Die letzte Tür vor der Nacht - António Lobo Antunes - E-Book

Die letzte Tür vor der Nacht E-Book

António Lobo Antunes

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Beschreibung

Der Weltliterat António Lobo Antunes wird 80 Jahre alt. Sein neuer Roman ist ein geniales Sprachkunstwerk - eine Reise ins Unbewusste von fünf Männern, die durch ein grausames Verbrechen vereint sind.

Ein Geschäftsmann wurde ermordet und sein Körper in Schwefelsäure aufgelöst, um jeden Beweis zu eliminieren. Zu ihrer Verteidigung wiederholen die fünf Angeklagten immer wieder: »Keine Leiche, kein Verbrechen.« Der Autor dringt ins intimste Innere der Verdächtigen vor, er öffnet die Türen zu ihren Kindheitserinnerungen und Traumata, schält allmählich ihre Persönlichkeiten heraus und enthüllt, wie und warum das Verbrechen geschah. Inspiriert von einer wahren Begebenheit, entwirft Lobo Antunes mit seiner unvergleichlichen Sprachkunst die Stimmen von fünf menschlichen Monstern.

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Seitenzahl: 713

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Zum Buch

Der neue Roman des Weltliteraten António Lobo Antunes ist ein geniales Sprachkunstwerk – eine Reise ins Unbewusste von fünf Männern, die durch ein grausames Verbrechen vereint sind.

Ein Geschäftsmann wurde ermordet und sein Körper in Schwefelsäure aufgelöst, um jeden Beweis zu eliminieren. Zu ihrer Verteidigung und zu ihrer eigenen Beruhigung wiederholen die fünf Beteiligten immer wieder: »Keine Leiche, kein Verbrechen.« Es geht um einen Rechtsanwalt und seinen Bruder, einen Kräuterhändler und zwei Geldeintreiber, es geht um viel Geld, um Strohfirmen, um Betrug. Der Autor dringt ins intimste Innere der Verdächtigen vor, er öffnet die Türen zu ihren Kindheitserinnerungen und Traumata, schält allmählich ihre Persönlichkeiten heraus und enthüllt, wie und warum das Verbrechen geschah.

Inspiriert von einer wahren Begebenheit in der Nähe der nordportugiesischen Stadt Porto, entwirft Lobo Antunes mit seiner unvergleichlichen Sprachkunst die Stimmen von fünf menschlichen Monstern und zeigt, dass das eigentlich Erschreckende ihre ganz normale Verletzlichkeit, Angst und Einsamkeit ist.

»Womöglich Portugals größter zeitgenössischer Autor … Ein Genie.« San Francisco Chronicle

Zum Autor

António Lobo Antunes wurde 1942 in Lissabon geboren. Er studierte Medizin, war während des Kolonialkrieges 27 Monate lang Militärarzt in Angola und arbeitete danach als Psychiater in einem Lissabonner Krankenhaus. Heute lebt er als Schriftsteller in seiner Heimatstadt. Lobo Antunes zählt zu den wichtigsten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. In seinem umfangreichen Werk, das in vierzig Sprachen übersetzt worden ist, setzt er sich intensiv und kritisch mit der portugiesischen Gesellschaft auseinander. Er erhielt zahlreiche Literaturpreise und wurde 2018 in die Bibliothèque de la Pléiade aufgenommen, die höchst renommierte Sammlung von Klassikern der Weltliteratur.

Zur Übersetzerin

Maralde Meyer-Minnemann, geb. 1943 in Hamburg, hat fast alle Werke von António Lobo Antunes übersetzt. Sie erhielt 1992 den Hamburger Förderpreis für literarische Übersetzungen, 1997 den Preis Portugal-Frankfurt, 1998 den Helmut-M.-Braem-Preis und wurde dreimal für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

António Lobo Antunes

Die letzte Tür vor der Nacht

Roman

Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann

Luchterhand

INHALT

1 Geldeintreiber aus dem Billardcafé

2 Bruder des Doktors

3 Kräuterhändler

4 Zweiter Geldeintreiber

5 Doktor

6 Geldeintreiber aus dem Billardcafé

7 Bruder des Doktors

8 Kräuterhändler

9 Zweiter Geldeintreiber

10 Doktor

11 Geldeintreiber aus dem Billardcafé

12 Bruder des Doktors

13 Kräuterhändler

14 Zweiter Geldeintreiber

15 Doktor

16 Geldeintreiber aus dem Billardcafé

17 Geldeintreiber aus dem Billardcafé

18 Bruder des Doktors

19 Bruder des Doktors

20 Kräuterhändler

21 Zweiter Geldeintreiber

22 Doktor

23 Kräuterhändler

24 Zweiter Geldeintreiber

25 Doktor

1GELDEINTREIBER AUS DEM BILLARDCAFÉ

An dem Morgen, als mein Schwager starb, war er es, der mich am Telefon geweckt hatte, um mir zutiefst verstört mitzuteilen, dass er geträumt habe, er sei in dieser Nacht gestorben, während ich, mehr jenseits als diesseits, in einem wirren Traum mit Tieren und Zwergen als Beigabe verfangen, die freie, noch nicht ganz mir gehörende Hand auf der Suche nach der Uhrzeit zum Nachttisch ausstreckte, denn wenn ich ins Bett gehe, lege ich, nachdem ich sie vom Handgelenk genommen habe, die Zeit dort ab, die viel schneller ist als in der Provinz, alles in der Stadt ist in Bewegung, was dazu führte, dass ich der Kleinen, die mit mir zusammenlebt, einen Fußtritt versetzte, die umgehend, indem sie mir den Rücken zudrehte, schwerflüssig protestierte

– Kommt jetzt nicht infrage ich schlafe

nur noch ein langer Schatten, an dessen Ende ein Tuff verwuschelter Haare herausschaute, während ich die Finger in der Hoffnung öffnete und schloss, die Zeiger der Uhr in einer Position vorzufinden, die mir erlaubte, ihn in Richtung Luxemburg zu verfluchen, wo er darauf wartete, dass die Polizei ihn nach einem Problem in einem Juwelierladen vergaß, in dem eine gewiefte Kamera ihn mit spitzen Fingern wie das Haar einer Frau von einem Kragen geklaubt und anklagend der Polizei gezeigt hatte

– Könnten Sie mir bitte sagen was das hier ist?

ich klopfte mit der Spitze des Pantoffels auf den Boden, während mein Schwager, winzig in diesem meinem Ohr, die weinerliche Bitte artikulierte, ihn auf dem Friedhof zu begraben, wo die Mutter seit Ewigkeiten Stickstoff produzierte, ich bin einmal nachmittags dorthin gegangen und erinnere mich an eine Hündin, die mit sorgenvollen Augen die Gräber umrundete, unermüdlich verfolgt von einer Gruppe Hunde unterschiedlicher Größe und Gestalt, einer davon blind

(es gibt unwichtige Details, die das Gedächtnis, so sind wir nun mal, einfach nicht wieder loslässt)

alle mit fünf Pfoten, ich sagte meinem Schwager, er solle sich nicht aufregen, das sei ein Zeichen für Ewigkeit, versuchte, wieder einzuschlafen, während ich an die Hunde mit den fünf Pfoten dachte, will heißen nicht nur fünf Pfoten, jeder mit mindestens dreihundert Zähnen, während meine sich langsam im Mund vermehrten und das Zimmer sich mit Grabsteinen, Zypressen und einem Betrunkenen füllte, der singend auf dem steinernen Tisch am Eingang ausgebreitet lag, auf dem die Särge abgestellt wurden, davor der Priester und hinter ihm betend die Leute, bevor sie sich zur Beerdigung begaben, während die Kleine, die das Bett mit mir teilt, mir den Ellenbogen in die Rippen bohrte

– Hör auf

und ich hatte mir nie vorgestellt, dass ihre Knochen ein Messer sein könnten, das imstande war, mich im Inneren zu zerreißen, während auf der Straße die Autos begannen, die Stimmen an der Bushaltestelle begannen, der Besitzer des Cafés begann, Metalltische auf dem Gehweg zu verteilen

(Friedhöfe verursachen mir sogar heute, nur wenn ich daran denke, Angst, oder vielleicht nicht richtig Angst, eher ein Zusammenziehen der Eingeweide)

was mir Gänsehaut machte, während die Helligkeit in den Zwischenräumen der Rollläden ganz allmählich die Dunkelheit im Zimmer auflöste, schau, da taucht die Kommode mit dem Foto meiner Eltern auf, schau, der Kleiderschrank, ein Stück Ärmel in der Tür eingeklemmt, und mein Appetit auf die Kleine verschwand, weil in mir kein weiterer zusätzlicher Zahn vorhanden war und meine fünfte Pfote ein Läppchen, ihre Strähnchen total vulgär, der Nagellack auf den Fingern abgeplatzt oder, besser gesagt, das Leben wie üblich witzlos, auch wenn man hin und wieder beim Billard gewann, da wieder das Telefon, und ich überrascht, denn ich erinnerte mich nicht gleich daran

(ich bin langsam)

dass es vor einer Stunde geklingelt hatte, auch nicht an die Kleine, die sich mir mit besorgten Augen wie die der Hündin entzog, und mir tropfte der gleiche Spuckefaden um ein Haar am Hals hinunter, gestern habe ich beim Billard einen Masséstoß geschafft, ohne das Tuch zu durchbohren, trat dann auf etwas, das ganz bestimmt mein Grabstein war, ich nehme an, mit meinem Namen und meinem Foto, halb ausgelöscht wie immer bei den Verstorbenen, ohne die eine Hälfte der Nase, ohne einen Teil der Augenhöhle, aber mit Krawatte, na klar, deutlich, die Krawatten der Verstorbenen sind immer deutlich und gestreift, wir können sie seelenruhig vom Fotountergrund abtrennen und uns damit strangulieren, einen perfekten Masséstoß, sogar der Bucklige schaute schweigend zu, Ehrenwort, er hat applaudiert, ich reckte mich zum Telefon, die Zähne, was sonst, wurden wieder etwas mehr, die fünfte Pfote, ich gebe ehrlich zu, dass ich nicht an sie gedacht habe, und die noch lautere Stimme meiner Schwester drang schreiend in meinen Gehörgang

– Carlos hat eben mitten während des Frühstücks den Löffel abgegeben

außer einem Masséstoß habe ich noch eine Vierzehner-Serie gemacht, was mir ewig nicht mehr gelungen war, eine Dreizehner vor zwei Jahren im Mai, eine Elfer kurz vor Weihnachten, und während ich das Telefon anschaute, umgehend Dutzende Hunde, Hunderte Hunde, Tausende Hunde mit grausamem Kiefer, die einander bissen, einander verfolgten, zwischen den Grabsteinen umhertrotteten, mich mit sich schleppten, mich losließen, mich wieder packten, mich am Ende am Rand eines vertrockneten Beetes losließen, mein Schwager hat mich beim Billard nie besiegt, obwohl ich ihm immer von fünfundzwanzig Punkten zehn abzog, ich befahl meiner Schwester

– Lass ihn einfach wahrscheinlich hat er noch so einen Traum vom Tod gehabt er wird in den nächsten Tagen anrufen

und bis jetzt, inzwischen sind fünfzehn Monate vergangen, hat er weder mich noch meine Schwester angerufen, die wieder ins Haus unserer Eltern zurückgekehrt ist und auf den Anruf wartet, und dass er uns nicht angerufen hat, kommt mir nicht ungewöhnlich vor, weil wir unwahrscheinlich langsam sind, letzte Woche beispielsweise, nachdem wir mit dem Mann im Lager fertig waren, habe ich, zu Hause angekommen, über sechzehn Stunden durchgeschlafen, bin aufgewacht, als eine Stimme an mir rüttelte

– Es reicht jetzt

angezogen auf den Bettlaken, das Kissen auf den Augen, ich warf es in die andere Zimmerecke, und einen Augenblick lang, nicht zu glauben, war mir so, als hätte es Arme und Beine, einen Augenblick lang die Gewissheit, dass es Arme und Beine und den Geruch eines Menschen hatte, aber nicht meinen, denn ich benutzte kein Parfüm, klares Wasser, Seife, und das reicht, bloß keinen Memmenkram, an jenem Nachmittag habe ich kein Spiel gewonnen, manchmal traf ich den ersten Ball nicht, den zweiten noch viel weniger, ich wagte keinen Masséstoß, um das Tuch nicht kaputtzumachen, der Bucklige, dem sonst meine Stöße gefielen, stellte seinen Stuhl an einen anderen Tisch, missachtete mich, beim Eingang zum Urinal, wo ein Junge aus goldenem Blech Pipi aus goldenem Blech in einen Nachttopf aus goldenem Blech machte, im Haus meiner Eltern gab es einen Rahmen mit mir darin, als ich klein war, mit Locken wie er, und siehe da, zwei Sachen, die auf Nimmerwiedersehen verschwunden sind, die Locken und die Fähigkeit, im Bogen Pipi zu machen, in den Hals einer leeren Bierflasche zu pinkeln habe ich nie geschafft, und so sehr ich mich am Ende auch schüttle, immer bleibt ein Tropfen übrig, demnächst kaufe ich mir bei den Chinesen eine Brille, denn die Buchstaben der Zeitung werden ständig unscharf, ab fünfunddreißig Jahren, versichert mein Vater, zwischen Oktober und April immer mit einem Deckchen über den Knien und bereits schwerhörig, geht’s bergab, jetzt hat er unentwegt die gewölbte Hand am Ohr, misstrauisch

– Was?

schaut meine Mutter an, schaut mich an, wir hatten zufällig gerade nichts gesagt

– Nichts

er, argwöhnisch

– Von wegen nichts

wir waren vier in der Garage, nicht mitgezählt der Mann, der vor uns stand und immer wiederholte

– Bitte lassen Sie uns reden bitte lassen Sie uns reden

und der Bruder des Doktors brachte ihn mit einem Fußtritt zu Fall, kein Spiel gewonnen zu haben beschämte mich, der Doktor fehlte, er würde nur ins Lagerhaus kommen, mein Vater unsicher

– Was hat der Arzt über meine Laborwerte gesagt?

in der Garage einstweilen nur wenige Autos, allein das Echo unserer Schritte und der übliche Geruch nach Benzin und Gummi, der auf dem Boden sitzende Mann schaute uns an, wäre ich zu Hause, würde er mich womöglich am Telefon aufwecken, um mir zu erklären, er habe geträumt, er wäre gestorben, und dann gleich fünf Pfoten an mir, dreihundert Zähne und ein sorgenvolles Augenpaar, das vor mir flieht, ich hätte meine Kollegen fast gefragt, warum wir dort keinen Friedhofstisch haben, meine Mutter zu meinem Vater

– Hast du den Bogen wohl nicht mehr raus?

nein, das war der Bucklige vom Billard, meine Mutter zu meinem Vater

– Du begräbst uns noch alle was willst du mehr?

das in einem zweiten Stock ohne Fahrstuhl, der beinahe nach meiner Großmutter roch, will heißen nach alter Frau und dem Lavendel der Truhen, um sie zu besuchen, stieg man ein paar Stufen hinunter, ging durch eine Art kleinen Tunnel, erreichte einen Innenhof mit einem Trog zum Wäschewaschen, bei dem ein Backstein ein Bein ersetzte, einem an die Wand gelehnten Fahrrad mit leeren Reifen, das niemand gehörte, und zwei kleine Gebäude mit abblätternder Farbe, man wählte das rechte und ging im Dunkeln bis zu einem Treppenabsatz, wo ein in Lavendel gehülltes Lächeln, kleiner als ich, uns im Wohnzimmerchen erwartete, auf ein Paar geputzter Stiefel in einer Ecke wies

– Wenn dein Großvater dich doch besser kennengelernt hätte

und das Lächeln so leicht, dass es durchs Fenster herein- und hinausschwebte wie diese kleinen haarigen Samen, die mich

– Kleiner

nannten, und ich hätte es so gern gehabt, dass es noch heute an mir vorbeistreicht, manchmal, genug mit dem Memmenkram, meine Eltern haben mich nicht ins Krankenhaus mitgenommen, damit ich mich verabschiedete, und wieso auch, wo das Lächeln doch jedes Frühjahr wieder durch das Fenster hereinkommt, ich erkenne es sofort inmitten der anderen Samen, weil er der Einzige ist, der lächelt, sich auf dem Tischchen mit der bodenlangen Decke niederlässt, sich auf dem Bilderrahmen niederlässt, durch die Gardine hinausfliegt, zurückkommt, wieder hinausfliegt, nicht wieder zurückkommt, dort draußen verschwindet, was ist mit den Stiefeln Ihres Vaters geschehen, Mutter, Sie haben sie doch nicht etwa in den Müll geworfen, ich habe Angst, meine Großmutter erscheint nicht, wenn Sie die Stiefel in den Müll geworfen haben, meine Mutter trägt jetzt ihren Ring, der nicht einmal auf meinen kleinen Finger passt, ich habe in der Hoffnung ein kleines Sofa auf den verglasten Balkon gestellt, dass ihr beide eines Nachmittags dort sitzt, und ich euch glücklich einen Keks, einen Kräutertee anbiete, ich will den Friedhofstisch nicht, will die dreihundert Zähne und die fünf Pfoten der Hunde nicht, ich will den trügerischen Frieden der Bäume nicht, ich will in mir eine andere Stille, ich kannte den Mann nicht, den wir getötet haben, sie sagten mir

– Der da ist es

und das war’s, sie sagten mir

– Der da ist es der gerade mit seiner Tochter aus dem Wagen steigt

das in der Garage eines teuren Gebäudes, die Echos in leeren Garagen fand ich schon immer gruselig, unsere Sohlen unvermittelt riesig, der ungeheuer große Blasebalg des Atems sog die Wände an und schob sie weg, die Masse an Schwärze in den Räumen zwischen den Lampen, die halb im Schatten verborgenen geparkten Wagen, die auf uns warteten, die Lichtreflexe der Scheinwerfer, die uns unvermittelt ausspähten und gleich darauf so taten, als hätten sie uns vergessen, sie werden Augenlider haben, die von einem Augenblick auf den anderen anschwellen und das Glas verhüllen, ein Mountainbike lehnte an einem Pfeiler, wir waren mit einem Lieferwagen hereingekommen, gleich hinter dem Mann, noch bevor das Tor sich wieder senkte, und mit dem Mann zusammen war ein kleines Mädchen, das uns aus der Heckscheibe zuwinkte, ich habe Kindern, die mir zuwinken, immer zurückgewinkt, alle mit Locken aus goldenem Metall, die Pipi aus goldenem Metall in Nachttöpfe aus goldenem Metall machen, und der Bucklige verachtet mich, weil mir kein Masséstoß gelingt, übrigens spiele ich schon gar nicht mehr, schaue den anderen zu, wie sie, den Queue senkrecht in der Hand, den möglichen Lauf des Balles studieren, um das Tuch herumspazieren, sich schließlich, ein Hosenbein in der Luft, über den Tisch auf dem Friedhof unter den Pappeln, Pardon, sich mit einem Hosenbein in der Luft über das grüne Rechteck beugen, die Augenbrauen zusammengezogen, zu einem Ball hin gereckt, während die Spitze des Queues sich in dem aus dem Finger geformten Ring vor und zurück bewegt, der Bucklige, der aufgehört hat, mich zu grüßen, wirft mir nur einen verächtlichen Seitenblick zu, die Frau ruft ihn manchmal vom Eingang her

– Faulpelz

sobald April ist, wird es in diesem Jahr kleine Samen geben, ich öffne immer das Fenster in der Hoffnung, dass meine Großmutter hereinkommt

– Mein Kleiner

und sie kommt tatsächlich

– Du bist dicker du bist dünner hast du gut geschlafen?

ich brauche etwas mehr Haar oben auf dem Hinterkopf, Großmutter, denn da scheint schon die Haut durch, Ehrenwort, gleichzeitig schläft wahrscheinlich ein Bettler mit den Stiefeln meines Großvaters bei der Säule eines Gebäudes, Kleidung und Decke verschossen, faulig, aber die Stiefel glänzen, ich stamme von einem kleinen haarigen Samen und einem Paar glänzender Stiefel ab, mein Vater rollte immer schweigend das Zigarettenpapier, wir waren vier in einem Lieferwagen, den wir neben dem Mann parkten, wie eine Garage doch die Echos und den Klang der Stimmen verzerrt, der Mann zu uns

– Bitte fassen Sie die Kleine nicht an

und der Bruder des Doktors zögerte, an dem Morgen, als mein Schwager gestorben ist, war er es selber, der mich am Telefon geweckt hatte, und die Hunde trotteten, trotteten, die Hündin verschwand in einer Hecke, erschien ein Stück weiter erneut, setzte ihren Weg fort, wo wird sie jetzt sein mit so vielen Zähnen hinter ihr her, die Kleine, die bei mir wohnt

– Kommst du heute später?

während sie eilig den Kaffee aufwärmte, sie macht in einem Minimarkt sauber, ihr Vater ist in einem Sarg aus dem Krieg in Afrika zurückgekehrt, als sie noch nicht geboren war, deshalb bat ich ihn manchmal auf dem Friedhof um Hilfe, dabei frage ich mich, wie viele trächtige Hündinnen, wie viele Hunde mit fünf Pfoten sind ihr wohl schon über den Weg gelaufen, meine Mutter zu meinem Vater

– Immer voller Angst dabei bist du kerngesund du Memme

einer der Kollegen verriegelte das Schloss der Garage, der andere den Durchgang zu den Fahrstühlen, das Innere des Lieferwagens roch nach Schellfisch, nein, nach kleinen Calamari, auch Hunde, die weniger Pfoten haben als Calamari, allerdings immer mehr als andere Fische, der Mann zu uns

– Tut meiner Tochter nichts

und sogleich schweben kleine Samen durchs Fenster herein, solche Bitten, ehrlich, die rühren einen, er würde sterben und dachte nur an die Tochter, man kann dazu sagen, was man will, aber schön ist es, meiner Großmutter und meiner Mutter, beide sensible Menschen, hätte das gefallen, sie würden sich womöglich für ihn einsetzen

– Lass ihn doch den Armen

in einer leeren Dose mit einem halben Dutzend Krümeln auf dem Boden nach Keksen für die Kleine suchen, mein Vater hingegen würde mich besser verstehen

– Dienst ist Dienst

er, der sich dreißig Jahre lang mit den Kränen im Hafen, schmutzigen Wellen, im Gegenwind reglosen Möwen herumgeschlagen hatte, der Mann stand an den Wagen gelehnt, überlegte, wie er fliehen könnte, sah um sich, aber es war unmöglich zu fliehen, er hatte den Ellenbogen erhoben, um das Gesicht zu schützen, steckte die Sonnenbrille in die Jackentasche, und beide Augen waren Brunnen panischer Angst, wir haben ohne Übertreibung eine Stunde lang auf ihn gewartet, er hielt an einem Laden, hielt an einem Café, hielt beim Haus von Verwandten, aus dem er mit einem Plastikbeutel mit dem Abendessen herauskam, als er in den Wagen stieg, kam die Tante auf die Veranda und winkte ihm zum Abschied, aber der Onkel, der die Brille auf der Stirn hatte und dem die Zeitung an der Hand herunterhing, winkte nicht, man spürte seinen Wunsch, aufs Sofa zurückzukehren, nicht in Schuhen, in Pantoffeln, denn die Gicht machte sich bemerkbar, zündete am dritten Zeh ein Lichtlein an und löschte es wieder, noch ohne Schmerzen, und dann hatten wir endlich den Mann platt auf der Kühlerhaube, während die Tochter unruhig wurde, nichts verstand, sich an ihn klammerte

– Vater

nein, schweigend, sie versuchte, sich in seinem Jackett zu verstecken, wer von beiden zitterte mehr, wer hatte mehr Angst, in einer Garage immer so viele Echos, man hört sogar die Gedanken, der Doktor, nicht der, der das Sagen hatte, der war weit weg, der weniger dicke Bruder kam mit einer Bleischürze näher, meine Großmutter

– Mein Kleiner

tadelte mich nicht, verstrubbelte meinen Pony, und das war es

– Du hörst überhaupt nicht auf zu wachsen

als wäre Wachsen eine Willensanstrengung, ein Mangel, ich, mein Vater, der klein geraten war

– Du kannst ja schon fast von meinem Kopf essen

also auf der Höhe meines Tellers, und der Eintopf lief ihm den Hals herunter, der Bruder des Doktors zu uns

– Schafft mir die Kleine hier weg

mit einem Schlag auf das Bein des, kleine Samen, kleine Samen, Mannes, der ihn auf die Knie fallen ließ, man sah nur seinen Mund und einen Arm, der sich auf dem Beton ausstreckte, der Kräuterhändler zum Bruder des Doktors

– Blut kommt nicht infrage ich will keine Flecken im Lieferwagen

und jedes Mal, wenn wir sprachen, gab es bei so viel hohlem Beton überall nicht nur eine Stimme, eine zweite Stimme sprach abgehackte Silben, eine dritte nur sich verbindende und sich voneinander trennende Silben, hier wirr, dort klar, in bestimmten Augenblicken mit einer Klangfarbe, die ich nicht verstand, der Mann verstand sie

– Nicht meine Tochter

mit mühsamerer, schwächerer Stimme, erst stehend, dann auf Knien, dann sitzend, die Augen ähnlich wie die meines kranken Vaters, die nicht mich, sondern was auch immer vor mir und hinter mir sahen, etwas, das sie

– Sohn

nannten, der mal als kleiner Junge auf dem Fußboden mit leeren Verpackungen spielte, ihn dann wieder erwachsen neben einem Krankenhausbett anstarrte, wegen des Lichts im Fenster weniger deutlich, der Spiegel, den er an sein Gesicht führte und der ein sehr altes Er zeigte, das eine Cousine ihm einmal gezeigt, er aber nicht erkannt hatte, als ich ihn an der Hand berührte, zog er sie aus Angst vor mir zurück, mein Vater, der starb, indem er mich floh, sich in sein Inneres zurückzog, wo ich ihn nicht erreichen konnte, dann stellten sie einen Paravent um ihn herum auf, und wir verloren ihn für immer, ich sah noch sein Profil durch einen Riss im Plastik, verstrubbelte Haarsträhnen, die Nase unvermittelt schmal, die Kiefer im offenen Mund, die Ohren, die Stirn, ich wollte

– Vater

sagen, aber es gelang mir nicht, weil ich nicht wusste, was

– Vater

bedeutete, wollte sagen

– Ich bin es

aber es gelang mir nicht, weil ich nicht wusste, was

– Ich

bedeutete, meine Mutter umarmte mich weinend, doch wieso weinte sie, ich stellte mir Tausende Hündinnen mit besorgten Augen vor, die vor Tausenden Hunden mit fünf Pfoten flohen, an dem Morgen, als mein Schwager starb, war er es, der mich am Telefon geweckt hatte, um mir ganz drinnen im Ohr zu sagen

– Ich bin gestorben

und die Kleine, die mit mir das Bett teilt, rückte von mir ab

– Kommt jetzt nicht infrage ich schlafe

und sie schlief tatsächlich, ein Träger auf der Schulter, der andere am Arm heruntergerutscht, von kleinen haarigen Samen umgeben, die mich lächelnd

– Mein Kleiner

nannten, mir ein Päckchen Kekse in der Schürzentasche zeigten und ein Paar geputzte Stiefel, während meine Mutter, in Sorge um mich in der Garage

– Was ist los mein Sohn?

die uralte Stimme meiner Großmutter mit Nachdruck

– Mein Kleiner

und eine kürzlich aufgetauchte schwächere, langsamere Stimme

– Tun Sie meiner Tochter nichts

die uns anzuschauen schien, neben einem vergessenen Fahrrad, die Augen ruhig, der Mund ein weiteres offenes Auge, ein halbes Dutzend Wagen in der Garage in mit weißer Farbe auf den Boden gemalten Rechtecken, Stille, nein, ein Wasserhahn tropfte im Schatten, jeder Tropfen Getöse auf dem Beton, und wir horchten auf die Tropfen, dachten jedes Mal, wenn einer explodierte

– Wann kommt wohl der nächste

der Bruder des Doktors

– Steckt ihn in den Lieferwagen und dann schnell weg von hier

denn bestimmt würden andere Wagen kommen, denn bestimmt, es war nur eine Frage der Zeit, würde ein Nachbar die Tür öffnen, die zu den Fahrstühlen führte, um leere Flaschen in die Plastikmülltonnen zu werfen, das Leben ist echt monoton, so gleichförmig für alle, zumindest was mich betrifft, nun ja, ich habe noch das Billard, und die Angst, es könnte für immer Schluss sein mit dem Billard, erschreckte mich, mein Kollege wartete auf mich, vibrierte unter dem Ruckeln des Motors, zwei Wagen, der des Bruders des Doktors und der des Kräuterhändlers ganz hinten, wo mehr Schatten war, ein Mountainbike mit vielen Gängen, das ich nur allzu gern ausprobiert hätte, die Tochter des Mannes still, ohne Tränen, ich zum Bruder des Doktors

– Lassen wir sie hier?

der Kräuterhändler hob die Schlüssel und eine Brieftasche vom Boden auf, zu meinem Kollegen und zu mir

– Worauf wartet ihr noch?

also wir beide hinten im Lieferwagen, was hätte ich nicht für ein paar Stöße gegeben, der Bucklige wäre nach ein paar ordentlichen Masséstößen an meinen Tisch zurückgekehrt, nach meinem Schwager hat meine Schwester nicht wieder geheiratet, zumindest sagt sie das in den Briefen, aber wer glaubt schon den Frauen, und wahrscheinlich, sie ist zehn Jahre älter als ich, wird sie, wenn überhaupt, nur noch ein Neger nehmen, zudem wird es, denke ich, in Luxemburg keine Friedhofstische geben, die beerdigen da die Leute irgendwie, die Lichter des Lieferwagens entdeckten während des Manövers, um zum Ausgang zu gelangen, das kleine Mädchen, das uns einen Augenblick lang reglos anschaute, nicht schrie, nicht verängstigt war, nur still, Kinder sind nicht so mein Ding, als die Kleine, die bei mir wohnt, damit angefangen hat, habe ich sie gleich abgewürgt

– Willst du zurück in den Minisupermarkt?

und habe sie schniefend in der Küche zurückgelassen, in meinen Pantoffeln

– Absätze die ganze Zeit bringen mich um

wo sie die Karotten für die Suppe vorbereitete, die Tochter des Mannes wurde in der Garage in dem Maße, in dem wir uns entfernten, immer kleiner, manchmal frage ich mich, ob ihre Mutter aufgetaucht ist, um sie abzuholen, oder ob sie immer noch allein dasteht, wie gesagt, Kinder nerven mich, es war meine Stimme, nicht ich, Ehrenwort, denn ich habe nichts damit zu tun, die den Kräuterhändler besorgt gefragt hat

– Sollen wir nicht der Familie Bescheid sagen dass sie hier ist?

so wie es meine Stimme war, nicht ich, die die Sache entschied

– Die Kleine soll allein klarkommen

und den Rest ihres Lebens an ein Stofftier geklammert bleiben, sie sind die ganze Zeit an Stofftiere geklammert, wenn man sie fragt, die blöden Dinger

– Wie heißt denn dein Eumel da?

drehen sie einem den Rücken zu und verstecken sich vor uns, natürlich war ich sauer auf meinen Mund

– Lass mich in Frieden Schwachkopf

und der Kräuterhändler und mein Kollege schwiegen, mein Mund, ich habe sie nicht wiedergesehen, hin und wieder fragt mein Mund sich, was wohl mit ihr passiert ist, und lässt mich nicht in Frieden, mich, der sich einen feuchten Kehricht darum schert, was mit ihr passiert ist, kann sogar sein, dass sie immer noch in der Garage ist und den Mann sucht, der hinter uns mitfährt, im Liegen, ruhig, Bubu macht, ihm ist sie auch egal, wir mussten seine Beine anziehen und den Kopf vorbeugen, damit er da reinpasste, und als ich seinen Kopf hinlegte, merkte ich, dass er noch atmete, ich verstehe meinen Schwager nicht, denn im Allgemeinen brauchen die Leute lange zum Sterben, sie klammern sich beharrlich ans Leben, aber was ist das Leben schon wert, wer auf dieser Welt glücklich ist, der hebe den Finger, die ewig gleiche Leier, Karottensuppe und dieses Schweregefühl an der Niere, während des Billardspielens geht es mir besser, aber wenn ich mich zu sehr vorbeuge, ein Knie auf dem Tisch, fängt es sofort an zu pieksen, der Arzt im Gesundheitsposten

– Sie haben da einen eingeklemmten Nerv

und verschrieb mir Pillen, überzeugt, dass die Pillen sich dorthin begeben würden und ihn mit einem Fingerchen wieder entklemmten, noch heute meldet sich, wenn ich am wenigsten damit rechne, mein Kopf und beunruhigt mich wegen des Mädchens in der Garage, die der kleine Samen, der mich vergessen hat, anlächelt, nicht die Tatsache, dass er lächelt, ärgert mich, sondern dass er vergisst, mir zuzulächeln, würde ich ihn berühren und rufen, ein tadelnder Seitenblick

– Mein Kleiner

und die Stiefel meines Großvaters irgendwie hingestellt, ungeputzt, vernachlässigt, schmutzig, die Strümpfe dort hineingesteckt, oder anders gesagt, die Welt ohne Interesse an mir, ich ohne Vergangenheit, an ein nutzloses Stofftier geklammert in einer leeren Garage, auf der Suche nach der Tür zu den Fahrstühlen, ohne sie zu finden, auf der Suche nach der Treppe zur Wohnung, aber es gibt keine Treppe, es gibt meinen Vater, der bittet

– Tut meinem Sohn nichts

es gibt den Kräuterhändler, der sich zu mir umdreht und mich anschaut

– Was ist denn mit dir los?

der Bucklige, der sieht, wie ich beim Billard meine Stöße nicht mehr hinkriege

– Der Dummkopf hat den Bogen nicht mehr raus

nicht bekümmert, verwirrt

– Na so was am Ende ist er keinen roten Heller wert

die Kleine, die bei mir wohnt, rückte weiter weg

– Kommt jetzt nicht infrage ich schlafe

entwischt von Grabstätte zu Grabstätte, mit besorgten Augen, während meine dreihundert Zähne sie suchen, ohne sie zu finden, und die Bäume dort draußen so schwarz, der Morgen kommt nicht, es kommt der Kräuterhändler, auf Befehl des Herrn Doktor, der mich anweist, ein paar schwierige Zahlungen einzutreiben, manchmal allein, manchmal mit meinem Kollegen, das teure Büro im ersten Stock des Unternehmens, während der Lieferwagen sich dem Lagerhaus auf einem Brachland näherte, ein gut gekleideter Typ auf dem Flur vor dem Büro, Teppiche, Porzellan, Bilder in Goldrahmen, eine nackte Frau aus Marmor auf einer Art versilberter Säule, der gut gekleidete Typ starrte uns böse an

– Hat Ihnen jemand erlaubt hier hereinzukommen?

und mein Kollege schob ihn, ohne ihn anzusehen, beiseite, mein Kollege und ich zwei Hunde mit fünf Pfoten, Streuner ohne Stammbaum, die mit nur leicht gebleckten Zähnen weitertrabten, im Büro noch mehr Teppiche, noch mehr Porzellan, mehr Bilder, mehr Statuen, ein Tisch mit einem bronzenen Fuß, ein glatzköpfiger Typ mit einer Perlenkrawattennadel und eine junge, gut gekleidete Dame, die ihm Papiere zeigte und ihm dabei die Hand streichelte, das kleine Mädchen immer noch in der Garage, denke ich, still, schweigend, so anders als mein Vater, wenn er über seine eigenen Schritte stolpernd nach Hause kam

– Mistkerle

einen Stuhl umstieß, das Regal mit den Fotos umstieß, und meine Mutter flehentlich, voller Angst

– Augusto

von kleinen Samen umgeben, die um sie herumtanzten, ohne sie beschützen zu können, mein Vater auf den Fußboden gestürzt, weil er den Sessel nicht erreicht hatte

– Noch ein Glas

die gut gekleidete Dame zu meinem Kollegen und zu mir

– Was soll das?

bereit, vor uns zu fliehen, von Grabstätte zu Grabstätte, mit hin und her schweifenden sorgenvollen Augen, mein Kollege zu dem glatzköpfigen Typ, der jetzt keine Hand streichelte, uns zu besänftigen versuchte

– Wollen Sie sich nicht setzen?

während ich ihm eine freundschaftliche Hand auf die Schulter legte, ihn beruhigte

– Das ist ein schneller Besuch Herr Ingenieur wir sind nur gekommen um zu holen was Sie dem Doktor schulden

während der Lieferwagen auf dem Weg zum Lagerhaus bereits die Stadt verließ, und mein Kollege und ich auf dem Rücksitz, neben dem Mann, den wir mit einem Stück Elektrokabel zusammengeschnürt hatten, seine Schuhe besser als meine, seine Kleidung auch, obwohl sie zerrissen war, Flecken hatte, immer weniger Gebäude, Villen, Gärtchen, die ersten Bäume, ein armseliger Zirkus, dem man das Zelt weggenommen hatte, ich glaube, da war ein Käfig mit irgendeinem Tier darin, die Kleine, die bei mir wohnt

– Und sogar nach zwei Jahren die ich dich ertrage willst du nicht heiraten?

es gibt Augenblicke, da finde ich sie hübsch, an anderen nicht so besonders, wenn sie spricht, wird die linke Hälfte der Lippen größer als die rechte, allesamt, angefangen vom Ingenieur aus dem Büro bis zum Mann vom Lieferwagen sind reicher als ich, sogar der Doktor, selbstverständlich, der Bruder des Doktors, der Kräuterhändler, mein Mund dachte an das Mädchen in der Garage, während ich mich nicht einmal mehr an sie erinnerte, außer an das gelbe Blüschen, was weiß ich, was sie trug, außer an die Sandalen, was weiß ich, was sie an den Füßen trug, außer dem blonden Haar, ich habe die Farbe vergessen, übermorgen besuche ich meine Eltern, will heißen, vielleicht besuche ich sie, will heißen, ich besuche sie nicht, ich versuche ängstlich, zum Billard zu gehen, in der Hoffnung, dass der Billardtisch sich in einen Friedhofstisch verwandelt und eine ängstliche Hündin an mir vorbeitrabt, gefolgt von einem Rudel Hunden mit fünf Pfoten und dreihundert Zähnen, während

(es ist Frühling)

Dutzende kleiner Samen von wer weiß woher kommen, aus den Büschen, glaube ich, aus einem alleinstehenden Haus hinter ärmlichen Gebäuden, erst die Treppen hinunter bis zu einem halbdunklen Flur hinuntersteigen und hinten zwei Stockwerke hochsteigen, wo verschossene Wäsche an einer Leine hängt, eine Frau Tischtücher ausschüttelt, und am Eingang zum zweiten Stock, wenn wir an die Tür klopfen, das Schlurfen von Pantoffeln, die sich schwerfällig nähern, ein langsamer, müder Satz

– Ich komme gleich

das Drehen eines Schlüssels, Angeln, die sich mühsam bewegen, ein Lächeln, nur ein Lächeln, oder besser, ein kleiner Samen, der uns ein Lächeln zuhaucht

– Mein Kleiner.

2 BRUDER DES DOKTORS

Es gefällt mir, neben einer Sekundarschule zu wohnen, weil im Gegensatz zu mir, der ich älter werde, die Mädchen immer gleich alt bleiben, was mich mit dem Gedanken liebäugeln lässt, meine Frau dort einzuschreiben und sie so daran zu hindern, stundenlang über das Waschbecken gebeugt nach weißen Haaren zu suchen, indem sie die Locken mit minuziösen Gesten zur Seite schiebt, mich, ohne mich dabei anzusehen, fragt

– Siehst du sie nicht?

und natürlich, ich war mit, sehe ich aus der Entfernung keine weißen Haare, sehe aber den größeren Hintern, die im Verschwinden begriffene Taille und Falten in den Mundwinkeln, die ihre Lippen in Klammern setzen, was immer eine Form ist, die Worte zu entwerten, ich war mit dem Kräuterhändler im Wagen hinter dem Lieferwagen hinausgefahren, während sich im Rückspiegel das Garagentor langsam, ruckelnd schloss, bis es mit einem letzten Stoß stillstand, die Augen meiner Frau suchten meine im Spiegel, gekränkt

– Das ist der Morgenmantel der mich dick macht ich bin gleich geblieben musste die Kleidergröße nicht wechseln

und sie hat sie tatsächlich nicht gewechselt, weil sie, wenn sie zu mir kommt, mir den Rücken zukehrt

– Sei so lieb und zieh mir mal, fast niemand auf der Straße um diese Zeit, noch ist niemand auf dem Weg zur Arbeit, den Reißverschluss hoch

und die Zähnchen wollen sich nicht ineinander verhaken, demnächst zerreiße ich noch etwas

– Nicht mal das kriegst du hin Grobian

dabei versucht sie, die Schulterblätter zusammenzuziehen, wagt nicht zu atmen, ist da hineingepresst wie in eine Zwangsjacke, bringt, der Ohnmacht nahe, damit der Stoff nicht explodiert, ein geiziges Tröpfchen Luft hervor, bald schon die Stadt, Vorstädte, Armeleuteviertel, weniger Laternen, ein schäbiges Restaurant am Straßenrand, eine Hälfte Beton, die andere Holzbaracke, ein paar Lastwagen

(einer mit verschreckten Kälbern)

schräg an einem Hang, würde ich meine Frau in der Sekundarschule anmelden und ihr Zöpfe flechten, kämen vielleicht das Flüstern und das Kichern zurück anstelle eines klagenden Seitenblicks, der bat

– Bitte bedauere mich

mit einem Schimmern voller Selbstmitleid in den trockenen Augen, die mir einen Augenblick lang das Gefühl gaben, sie würden schreien

– Ich will meinen Vater

oder

– Bedauern Sie mich

ihre Nase an seiner Schulter, wo sie sich vor der Welt versteckt, mein Schwiegervater, nach dem Anfall jetzt mit schiefem Mund und einem kraftlosen Arm, ein riesiges Auge starr auf uns gerichtet, das andere klein, unbeteiligt, versucht, die Tochter mit unsicheren Fingern zu trösten

– Ich bin hier

meine Frau, ohne sich ihm zu nähern

– Sie haben mich ihr ganzes Leben lang nicht zu sich gerufen und jetzt wo Sie fast tot sind wollen Sie mich trösten?

nach dem Restaurant eine in einen Kornspeicher umgewandelte Kapelle, Felder im Dunkeln, verstreute Bäume, der Lieferwagen bog rechts ab auf einen vom Regen fast aufgelösten ungepflasterten Weg, während die Scheinwerfer Büsche enthüllten, meine Schwiegermutter zu meiner Frau, Stämme, bei denen man nicht erkannte, zu welchen Bäumen sie gehörten, mit gekränktem Tadel

– Kindchen

während ihr Mann stumm, verständnislos die Lippe kaute, einer der Schnürsenkel lose, der andere so lala, er ging, sich mit mühevollen Ellenbogen auf den Gegenständen abstützend, der Kräuterhändler zu mir, während die roten Rücklichter des Lieferwagens vor uns hüpften, mal gerade, mal schräg, und wir ebenfalls hüpften

– Ganz ruhig niemand wird etwas mitbekommen

ein Kaninchen verschwand, niemand wird etwas mitbekommen, fast unter uns, wir haben es ganz bestimmt nicht überfahren, weil die Sitzbank nicht gewackelt hat, oder aber das Kaninchen ist aus Filz wie diese Spielzeugtiere, ohne Knochen, eine meiner Schwestern

Amélia

hatte eines als Kind, mit Draht in den Ohren, damit sie hochstanden, sosehr ich sie auch darum gebeten habe, sie hat es mir nie geliehen, wenn ich die Hand zu ihm ausstreckte, schlug sie mir auf das Handgelenk

– Pfoten weg

während ich, Tränen schluckend, gehorchte, ich habe mich später gerächt, indem ich ihr, als sie schlief, den Pony mit der Fischschere geschnitten habe, und das Ergebnis war, dass ich vierzehn Tage zur Strafe keinen Nachtisch bekam, ich zum Kräuterhändler

– Selbstverständlich nicht

denn wir hatten einen Monat lang, mehr als einen Monat lang alles vorbereitet, meine Schwester macht mir noch heute mit über vierzig Jahren Vorwürfe wegen des fehlenden Ponys, der die Narbe eines Sturzes als Kind freilegte, die man jetzt nur noch bemerken würde, wenn man mit dem Finger darüberstreicht, aber wer wird schon mit dem Finger darüberstreichen, und außerdem ist da noch das Make-up und außerdem ist sie unnahbar, wir sind fünf Geschwister, zwei Mädchen, drei Jungen, meine Mutter mit erschöpftem Seufzer

– Wer hat nicht sein Kreuz zu tragen?

und die anderen Erwachsenen hatten Mitleid mit ihr, ginge sie auf die Sekundarschule, würde sie nie alt werden, weil die Schule für sie vor Ewigkeiten aufgehört hat, hat sie jetzt jede Menge Warzen, die Scheidung hat sie aufgerieben, und dann hat die Einsamkeit sie bit, ich zum Kräuterhändler

– Wenn wir weiter keine Fehler machen

bitter, grimmig gemacht, der Lieferwagen bog links zum Lagerhaus ab, umfuhr Steine, denen der Kräuterhändler gerade noch um ein Haar ausweichen konnte, was mich dazu verdammte, mir den Kopf am Wagendach zu demolieren, wir haben das mehr als einen Monat lang vorbereitet, denn der Mann hatte nicht aufgehört, mir war so, als hätte ein Fuchs den Weg gekreuzt, aber wahrscheinlich habe ich mich geirrt, sich über uns zu beklagen, Briefe ans Gericht, Briefe an die Polizei, ein starrsinniger Anwalt, erblickte er uns von weitem auf der Straße, wechselte er den Bürgersteig, dabei waren wir von Geburt an Freunde gewesen, ich erinnere mich daran, vor Ewigkeiten, damals waren wir Grünschnäbel, eine seiner Cousinen geküsst zu haben, die Leoncia hieß, und das war mehr wegen des Namens als sonst was, die einzige Leoncia, die ich im Leben gekannt habe, sie ist wenige Jahre darauf gestorben, woran, weiß ich nicht, es heißt an einem Aneurysma, aber was ist ein Aneurysma, sie konnte vorher schon nicht mehr weit gehen, wurde schnell müde, wer garantiert mir, dass der Kuss nicht ihre Gesundheit beeinträchtigt hat, sie war so klein und dünn, nach dem Kuss erklärte sie mir

– Jetzt müssen wir heiraten wenn wir groß sind

dabei rasierte ich mich noch nicht einmal und wollte auch nicht wen auch immer heiraten, ich wollte der Kaukasische Bär, der Champion im Freistilringen, sein, antwortete

– Ist in Ordnung

und floh vor ihr wie der Teufel vorm Kreuz, Leoncia, also ehrlich, der Kräuterhändler, wobei er das Lenkrad, Unebenheiten meidend, nach rechts und nach links drehte, um mich zu beruhigen

– Sie werden uns nie zu fassen kriegen

berührte mein Knie

– Woran denkst du?

ich war mit der Erinnerung an Leoncia beschäftigt, mir kam ein Paar blaue Schuhe während einer Taufe in den Sinn

– An gar nichts

und tatsächlich an gar nichts, Leoncia ist bereits Staub, in ein paar Stunden ist der Mann ebenfalls Staub, wir haben das sorgfältig vorbereitet, der Kräuterhändler und mein Bruder haben tagelang den Plan vervollkommnet, ohne Leiche, Leoncia, kein Verbrechen, wer kann uns da verurteilen, unsere Eltern haben uns zu ihrer Beerdigung mitgenommen, und ich habe nicht zum Sarg geschaut, war außerstande, sie anzusehen, aber der Chrysanthemenduft rings um die Bahre wühlt mich noch heute auf, plötzlich eine Art Weg mit Traktorspuren, auf dem der Wagen kaum noch hüpfte, eine dunkle Masse in der Ferne, der Kräuterhändler wies mit dem Kinn darauf

– Das Lagerhaus

dessen Besitzer, ein Gevatter von ihm, ihm den Schlüssel geliehen hatte, der Kräuterhändler hatte ihm erklärt, er müsse für drei oder vier Tage ein paar Fässer dort aufbewahren, der Mann schien wegen des Todes der Cousine nicht traurig zu sein, er kam mir verschreckt vor, im Sonntagsstaat zwischen Vater und Mutter, während ich strahlte, weil ich nun nicht mehr heiraten musste, ein fünfzehnjähriger Junge mit einem Ehering, das kommt nicht häufig vor, ich erinnere mich daran, wie ich während der Messe erleichtert die Abwesenheit des Rings an der linken Hand abtastete, meine Mutter leise zu mir, während sie mich in den Nacken zwickte

– Sitz gerade

und ich kerzengerade, ohne Buckel, schaute zu, wie die Brille des Priesters von den Flammen der Kerzen elastisch wurde, der Lieferwagen stand auf einer Art Sandplatz links vom Lagerhaus, und der Mond, von dem ein Stück abgeschnitten worden war, tauchte zwischen zwei Wolken auf, wozu mir Gedanken machen, wenn der Kräuterhändler und mein Bruder sicher waren, dass niemand uns entdecken würde, wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich das Mädchen auch mitgenommen, aber da wir Mützen bis zum Hals aufhatten, wusste sie ja nicht, wer wir waren, und dann bringt ein sieben- oder achtjähriges Kind natürlich auch alles durcheinander, was kann es schon sagen, welcher Richter würde es ernst nehmen, und falls der Richter es ernst nahm, würde niemand uns mit der Sache in Verbindung bringen, ich zu meiner Frau

– Ich habe eine Versammlung in der Anwaltskammer

meine Frau, die das Abendessen hinunterschlang

– Eine Versammlung in der Anwaltskammer?

ohne mich anzusehen, wozu, wir haben lange schon aufgegeben, einander anzusehen, ich bin gut dafür, Reißverschlüsse zuzuziehen, und meine Frau ist gut dafür, mich hin und wieder Leoncia vergessen zu machen, die Dioptrien des Vaters, den kleinen weißen Sarg, die schiefen Flammen der Kerzen, alle zum Windfang geneigt, vielleicht flog die Seele auch dort hinaus, das Grauen angesichts der noch weißeren Hände, die sie ihr auf der Brust gefaltet hatten, von Zeit zu Zeit verschwand der Vater auf der anderen Seite der Blumen im offenen Taschentuch, wenn er es in die Tasche steckte, war das Gesicht ganz verändert, die Augenbrauen, die Lippen, die Nasenflügel noch da, aber an verschiedenen Stellen, wenn wir uns mit einem Taschentuch abreiben, sehen wir hinterher anders aus oder, besser gesagt, braucht es eine Weile, bis wir wieder wir selber sind, meine Frau, indem sie sich über den Pudding hermachte

– Diese Versammlungen haben breite Schultern

und gerade deswegen gehe ich ja dorthin, mein Schatz, den Reißverschluss hochziehen und sie schmaler machen, falls ich noch Make-up brauche, rufe ich meine Frau, und meine Frau leise

– Hornochse

ehrlich, ich lüge nicht, meine Frau

– Hornochse

brauchte dringend ein Taschentuch wie der Vater der Verstorbenen und stopfte ihres, da sie keine Tasche hatte, in den Ärmel, ich ging die Tür zuschlagend hinaus, nachdem ich versprochen hatte, dass wir uns später noch eingehender mit dem

– Hornochse

beschäftigen würden, der Kräuterhändler, denn das Thema verdiente es, ich tat so, als hätte ich das

– Es geht mir heute nicht gut tut mir leid

das mich noch auf der Fußmatte erreichte, nicht gehört, der Kräuterhändler fuhr um den Betonblock herum, wo sie das Unkraut weggemäht hatten, bis wir neben dem leeren Lieferwagen hielten, selbstverständlich würde ich sie, wenn ich nach Hause kam, nicht schlagen, oder besser gesagt, es würde nicht notwendig sein, sie zu schlagen, ein Schubser gegen die Kommode mit den Kanten aus falscher Bronze würde reichen, ich erinnere mich an meinen Vater, der zu meinem Bruder und zu mir

– Kurze Steigbügel Jungs kurze Steigbügel bei Stuten immer kurze Steigbügel

und an meine Mutter, die das Gespräch ohne einen Mucks, ordentlich abgerichtet, brav mithörte, während sie sich an uns armen Unschuldslämmern am Ende ungezähmt rächte, als die Thrombose meinen Vater in den Sessel zwang, zwickte sie ihn hin und wieder sogar unter der Decke, nicht eigentlich meinen Vater, die noch lebendige Hälfte von ihm, die Hand der noch lebendigen Hälfte über der bereits toten Hälfte, und demzufolge die noch lebendige Hälfte in der Kehle

– Scheiße

er, der nie Schimpfworte benutzte, wütend auf seine Krankheit, meine Mutter letztlich die Siegerin, die Nase fast an seiner

– Versager

sie zerdrückte ihm nicht die Banane zum Abendessen, Ergebnis, wir kamen ins Wohnzimmer und fanden unseren Vater dort vor, wie er die intakte Banane in einer Art und Weise mit Blicken anstarrte, die sogar meinen Bruder und mich, die wir kaum zu Sentimentalitäten neigen, die uns beinahe, der Kräuterhändler klopfte an die Tür des Lagerhauses, schreckte damit die Fledermäuse auf, die dunkler als die Dunkelheit waren, sich mit phosphoreszierenden gelben, lila, grünen Schreien orientieren, uns beinahe rührten, die Augen meines Vaters zu uns

– Tötet sie

die Augen meines Vaters

– Bitte tötet sie

mein Bruder und ich starrten einander an

– Vater

außerstande, sie zu töten

– Sagen Sie das nicht Vater

mein Bruder ging, schlimmer, als wäre er über die Möbel, die Teppiche gestolpert, in sich selber stolpernd hinaus, er stolperte nicht über die Schuhe, stolperte in sich selber, was die Art von Stolpern ist, die die schwerwiegendsten Stürze hervorruft

– Ich halte das nicht aus

obwohl er gegen Konsoltischchen, das Tischchen für die Patience, den riesigen Heiligen aus vergoldetem Holz stolperte, den unserer Großvater dem Prior abgeschwatzt hatte, und im Lagerhaus saßen die beiden Geldeintreiber auf Kisten, und der Mann lag, die Handgelenke und Fußknöchel zusammengebunden, stumm auf dem Boden, ohne uns anzusehen, unmöglich wiederzuerkennen, weil ihm fast alle Zähne fehlten und die Gesichtszüge durcheinandergeraten, schief waren, so viel Blut am Kopf, ein Ohr zerrissen, nur noch ein Auge, das durch uns hindurchschaute, ohne uns zu sehen, wir waren zusammen zur Schule gegangen, waren zusammen ins Sportstudio gegangen, waren zusammen ins Kino gegangen, die Schwester wollte nicht mit mir gehen, aber ihm gelang es, sie zu überzeugen

– Schreib ihr einen Brief sei doch nicht blöd und sag ja

wir haben den Brief gemeinsam geschrieben, haben eine getrocknete Blume hineingelegt, und sie sagte, sie würde es sich überlegen, sagte vielleicht, sagte kann sein, und dann erfuhr ihre Stiefmutter davon und widersetzte sich, und das war es dann, sie bekam Hausarrest, außerdem wurde ihr verboten, mit Jungen zu sprechen, der Mann durfte drei Wochen lang sonnabends nicht ausgehen, im Lagerhaus hörte man phosphoreszierende Schreie, der für die schwierigen Geldeintreibungen zu uns, indem er auf ihn zeigte

– Der da ist ganz still

und in einer Ecke ein Traktor ohne Räder, ein Pflug, Säcke, der Wind in einer Dachluke, verschiedene Werkzeuge, draußen pulsierte langsam die ländliche Nacht, Dutzende Fünfliterflaschen, der Mann betrachtete uns plötzlich mit dem einzigen Auge und verlor uns, der Kräuterhändler schob ihn mit der Fußspitze an

– Mistkerl

und was einmal sein Mund gewesen sein musste, weil etwas, was eine Zunge gewesen sein musste, in etwas zitterte, was einmal Kiefer gewesen sein mussten, versuchte ein Wort, welches, weiß ich nicht, weder der Kräuterhändler noch ich verstanden es wegen der phosphoreszierenden, manchmal begegne ich seiner Schwester, Schreie, und wir tun so, als kennten wir uns nicht, der Fledermäuse, so viel Wind in den Bäumen, im Dunkeln irgendetwas, das mir noch mit vierzig Jahren Angst einjagt, vor allem auf dem Lande, und meine Mutter so weit weg, es ist schon unglaublich, wie die Mütter, ich werde nicht darüber reden, weiter im Text, es war ihr Duft, als ich klein war, natürlich habe ich niemandem davon erzählt, ein Duft, den ich beispielsweise bei meiner Frau nie gefunden habe, mag sein, dass die Schwester des Mannes ihn jetzt hat, nachdem wir aneinander vorbeigegangen sind, suche ich in der Luft ringsum danach, finde ihn aber nicht, während ich ängstlich um mich blicke, weil ich fürchte, jemand hätte es begriffen, mein Bruder manchmal

– Warum schniefst du so?

ich auf der Suche nach dem Taschentuch

– Mir muss irgendwas in die Nase geflogen sein

der Kräuterhändler stupste den Mann noch einmal mit der Schuhspitze an, und der Mann schaukelte hin und her, reglos, das einzige Auge oder etwas, von dem ich annahm, es könnte ein Auge sein, schaute ihn einen Augenblick lang an und vergaß ihn wieder, während sich zugleich in der teigigen Masse aus Blut an seinem Kopf eine Falte bildete, jetzt noch mehr Fledermäuse, deren Flügel man hörte, oder aber meine Angst erfand sie, gut möglich, dass meine Angst sie erfand, sie erfin, die teigige Masse mit einem Hauchen

– Drecksack

bevor sie sich auflöste, sie erfindet so viele Gefühle, die Angst, schaurige Tiere, Stürze in Abgründe, Leute, die uns verfolgen

– Komm her

die sehr viel größer sind als wir, einer der Geldeintreiber prüfte die Festigkeit eines Stücks Seil, indem er es auseinanderzog, in der anderen Dachluke des Lagerhauses zwischen zwei Mimosenbaumwipfeln eine Ahnung Mond, will heißen ein Fleck aus Wattedampf, der sich langsam seitwärts verschob, ich hasse es, mich fern von Städten aufzuhalten, weil mich alles in diesem scheinbaren Frieden bedroht, diese falsche Ruhe, der ich nicht traue, macht das Licht im Flur an, unterhaltet euch im Wohnzimmer, tretet beim Gehen über den Fußboden fest auf, schaut vom Eingang her nach mir

– Der schläft doch oder?

beugt euch über mich, lasst, wenn ihr geht, ein bisschen von euch hier, das mich beschützt, wenn mir wenigstens jemand hin und wieder seine Hand gäbe, ein Finger, den ich festhalten könnte, würde reichen, ob die Schwester des Mannes jetzt wohl falsche Zähne hat, ich habe hinten welche, nach einer gewissen Zeit werden sie zu unseren, anfangs ein ständiger Kampf mit der Zunge, und dann beginnen wir, sie zu vergessen, alles, was in einen hineinkommt, verändert sich in einem, Essen, verflossene Ereignisse, Backenzähne, der Kräuterhändler zum Besitzer des Lagerhauses

– Ich brauche es zwei oder drei Tag lang um den Gabelstapler unterzustellen sobald der Kunde ihn mitnimmt gebe ich den Schlüssel zurück

während ihm ein Hund mit Freundschaftsversicherungen um die Beine strich, mein Bruder hat versprochen, eine Eule mit riesigen Flügeln flog zwischen den beiden Baumstämmen hindurch, die haben Ohren wie wir, hin und wieder ein Schrei, in der Apotheke gab es oben auf einem Schrank eine ausgestopfte, schon ein bisschen von Motten zerfressen, dass er das Geld des Mannes mit uns teilen würde, natürlich nicht alles, einen Teil, ich würde mich gern mit seiner Schwester unterhalten, jetzt, wo wir erwachsen sind, sie war verheiratet gewesen, hatte sich getrennt, hatte wieder geheiratet, hatte sich wieder getrennt, färbt sich, seit sie die Sekundarschule verlassen hat, das Haar, nicht blond, sondern rotblond, so ein Schwachsinn, die Gesichtszüge haben sich verändert, man muss weiter in der Schule bleiben, damit man bleibt, wie man ist, wenn ich mich morgens rasiere, sehe ich sie von oben, stets unverändert, sogar in der Café-Konditorei essen sie die gleichen Buttercremekuchen, Geheimnisse, Getuschel, wichtige Unterredungen, mein Vater ist schon vor Ewigkeiten gestorben, meine Mutter facht sogar im März, sogar im April, sogar im Juli die Glut im Kohlebecken an, stöbert mit einem langen Löffel in der Asche

– Es ist kalt

nicht draußen, in den Knochen, mit der Zeit vereist innen alles, der Kräuterhändler zu uns

– Wenn ich diese Zigarette aufgeraucht habe bringen wir die Arbeit zu Ende

drückte auf den Hebel des Feuerzeugs, das erst beim dritten Mal anging, die Launen dieser Mistdinger aus Plastik nerven mich, ehrlich, ich möchte sie immer gleich in den Rinnstein werfen, das Vermögen des Mannes in einem Unternehmen, das mein Bruder geschaffen hat, um ihm die Steuerlast zu erleichtern, und der Undankbare beschuldigt ihn, es verkauft zu haben, ich frage mich, ob sie, falls ich demnächst mit seiner Schwester spreche, wieder fünfzehn Jahre alt ist, weil die fünfzehn Jahre irgendwo in der Frau von heute versteckt sein müssen oder vielleicht gar nicht versteckt sind, sondern ein kleines Stückchen davon in einem Lächeln zu sehen ist, die Geldeintreiber, einer von ihnen spielt Billard, warteten, an kleinen Schritten draußen merkte man, dass es Hunde beim Lagerhaus gab, dieser Husten, dieses Asthma, diese immer vor Hunger aufgeklappten Kiefer, der Mann jammerte hin und wieder, obwohl sie unsere Gesichter nicht sehen konnte, hätten wir die Kleine nicht in der Garage zurücklassen sollen, trotz der Mützen und der Karnevalsmasken, die wir trugen, meine roch nach ranziger Pappe, und ich frage mich, wo mein Bruder die aufgetrieben hat, er hat mir und den anderen immer gesagt, wo es langgeht, nur dem Kräuterhändler nicht, der uns allen Befehle erteilte, in seinem Laden gab es ein kleines Hinterzimmer voller Bilder und Kerzen, in dem der Typ sich auf Knien mit Gott unterhielt, der ihm meinem Bruder zufolge immer gehorchte, aber ich weiß nicht, ob ich das glauben soll, mein Bruder glaubt es, die anderen glauben es, er zermahlt Pflanzen in einem Mörser und heilt bei den Leuten den Krebs, manchmal braucht es nicht einmal einen Tee, eine Segnung von ihm reicht, von dem Augenblick an, in dem er meinem Bruder garantierte

– Gott sagt es gibt kein Unglück

haben die Geldeintreiber begonnen, den Mann zu überwachen, und notierten seine Gewohnheiten, er schläft hier, geht dorthin, besucht sonntags seine Eltern, die auch mit meinem Bruder gesprochen haben, damit er ihre Unternehmen schützt, wenn die Stunde des Teufels gekommen ist und die Schulden gewachsen sind, ich frage mich, ob die Schwester, die ich immer allein sehe, falls ich sie einlade, an der anderen Seite des Tisches sitzend, einen Kaffee annehmen würde, die Schreie der Fledermäuse hörten nicht auf, misstrauisch, steif, die Finger übereinander, mal waren die Fledermäuse weiter entfernt und dann wieder näher, weil die Intensität der Schreie sich veränderte, der Geldeintreiber aus dem Billardcafé hatte ein Seil für den Hals des, der Kräuterhändler

– Es darf keine einzige Spur zurückbleiben

für den Hals des Mannes mitgebracht

– Es lohnt nicht ihn hochzuheben wir machen das so mit ihm

die Schwester des Mannes schweigend vor mir, ich schweigend, die jungen Mädchen aus der Sekundarschule immer gleich alt, du bist nicht erwachsen geworden, nicht wahr, die Schwester des Mannes zu mir

– Wie bitte?

nicht neugierig, es tat ihr bereits leid, sie maß mich heimlich, Finger ohne Ringe, der Armreif, die Falte mitten auf der Stirn

– Wie bitte?

öffnete und schloss die Handtasche während der Kräuterhändler die Festigkeit

– Wie bitte?

des Seils prüfte, und mein Bruder natürlich abwesend, bei einer Versammlung der Anwaltskammer, damit alle ihn sahen, sie

– Wie bitte?

und ich schwieg, fand keine Worte, nein, hatte sie gefunden, hin und wieder änderte ich, die Sätze vervollkommnend, ihre Reihenfolge, wiewohl, wiewohl, das hört sich wie ein Vogelname an, Wiewohl, Wiwol, irgendetwas in mir, nicht in der Kehle, ich hätte wetten mögen, dass wiewohl fliegen kann, nicht in der Kehle, tiefer, schau ein Schwarm Wiwole lässt sich auf einer Platane nieder, alle haben den Schnabel zur selben Seite gedreht, ein Knoten, tiefer noch als die Kehle, weigerte sich, die Worte zu sagen, die Schwester des Mannes rückte den Clip am Ohr zurecht, weil die Feder, es war kein Ohrstecker mit einem Dorn, sondern ein Ohrring mit Feder, sie nervte, oder bin ich es, der sie nervte, oder sind es die Feder und ich, die sie nervten, sie nahm den Ohrclip wieder ab, knipste ihn über den kleinen Finger, und da kam aus meiner Kehle, ohne dass ich es wollte

– Mögen Sie Vögel mögen Sie Wiwole?

außer den Fledermäusen das Fiepen eines Käuzchens oder einer Eule, einer Eule, die Käuzchen sind weniger aufgeregt, beim Lagerhaus, auf einem Baum oder auf dem einstmals roten, heute mit abgeblättertem Lack im Gras umgekippten Traktor ohne Räder, ähnlich einem toten Pferd, kein einziger auf riesigen Rädern hockender Wiwol, erst am Morgen, wenn ich noch da wäre, aber das werde ich nicht sein, würde ich wieder welche sehen, die Geldeintreiber näherten sich dem Mann mit dem Seil, oder vielmehr der Geldeintreiber aus dem Billardcafé näherte sich dem Mann mit dem Seil, der zweite begleitete ihn nur für den Fall, dass, die Schwester, eine kleine Hilfe notwendig sein sollte, die Schwester des Mannes mit einer grünen Bluse und einem Armreif, der einen rundgebogenen Nagel imitierte

– Wann lassen Sie ihn in Frieden?

am Nebentisch eine ältere Frau, die Kuchenkrümel mit einem weißen Hündchen mit verschämten Augen teilte, bei dem man die Pupillen nicht erkennen konnte, und wenn man die Pupillen nicht erkennen kann, was sieht man dann, die Schwester des Mannes und der Mann waren einander nicht sehr ähnlich, aber die Nase und die Art, die Sätze auszusprechen, waren gleich, irgendetwas Gemeinsames in der Luft um sie herum, in der Aura des Lächelns, in den Gesten, ich möchte wetten, der gleiche Mangel bei beiden an einem oberen Backenzahn links, der Kräuterhändler zu, Wiwole Wiwole, der Kräuterhändler zu den Geldeintreibern

– Nun mal los

ich glaube, es hockten mehr Wiwole auf dem Dach des Lagerhauses, wollte sagen

– Nein

und sagte es nicht, wollte sagen

– Bitte nicht

aber ich hatte nicht den Mut, nicht seinetwegen, wegen der Schwester, die mir gegenübersaß, wegen uns beiden, die wir möglicherweise redeten, ohne dass ich es bemerkte, ich denke, ich schwieg, obwohl ich in mir voller Worte war, aber nicht wusste, mit welchen Worten, mein Schweigen bat

– Hör mich

bat

– Bitte hör mich

ihr schweigend von der Garage erzählen, ihr vom Lagerhaus erzählen, ihr vom Geld erzählen, auf dem Pausenhof in der Sekundarschule so viele Mädchen, mein Gott, und ich und der Geldeintreiber aus dem Billardcafé schauten dich durch die Gitterstäbe an, so viele Mädchen, so viele Geheimnisse, so viel Gekicher, so viele gleichgültige Seitenblicke zu mir hin, der ich hässlich war, ich bin hässlich, groß, dick, ohne Charme, einmal sagte meine Frau zu mir

– Ist dir eigentlich klar dass du, der Geldeintreiber aus dem Billardcafé, immer abstoßender wirst?

mehr als einmal meine Frau

– Ist dir eigentlich klar dass du immer abstoßender wirst?

und natürlich wusste ich das, selbst wenn ich sie nicht gehört hätte, ich wusste das, nie hat sich ein Mädchen für mich interessiert, die Verwandten meiner Frau haben sie am Ende überredet, weil ihr Vater Angestellter meines Vaters war, weil ihre Mutter Putzfrau war, weil der Vater des Hässlichen ein Studierter war, weil der Vater des Hässlichen wichtig war, der Vater des Hässlichen reich war, einer der Wiwole auf dem Dach des Lagerhauses, der Geldeintreiber aus dem Billardcafé zog das Seil stramm und ließ es wieder locker, stand neben dem Mann und sah ihn an, der Kräuterhändler zu ihm

– Lass mich ihm einen ordentlichen Schlag in den Nacken verpassen wegen all der Arbeit die er uns gemacht hat

und das kleine Mädchen, und da bin ich fast wieder wie üblich dabei zu lügen, was habe ich anderes im Leben gemacht, als zu lügen, tut mir leid, das kleine Mädchen wartet möglicherweise noch immer an einen Pfeiler gelehnt in der Garage, macht bloß das Licht nicht aus, meine Mutter zu mir

– Wirst du dein ganzes Leben lang Angst vor der Dunkelheit haben?

ich

– Kennen Sie etwa jemanden der keine Angst vor der Dunkelheit hat?

und sie schwieg, erinnerte sich an den Dachboden bei meinen Großeltern nachts und an den Wind, der, wenn der Oktober kam, das Oberlicht erzittern ließ, die Fensterrahmen gegeneinanderschlug, einmal abgesehen von den Ulmen im Garten, einmal abgesehen von den Schritten hinter ihr, aber wessen Schritten, mein Gott, der Großvater, indem er mit dem Spazierstock auf sie zeigte

– Du

und meine Mutter zu ihm

– Aus Liebe zu jenen die nicht mehr unter uns sind tun Sie mir nicht weh

also starrte mich meine Mutter schweigend an, der Kräuterhändler zum Geldeintreiber, der nicht Billard spielte, ärgerlich

– Reich mir mal ein Tuch damit ich die Hand daran abwischen kann ich habe mich an dem Typ schmutzig gemacht

ich hätte gern, dass ein Wiwol, ich zu meiner Mutter

– Hören Sie etwa die Wiwole nicht?

für uns sang, aber jedermann weiß, dass Wiwole nicht singen, der Kräuterhändler warf das Tuch in dem Augenblick auf den Mann, in dem der Geldeintreiber aus dem Billardcafé ihm kniend das Seil um den Hals legte und es anzuziehen begann, wie mein Bruder sagte

– Damit es ein Verbrechen ist muss es eine Leiche geben und wenn es keine Leiche gibt

mein Bruder

– Kann uns niemand etwas anhaben

niemand kann uns etwas anhaben, die Dunkelheit schon, die Schwester des Mannes schwieg, ohne mich dabei anzusehen, er sah dem Geldeintreiber aus dem Billardcafé zu, wie er neben dem Mann kniete, das Seil mit Masséstoßkonzentration herunterzog, mir war so, als würde ein Buckliger von einem Korbstuhl aus den Stoß verfolgen, schafft er es, schafft er es nicht, ich wette, er vergeigt es, er versagt, ein Junge aus goldenem Metall pinkelt goldenes Pipi in einen Nachttopf aus goldenem Metall, ein üppiges Pipi, im Bogen, nicht nach unten, geizig, tröpfchenweise, der Kräuterhändler zum Geldeintreiber aus dem Billardcafé

– Wir haben nicht die ganze Nacht Blödmann

was dessen Konzentration beeinträchtigte, die Schwester des Mannes zu mir

– Warum haben Sie darauf bestanden dass ich hierherkomme damit Sie mir etwas sagen?

verschob den Armreif, sah mich an, sah mich nicht an, sah mich an, und jetzt kein Wind, kein Oberlicht, keine Fensterscheiben, keine Eule, nicht einmal ein Käuzchen, nur die Erde drehte sich, drehte sich an verzogener Achse, denn man hörte das Geräusch, der Mann versuchte, einen Arm zu heben, was ihm nicht gelang, die Beine versuchten, sich ein wenig auszustrecken, bevor sie sich wieder anwinkelten, ein Fuß noch mit einem Strumpf, der andere nackt, ich flüsterte beinahe der Schwester zu, die nicht lockerließ

– Was wollten Sie mir sagen?

und ich, die Augen auf der Tasse, in der nichts war, während ich die Leere umrührte

– Ich hasse, was ich gerade erzähle

während der Bucklige mich unterstützte, in dem er nickte

– Er hasst wirklich was er gerade erzählt