortzusetzen. Dann, plötzlich an etwas anderes denkend, hielt er wieder für einen Moment an.

»Gibt es Neuigkeiten über den Steinbruch und die ›Finger‹, Mr. Jenkins?«

»Sie hoffen immer noch, ihn in diese Richtung ausdehnen zu können«, sagte Isobel.

»So?«

»Wir dürfen nicht nachlassen, sie im Auge zu behalten.«

»Nein, ganz sicher nicht. Das ist wahr.«

Mr. Gauntlett wiederholte seine Verabschiedung und machte sich wieder auf den Weg, diesmal in Richtung alte Mühle.

»Woher in aller Welt wissen Sie, dass Daisy in dem Wäldchen ist?«

»Die Worte kamen einfach.«

Murtlock sagte das in einem fast bescheidenen Ton. Er schien dem gegebenen Rat keine große Bedeutung beizumessen, ja, fast vergessen zu haben, dass er ihn gegeben hatte. Er dachte jetzt eindeutig an ganz andere Dinge. Wir hatten den Punkt erreicht, wo wir uns von ihnen trennen wollten. Henderson hatte den Eimer mit den Flusskrebsen abgesetzt. Rusty saß neben der Falle im Gras. Als Fiona die Gartenhandschuhe übergab, erlaubte sie, dass ihr eine schwache Geste alltäglichen Brauchs unterlief.

»Danke, dass wir den Wohnwagen hier aufstellen durften.«

Sie warf einen schnellen Blick auf Murtlock, um sicherzugehen, dass das nicht eine zu kriecherische Kapitulation war, ein allzu verachtenswerter Rückzug entlang der Straße der Konventionalität. Er nickte gleichgültig. Offensichtlich war es nicht schlimm, unter diesen Umständen so viel an Zugeständnissen gemacht zu haben. Henderson blinzelte durch seine gelbe Brille und lächelte ein wenig einfältig unter seinem Fu-Manchu-Schnurrbart. Rusty stand vom Boden auf und kratzte sich gedankenverloren in ihren Achselhöhlen.

»Warum nehmen Sie die Flusskrebse nicht als Horsd’œuvres zu Ihrem Abendessen mit – oder wären sie für Ihr begrenztes Fasten zu mächtig?«

Fiona sah Murtlock an. Der nickte wieder.

»Gut.«

»Sie müssen ausgenommen werden.«

Murtlock schien der Gedanke daran Freude zu bereiten.

»Fiona kann das tun. Es wird gut für dich sein, Fiona.«

Sie stimmte demütig zu.

»Sie werden aus den Eingeweiden Prophezeiungen lesen kön­nen«, sagte ich.

Niemand lachte.

»Bring den Eimer zurück, ehe ihr morgen früh wegfahrt«, sagte Isobel. »Ich nehme an, wir sehen euch sowieso noch, bevor ihr geht, Fiona?«

Die Frage wurde wieder zur Entscheidung an Murtlock weitergeleitet. Er schüttelte den Kopf. Die Antwort war negativ. Wir würden sie am folgenden Tag nicht mehr sehen.

»Nein.«

In einem schroffen Ton erweiterte Murtlock Fionas Erwiderung.

»Wir fahren beim ersten Licht los.«

»So früh schon?«

»Wir haben einen langen Weg vor uns.«

»Was ist denn das Ziel Ihrer Reise?«

Statt einer Stadt oder eines Dorfes nannte er den Namen eines prähistorischen Monuments, einer Fundstätte aus der Steinzeit, nicht besonders berühmt, aber wahrscheinlich bekannt bei Leuten, die sich für solche Dinge interessierten. Da mir vage bewusst war, dass solche Orte das Ziel von Pilgerreisen von Sekten der Art bildeten, zu der Fiona und ihre Freunde zu gehören schienen, überraschte mich die Antwort nicht sehr. Ich vermutete, dass der Wohnwagen etwa zwanzig Meilen pro Tag schaffte, war mir dessen aber keineswegs sicher. Wenn es stimmte, würden sie mehrere Tage brauchen, um diese Gruppe von Megalithen zu erreichen.

»Wir waren vor einigen Jahren dort, auf der Rückreise von diesem Teil der Welt. Planen Sie, in der Nähe der Steine zu parken?«

Es handelte sich um ein typisches ›Langbett‹, am Rand eines Tals angelegt, zwei Säulen, die einen Schlussstein trugen, der Eingang zu einer Grabkammer. Der Ort war sorgfältig ausgegraben worden.

»So nah, wie es die Heiligkeit zulässt«, antwortete Murtlock schroff.

»Die Heiligkeit wurde beträchtlich von Touristen gestört, als wir da waren.«

Ein Ausdruck von Ärger überzog sein Gesicht, entweder wegen meines Kommentars, oder weil er an die Touristen dachte. Er war sehr eindrucksvoll, wenn er ärgerlich aussah.

»Wenn Sie an archäologischen Fundorten interessiert sind – wir haben einen nicht sehr bedeutenden nicht weit von hier, auf der anderen Seite des Hügels. Sie wissen wahrscheinlich schon davon. ›Die Finger des Teufels‹ – die ›Finger‹, wie Mr. Gauntlett sie nennt.«

Wenn er etwas darüber wusste, dass es in Mr. Gauntletts Haus spuken sollte, mochte er sehr wohl auch von den »Fingern des Teufels« gehört haben. Aber der Name war ihm neu. Er wurde sofort viel aufmerksamer.

»Sie sind einen Besuch wert, wenn Sie so etwas mögen. Nur ein kleiner Umweg von der Straße, die Sie wahrscheinlich sowieso nehmen werden.«

»Ein prähistorisches Grab?«

»War es zweifellos einmal, obwohl das umstritten ist.«

»Was ist denn übrig geblieben?«

»Zwei abgewetzte Säulen, etwa fünf Fuß hoch, und genauso weit voneinander entfernt.«

»Kein Portal?«

»Nur die Stützen haben überlebt, wenn sie denn so etwas waren.«

»Der Eingang.«

»Wenn es ein Grab war, ist die Grabkammer schon lange durch Überpflügen verschwunden. Es ist allgemeiner Konsens unter den Archäologen, dass es sich um ein neolithisches Grab gehandelt hat. Aber es gibt abweichende Theorien – Grenzsteine im Mittelalter und so weiter. Sie sind auch nichts Besonderes. Der Lokalpatriotismus lässt einen natürlich wünschen, dass der Ort so alt wie möglich ist. Der Türsturz wurde wahrscheinlich zu Bauzwecken auf einem der Höfe der Umgebung benutzt. Es war möglicherweise zu schwer, die Säulen auszugraben. Gewöhnlich herrscht sowieso der Aberglaube, dass man solche Steine nicht aus der Erde lösen kann. Selbst wenn man es tut, wandern sie wieder zurück.«

»Warum der Name?«

»In einer Mittsommernacht vor langer Zeit lagen eine Frau und ein Mann nackt im Gras. Der Anblick des Körpers der Frau versuchte den Teufel. Er streckte seine Hand nach ihr aus. Da es sich bei der Nacht auch um die Vigil des heiligen Johannes handelte, rief das Paar den Heiligen an, und es gelang ihm, soeben zu entkommen. Als der Teufel versuchte, seine Hand zurückzuziehen, verfingen sich zwei seiner Finger in dem offenen Felsgestein, das man hier in dieser Steinbruchgegend findet. Sie blieben dort und versteinerten.«

Murtlock schwieg. Dann schien er plötzlich sehr erregt.

»Gibt es noch andere Legenden im Zusammenhang mit diesem Ort?«

»Manchmal hat man das Paar dort tanzen gesehen. Es wurde vor dem Teufel gerettet, aber reinigte sich von seiner Sünde durch ewige Verbindung mit jenem Ort.«

»Sie tanzten nackt?«

»Das nehme ich an.«

»In der Mittsommernacht?«

»Ich weiß nicht, ob nur an diesem Jahrestag oder auch das ganze Jahr hindurch. Einer anderen Überlieferung zufolge wurden rachitische Kinder zwischen den Steinen hindurchgeschickt, um eine Heilung zu bewirken.«

Das war eine von Mr. Gauntletts Geschichten.

»Ist bekannt, ob der Hirschmaskentanz dort praktiziert wurde?«

»Davon hab ich nie gehört. Genauer gesagt, ich habe noch nie von einem Hirschmaskentanz gehört.«

Murtlock war zweifellos sehr bewandert in solchen Dingen.

»Bluten die Steine, wenn man bei Sonnenwende einen Dolch in sie hineinstößt?«

»Davon habe ich auch noch nie gehört. Es gibt die übliche Geschichte, dass die Steine zu gewissen Zeiten – wenn der Hahn um Mitternacht kräht, glaube ich – runter zum Bach da unten gehen, um zu trinken.«

Murtlock gab keinen Kommentar.

»Gierige Menschen haben diese Gelegenheit manchmal genutzt, um in den leeren Fundamenten nach Schätzen zu suchen, und sie sind dann von den unerwartet zurückkehrenden Steinen zerdrückt worden. Die Trinkgewohnheiten der Steine sind jetzt bedroht. Sie werden durstig bleiben müssen, wenn nicht die Bemühungen verschiedener Leute erfolgreich verlaufen werden. Eine der Steinbruchfirmen versucht, sich in diese Richtung auszudehnen. Sie will den kleinen Fluss zuschütten. Lokaler Widerstand ist dabei, sich zu mobilisieren. Wo sonst sollen die Steine ihren Durst löschen können? Das war es, worauf der alte Bauer, der mit uns sprach, anspielte.«

Diesmal zeigte Murtlock kein Interesse. Man hätte meinen sollen, dass die Bedrohung, der die »Finger des Teufels« ausgesetzt waren, etwas sei, das jemanden, der von der Heiligkeit einer anderen prähistorischen Fundstätte gesprochen hatte, schockieren würde, aber er schien völlig unberührt. Zumindest erkundigte er sich nicht weiter über das Problem der Erhaltung, das ich ihm geschildert hatte. Er fragte jedoch, wie sie den Ort erreichen könnten, und zeigte sich sehr aufmerksam, als Isobel es ihm erklärte. Er legte seine ganze kunstvoll mystische Fassade ab, als er sich ihre Instruktionen anhörte.

»Ist es ein abgelegener Ort?«

»Etwa ein halbes Dutzend Felder entfernt von der Straße.«

»Ist er hochgelegen?«

»Ich schätze etwa hunderfünfzig bis zweihundert Meter hoch.«

»Inmitten von Gras?«

»Ackerland, als wir zuletzt da waren, aber der Bauer mag wieder Weideland daraus gemacht haben.«

»Bäume?«

»Die Steine stehen in einer dichten Gruppe von Holunderbäumen auf einem Hügelkamm. Es ist eine dieser typischen Umgebungen. Das Land auf der anderen Seite neigt sich hinunter zu dem kleinen Fluss.«

Murtlock dachte einige Momente lang nach. Sein Gesicht war jetzt ganz blass geworden. Er schien sehr erregt über das, was er gehört hatte. Diese physische Reaktion ließ bei ihm auf mehr schließen als den bloß kalkulierenden Ehrgeiz, den Hugos Geschichte andeutete. Kräfte, die vielleicht stärker waren als er, dominierten ihn und ermöglichten ihm auch, durch die Kraft seiner eigenen Gefühle zu dominieren. Er wandte sich abrupt an die anderen, die passiv dabeigestanden hatten, während er diese Fragen stellte.

»Morgen gehen wir zuerst zu den ›Fingern des Teufels‹. Wir werden vor der Morgendämmerung dort sein.«

Sie stimmten zu.

»Sie werden es interessant finden.«

Er machte eine seltsame Geste, die Ungeduld, Erstaunen und Verachtung angesichts eines solchen Kommentars in diesem Zusammenhang ausdrückte. Dann nahm er wieder seine mehr weltliche, halbamüsierte Attitüde an.

»Barnabas wird den Eimer zu Ihrer Küchentür bringen, wenn wir morgen früh aufbrechen.«

»Das wäre nett.«

»Vergiss es nicht, Barnabas.«

Hendersons Lippen zitterten leicht. Er murmelte, dass er es tun werde.

»Dann sagen wir Ihnen auf Wiedersehen«, sagte Isobel.