Gestern in Babylon hab ich dich nicht gesehen - António Lobo Antunes - E-Book

Gestern in Babylon hab ich dich nicht gesehen E-Book

António Lobo Antunes

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Nachts träumen die Menschen ihre Geschichten. Die Dämonen werden übermächtig, die Ängste unbezwingbar, die Sehnsüchte riesengroß. In der Nacht, um die Lobo Antunes’ Roman kreist, denken die Menschen über ihr Leben nach, in Lissabon, Évora und Estremoz. Zwei Ehepaare, eine Tochter, Verwandte und Kollegen, Kriminalpolizisten – sie alle sind in eine Geschichte verstrickt, in der es um Betrug, Verrat und Schweigen geht, vielleicht sogar um Mord. So setzt sich ein schillerndes Mosaik zusammen, das die stille Nacht der Einsamkeit jedes Einzelnen zeigt, die Nacht eines Landes, die Nacht in uns allen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 709

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



António Lobo Antunes

Gestern in Babylonhab ich dich nicht gesehen

Roman

Aus dem Portugiesischen

von Maralde Meyer-Minnemann

Nachts träumen die Menschen ihre Geschichten. Die Dämonen werden übermächtig, die Ängste unbezwingbar, die Sehnsüchte riesengroß. In der Nacht, um die António Lobo Antunes’ Roman kreist, denken die Menschen über ihr Leben nach, in Lissabon, in Évora und in Estremoz. Zwei Ehepaare, eine Tochter, Verwandte und Kollegen, Kriminalpolizisten – sie alle sind in eine Geschichte verstrickt, in der es um Betrug, Verrat und Schweigen geht, vielleicht sogar um Mord. So setzt sich ein schillerndes Mosaik zusammen, das die stille Nacht der Einsamkeit jedes Einzelnen zeigt, die Nacht eines Landes, die Nacht in uns allen.

ANTÓNIO LOBO ANTUNES wurde 1942 in Lissabon geboren und hat Medizin studiert. Während des Kolonialkrieges war er als Militärarzt in Angola, arbeitete danach in der Psychiatrie und war lange Jahre Chefarzt in einer Psychiatrischen Klinik in Lissabon. Lobo Antunes zählt zu den wichtigsten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. Sein mit zahlreichen Preisen ausgezeichnetes Werk ist in vierzig Sprachen übersetzt.

Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel»Ontem Não Te Vi Em Babilónia«bei Publicações Dom Quixote, Lissabon.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Der Verlag dankt dem Portugisischen Kulturministerium und der Generaldirektion für das Buch- und Bibliothekswesen für die Förderung der Übersetzung

Copyright © der Originalausgabe 2006

António Lobo Antunes und Publicações Dom Quixote

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2008 Luchterhand

Literaturverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © plainpicture/Willing-Holtz

CP · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-29855-5V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Gestern in Babylon hab ich dich nicht gesehen (in Keilschrift auf einer Tonscherbe, 3000 Jahre vor Christus)

Inhaltsverzeichnis

Mitternacht

1.

2.

3.

4.

ein Uhr morgens

1.

2.

3.

4.

zwei Uhr morgens

1.

2.

3.

4.

drei Uhr morgens

1.

2.

3.

4.

vier Uhr morgens

1.

2.

3.

4.

fünf Uhr morgens

1.

2.

3.

4.

Mitternacht

1.

Wenn ich meine Tochter abholte, kam ich immer vor dem Läuten, und von der Patin der blinden Schülerin einmal abgesehen, die in entschuldigendem Tonfall Begrüßungen wisperte, die ich nicht verstand

(so übertrieben in ihrem Unglücklichsein, dass ich am liebsten geschrien hätte

– Ziehen Sie ab nerven Sie mich nicht)

war niemand sonst am Tor, so dass der Schulhof leer war bis auf einen Baum, dessen Namen ich nie erfahren habe und dessen Blätter für den Stamm viel zu klein waren und der möglicherweise aus mehreren verschiedenen Bäumen zusammengesetzt war

(die Hände meines Vaters winzig am Ende der riesigen Arme, möglicherweise war er aus mehreren verschiedenen Männern zusammengesetzt)

an der Rutsche, der Bretter fehlten, das Schild Nicht benutzen, und die Tür und die Fenster verriegelt, wegen des Eindrucks, dass drinnen niemand war, verstand ich die Patin der blinden Schülerin, sagte ihr wortlos

– Sie übertreiben nicht Verzeihung

und da ich keine Tochter mehr hatte, hörte ich auf zu atmen, nicht nur die Tür und die Fenster verriegelt, das Schulgebäude verlassen und alt, leere Räume, Staub, die Patin der blinden Schülerin rückte, welke Gerüche mit sich bringend, näher, und da, welche Erleichterung, das Läuten

(– Gefühlsduselei meinerseits du übertreibst doch)

rüttelte an den Blättern der Bäume

(oder an den Armen meines Vaters)

die Finger hörten auf, den Kofferverschluss zu quälen, und das Herz hinter den Rippen wurde kleiner, die Lunge atmete Gott sei Dank, ich bin hier, wie so oft überraschte mich beim Aufwachen, dass die Möbel dieselben wie am Vortag waren, und ich empfing sie misstrauisch, glaubte ihnen nicht, weil ich geschlafen hatte, war ich eine andere, und dennoch zwangen mir die Möbel die Erinnerungen eines Körpers auf, in den ich nicht zurückwollte, wie enttäuschend dieser kleine Tisch mit der langen Decke, dieser Stuhl, ich wisperte der Patin der blinden Schülerin zu, was sie mir zuwisperte, bat um Verzeihung, was niemand beachtete, und die Tür und die Fenster offen, die Lehrerin auf der Treppe, die ersten Kinder, Eltern

(nicht mein Vater)

am Tor zusammen mit mir, nicht mein Vater, er hatte keine Zeit

– Halt still du nervst mich

während er mit dem Angestellten oder am Schreibtisch der Zeitung, der voller Briefe war, ins Telefon sprach, es heißt, Sie verdienen viel Geld, Vater

(ich glaube es nicht)

tun Sie nicht so, als würden Sie nicht hören können, was ich zu Ihnen sage

– Du machst mich nervös du da

er starb vor ein paar Jahren, Mitternacht ist vorbei

(– Wahnsinnig spät Tochter)

und tun Sie nicht so, als würden Sie nicht hören können, was ich Ihnen sage, Mitternacht in diesem kleinen Haus in Pragal, bald schon feuchte Seehundsgeräusche im ersten Stock, und die Dame

– Du machst mich nervös du da

meinen Vater machte ich nervös, obwohl ich schwieg

(– Du bist ja immer noch da was soll das)

die Dame rief meinen Namen

– Ana Emília

planschte auf der Matratze, und an der Mauer die Triebe des Johannisbeerstrauches, die Schulglocke beschleunigte die Zeit, die Blätter des Baumes sprudelten überschnell Silben

– Ana Emília

in der Tür die blinde Schülerin, meine Tochter, die Zwillinge und die dicke Rotblonde, die man in der Turnstunde anschieben musste, die Putzfrau öffnete die Fenster, und weder leere Räume noch Staub, kein stocksteifer Toter mit weißer Krawatte spähte mich aus, nur Landkarten, Schreibpulte, mit Kreide geschriebene Zahlenreste, die Stirn meines Vaters, das Laken eines ungemachten Bettes

– Du kommst um Geld für deine Mutter zu erbitten nicht wahr?

er stöberte in der Hosentasche, und man hörte Schlüssel, er gab auf, die Zeitung, zwei oder drei dunkle Kabuffs

(in einer Ecke eine Flasche, und dort allerdings schon, glaube ich, Tote mit weißer Krawatte)

dies in einer Gasse in der Nähe eines Klosters, Frauen mit gefärbtem Haar in Sonntagskleidern auf ihren Inseln aus spanischem Parfüm, meine Tochter drückte ihren Kopf an meinen Bauch, ich drehte sie ein- oder zweimal um sich selber und hielt dabei ihre Schultern, weil ich fürchtete, sie könnte sich von mir lösen und an einer Ecke verletzen, Mitternacht in Pragal

(meine Mutter, bevor sie starb

– Ich brauche dich nicht

sie konnte den Mund nicht schließen, ihre Knie zitterten)

in Australien und in Japan ist Morgen, und alle Mütter leben, die Möbel, die die Lampe nicht erreicht, unsichtbar oder, besser gesagt, verdichtete Flecken, ich erriet den Schrank, in dem das Geschirr während des Regens klirrte, wäre die blinde Schülerin bei mir, würde sie, die Luft mit den Ohren messend, unruhig werden

– Was war das?

und kurz darauf fragte die Dame

– Ana Emília

nach der Uhrzeit, wie die Uhrzeit die Kranken beunruhigt, eigenartig, wie sie sie erregt

– Wie viel Uhr ist es?

und das von Sekunde zu Sekunde, sie zweifeln, lassen nicht locker

– Ganz sicher?

was zum Teufel bedeutet die Uhrzeit für sie, die Schule wird es weiterhin geben, den Baum, dessen Namen ich nie erfahren habe, und die Patin, die mit ihrem Entschuldigungsgewisper die Schulglocke überwachte

– Sehen Sie ich bin immer an ihrer Seite

stieg man von Pragal nach Almada hinauf, konnte man in den Lücken zwischen den Häusern immer mehr Tejo erahnen, diese armseligen Läden, diese Leute, träfe ich sie auf der Straße, würde meine Mutter sich vor mir aufbauen

– Hat dir dein Vater wenigstens Geld gegeben?

ich habe noch nie jemanden gesehen, der mit einem solchen Ungestüm seiner Zähne den beim Annähen eines Knopfes übrig gebliebenen Faden abschnitt, und jetzt dachte Ana Emília daran, während sie der Dame die Tablette gab, die auf

– Gardénia

bestehend in den Schlaf glitt

(eine Cousine, sie selber?)

die Tablette zwang sie in eine tiefere Zone hinab, in der ein alter Herr mit einem dreckigen Fingernagel auf den Globus wies

– Die Welt ist groß Mädchen

und er kehrte in den Sarg zurück, um sich dort auszustrecken, der Johannisbeerstrauch beschien die Wand und erlosch anschließend, als er die Wand beschien, hatte ein Ziegelstein aus dem Putz herausgelugt, und das kleine Fenster der Abstellkammer mit dem kaputten Elektrokocher und den keimenden Zwiebeln war beinahe auszumachen gewesen, meine Tochter mit mir auf dem Nachhauseweg, zwei meiner Schritte, drei ihrer Schritte, ein Hund schnüffelte Erinnerungen, und meine Tochter zog mich am Rock

– Der wird uns beißen

bis die Erinnerungen

(eine Schüssel mit Fleisch, die Besitzerin, die nach ihm pfeift, der Korb, in dem er sich einrollt)

den Hund zum Park führen würden, in dem vielleicht die Schüssel oder die Besitzerin

(– Du machst mich nervös du da)

ihn aufmunterten, während, wenn ich von Pragal nach Lissabon komme und die Mauer mit dem Johannisbeerstrauch sich in mir auflöst, kein dreckiger Fingernagel auf irgendetwas weist, der Globus hängt schräg auf seiner Achse, und die Welt ist, wenn man es sich recht überlegt, nichts Besonderes, eng, Wände über Wände, der Paravent, der mir das Zimmer verstellte, die Welt eine geschrumpfte Kugel, die die Farben des Vorhangs, des Lampenschirms, der Sofakissen und die Puppe meiner Tochter auf dem Tischchen fahl werden ließ, ich drückte ihren Kopf an meinen Bauch und versuchte eine Drehung voller Angst, sie könnte sich von mir lösen und sich verletzen, die Toten ganz gerade mit weißer Krawatte

– Vorsichtig

und vielleicht regnet es ja, denn ein Geschirrklirren, das der geschlossene Schrank dämpfte, mein Mann hinderte mich daran, mich an die Puppe geklammert zu drehen

– Was wird man von uns denken überleg mal

die Blüten des Johannisbeerstrauches in meinem Haar und auf dem Kragen ließen mich die blinde Schülerin, die Zwillinge und die dicke Rotblonde, die auf der Treppe stolperte, nicht sehen, ich schob meinen Mann weg

– Du machst mich nervös du da

dachte dabei an den Apfelbaum im Garten, winzige grüne Äpfelchen, und den umgekippten Hocker, ich erinnere mich an die Käfer beim Brunnen, obwohl wir ihn mit einem Blech abdeckten, als ich mich an die Käfer erinnere, feuchte Seehundsgeräusche, und die Dame

– Ana Emília

die Knöpfe der kleinen Strickjacke falsch geknöpft, eine Art sich rechtfertigendes Lächeln

– Zu einer Tasse Tee würde ich nicht nein sagen

Verbenentee, Lindenblütentee, Tee aus dem Unkraut rings um den Apfelbaum, das wir nie abgeschnitten haben, hätten Sie nicht Lust auf einen Tee aus dem Unkraut, bei dem sich meine Tochter mit fünfzehn Jahren erhängt hat, gnädige Frau, hätten Sie nicht Lust zu erschrecken, während die Puppe auf dem Boden liegt, das Gesicht gegen keinen Bauch, der sich unaufhörlich um sich selber drehte, einmal, nicht um Mitternacht wie heute

(ich weiß nicht, wieso ich mich nicht schäme, dies zu sagen)

früher am Abend habe ich meinen Mann dabei überrascht, wie er einen Rock von mir anprobierte und meine Ohrringe, genau wie die Frauen in Sonntagskleidern in der Gasse, mein Vater vom Schreibtisch her

– Du bist ja immer noch da was soll das

während er mit dem Angestellten sprach oder die Sprechmuschel zuhielt, die Zeitung eine für Heiratsanzeigen, die die Kunden per Post schicken, und mein Vater las dem Angestellten die Briefe vor

– Was für Dummköpfe

meine Mutter an der Bushaltestelle hundert Meter weiter die Straße hinunter so verbraucht, als sie auf mich zutrabt und vor Müdigkeit die Silben vermischt

– Hat er dir wenigstens Geld gegeben?

während ich dachte

– Weder der eine noch die andere begreifen wer ich bin sie kennen mich nicht

würde das Auto des Mannes, der versprochen hat, mich zu besuchen, um den kleinen Platz herumfahren, wäre ich ihm für seine Lügen sogar dankbar, mein Mann sah mich im Spiegel und nahm einen Ohrring ab, überzeugt davon, alles abgelegt zu haben, den Rock, die Bluse, die Kette, die Früchte des Apfelbaums nun nicht mehr grün, groß, ein Verwandter von uns knotete das Seil auf, das meine Tochter vom Wäscheständer gestohlen hatte, und seine Empörung schrie, ich half der Dame beim Trinken aus der Tasse, und beim zweiten Schluckversuch ein Seufzer

– Ich kann nicht mehr

genauso gewispert wie die Entschuldigungen der Patin der blinden Schülerin, die mir das Schultor und die verschlossenen Fenster zurückbrachten, vor dem leeren Pausenhof glaubte ich immer noch, doch heute, das möchte ich wetten, ist da keine Schule mehr, ein Amt, Büros, der Baum und die Rutsche eine Müllkippe, auf die man Abfall wirft, und die Hälfte eines Rollladens klapperte und klapperte, am Monatsende rechnete im Wohnzimmer, wenn man das überhaupt Wohnzimmer nennen konnte

(ein Buddha auf einem nachgemachten Altar)

die Nichte der Dame die Zeit ab, meine Mutter nahm mir, obwohl sie gestorben war, den Umschlag weg und prüfte dessen Dicke

– Hat er dir wenigstens Geld gegeben?

schloss ihn ein und ließ den Schlüssel in der Schürzentasche verschwinden, indem sie meinen Vater verfluchte und die Schatten befragte

– Erklär mir mal einer wie man diesem Esel glauben kann?

die Familie beobachtete sie aus den Bilderrahmen, und sie auf ihrem Bild als junge Frau bereits verbittert, bereits ernst, ich besuche sie nie auf dem Friedhof, genauso wie ich meine Tochter nicht besuche, einem Ort, an dem Knochen brodeln, die versuchen sich auszudrücken, die Glocke der Kapelle tiefer als die Schulglocke, Namen, die schlecht zu entziffern sind und niemandem gehören, die Illusion, dass demnächst ein Kind am Schultor und wir beide uns glücklich drehen, mein Mann reichte mir den Ohrring auf der Handfläche, abgesehen von der Puppe noch das Aquarium ohne Fische und Wasser, jetzt mit einer Zange in seinem Bauch, nicht mehr auf der Diele oder im Schlafzimmer, in der Speisekammer, ich spüre, wie es mitten zwischen dem Eingemachten glitzert, und vielleicht ja als Überraschung ein Fisch, das starre Auge, das mich forschend anschaut, der Schwanz peitscht, und wo ist er jetzt, zu Zeiten meiner Tochter künstliche Pflanzen und ein Fläschchen Futter, das nach Kreide schmeckte, meine Tochter

– Das schmeckt nach Kreide

all die Begebenheiten, die ich am liebsten wegwerfen würde

– Haltet bittet diesen Kram hier mal einen Augenblick

Intimes, was ich bis heute verschwiegen habe, den Mann, der versprochen hat, mich zu besuchen, und nicht kommt, bitten

– Hör mal

mich vor ihn hinsetzen, übervoll mit Worten, anfangen und alles durcheinanderbringen, Sätze verwechseln, mich irren, und er beinahe gerührt, glücklich, erfinden, dass mein Vater mich auf den Schoß nahm, die Zeitung wichtig war und in einer wichtigen Straße lag, nicht in einer Gasse mit kleinen Läden und Frauen in Sonntagskleidern auf ihren Inseln aus spanischem Parfüm, mein Vater in einem ordentlichen Anzug, nicht in diesem viel zu kurzen Jackett, Angestellte, die ihn achteten, nicht einen, mehrere, ein dreckiger Fingernagel

(nicht seiner)

weist auf den Globus

– Die Welt ist groß Mädchen

in der Annahme, ich würde mir unendliche Regionen auf einem am Pazifik ein bisschen eingedellten Blech vorstellen und nach Gutdünken bevölkern, Neger mit Pfeilen, Schiffbrüche, einen Ehemann erfinden, eine Tochter und einen Garten mit einem Apfelbaum, ich Dummkopf, als wenn der Ast eines Apfelbaums ein fünfzehnjähriges Mädchen tragen könnte, ohne abzubrechen, ein Johannisbeerstrauch an der Mauer in Pragal und eine behinderte Dame im ersten Stock, die vielen Begebenheiten, die mich trotz allem rührten und von denen ich gern hätte, dass sie jemand erführe, der mir Aufmerksamkeit schenkt, die Nacht und die Schrecken, die die Stille mit sich bringt, wären weniger schwierig für mich, als kleines Mädchen wohnte ich in der Nähe des Friedhofs und sah das von den Grabsteinen aufsteigende Phosphoreszieren, ich nehme an, dass die zwischen Steinen und Wurzeln eingeklemmten Verstorbenen wiederauferstehen wollen, diejenigen, die ich nie kennengelernt habe, inspizieren die Wohnung und fragen mich nach der Verwendbarkeit der Gegenstände aus, nach den vielen Begebenheiten, die ich gern jemandem erzählen würde, sie schenken mir etwas Beachtung, Anteilnahme, und tief in mir eine Schulglocke, die nicht aufhört zu läuten, nicht aufhört, niemand läutet sie, nur der Wind, ich komme näher, und die Glocke von allein, meine Großmutter vergrub die neugeborenen Jungen der Katze, die wimmerten und sich aufbäumten, wegkrochen und protestierten, sie sperrte zuerst die Katze in der Speisekammer ein

(und das wütende Tier warf sich gegen die Tür)

dann packte sie die Jungen in einen Korb

(das alles schweigend)

hielt sie dabei am Fell im Nacken, am Schwanz, an einer Pfote, grub eine Grube und kippte den Korb dort hinein, während die Verzweiflung der Katze Einmachgläser umwarf, meine Mutter

(– Hat er dir wenigstens Geld mitgegeben?)

verbarg sich mit Augenbrauen eines bestürzten Mädchens in der Schürze

– Daran gewöhne ich mich nie

tränenvoll aufgeregt ohne Tränen, mein Großvater zu meiner Mutter, während er was auch immer in den Taschen suchte, ohne etwas zu suchen, oder eine Münze fand, sie einen Augenblick lang prüfend ansah und sie aus dem Fenster warf, er, der nicht einmal einen krummen Nagel wegwarf

– Tut mir leid deiner Mutter kann man nicht widersprechen

meine Mutter

– Vater

und mein Großvater wandte sich von uns ab, der Knochen im Hals ging auf und nieder, während meine Großmutter die Jungen mit Erde bedeckte, diese mit den Stiefeln glättete, und das Wimmern hörte auf, die Katze in der Speisekammer resignierte schließlich, wartete, die Stunden in der Konsoluhr, vier oder fünf, der Mechanismus zwang sie herauszustürzen, und man bemerkte sehr wohl die Anstrengung der Sprungfedern, die sie bis zum Rand schoben und herunterfallen ließen, beim Herunterfallen der letzten rieb meine Großmutter die Sohlen auf der Fußmatte ab, schaute uns herausfordernd oder so an

(und suchte wahrscheinlich hinter der Herausforderung Münzen in den Taschen)

während die Katze auf der geglätteten Erde herumschnupperte, in den Bohnenpflanzen verschwand und zwei Tage später mit von Trauer eingeknickten Beinen zurückkehrte, hätte ich die Uhr geerbt, die mit dem Plunder verkauft wurde, als sie das Haus verkauften, hätte sie bestätigt, dass Mitternacht ist, eine Uhr mit einem Porzellanmedaillon, das eine Kutsche darstellte, zwei Pferde

(einen Braunen und einen Falben oder, besser gesagt, ein braunes und ein weißes, vom Leben nachgedunkeltes Pferd)

und einen Mann mit Peitsche, der die Zügel hielt, im Inneren fabrizierten Gewichte und Scheiben die Stunden, rundeten sie, pressten diese Tontropfen herauf, wer wohl das Landgut gekauft hat, wer wohl wie ich unter dem Wimmern der Kätzchen leidet, die sich aufbäumen, wegkriechen, protestieren, wer fragt sich, das Ohr neigend

– Was ist das?

die Katze inspizierte, in die Dahlien geduckt, die Grube, auch von der Katze erzählen, bevor der Winter beginnt und mit ihm die schwarzen Weiden, die schwarzen Beeren des Johannisbeerstrauches auf dem Boden, feuchte Seehundgeräusche im ersten Stock, und die Dame, der mein Name abhandengekommen ist

– Sie

tastet die Ruinen der Vergangenheit ab, eine Gruppe Verwandter unterbricht das Kartenspiel

– Gardénia

und ein kleines Ruderboot in Schilf und Schlamm, sie versuchte es festzuhalten, doch es entwischte, sie rief es, doch es gehorchte nicht, sie bemerkte, dass das Boot nicht leer war, ein kleines Mädchen im lila Kleid lächelte ihr zu

– Wir sehen uns nie wieder

und es war sie selber, die sich zum Abschied zuwinkte, ein paar Takte Musik, und ein Priester tranchierte am Kopfende des Tisches ein Huhn, die Dame wandte sich an das kleine Mädchen, das aufgehört hatte, sie anzulächeln, damit beschäftigt war, Blumen am Hut zu befestigen

– Sie

während die Tochter mir das Gehalt hinhielt

– Sie unterscheidet schon nicht einmal mehr die Namen

so wie sie auch das Klirren des Geschirrs im Schrank und das tausendfache Knistern der Sparren nicht mehr hört, die Insekten, die trotz des Lavendels

(ich spüre aus der Ferne den Duft, mit Schleifchen verbundene Lavendelkissen)

ihre Kopfkissenbezüge und die Tischtücher in der Truhe zernagen, die Stapel von Zeitschriften

(La Femme Idéale, Wunder aus Spitze, Der gute Koch)

das Eckbord mit den erhabenen Schnitzereien, und der Mann, der versprochen hatte, mich zu besuchen, in Évora bei seiner Frau, die aus seinem Mund die Vertraulichkeiten entgegennimmt, die mir zustehen und die ich bis heute verschwiegen habe, wahrscheinlich Geheimnisse wie die anderer Menschen auch, Ramschbanalitäten, Falschheiten, meine Tochter, die fünfzehn war

(ich glaube, ich sagte, fünfzehn Jahre)

nahm ihre Puppe, ausgerechnet die, die sie seit Ewigkeiten nicht mehr angeschaut hatte, denn Leidenschaften kommen und gehen wie gesagt

– Ruf mich wenn das Abendessen fertig ist ich gehe raus in den Garten

daher habe ich sie nicht einmal angesehen, während ich an das Meer bei Póvoa de Varzim dachte, das mir so häufig in den Sinn kommt, das Meer, der Strand und der Duft der Wellen, der Morgennebel, der es mir fast unmöglich macht, meiner Großmutter zuzuschauen, wie sie die Kätzchen vergräbt, und die Flut, die deren Schrecken dämpft, immer wenn mir etwas Sorgen bereitet, sind der Wind und die Gischt da und retten mich, der Wind in den Spalten der Fensterrahmen, und obwohl meine Mutter sich wegen des Sandes auf dem Fußboden aufregte, danke, Wind, du hast keine Ahnung, wie viel ich dir verdanke, unser Haus nicht in Póvoa de Varzim, im Landesinneren, wohin die Schreie der Fischkutter nur im April gelangten, wenn alles still war, die Pumpe vom Brunnen, die Finken im Ostgarten, mein Großvater breitete die Netze gegen die Vögel aus, und selbst wenn sie stranguliert waren, beharrte ich darauf, sie zu befreien, klatschte ich angesichts der toten Flügel in die Hände

– Verschwindet

wurde ich ungeduldig

– Geht mir aus den Augen und zwar plötzlich

und suchte was auch immer in den Taschen, ohne etwas zu suchen, sah nicht prüfend die Münze an und warf sie auch nicht hinaus, denn ich hatte nicht einmal einen krummen Nagel, hätte ich einen Bonbon, würde ich ihn den Finken geben

– Wenn ihr mir versprecht dass ihr geht schenke ich ihn euch

es gab Zeiten, in denen das Meer im August so ruhig war, darüber Wolkenfrieden, es reicht das Meer im August und die Erinnerung an das Casino, und ich bin gleich gerührt, die Tränen, die ich vergießen würde, wäre ich dort, Freunde, der Wunsch, die Steine zu küssen, wenn ich sie wiedersehe, sie an meiner Handfläche zu spüren, sie an meine Wange zu führen, in Lissabon rief ich meine Tochter, während in Póvoa die Wellen kamen und gingen, möglicherweise eine einzige, unablässig wiederholte Welle, mein Mann im Spiegel mit dem Ohrring erstarrt, das kraftlose Kinn eines Rindes mit reglosem Maul, doch durchgestreckten Gliedern, nachdem ihm ein Metalldorn in den Nacken gerammt wurde und es zur Seite fiel, die Dame versetzte dem Priester, der am Kopf des Tisches das Huhn tranchierte, einen Stoß mit dem Ellenbogen und sprach dabei meinen Namen aus

– Ana Emília

Schmetterlinge im Sommer, sei es in Póvoa de Varzim, sei es in Entroncamento, wo ich auch gewohnt habe

(wenn ich die Gelegenheit dazu habe, schreibe ich über die Züge, acht Jahre meines Lebens im Zeichen der Züge, ich bin aus der Zeit der Dampfloks, Stimmen der Fegefeuerseelen, die im Kessel litten und um Hilfe flehten)

sei es in Póvoa de Varzim, sei es in Entroncamento, sei es hier in Lissabon, Schmetterlinge, ein blauer und zwei weiße, während ich meine Tochter zum Abendessen rief

(ob es noch diese Netze und die Finken gibt?)

oder zwei blaue und ein weißer oder drei blaue und drei weiße, ist egal, wichtig ist, dass Schmetterlinge da waren, vielleicht mehr als drei, ein halbes Dutzend, ein Dutzend, vierzig, sechzig, Hunderte von Schmetterlingen um den Apfelbaum herum, also gut, wenn jemand

(derjenige, dem ich gern eine Menge erzählen würde, Intimes, das ich aus Scham verbarg)

wenn der Mann, der versprach, mich zu besuchen, der bei seiner Frau in Évora ist, ihr die Aufmerksamkeit schenkt, die mir zustehen sollte, mir zusteht, mir gehört, ein paar davon abziehen will, soll er es tun

(möglicherweise Finken und Netze und ein Alter, der sie mit Röhricht tarnt, in der Provinz)

also ein blauer und zwei weiße Schmetterlinge, die Beete, die ich herzurichten vergessen hatte, meine Tochter

zu meiner Tochter kommen wir gleich, bevor ich über meine Tochter spreche, und ich wiederhole das zum letzten Mal, das Meer bei Póvoa de Varzim im August so ruhig, darüber Wolkenfrieden, und wo ich schon von meiner Tochter spreche, auch darüber ein Wolkenfrieden, gestreifte oder runde Wolken

(eine runde am Horizont)

es braucht nur das Meer im August und die Erinnerung an das Casino, und schon bin ich gerührt, die Tränen, die ich weinen würde, nicht aus Traurigkeit, vor Freude, wäre ich dort, meine Freunde, ich dachte, meine Tochter amüsierte sich, beispielsweise mit den Kätzchen unter der Erde, die sich aufbäumten, wegkrochen, protestierten, und sie hielt sich die Ohren zu, so wie ich sie mir am liebsten zuhalten würde, wenn ich an die Schulglocke oder an das Raunen des aus mehreren unterschiedlichen Bäumen zusammengesetzten Baumes mit den für den Stamm zu kleinen Blättern denke

(die Hände meines Vaters am Ende der riesigen Arme, vom kühlen Sechsuhrwind bewegte kleine Gesten

– Du machst mich nervös du da)

meine Tochter, während die Wellen kamen und gingen, ich möchte wetten, eine einzige, unablässig wiederholte Welle, der Sand beinahe schimmernd

(schimmernd, der Sand schimmernd)

und ohne Fußspuren, wenn sie sich zurückzog, unweit davon eine Linie Teer, feuchte Seehundgeräusche im ersten Stock

– Ana Emília

die Knöpfe der kleinen Strickjacke falsch geknöpft, eine Art sich entschuldigendes Lächeln

– Zu einer Tasse Tee würde ich nicht nein sagen

Verbenentee, Lindenblütentee, Tee aus dem Unkraut rings um den Apfelbaum, das wir nie geschnitten haben, hätten Sie gern einen Tee aus dem Unkraut, bei dem sich meine Tochter mit fünfzehn Jahren erhängt hat, gnädige Frau, als ich die Stufen herunterkam, die Puppe auf dem Boden, der Hocker, anfangs sah ich das Seil nicht, und mir kam auch nicht in den Sinn, dass es ein Seil war, wozu ein Seil, ich sah den Schmetterling, die Puppe auf dem Boden und den Hocker, die Puppe lag übrigens nicht, sie saß mit ausgebreiteten Armen da, das Haar mit einer Schleife zusammengebunden, sie trug das Kleid, das ich ihr genäht hatte, die Puppe, der ich

– Verschwinde

durchaus einen Bonbon anbieten würde, damit sie im Handumdrehen verschwand, bevor mein Großvater den Topf und das Schmalz nahm, er siegreich auf der Schwelle

– Ein Bündel lecker gebratene Vögelchen

ich sah die Schmetterlinge, Hunderte von Schmetterlingen, und nicht nur weiße und blaue, bunte, Hunderte von Flügeln vor dem Apfelbaum, keine Wellen, Flügel, keine Steine, die in mir den Wunsch wecken, sie zu küssen, wenn ich sie wiedersehe, sie an meiner Handfläche zu spüren, sie an meine Wange zu führen, Flügel, während ich näher kam, Flügel, während ich meine Tochter rief, Flügel, kein dickes Seil, wir hatten im Übrigen gar keine Seile, wir hatten Paketband und Bindfäden zum Einwickeln in der Schublade mit der Jodtinktur, der Kneifzange und den Schlüsseln von Möbeln, die wir gar nicht mehr besaßen, in einem Aluminiumkästchen, denn man kann ja nie wissen, das Kästchen verkündete Pariser Schuhcreme, und auf dem Schild glitzerte eine Stiefelette, ich könnte stundenlang das Kästchen beschreiben, um hinauszuschieben, was ich unweigerlich sagen muss und was mein Mund verweigert, mein Kopf verweigert, ich ganz und gar verweigere, ein Rest schwarzer Paste klebte noch an der Dose

– Du machst mich nervös du da

Gedankenfetzen, Müll aus vielen Tagen, eine enttäuschte Wehklage

– Gardénia

untergegangene Zonen, Sonntage, ein alter Herr, der auf einen Globus weist

(Mitternacht)

mit dreckigem Fingernagel

– Die Welt ist groß Mädchen

(ich hatte Mitternacht gesagt)

der Johannisbeerstrauch beschien die Mauer und erlosch anschließend, am Strauch kein Seil, die Wäscheleine, und es ist unverständlich, wieso sie nicht durch den Ruck gerissen ist, denn meine Tochter hat den Hocker mit dem Fuß weggestoßen, zumindest mit einem Fuß, sie wird erst die Puppe auf die Erde gesetzt

– Ich will dir was zeigen schau mal

dann das Seil an den Ast geknüpft haben, ich werde zurück nach Póvoa de Varzim gehen, zu den Schmetterlingen, zu der blinden Schülerin, die die Luft erforschte und nichts verstand, an ihrer Patin rüttelte

– Was ist passiert?

was passiert ist, meine Liebe, ist, dass die Tür und die Fenster verschlossen sind, das Schulgebäude am Ende verlassen und alt, die Räume leer, Staub, was passiert ist, meine Liebe, ein weißer Schmetterling und zwei blaue oder ein blauer Schmetterling und zwei weiße, wie auch immer, was kümmerten mich damals die Schmetterlinge, was kümmern sie mich heute, wäre es wenigstens das Meer bei Póvoa, das Casino, was passiert ist, war, dass die Puppe vergnügt wirkte, ich bekam, während ich allmählich begriff, Angst vor dem Netz gegen die Finken

– Ihr macht mich nervös ihr da

und den Beeten, die ich zu richten vergessen hatte, ich suchte was auch immer in den Taschen, ohne etwas zu suchen, der Kehlknochen ging auf und nieder in dem Augenblick, in dem ein dreckiger Fingernagel

– Die Welt ist groß Mädchen

auf meine Tochter wies, die sich drehte, dabei meine Taille umfing, sich einmal um sich selbst drehte, zweimal um sich selbst drehte, ich voller Angst, sie könnte sich lösen, sie könnte nicht genug Kraft haben, um weiterzutanzen, und eine Ecke könnte sie verletzen, Hunderte von Flügeln zwischen mir und dem Apfelbaum, keine Wellen, Flügel, ich fürchte, ein Bein berührt die Puppe, den Hocker, der Ohrring auf der Hand meines Mannes wird kleiner, sein Spiegelbild entfernt sich, wenn der Mann, der versprochen hat zu kommen und nicht gekommen ist, mir helfen würde

– Hilf mir

mir helfen könnte, mir die Illusion geben könnte, mir helfen zu können, ihm antworten

– Ich brauche nichts

und da ist Ana Emília allein, denn sie braucht nichts, und sie braucht nicht nur nichts, sie erwartet auch nichts, sie wünscht sich nichts, nicht einmal eine letzte Welle, mit einer letzten Welle ein Saum aus Teer am Strand, der dort für immer bleiben wird, ich schaute meine Tochter an, schaute die Puppe an, schaute wieder meine Tochter an und wunderte mich über ihr Schweigen, die Augen nicht vergrößert, abwesend

(was sahen sie im Geiste?)

die Früchte des Apfelbaumes kleine grüne Punkte, in den letzten Jahren sind sie nie zu Äpfeln geworden, sie verfaulen winzig, die Puppe, die mir nichts zu sagen hatte, wie die Dame, wie Ana Emília zu dem, der versprochen hatte zu kommen und nicht gekommen ist

– Ich brauche nichts

denn es war offensichtlich, dass sie nichts brauchte, es reichte ihr, sich so schnell zu drehen wie am Schultor, langsam, schwerelos, ich näherte mich meiner Tochter und scheuchte die Schmetterlinge

(Dutzende Schmetterlinge)

die aus dem Unkraut hervorkamen, um bis zu den Baumwipfeln aufzusteigen, zu der unablässig wiederholten Welle hin, die mich seit meiner Geburt begleitet, ich näherte mich nicht meiner Tochter, sondern der Puppe, und die Schulglocke verstummte in der Erinnerung, da war der Hof, die Rutsche

(unbeschädigt, deutlich)

die Patin der blinden Schülerin wisperte in entschuldigendem Tonfall Begrüßungen, der Wunsch, sie anzuschreien, wie die Puppe mich angeschrien hat

– Ziehen Sie ab nerven Sie mich nicht

und von der Patin der blinden Schülerin abgesehen niemand, es gab den Apfelbaum nicht, es gab meine Tochter nicht, und so stand ich vor einem Ast, an dem nichts war, meine Tochter war im Haus am Abendbrottisch, hatte angefangen zu essen, nicht etwa aus Ungehorsam

(– Ich warte noch ein bisschen auf meine Mutter vielleicht noch fünf Minuten)

sondern aus Hunger, schob mit behutsamer Gabel

(ich sage das nicht, weil sie meine Tochter ist, aber sie machte immer alles sehr behutsam)

das Gemüse, das sie nicht mochte, an den Tellerrand

– Da Sie immer noch nicht zum Essen gekommen sind habe ich schon mal angefangen

und daher eine Puppe, und das ist alles, kein lebendes Wesen und noch viel weniger jemand, den ich kenne, und ich kenne viele Leute, noch viel weniger meine Tochter, meine Tochter fängt gerade an zu essen, da lohnt es sich nicht, dass ich mich quäle, mich in meiner Schürze verstecke, in der die Augenbrauen eines bestürzten Mädchens tränenvoll aufgeregt ohne Tränen, es lohnt sich nicht, mich aufzubäumen, wegzukriechen, zu protestieren, zu versuchen, aus der Grube herauszukommen, denn es gibt keine Grube, niemand vergräbt mich, niemand will mich töten, ich hoffe, dass bald schon

(vielleicht in fünf Minuten)

jemand an meiner Tür klingelt, und wenn niemand an meiner Tür klingelt, bringe ich den Sicherheitsriegel in Ordnung, der an der unteren Führung hakt, an der oberen gibt es kein Problem, aber an der unteren klemmt er, ich klopfe ihn mit dem Hammer zurecht, stelle die Gläser ins Büfett

(früher sechs und heute fünf, alles im Leben hat seine Dauer, sogar Gläser)

und ich lege mich hin, ohne daran zu denken, dass ein Auto auf der Straße, Schritte auf der Treppe, ein vorsichtiger Zeigefinger, fast so behutsam wie der meiner Tochter, der am Holz kratzt

– Ich bin es

und ich schwöre, dass ich es nicht höre, ich höre nichts, sollte ich wirklich etwas hören, dann schreibe ich es dem Schlaf zu, in dem Echos, Spuren von Gesprächen, Drohungen, der Ast des Apfelbaums säuselt Truhengeheimnisse im Inneren der Seele, denn im Dunkeln und wenn man es am wenigsten erwartet, klagen die Truhen, daher also und bis morgen nur das Meer bei Póvoa de Varzim, das im August so still ist, darüber Wolkenfrieden, und ich hocke da und betrachte ihn, bemerke die Schmetterlinge

(ihre Farbe und Anzahl ist unwichtig, wählt selber die Farbe und die Anzahl, die euch gefällt, vergnügt euch damit)

das Unkraut, das ich irgendwann, beispielsweise nächste Woche, mithilfe der Schere oder der Sichel oder des Rechens in Ordnung bringen werde, das verspreche ich, wenn ich mich bemühe, werde ich auch die Dame bemerken

– Ana Emília

oder, besser gesagt, erst einmal die feuchten Seehundsspasmen und dann

– Ana Emília

nicht in Pragal, in meinem Schlaf oder in Póvoa de Varzim im August, was den Horizont betraf, so wurde es immer schwieriger, den Himmel vom Meer zu unterscheiden, nicht der übliche Strich, der Strich war nicht da, daher war es unmöglich festzustellen, wo der Himmel sich faltete und wo die Welle begann, auf der die Gischt sich kräuselte, man konnte am Ende des Seils oder der Wäscheleine die Puppe erkennen, die sich langsam drehte, nicht meine Tochter, nicht mit ausgebreiteten, sondern in einer Geste der Hingabe an den Körper gelegten Armen, eine Puppe, die Schmetterlinge

(Dutzende Schmetterlinge)

Dutzende Schmetterlinge verhinderten, dass ich das Gesicht meiner Tochter sah, ich sah, wie sie anfing zu essen, mit behutsamer Gabel

(ich sage das nicht, weil sie meine Tochter ist, aber sie machte immer alles sehr behutsam)

das Gemüse, das sie nicht mochte, an den Tellerrand schob, meine Tochter fängt an zu essen, ich glaube, ich habe mich deutlich ausgedrückt und bitte Sie, mir, was das betrifft, nicht zu widersprechen, meine Tochter fängt an zu essen und bittet um Entschuldigung

– Da Sie immer noch nicht zum Essen gekommen sind habe ich schon mal angefangen

meine Tochter fängt an zu essen, meine Tochter lebt, und nun, ein für alle Mal, nehmen Sie es mir nicht übel

(ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel)

reden wir nicht mehr darüber.

2.

Es muss Mitternacht sein, denn die Geräusche sind verstummt, die im Garten, die im Haus und die meiner Frau, die die Hunde mit einem als kleine Peitsche dienenden Zweig verscheucht hat

– Verschwindet

sie hat die läufige Hündin in der Garage festgebunden, und ich wette, sie hat sich hingelegt, denn kein Licht im Flur oder im Schlafzimmer, das ich seit Ewigkeiten nicht mehr betrete, ich bin hier, weit von ihr entfernt, zwischen uns all diese Stille und diese Dunkelheit, kein Rascheln der Betttücher, kein Knarren einer Latte, wenn sie die Stellung wechselt, die Laternen von Évora auf der anderen Seite des Hauses, vor diesem Fenster Agaven, bis mein Spiegelbild auf den Scheiben verschwand

(was passiert mit mir?)

und niemand wird kommen und mich mit mir zugleich begrüßen, ich hörte die Hunde in der Hoffnung auf einen Spalt in der Wand um die Garage toben, und die Hündin wartete zusammengerollt unter dem Auto, es gab Männer, die so waren, wenn wir sie verhafteten, die mit offenen Augen auf dem Boden der Zelle lagen, wenn wir hereinkamen, was würde meine Frau machen, wenn sie meine Schritte hörte, ohne ein Auto zu haben, unter dem sie sich verstecken konnte, oder eine Mauer aus Autoreifen, die sie vor mir beschützte, sie würde sich mit dem Ellenbogen wehren wie die Männer, die versuchten aufzustehen und zu erklären, was man nicht verstand, ein Zuviel an Zähnen hinderte sie am Sprechen, es muss Mitternacht sein, denn die Hunde geben auf, reglos zwischen den Tuffs der Beete und dem toten Gemüse, so dass sie sich mit den Steinen vermischen, Steine sind, ich wache zwischen Steinen, wahrscheinlich auch ich ein Stein, meine Frau ein Stein, ein Stein erwartet mich in Lissabon, mir ist so, als ob Helligkeit auf den Feldern, der Mond oder so vergrößert das Dickicht und die Zistrosen und weckt die Hunde, die unter dem Fenstersims atmen und mich um etwas bitten, das ich nicht verstehe

(was passiert mit mir?)

vielleicht sollte ich ihnen das Garagentor aufschließen oder das Gartentor öffnen, neben dem Gartentor die Tankstelle, deren Schuppen die Zigeuner für ihre Kutschen und Maultiere nutzen, ich erinnere mich an meinen von Hunden umringten Vater, der mit den Fasanen zurückkam, die nicht von seinem Gürtel herunterhingen, sondern in einem Stoffsack steckten, meine Schwester und ich warteten, und er ging, ohne uns anzuschauen, an uns vorbei, ein- oder zweimal, als er bereits krank war, hat er uns angeschaut, und ich fragte

– Wollen Sie was?

bis ich begriff, dass er mich nicht einmal sah, während er die Gaumen bewegte wie die Gefangenen, bevor ihnen der Arzt die Augenlider öffnete, sie mit einer kleinen Taschenlampe untersuchte

– Sie belassen es heute besser dabei

und die Gaumen bewegten sich weiter, eine Wolke verdeckte den Mond, die Helligkeit verschwand, und es gab mich nicht mehr, den Wind in den Agaven und den Friedhof gab es noch, auf dem mein Vater blieb, es kommt mir nicht in den Sinn, das Grab zu besuchen, meine Schwester kam immer nach Évora und wechselte die Blumen in der kleinen Vase aus, für Wasser gibt es einen ständig tropfenden Hahn in dem Teil der in Frankreich gefallenen Soldaten, deren flechtenrostige Kreuze eines nach dem anderen zerfallen, am Wasserhahn hängt ein Eimer, und über dem Eimer schwirren Wespen, als ich nach meiner Zeit bei der Polizei nach Évora zurückkam und geheiratet habe

(heißt so was Heirat?)

setzte ich mich auf den Friedhof und lauschte der Stille der Bäume und der Chrysanthemenblüten, die auf den Grabsteinen zerbröselten, meine Mutter, die ich kaum kannte, liegt ebenfalls auf diesem Friedhof, ihre Knochen mit anderen Knochen vermischt oder keine Knochen mehr, allenfalls etwas Unkraut, ein paar Fettkrümel, ich habe sie nie

– Mutter

genannt, mir blieb kein Foto, und ich weiß nicht, welche Hautfarbe und was für ein Gesicht sie hatte, es gibt kurze Augenblicke von Zärtlichkeit in mir, jemand hebt mich vom Boden auf, und ich spüre einen Körper, der mich drückt, und Finger, die mein Gesicht durcheinanderbringen, will heißen den Bruchteil eines Augenblicks, und dann bin ich wieder allein, frage mich, ob es meine Mutter war, suche nach einem Nachweis, einem Duft, einem Geräusch, aber kein Nachweis, kein Duft, kein Geräusch, die Schatten der Bäume immer länger, jemand hat mir erzählt, nicht mein Vater, der sich darauf beschränkte, mit den Fasanen an uns vorbeizugehen oder sich auf eine Stufe zu setzen und Mandarinen zu schälen, ein Nachbar, eine Tante, dass meine Mutter wegen eines Problems mit dem Blut im Krankenhaus gestorben sei, wer aber hob mich dann vom Boden auf und brachte mein Gesicht durcheinander, kam mir diese Begebenheit in den Sinn, wenn ich bei einem Gefangenen war, tat ich so, als hörte ich den Arzt nicht

– Sie belassen es heute besser dabei

denn ich war nicht bei einem Gefangenen, was interessierte mich der Gefangene, ich war wütend, weil ich zugelassen hatte, dass man mich vom Boden aufhob, wünschte mir, mein Vater wäre in einer Zelle, und ich zu ihm

– Nehmen Sie Haltung an

während ich in seiner Tasche, unter dem Hemd, in seiner Hand nach einer Mandarine suchte

– Wo haben Sie die Mandarine versteckt?

mein Chef, der das merkwürdig fand

– Mandarine?

packte mich am Arm

– Geht’s dir nicht gut?

während nur meine Mutter in meinem Kopf war, an deren Problem mit dem Blut ich mich nicht erinnern konnte und deren Platz auf dem Friedhof man mir nicht zeigen konnte, ich setze mich dort nieder und betrachte die Gräber, und nichts, wenn es wenigstens ein Kind gäbe, aber kein Kind, eine Frau, mit der ich nicht rede, in ihrem Schlafzimmer und eine läufige Hündin in der Garage, auch wenn es schwerfällt, es zuzugeben, das ist die Familie, die mir geblieben ist, das und die Grillen, die mich im Sommer taub machen, die, die in Lissabon auf mich wartet, hat eine Tochter, ich habe ihr die Puppe in einer Schachtel mit einer Schleife geschenkt und habe mich, so schnell es ging, bevor sie mir dankte, zurückgezogen, ich habe ihr nie einen Kuss gegeben, ihr nie zu verstehen gegeben, dass ich Küsse zulassen würde, ich bat nie

– Komm her

obwohl ich gern gebeten hätte, auch wenn es nur ein einziges Mal gewesen wäre

– Komm her

floh vor dieser Torheit, die Zärtlichkeit genannt wird, was schert mich die Zärtlichkeit, wozu soll sie gut sein, wichtig ist mir, dass die Geräusche aufhören, die im Garten, die des Hauses und der vom Begehren umgetriebenen Hunde, kurz gesagt, die der Welt, mir erlauben, in Frieden alt zu werden, darauf zu warten, dass meine Knochen mit fremden Rippen und Schienbeinen in irgendeinem Loch vermengt werden, solange ich frei von der Last bin, ein Kind zu haben, das ich an der Hand spazieren führen, trösten, dem ich versichern müsste

– Ich bin hier

wenn sie glauben, dass sie uns verloren haben, uns aber niemals gehabt haben, mitzuerleben, wie ein Kind heranwächst und so bitter wird wie wir selber, schon eigenartig, ich bereue nicht, nicht gebeten zu haben

– Komm her

halte dich fern und schweige, solange ich mich fernhalte und schweige, hin und wieder wies die, die in Lissabon auf mich wartet, mit dem Kinn auf ihre Tochter, stand kurz vor einer vertraulichen Mitteilung, was an der Veränderung des Atmens zu erkennen war, zum Glück hielt sie inne, bevor die Worte kamen, aus Anstand, glaube ich, noch heute, wo es die Tochter nicht mehr gibt, spüre ich, wie die Enthüllung wieder an die Oberfläche kommt, wie die Nase sich zum Mund verlängert, man sollte die Menschen mit allem, was mit ihnen zu tun hat, beerdigen, sie so daran hindern, uns an der Oberfläche der Welt zu stören, wozu nützt es zu sterben, wenn sie mit Dutzenden von Tränen hierbleiben, die bereit sind, aus jeder Schublade, jeder Truhe, jedem Eckchen der Erinnerung herauszukommen, und bitten

– Weint uns

sich wünschen, passende Augenlider zu finden, unsere

– Wir sind von dir siehst du?

unser Inneres durchforsten, Reue ausgraben, wo wir nicht das kleinste Unwohlsein vermuten, wenn ich achtgebe, sind die Gegenstände da und versuchen, mich mit ihren kleinen Listen zu überzeugen

– Deine Großmutter mochte mich

– Ich habe deinem Patenonkel gehört

– Als du klein warst hast du mich nicht aus der Hand gegeben

einmal ganz abgesehen von den Launen der Erinnerung, die dazu neigt, vergangene Freuden zu feiern, die wehtun, würde ich noch bei den Gefangenen arbeiten, hätte ich nicht auf den Arzt geachtet

– Sie belassen es heute besser dabei

und würde sie weiter schlagen, den Mann von der, die in Lissabon auf mich wartet, habe ich gezwungen, ihre Sachen anzuziehen

– Nun mal dalli

die Ohrringe, die Bluse, den Rock

(wieder die Helligkeit, ich nehme an, der Mond, auf einer fernen Scheune, in der ein Trecker, ein paar Ziegen)

und die, die mich schweigend erwartet, mein Arzt stößt mich an

– Übertreibst du da nicht etwas?

mich, der ich unfähig bin, meine Mutter zu erwähnen, die mich mit Worten vom Boden aufhebt, die mir entgleiten, die Schrauben eines Sarges, die ein paar Typen immer weiter zudrehten und so den Toten den Sauerstoff nahmen, den sie brauchen, das Holz oder meine Mutter zwangen zu knacken, und da haben wir eine dieser Launen der Erinnerung, die ich verloren glaubte, der Sauerstoff, das Knacken, ein drei- oder vierjähriger Junge, der bat

– Zerquetscht sie nicht

und ich weiß nicht wer hielt ihn an der Schulter fest, ich hatte mich seit langem vor diesem Jungen in Sicherheit gewähnt, und er kommt vom Friedhof nach Hause zurück, seine Hände schwanken zwischen dieser oder jener Weide, diesen oder jenen Blumen, diesem Abdruck eines Schuhs oder anderen zarteren Spuren, bis der Wärter zu meinem Vater, ohne ein Ohr loszulassen

– Er lässt die Mutter nicht in Frieden

und nachdem der Wärter gegangen war, schälte mein Vater schweigend eine Mandarine, wenn ich ihm für etwas dankbar bin, dann dafür, dass er niemals die Schwäche gezeigt hat, zu weinen, er aß die Mandarine auf und ging hinaus, damals, als ich bei der Polizei arbeitete, mein Chef, der ein paar Papiere an eine andere Stelle legte und das Foto seiner Ehefrau ans Tintenfass rückte

– Dir würde ein kleiner Urlaub guttun

ein kleiner Urlaub in deinem Geburtsort, Évora, beispielsweise, wo ab Mitternacht alle Geräusche verstummen, die im Garten, die im Haus, die auf den Feldern ringsum, meine Frau, wach zwischen den Betttüchern, späht mich aus, mein Chef klaubte ein Staubkorn von der Glasscheibe des Bilds der Ehefrau und führte, den Staub betrachtend, den kleinen Finger an die Brille, wenn ich heute noch auf den Friedhof zurückkehre, dann nicht aus Neugier wegen der Ruhe der Gräber, sondern in der Hoffnung, meine Mutter würde mich vom Boden aufheben, und da bin ich schon ganz gerührt, verflucht, nicht eigentlich gerührt, ich erlaube nicht, dass die Tränen mir etwas anhaben, ein Unbehagen, eine Nervosität, wenn ich dem Ehemann die Kleider von der, die auf mich wartet, wieder hinhalten könnte, die Bluse und den Rock

– Zieh das an

stattdessen eine Puppe, von der die Farbe immer mehr abgegangen ist, verblüfft auf der Kommode, ich packte sie, warum auch immer

(ich bekomme es einfach nicht hin, zu lernen, in meiner Ecke alt zu werden und darauf zu warten, dass meine Knochen mit anderen vermischt werden, während sich an der Oberfläche Stimmen, Leute erregen)

und ein Stück Metall oder Plastik, der Sprechmechanismus im Bauch tänzelte, stieß ein Plärren aus, und vor dem Plärren kam mein Name, ich ließ sie zu Boden fallen, zwang sie, darauf zu warten, dass ich ihr Bein wieder richtete, und beim Auseinanderziehen der Feder des Beins eine verlorene Silbe, hoffentlich nicht mein Name, sie sollen die Puppe in der Speisekammer verstecken, denn mich ärgert die Gegenwart einer Träne, die kurz davor steht, sich an meine Augen zu heften, mein Gott, falls es dich gibt, hab Erbarmen mit mir und mache, dass die Silbe nicht mein Name ist, ich ein Fremder, glaube dem Gerede nicht, glaube mir, ich ein Fremder, ich lebte im Alentejo, war verheiratet, habe dir zu Ehren bei der Polizei gegen den gottlosen Kommunismus gearbeitet, kam allenfalls ein oder zwei Sonnabende im Monat aus Évora auf ein paar Stunden zu Besuch, ich schlief nicht bei ihr, stand nicht mit ihr zusammen auf, kein Pyjama in ihrer Wohnung, ich ein Fremder wie jetzt um Mitternacht, nur anstatt von Feldern Beete, in denen das Gras einen umgestürzten Hocker überwucherte, Schmetterlinge, zwei blaue und ein weißer oder ein blauer und zwei weiße, ein Mädchen mit Zöpfen, und wenn ich genauer hinschaute, kein Mädchen, ein loses Stück in meinem Bauch, aus Metall oder Plastik, der Sprechmechanismus artikulierte

– Mädchen

das ich nicht vom Boden aufhob, kein einziges Mal, selbst wenn ich es gewollt hätte, aber ich habe es nicht gewollt

– Komm her

ich wollte den Mandarinenschnitz, der mir nie angeboten wurde

– Möchtest du etwas mein Junge?

oder, besser gesagt, einen Arm, der mich enttäuschte, da er mager, unsicher war, falls ich

– Nerven Sie mich nicht Vater

gehorchte er, ein elender Vater, den ich kaum länger als eine Minute in den Händen gehabt hätte, und schon hätte der Polizeiarzt ihm die Augenlider mit der kleinen Taschenlampe auseinandergezogen

– Sie belassen es heute besser dabei

ein Vater, der mich hätte schlecht dastehen lassen

– Sie haben mich enttäuscht mein Herr

bei meinen Kollegen, das merkte ich an ihren Seitenblicken, meine Schwester, als wäre mein Vater eine wichtige Person, der Klavierstimmer oder der Vorsitzende der Feuerwehr, deren Foto mit Helm den Grabstein aufwertete, wechselte die Blumen an seinem Grab und benutzte den Wasserhahn im Soldatenteil für die kleine Glasvase, während ich an den Klavierstimmer dachte, der die Tauben, die seine Markise beschmutzten, mit der Kneifzange der Klänge bedrohte, nachts schrie die Feststellschraube einer Saite in der Dunkelheit, falls ich mich ausdrücken kann, wenn mir die Worte verboten sind und ich nur Zähne und Fingernägel bin, hoffe ich, durch einen Violinschlüssel mit der Welt zu kommunizieren und euch zu versichern, dass ich euch verabscheue, die Hunde im Park, die durch die zerstörten Beete traben und sich um einen Vogel streiten, werde ich ein bisschen wertschätzen, dieses Haus, in das ich nicht zurückkehren werde und das mich trotz der vielen gemeinsamen Jahre nie lieb gewonnen hat, den Brunnen, auf dessen Grund mein für immer in moosiger Dunkelheit gefangenes Gesicht zittert, ich glaube nicht, vor allem seit das Knie meiner Schwester sich nicht mehr beugen lässt, dass jemand sonnabends die Blumen wechselt, ich glaube an den Schimmel des Vergessens, an die im Oktoberregen durch die Agaven streunenden Hunde, in fünf Jahren, wenn sie den Sarg herausholen, vielleicht ein einziger Schuh, so wie, als der Sarg meines Vaters herausgeholt wurde, statt Mandarinenkernen, die ich erwartete, das Steifleinen der Krawatte und ein Stück Gürtel, ich brauchte ihn nicht zu fragen

– Wollen Sie was?

obwohl die Gaumen sich unter dem unerwarteten Licht bewegten, das, obwohl es die Dinge vergrößert, die Entfernung erhöht, die Pferdewagen, mit denen die Zigeuner auf dem Weg zum Pol über die Grenze fuhren, und eine schwer zu verbergende Träne zersplittert in mir, ein Tropfen, der schaukelt, den ich am Herabfallen zu hindern versuche, der sauer wird

– Weinst du mich nun endlich oder was?

und sich verkalkuliert, der Arme, es reicht, dass ich behaupte, dass er sich verkalkuliert, und er verkalkuliert sich, sich verkalkulieren, was für ein außergewöhnliches Verb, die in Lissabon auf mich wartet, glaubte, einfältig wie sie ist, dass das Zittern von einem winzigen bisschen Flüssigkeit wegen der Puppe oder der Tochter herrührte, wo es in Wirklichkeit keinen Grund gab, unwichtige Ereignisse, die das Gefühl unendlich viele Jahre später aufbläht, zum Beispiel der Vorsitzende der Feuerwehr, der sich nach der Rückkehr aus der Kaserne vor mir aufbaute

– Du erinnerst mich an meinen Enkelsohn

während er das Taschentuch aus der Tasche zog und mit anderen Augen aus dem Taschentuch hervorkam, zu klein für das, was sich in ihnen anhäufte, ich würde der, die auf mich wartet, nicht die Freude machen, ein trauriges Schnäuzen zu erleben, weil sie glaubte, dass die Tochter, zu der ich niemals

– Komm her

meine Eingeweide in Aufruhr versetzte, ich beschränkte mich darauf, dem Mädchen ein Päckchen mit einer Schleife zu geben und mich in die Ecke des Zimmers mit dem Fenster zurückzuziehen, in dem die Zweige des Apfelbaums sich von Schmetterlingen umringt leicht erhoben, der Vorsitzende der Feuerwehr versuchte ein Lächeln, steckte das Taschentuch ein, gab auf, als ich das von der Tochter von der erfuhr, die auf mich wartet, und von der Wäscheleine, wünschte ich mir, es wäre Mitternacht, damit die Geräusche verstummten, die vom Garten, die vom Haus, die eines Organs in mir, von welchem genau, weiß ich nicht, von der Bauchspeicheldrüse, der linken Niere

(nicht vom Herz, das ist doch klar, diesem unbeständigen Muskel)

das beschlossen hatte, mich taub zu machen, weil es redete und redete, es mit der Hündin zwischen den Reifen in der Garage festbinden und mich weigern, es zu hören, denn was Geräusche betrifft, reicht mir der Wind im August und der Atem, der sich beschleunigt, ohne dass ich den Grund dafür wüsste, wir haben den Mann von der, die auf mich wartet, in der Druckerei gefunden, nicht in einem Keller in einem Vorort, wie ich mir vorgestellt hatte, in einem Erdgeschoss im Zentrum und auf der Sonnenseite, wo er Flugblätter gegen Gott und die Regierung druckte, ich entdeckte in ihm Ähnlichkeiten mit mir, will heißen, etwas innen drinnen, das locker war, vielleicht der Sprechmechanismus, vielleicht eine wartende Träne, die sich bei dieser Tränenunterhaltung wünschte, ihm zu gehören

– Ich bin von dir siehst du?

während sie Schweizer Messer, Emigrantenbriefe, Fingerhüte fanden

– Deine Großmutter mochte uns

– Wir gehören deinem Patenonkel

– Als du klein warst hast du uns nie aus der Hand gegeben

ich zwang ihn, die Bluse und den Rock anzuziehen und die Ohrringe anzulegen, stieß dabei eine Vase um, die der auf dem Grab meiner Mutter mit den verblichenen Blumen ähnelte, er

– Nein

leise, ein Flüstern, eine Bitte an einen Freund

(und der Apfelbaum draußen)

ein inneres Einvernehmen zwischen uns

– Nein

ihm fehlten nur die Mandarine, die Fasane und der Friedhofsteil der Soldaten aus Frankreich, deren flechtenrostige Kreuze zerfallen, der Arzt zog die Augenlider auf und nicht

– Sie belassen es heute besser dabei

steckte die kleine Taschenlampe wieder ein

– Ich wette der Direktor wird sauer auf Sie sein

(warum hatte ich keinen Sohn?)

trotz der vielen Jahre bei der Polizei wusste der Arzt noch immer nicht, in welcher Schublade die Sterbeurkunden lagen, in der oberen, der unteren, er zog ein Formular heraus

(hätte ich einen Sohn)

– Das ist es nicht

und suchte, einen Hut auf dem Kopf, weiter

(– Ich trage immer einen Hut)

hätte ich einen Sohn gehabt, wäre einiges anders in diesem Haus oder in mir, meine Frau wach, eine andere Helligkeit über den Feldern würde die Zistrosen hervorheben, die Hunde, die unter den Fensterrahmen atmeten, baten mich, ihnen zu erlauben, den Hang hinunterzutrotten, wo es Kaninchen und Käuzchen gab, bei der Tankstelle, deren Schuppen die Zigeuner nutzten, bevor sie mit Glöckchen verziert zum Pol weiterreisten, ich frage mich, ob mir ein Sohn als Begleitung das Alter versüßt hätte, weil ich Mandarinen schälen und ihm die Schnitze anbieten könnte, während eine Wolke uns den Mond verstellte, die Helligkeit verschwand und wir aufhörten zu existieren, es existierten die Agaven, diese niedrigen Häuser bis zum Ende der Straße und nach dem Ende der Straße Libanon oder Thailand, wo ein Bus, Schritte, und nichts, die Schritte oder der Bus verstummten, und niemand, keine Menschenseele, die unruhig wird und mir hilft, der Arzt fand die Sterbeurkunde, und der Hut sprach, den Mund dicht am Tisch, mit, was er schrieb

– Ich wette der Direktor wird sauer auf Sie sein

der Direktor, der uns in sein Büro rief und nicht hörte, was wir sagten, der forderte

– Lauter

sich mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte aufstützte und, obwohl er dick war, den Hals mit einem Ausdruck von Fremdheit lang reckte, den Präsidenten im Rahmen betrachtete und das Ohr mit der Handfläche vergrößerte

– Was?

bis er unser überdrüssig war und uns mit einer ärgerlichen Handbewegung wegschickte, vielleicht den Wunsch hatte, seinen Hocker auf den Friedhof mitzunehmen und sich mit den Bäumen zu vergnügen, ich hörte meine Frau

(warum hatte ich keinen Sohn?)

zwischen dem Trog zum Wäschewaschen und dem Hühnerstall, wo eine mit Trägheit gepolsterte Katze die Filzpfötchen in einen Lichtfleck streckte

(und wenn statt eines Sohnes eine Katze?)

während die, die auf mich wartete, das Licht auf dem Flur und im Schlafzimmer ausgemacht haben wird, wie meine Frau, und mich aufgegeben hat, aufmerksam zuschaut, wie der Apfelbaum mit den kleinen grünen Früchten wächst und wächst, ein Baum, der wenig größer ist als ein Busch, plötzlich riesig, umringt vom Unkraut der Beete, um die sich niemand kümmerte, daher bin ich allein, seit meine Eltern tot sind, meine Schwester ist in Estremoz, meine Frau und die, die auf mich wartet, sind mir gegenüber gleichgültig, glauben, dass meine Knochen bereits in der Erde verstreut sind und man anhand dieses halben Dutzends herumliegender Kohlestücke unmöglich wissen kann, wer ich war, weder das Alter noch die Haarfarbe, noch, was ich hier getan habe, ich fürchte, dieses Organ in mir ist überzählig

(die Bauchspeicheldrüse, die linke Niere, man hat mir gesagt, bei Kindern die Thymusdrüse)

will heißen ein loses Stück aus Metall oder Plastik im Bauch, das zu zitterndem Weinen imstande ist, der Sprechmechanismus, der, als er sich schüttelte, eine flinke Träne ausstieß, die bereit war, sich an meine Augen zu heften, und eine Silbe, von der ich hoffe, dass sie nicht zu meinem Namen gehört, Gott, falls es dich gibt, mach, dass es keine Träne, keine Silbe, aber vor allem niemals Sargschrauben gibt, mit deren Zuziehen sie ewig nicht fertig wurden und dabei den Toten den Sauerstoff nahmen, den sie brauchen, und meine Mutter oder das lackierte Kiefernholz zwangen zu knacken, vor allem niemals einen vierjährigen Jungen, der bittet

– Zerquetscht sie nicht

und einen Nachbarn oder Verwandten, der ihn festhält, denn noch heute spüre ich die Finger auf meinem Fleisch, ich wette, die noch übrig gebliebenen Wirbel und Rippen spüren es ebenfalls, hör, wie die Pappeln um Mitternacht in Évora säuseln, hör, wie der Wasserhahn auf dem Friedhof Blei in den Eimer tropft

(warum hatte ich keinen Sohn, keinen Freund, keinen Kollegen, kein Wesen, dem ich vertrauen konnte und das mir vertraute?)

schau die Helligkeit, die zurück ist und mit ihr die Zistrosen, der Eindruck, dass dort ein Hase

(die Kruppe, die Ohren)

und am Ende ein Ziegelstein, meine zum Waschbrett gebeugte Schwester, doch ich habe mich geirrt, ein Busch

(ich bin ungenau, ich glaube, ich hatte einen Freund)

meine Schwester erwachsen, solange ich denken kann, sie hat meine Mutter gekannt, und wahrscheinlich gab es zwischen beiden Einvernehmen, Geheimnisse, halfen sie einander bei den Hühnern und gingen sonntags an der Mauer entlang zwischen alten Steinen spazieren, meine noch lebenden Großeltern hoben sie vom Boden hoch, liebe Alte, an deren Torheiten, Lähmungen, Gestammel ich mich erinnere, an riesig große Kiefer, die auf den Löffel warteten, und da ist dieses innere Organ, die Bauchspeicheldrüse, die rechte Niere, die Thymusdrüse, die unversehrt war, wie bei Kindern, das sich von ganz allein belebte, eine Träne in den Augen, bereit herauszukommen, herauszukommen, was ich in meiner Erinnerung bewahre

(einen Sohn, der brünett ist wie ich, einen Sohn)

ist meine Schwester, die meinem Vater und mir Essen vorsetzte, ohne sich um uns zu kümmern, sie stellte den Topf auf das Tischtuch und verschwand in der Küche, bevor sie in Estremoz wohnte, lebte sie in dem Kabuff ganz hinten, wo ich sie häufig klagen hörte, sie ebenfalls ein loses Stück im Bauch, und ein leises verborgenes Weinen, wenn ich es wenigstens, wenn auch schweigend, schaffen würde zu sagen, dass ich sie gern habe, dass wir, dass ich eines Tages, doch ich habe nicht den Mut, kann es nicht, wenn ich an Estremoz vorbeikomme, besuche ich sie nicht, eine kleine, dicke Frau mit grauem Haar, sie arbeitet als Putzfrau in der Praxis des Astrologen, sie wird immer noch an der rechten Niere leiden, an der Bauchspeicheldrüse, wenn ich bei ihr auftauchen würde, eine Falte, und nach der Falte ein Schritt nach vorn

(ich erscheine natürlich nicht, nicht im Traum werde ich das tun)

die armen dicken Fußknöchel, die Lippe hüpft

– Du

ich habe geschrieben, die Lippe hüpft, nicht im Traum werde ich bei ihr erscheinen, meine Mutter hatte ein Problem mit dem Blut, daher gab es keine Zeit, sie ist mit mir schwanger geworden, und adieu, mein Vater hat mich ein- oder zweimal angeschaut, als er krank war, ich fragte

– Wollen Sie was?

bis ich begriff, dass er nicht einmal zuhörte, er bewegte die Gaumen, und dann standen die Gaumen still, und bitte sehr, die Ewigkeit, freuen Sie sich oder, besser gesagt, verteilen Sie Kohlestückchen, das Fersenbein, das Schienbein, in fünf Jahren, wenn sie den Sarg ausgraben, ein Schuh

(Sie)

mit gelösten Schnürsenkeln

(ich bin ungenau, ich glaube, es hat einen Freund gegeben, ich werde später von ihm sprechen, falls mir danach ist zu sprechen)

und, kehren wir zum Anfang zurück, es muss Mitternacht sein, denn die Geräusche sind verstummt, die Hündin in der Garage schnüffelt an den Reifen herum, gewöhnt sich an sie und wählt eine Falte im Beton aus, um dort die Müdigkeit niederzulegen, die Hunde resignieren einem unwahrscheinlichen Morgen entgegen, oder bin ich es, der beschließt, dass es kein Morgen gibt, mit Glück Helligkeit

(der Mond?)

über den Feldern, und das war’s, die Pferdewagen der Zigeuner erreichen den Pol, Évora auf der anderen Seite des Hauses, auf dieser in einer Macchie Turteltauben, ihre kleinen Motoren startbereit zum Aufbruch nach Reguengos, meine Schwester klein, dick, mit grauem Haar, eine Narbe auf der Stirn

– Du