Die Lichtstein-Saga 4: Enyas - Nadine Erdmann - E-Book

Die Lichtstein-Saga 4: Enyas E-Book

Nadine Erdmann

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Beschreibung

Nach dem Zusammentreffen mit Konstantin im Tal der Drachen fordert Noah Antworten von Ben und Mia. Was ist vor achtzehn Jahren passiert? Trägt er tatsächlich nicht nur das Engelslicht, sondern auch die Finsternis in sich? Während Noah sich mit quälenden Fragen auseinandersetzen muss, suchen die Menschen weiter fieberhaft Unterstützung bei den anderen interrianischen Völkern. Um ihre Heimat vor einer Invasion aus der Schattenwelt zu bewahren, muss das Portal in Konstantins Burg zerstört werden. Die Burg scheint jedoch uneinnehmbar und die Zeit läuft ihnen davon … Das Finale zur großen Lichtstein-Saga von Nadine Erdmann.

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Table of Contents

Die Lichtstein-Saga 4

18 Jahre zuvor

Teil 1: Schatten der Vergangenheit

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Teil 2: Die letzte Reise

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Teil 3: Licht und Finsternis

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Epilog

Nachwort

Glossar

Impressum

Die Lichtstein-Saga 4

»Enyas

 

von Nadine Erdmann

 

 

 

 

 

 

18 Jahre zuvor

 

Die vier bewegten sich lautlos wie Schatten durch die düsteren Gänge der Burg. Eine der Wachen hatte ihnen Zugang zu den Kellergewölben verschafft und den Weg zum Labor beschrieben. Leise eilten sie durch die Dunkelheit. Schreie und Schwerterklirren drangen dumpf zu ihnen herab. Über ihnen im Innenhof von Burg Dakenhall kämpfte die Garde gegen Konstantins Schwarze Reiter. Konstantin selbst verteidigte seinen Thronsaal, in dem er an seinem Portal zum Schattenreich baute.

Die vier liefen einen weiteren Gang entlang und lugten vorsichtig um jede Ecke, doch falls es hier einmal Wachen gegeben hatte, waren sie vermutlich hinauf in den Innenhof geeilt. Ihr Spion hatte ganze Arbeit geleistet. Leise huschten sie weiter, hielten dann erneut an einer Biegung inne und spähten in die Dunkelheit. Der Gang endete nach etwa zehn Metern vor einer massiven Eichentür und ein schwacher Lichtschein fiel durch einen Spalt zwischen Tür und Steinboden.

»Wir sind da«, flüsterte Ben.

»Halleluja!«, keuchte Anna und lehnte sich kurz an die Wand.

»Alles in Ordnung mit dir?« Besorgt musterte Magnus erst ihr Gesicht und blickte dann auf ihren Bauch.

Sie lächelte, als sie seinen Blick sah und streichelte kurz ihre Mitte, die bisher kaum etwas von ihrer Schwangerschaft verriet. »Ja, alles klar«, versicherte sie ihrem Mann.

Magnus betrachtete sie zweifelnd. »Du hättest nicht mitkommen sollen.«

Entnervt rollte sie mit den Augen. »Das haben wir doch schon tausend Mal durchdiskutiert«, wisperte sie zurück. »Mia und ich sind die Einzigen, die Erin helfen können. Und mir geht es gut, genauso wie unserer Tochter.« Damit drehte sie sich um und folgte Ben und Mia, die sich bereits der Tür näherten.

Magnus starrte Anna einen Moment lang verdattert hinterher, dann lief er ihr nach und hielt sie an der Schulter zurück. »Tochter? Woher weißt du, dass wir eine Tochter bekommen?«

Anna hob die Schultern und grinste. »Keine Ahnung. Ich weiß es einfach.«

Schnaubend verdrehte Magnus die Augen, musste aber lächeln.

Anna erwiderte das Lächeln und drückte kurz seine Hand. »Es wird alles gut«, versicherte sie ihm noch einmal. Dann wandte sie sich um und zog ihn mit sich. »Und jetzt komm. Wir müssen Erin und ihr Baby retten.«

Sie schlichen zu Ben und Mia, die sich mit einem Stück Draht und einem kleinen Eisenhaken am Schloss der Tür zu schaffen machten. Mia sah fragend zu ihrer Freundin auf, doch Anna schüttelte nur kurz den Kopf und signalisierte wortlos, dass alles in Ordnung war.

Etwas klickte.

»Das Schloss ist geknackt!«

Mit Bedacht drückte Ben die Klinke hinunter und schob die Tür langsam auf. Das dahinter liegende Kellergewölbe war mit Fackeln beleuchtet und die plötzliche Helligkeit blendete sie kurz, dennoch erkannten sie, dass sie hier richtig waren. Hinter der Tür lag Konstantins Labor, in dem er laut ihrer Spitzel die Bestandteile seines Dämonenportals erschuf. Die vier sahen zwei Versuchstische übersät mit dunklen Flecken, die nichts Gutes erahnen ließen. Es gab unzählige Schalen, Schüsseln und Kessel mit undefinierbaren Inhalten und überall standen und lagen widerwärtig aussehende Instrumente und Apparaturen, deren Nutzen sich keiner von ihnen zu genau vorstellen wollte.

Zögernd betrat Mia das Labor. Im ersten Moment dachte sie, ihre Informationen wären falsch und Konstantin würde Erin nicht hier gefangen halten, aber dann entdeckte sie einen weiteren Versuchstisch in einer schmalen Nische in der Wand.

»Beim Engel!« Geschockt eilte sie quer durch das Labor hin zu der Gestalt, die mit Lederriemen an Händen und Füßen an den Tisch gefesselt war. Der Körper der jungen Frau war so ausgemergelt, dass die Wölbung ihres Babybauchs grotesk wirkte. Ihr ehemals weißes Kleid war übersät mit Flecken und ihre Hand- und Fußgelenke waren von den Fesseln blutig gescheuert.

»Erin!« Mia griff nach der schlaffen Hand der Frau. Sie war eiskalt.

Erin war totenbleich und nicht bei Bewusstsein. Auf ihrer Stirn standen feine Schweißperlen und Zitterschübe ließen ihren Körper beben. Tiefe Schatten lagen um ihre Augen und ihre Haare hingen in verschwitzen Strähnen um ihr Gesicht. Die Unterarme waren mit Schnittwunden übersät und ihr Atem ging flach und viel zu schnell. Mia hielt ihre Hand und fühlte vorsichtig ihre Stirn. Sie glühte vor Fieber.

»Verdammt!« Anna war Mia gefolgt und keuchte entsetzt auf, als sie Erin sah. »Was hat der Mistkerl ihr angetan?«

Mia schüttelte nur stumm den Kopf und begann die Fesseln an den Handgelenken zu lösen. Anna legte ihre Hände auf Erins Bauch und tastete ihn vorsichtig ab. Ihr schlechter Zustand ließ nichts Gutes für das ungeborene Kind ahnen, doch während Anna prüfend über den Bauch fuhr, spürte sie plötzlich einen heftigen Tritt unter ihrer Handfläche.

»Das Baby lebt!«

»Erin?« Mia strich über das verschwitzte Gesicht der jungen Frau. »Erin! Kannst du mich hören? Bitte, du musst aufwachen!«

Ben trat zu den Frauen, während Magnus an der Tür stehen blieb und den Gang im Auge behielt. Niemand sollte sie böse überraschen. Als Ben Erin sah, sog er scharf die Luft ein. Die Grausamkeiten, zu denen Konstantin fähig war, hatten Ausmaße angenommen, für die er seinen Bruder nur noch verabscheuen konnte.

»Erin!« Eindringlich packte Mia sie an den Schultern.

Die junge Frau stöhnte leise und schlug flatternd die Lider auf. Ihre Augen waren glasig und ein eigenartiger schwarzgrauer Film schien über ihnen zu liegen. Mia hatte so etwas noch nie gesehen und es ließ Schreckliches vermuten.

Unstet glitt Erins Blick über die drei Menschen, die neben ihr standen. Dann begann sie undeutlich vor sich hin zu murmeln und krallte ihre Finger in Mias Unterarm.

»Erin. Ich bin's, Mia. Wir sind gekommen, um dich und das Baby zu holen.«

Erins fiebriger Blick fand Mia und plötzlich schien sie etwas klarer zu werden.

»Du bist hier«, flüsterte sie kaum hörbar, aber mit unendlicher Erleichterung und ein Lächeln flog über ihr bleiches Gesicht.

Versichernd drückte Mia ihre Hand. »Ja, wir bringen dich zurück nach Burgedal.«

Fahrig schüttelte Erin den Kopf und krallte ihre Hand erneut in Mias Arm.

»N-nein«, brachte sie mühsam hervor. »Zu schwach … schaffe ich n-nicht.«

Mia schüttelte den Kopf. »Wir helfen dir. Wir bringen dich nach Hause.«

Erin schloss die Augen und verzog gequält das Gesicht. »Nein«, wisperte sie. »Zu spät – schlimme Schmerzen.« Sie krümmte sich und stöhnte auf.

»Was hat er dir angetan?«, flüsterte Mia fassungslos.

Mühsam zwang Erin die Augen wieder auf und suchte Mias Blick. »Schattenmar.«

»Was?!«, entfuhr es Ben entsetzt.

Mit unendlicher Anstrengung streckte die junge Frau ihren Arm aus und wies auf einen gläsernen Kessel, in dem eine schwarze Flüssigkeit träge waberte. Mit zwei Schritten war Ben neben dem Kessel und fuhr alarmiert zusammen, als sein Schwert aufleuchtete. Die Engelsklinge warnte ihn vor einem Schattenwesen. Allerdings war die Bedrohung offensichtlich nur noch sehr gering, denn sein Schwert glomm nur schwach. Eine eigenartige Kälte ging von dem Gefäß aus. Vorsichtig blickte Ben hinein. Im Inneren befand sich eine zähe Substanz, die an schwarzen Sirup erinnerte.

Stirnrunzelnd kehrte Ben zu Erin zurück in der Hoffnung, dass sie ihm ein paar Antworten geben konnte. »Was hat Konstantin mit dem Schattenmar gemacht? Wie hat er ihn in diesen Kessel eingesperrt und warum greift er uns nicht an?«

Erins Blick zuckte zu ihm und es war offensichtlich, wie sehr sie das Sprechen anstrengte. »Er – er hat ihn mit seinem Blut gezähmt«, brachte sie stockend hervor und begann heftig zu husten.

Ungläubig schüttelte Ben den Kopf.

Mia hatte an einem Spülbecken einen Becher mit Wasser gefüllt und stützte jetzt Erins Kopf, während sie sie vorsichtig trinken ließ. Erin seufzte dankbar.

»Konstantin hat ihn mit seinem Blut gezähmt? Was meinst du damit?«, hakte Ben nach und blickte skeptisch zum Kessel.

»Er zapft sich Blut ab und vermischt es mit dem Schattenmar.« Erin schien klarer zu werden und sie sprach jetzt schneller, obwohl eine neue Schmerzwelle durch ihren Körper ging und sie zittern ließ. Sie stöhnte auf, redete dann aber hastig durch zusammengebissene Zähne weiter, ganz so als wüsste sie, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb. »Das schwächt die Bestie und macht sie zu seinem Sklaven. Auch das Spiegelglas, aus dem er das Portal baut, hat er mit seinem Blut versehen. Er glaubt, die Dämonen aus dem Schattenreich werden ihn so als ihren Meister anerkennen und ihm gehorchen, wenn er sie durch das Portal zu sich ruft.«

Sie atmete schwer und musste erneut erschöpft die Augen schließen. Das Reden kostete sie unendlich viel Kraft. Mia setzte ihr wieder den Becher an die Lippen und ließ sie noch ein paar Schlucke trinken.

Bens Gesichtsmuskeln verrieten, wie sehr Wut, Hass und Abscheu in ihm brodelten, als er sich wortlos umwandte und sein Engelsschwert in die wabernde Schwärze des Schattenmars stieß. Die zähe Flüssigkeit begann zu zischen und zu brodeln, dann löste sie sich langsam auf. Im selben Moment schrie Erin auf und warf sich so wild vor Schmerzen hin und her, dass Mia und Anna Mühe hatten, sie auf dem Tisch zu halten.

Keuchend presste Erin ihre Hände auf ihren Bauch. »Holt das Baby!«, stieß sie hervor. »Holt das Baby!«

Betroffen blickte Anna zu Mia. »Das schafft sie nicht«, flüsterte sie und Mia nickte stumm. Anna griff Erins Hand und strich vorsichtig über die kaum verheilten Schnittwunden auf ihrem Unterarm.

»Erin«, versuchte sie sanft ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. »Du bist zu schwach, um dein Baby jetzt zur Welt zu bringen. Du musst erst wieder zu Kräften kommen und dein Baby hat noch einen guten Monat Zeit, bis es kommen soll. Wir nehmen dich mit nach Burgedal.«

Erin sog Luft durch ihre zusammengebissenen Zähne und schüttelte unwirsch den Kopf. »Ich schaffe es niemals bis Burgedal. Konstantin hat nicht nur sein Blut mit dem Schattenmar vermischt. Er hat auch meins genommen.« Sie wies auf die Schnitte auf ihren Armen und schluchzte auf. »Er hat mein Blut mit dem Schattenmar vermischt und mich und das Baby mit der Finsternis infiziert.« Tränen liefen aus ihren schwarztrüben Augen und hinterließen dunkle Spuren auf ihrem bleichen Gesicht.

Geschockt starrten Mia, Anna und Ben sie an. Das, was Erin da gerade behauptet hatte, klang zu grausam. Es war mehr als deutlich, dass sie unter fürchterlichen Schmerzen und hohem Fieber litt – und zwar vermutlich schon länger. Vielleicht vermischten sich da Realität und Halluzinationen, weil sie Schlimmes durchgemacht hatte. Dass Konstantin sie misshandelt hatte, stand außer Frage, aber sollte er wirklich das Unverzeihliche getan und Menschenversuche an seinem eigenen Kind durchgeführt haben?

Stöhnend krümmte Erin sich erneut vor Schmerzen, sprach aber trotzdem gehetzt weiter. »Für mich ist es zu spät. Die Finsternis zerstört meinen Körper.« Sie schluchzte erneut auf. »Aber das Baby! Ihr müsst es holen und zu Caya bringen. Vielleicht kann das Engelslicht es noch retten. Konstantin darf das Kind nicht in die Hände bekommen und einen Krieger der Finsternis aus ihm machen.« Flehentlich krallte sie ihre Finger in Mias Arm. »Bitte! Du solltest das Kind doch sowieso bekommen. Hol es jetzt und bring es zum Licht!« Wieder rannen Tränen aus ihren Augen und hinterließen dunkle Spuren auf ihren Wangen.

Mia war hin und her gerissen. Erin war schrecklich geschwächt. Sollte sie trotzdem versuchen, Mutter und Kind nach Burgedal zu bringen und riskieren, dass womöglich beide auf der tagelangen Reise starben? Oder sollte sie Erins Wunsch nachgeben und zumindest das Baby retten? Doch dass Erin einen Kaiserschnitt überleben würde, war äußerst unwahrscheinlich.

Der Kloß in ihrem Hals ließ sie kaum atmen und Mia blinzelte gegen die Tränen an, weil sie wusste, dass sie Erin ihren letzten Wunsch nicht ausschlagen durfte. Sie zwang sich zu Stärke, nahm Erins Hand und sah ihr fest in die Augen. »Wir retten dein Baby.«

Neue Tränen liefen über Erins Wangen, doch sie wirkte unendlich erleichtert. »Danke«, wisperte sie mit erstickter Stimme.

Anna presste die Lippen aufeinander, um nicht aufzuschluchzen. Auch ihr war klar, dass der Eingriff, bei dem sie Mia gleich assistieren würde, Erins Todesurteil bedeutete.

Mia schloss kurz die Augen und atmete tief durch, um alle Gefühle auszublenden. Dann streifte sie ihre Umhängetasche ab und holte verschiedene Arzneien hervor. Sie hatte sich in Burgedal auf alle Eventualitäten vorbereitet, auch wenn sie gehofft hatte, dass das Schlimmste nicht eintreten würde. Doch jetzt war es so und sie musste dieses Baby auf die Welt holen, um sein Leben zu retten.

»Ben, besorg mir Tücher und frisches Wasser«, bat sie knapp.

»Ich hoffe, die Garde hält Konstantin da oben noch ein bisschen in Trab.« Magnus hatte von der Tür aus alles mitverfolgt, behielt jedoch weiter den Gang im Auge, während Ben ihm Labor rasch die Sachen zusammenraffte, um die Mia ihn gebeten hatte.

Mia flößte Erin derweil mit Annas Hilfe eine großzügige Dosis Mohnsamensaft ein. Der würde ihr die Schmerzen nehmen und sie schnell einschlafen lassen. Eigentlich musste man mit der Dosierung vorsichtig sein. Wenn man es mit dem Saft zu gut meinte, wachten die Patienten nicht wieder auf. Doch Erin war so geschwächt, dass sie ohnehin nicht wieder aufwachen würde. Mia konnte es ihr nur noch so leicht wie möglich machen. Und wenn sie das Kind sofort holte, konnte der Mohnsamen ihm nicht schaden.

»Erin?« Sanft strich Mia ihr das Haar aus der verschwitzten Stirn. Der Saft wirkte bereits und nahm Erin Krämpfe und Schmerzen. Sie entspannte sich zusehends und atmete leichter und ruhiger. Mia schluckte und schenkte ihr ein versicherndes Lächeln, als Erin mit sichtlicher Mühe ihren Blick auf sie fixierte. »Ich verspreche dir, dass Ben und ich gut für dein Baby sorgen werden. Konstantin wird ihm nichts tun.«

Mia kämpfte mit den Tränen, als ein mattes Lächeln über Erins bleiches Gesicht huschte und sie mit letzter Kraft Mias Hand drückte. »Ich – weiß.« Ihre Stimme war kaum noch zu verstehen, doch ihr Blick grub sich in Mias. »Lasst nicht zu … dass es ein Kind der Finsternis wird. Bringt – bringt es zum Licht.«

Mia schluckte erneut und erwiderte den Händedruck. »Versprochen.«

Erins Finger zuckten ein letztes Mal in Mias Hand, dann fielen ihr die Augen zu und sie lag still. Mia biss sich auf die Unterlippe und jetzt liefen auch bei ihr Tränen, als sie Erin sanft über die Stirn strich und dann an ihrem Hals nach dem Puls fühlte. Kurz schloss sie die Augen, dann zwang sie sich, sich zusammenzureißen und ihr Versprechen zu erfüllen.

»Gib mir das Skalpell.«

TEIL 1

Schatten der Vergangenheit

Kapitel 1

 

Gegenwart

 

Ben schwieg und es herrschte Stille in der kleinen Kapelle, die vom Schein des Engelslichts und einigen Kerzen sanft erhellt wurde. Keiner hatte während seines Berichts ein Wort gesagt, allerdings hatten Kaelan und Ari Noah besorgt im Blick behalten, der während Bens Schilderungen mit steinerner Miene auf eine der Kirchenbänke gesunken war. Liv saß neben ihm und hielt seine Hand. Goldenes Engelslicht sickerte zwischen ihren Fingern hindurch. Ben hätte viel dafür gegeben, Noah das alles ersparen zu können, doch ihm war klar, dass sie Noah die Wahrheit über seine Herkunft nicht länger verschweigen durften. Er sah zu Mia und drückte kurz ihre Hand, weil auch sie die Erinnerungen an damals sichtlich mitnahmen.

»Mia und Anna haben dich auf die Welt geholt«, erzählte er weiter. »Es war gut einen Monat zu früh und du warst schrecklich klein und zerbrechlich, aber dein Geschrei war so laut und kräftig, dass wir uns keine Sorgen machen mussten, ob du es schaffen wirst oder nicht. Ganz offensichtlich warst du ein echter Kämpfer.« Er versuchte ein Lächeln, doch Noah ging nicht darauf ein.

»Was war mit Erin?«, wollte er stattdessen wissen.

Mia seufzte schwer, als sie die Kälte und Distanz in Noahs Augen sah. »Niemand hätte ihr mehr helfen können. Sie war bereits verloren, lange bevor wir in dieser Nacht zu ihr kamen.«

Noah presste die Kiefer aufeinander und krallte seine Hand in Livs. Alles, was er bisher gehört hatte, gab zwar Antworten, aber jede einzelne führte gefühlt zu zig neuen Fragen und alles, was sie zutage brachten, fühlte sich widerlich an und ließ Wut und Hass immer höher kochen. Und Angst. Richtig üble Angst. Liv drückte seine Finger und ihm war klar, dass er ohne sie an seiner Seite vermutlich längst durchgedreht wäre.

»Ihr habt gesagt, Erin war eine Spionin in Dakenhall.« Er musste Ordnung in all das Chaos bringen. Brauchte noch mehr Antworten, auch wenn die vermutlich noch mehr grausame Erkenntnisse mit sich brachten. »Hatte Konstantin sie entlarvt und dann zur Strafe vergewaltigt und für seine kranken Experimente missbraucht?«

Mias Blick war voller Mitgefühl und sie hätte nichts lieber getan, als ihn in ihre Arme zu schließen, doch es war mehr als offensichtlich, dass Noah das jetzt gerade niemals zugelassen hätte. »Nein«, antwortete sie leise. »Konstantin hat sie nicht vergewaltigt.«

Ungläubig starrte Noah sie an. »Hat sie ihn etwa mal geliebt?«

Mia schüttelte den Kopf. »Nein. Deine Mutter war eine unglaublich starke und mutige Frau, die jeden einzelnen Tag ihres Lebens für das Licht gekämpft hat, auch wenn es für Außenstehende vielleicht nicht immer so aussah.« Sie warf einen kurzen Blick zu Ben. »Aber um deine Mutter zu verstehen, solltest du zuerst mehr über deinen Vater erfahren.«

Noah schnaubte zynisch. »Sicher. Erklärt mir, wie mein Erzeuger zu so einem Arschloch geworden ist.« Finster richtete er sich an Ben. »Hattet ihr eine schwere Kindheit?«

Ben seufzte. »Nein. Wir hatten tolle Eltern, die beide voll und ganz hinter Cayaniel und dem Wunsch nach einer besseren Welt hier in Interria standen. Sie waren beide in der Garde des Lichts und Konstantin und ich wuchsen hier im Kloster auf. Unser Vater und Ignatius waren enge Freunde und beide teilten die Begeisterung für die Geschichte Interrias. Doch während ich es kaum erwarten konnte, ebenfalls in die Garde einzutreten, um das Engelslicht zu bewahren und Interria sowie die Alte Welt vor Dämonen zu schützen, war Konstantin fasziniert vom Schattenreich und den Kräften seiner Kreaturen. Er sah keinen Sinn darin, schwache Wesen wie Gnome oder Feen zu beschützen und ihnen ein Zuhause zu geben. Für ihn zählten nur die Stärksten und Mächtigsten. Wer da nicht mithalten konnte, hatte verloren und somit in seinen Augen auch keine Daseinsberechtigung. Deswegen verabscheute er den Engel des Lichts und alle, die sich in seinem Namen für die Schwächeren einsetzten. Konstantin wollte unbedingt herausfinden, welche Kräfte im Schattenreich verborgen liegen und welche Macht sie ihm womöglich verleihen könnten. Er fantasierte davon, ein Tor zu dieser Welt zu erschaffen, und war überzeugt davon, dass es möglich sein musste. Schließlich können wir hier im Kloster ja auch Portale in die Alte Welt öffnen.«

Kaelan hatte bisher still zugehört, jetzt fragte er stirnrunzelnd: »Wie alt war Konstantin denn da?«

Ben überlegte kurz. »Fünfzehn oder sechzehn, denke ich. Fasziniert von Dämonen und dem Schattenreich war er aber schon immer. Er wurde allerdings immer obsessiver je älter er wurde. Er verschlang alle Bücher und Berichte, die er über die Dämonen und ihre Welt in der Klosterbibliothek finden konnte, und scharte nach und nach Anhänger um sich, die sich von seiner Weltvorstellung anstecken ließen. Septimus wurde damals zu seinem besten Freund. Das Engelslicht wurde langsam schwächer und es war offensichtlich, dass es zu unseren Lebzeiten erneuert werden musste. Konstantin war besessen von der Idee, das zu verhindern. Er wollte einen Weg finden, sich mit den Dämonen zu verbünden, sie anzuführen und so Interria von allen Schwächlingen zu säubern. Caya sollte erlöschen und nie wieder leuchten.« Ben verzog das Gesicht und fuhr sich über die Augen. »Unsere Eltern waren entsetzt. Ich weiß nicht, wie oft Konstantin und unser Vater sich gestritten haben. Mit siebzehn lief er dann weg und es war eine Wohltat, ihn und sein Gefolge aus Burgedal fort zu haben. Hier machten sie ständig die Straßen unsicher, fingen Streit und Prügeleien an und brachten mit ihren Machtfantasien immer mehr Menschen dazu, ebenfalls den Schutz von Schwächeren und damit den Sinn des Engelslichts in Frage zu stellen. Die meisten Burgedaler waren daher froh, als sie weg waren und endlich wieder Ruhe in die Stadt einkehrte.«

»Sind Konstantin und seine Leute da dann nach Dakenhall gegangen?«, fragte Ari.

»Nicht sofort. Zuerst ritten sie eine ganze Weile lang kreuz und quer durch Interria und benahmen sich außerhalb der Stadtmauern nicht viel besser als hier. Sie überfielen und plünderten Farmen und kleinere Dörfer und Konstantin vergrößerte seine Gefolgschaft weiter. Manche unterstützten ihn nur aus Angst, viele aber leider auch aus Überzeugung.« Ben seufzte. »Irgendwann ritten sie dann in den Süden nach Dakenhall. Vermutlich wollte Konstantin Hektors alte Burg sehen. Von Hektors Geschichte war er nämlich ähnlich fasziniert wie von den Geschichten über das Schattenreich. In der Nähe der alten Festung hatte sich in den Jahren nach Hektor eine eigene kleine Gemeinschaft gebildet. Nachdem Cayaniel Hektor für den Missbrauch seiner Macht bestraft hatte und er einsam in seiner Burg gestorben war, ließen sich dort Abtrünnige aus Burgedal nieder und bauten nach und nach eine eigene Stadt auf.«

»Also ist Konstantin dann auch dort geblieben?«

Ben wiegte den Kopf hin und her. »Jein. Ungefähr ein Jahr nach seinem Weggang kehrte er hierher zurück, um Gleichgesinnte, die sich zuvor noch nicht dazu hatten entschließen können, zu überreden, sich ihm jetzt doch anzuschließen. Er erzählte ihnen von seinen Plänen und forderte sie auf, mit nach Dakenhall zu kommen. Sobald er und seine Leute Burgedal betreten hatten, wurden sie jedoch verhaftet, weil sie sich wegen der Diebstähle und Plünderungen im Land vor dem Rat der Garde verantworten mussten. Sie wurden schuldig gesprochen und offiziell verbannt. Damit durfte Konstantin Burgedal nie wieder betreten. Da die meisten seiner Gefolgsleute dieselbe Strafe bekamen, erhoffte die Garde sich so ein Ende der Hetzkampagnen und für die Einwohner und Einwohnerinnen Schutz vor Übergriffen, wenn sie Konstantins Weltanschauung nicht teilten und sich weigerten, mit ihm zu gehen.«

»Aber war eine Verbannung nicht ziemlich riskant?«, wunderte sich Kaelan. »Durch das Wegschicken hatte man doch keinerlei Einsichten und Kontrolle mehr darüber, was Konstantin tat, und es war ja vorhersehbar, dass er irgendwann ziemlichen Ärger machen würde.«

Ben schüttelte den Kopf. »Selbst als Konstantin noch in Burgedal gelebt hat, hatte ihn schon niemand mehr unter Kontrolle. Man kann niemandem vorschreiben, was er oder sie zu denken hat, und wir konnten den Leuten nicht verbieten, Burgedal zu verlassen, wenn sie lieber nach Dakenhall gehen wollten, um sich Konstantin anzuschließen.« Seufzend rieb er sich über die Stirn. »Konstantin ließ seine Verbannung völlig kalt. Er und sein Gefolge verließen Burgedal hocherhobenen Hauptes.«

Einen Moment herrschte Stille.

»Das muss schlimm für dich gewesen sein«, meinte Ari dann. »Er ist immerhin dein Zwillingsbruder.«

Ben schüttelte erneut den Kopf. »Konstantin und ich teilen vielleicht dieselben Gene, aber das ist auch alles. Seine Machtgier war mir schon immer zuwider und ich habe ihn dafür gehasst, dass er meinen Eltern mit seinem Verhalten das Herz gebrochen hat. Wir mögen zwar Zwillinge sein, aber das hat weder für ihn noch für mich die geringste Bedeutung.«

Obwohl das ziemlich hart klang, konnte Liv Ben gut verstehen. Sie blickte zu Noah, der schweigend zugehört hatte. Sie hielt noch immer seine Hand und konnte fühlen, wie aufgewühlt er war. Wie sehr er damit kämpfte, Wut und Hass, aber auch Enttäuschung und Angst im Zaum zu halten. Am liebsten wäre er aufgesprungen und hin und her getigert, um all dem Luft zu machen. Gleichzeitig war er aber zu erschlagen von allem, was er in der letzten halben Stunde erfahren hatte, sodass er nur dahocken und versuchen konnte, irgendwie Ordnung in all die Informationen, Gedanken und Gefühle zu bringen.

»Was ist mit Erin?«, fragte er jetzt erstaunlich ruhig angesichts des ganzen Tumults in seinem Inneren. »Wo kommt sie bei alldem ins Spiel?«

Mia seufzte. »Wie schon gesagt, Erin war eine sehr starke und mutige Frau.« Sie blickte kurz zu Kaelan. »Wie du machte man sich auch in der Garde damals Sorgen darüber, welchen Plänen Konstantin in Dakenhall nachgehen würde, wenn man ihn und sein Gefolge aus Burgedal verbannte. Ignatius suchte daher einige vertrauenswürdige Personen auf, die für uns in Dakenhall spionieren gehen sollten, um Konstantin im Auge zu behalten. Erin war eine davon. Sie war gerade achtzehn geworden und wollte eigentlich der Garde beitreten, meldete sich dann aber freiwillig als Spionin. Um ihre Tarnung perfekt zu machen, inszenierten Anna und ich in einer der Tavernen, in der einige von Konstantins Leuten anwesend waren, einen riesigen Streit, der damit endete, dass Erin Cayaniel und das Engelslicht verfluchte und sich stattdessen Konstantin anschloss. Als am nächsten Tag das Urteil der Verbannung gesprochen wurde, verließ sie mit ihm und seinen Leuten die Stadt.«

»Aber der Plan hatte nicht funktioniert,« stellte Noah nüchtern fest. »Konstantin fand heraus, dass sie ihn bespitzeln sollte.« Er weigerte sich, die beiden als seinen Vater und seine Mutter zu sehen. Er musste sich davon distanzieren, weil er nicht wusste, ob er damit klarkommen würde, wenn er es zu nah an sich heranließ.

»Nein«, antwortete Ben. »Zuerst lief alles, wie geplant. Außer Erin hatte es eine Handvoll weiterer Spione geschafft, sich in Dakenhall niederzulassen. Die meisten lebten und arbeiteten in der Stadt und hielten dabei Augen und Ohren offen, was in Dakenhall gemunkelt wurde und was sich in der Burg tat. Einer hatte es in die Kampftruppe geschafft, die Septimus zu Dakenhalls Armee aufbauen wollte. Ein weiterer arbeitete an der Renovierung der Burg mit und wurde später einer von Konstantins Wachleuten.« Ben hielt kurz inne, bevor er weitersprach. »Erin dagegen war klar, dass sie die wirklich wertvollen Informationen über Konstantins Vorhaben nur aus erster Hand bekommen konnte. Deshalb hatte sie sich in den Kopf gesetzt, ihn um den Finger zu wickeln und dazu zu bringen, sich in sie zu verlieben. So hoffte sie, dass er sie in all seine Pläne einweihen würde.«

»Erin war sehr hübsch und ein ziemlicher Dickkopf«, fuhr Mia fort. »Wenn sie sich etwas vorgenommen hatte, ließ sie sich davon nicht wieder abbringen, und in der Regel erreichte sie auch, was sie wollte. Wir fanden ihren Plan zwar riskant, aber sie ließ ihn sich nicht ausreden. Ein paar Monate später erhielten wir eine Nachricht, dass sie in Konstantins Privaträume in Burg Dakenhall eingezogen war.«

»Etwa anderthalb Jahre lang schickte sie uns regelmäßig Botschaften«, übernahm Ben wieder. »Konstantin richtete sich ein Labor in den Kellergewölben seiner Burg ein und experimentierte daran, ein Tor zum Schattenreich zu erschaffen. Doch obwohl Erin immer wieder versuchte, Genaueres herauszufinden, schwieg Konstantin eisern zu den Ergebnissen seiner Forschungen.« Er schnaubte. »So war er schon immer. In seinen Augen ist nur er allein clever genug, Dinge zu durchschauen, und er ist zu egoistisch und machtbesessen, um Erkenntnisse oder Errungenschaften zu teilen. Das Einzige, was Erin herausbekam, war daher, dass Konstantin Versuche mit einem dunklen Spiegelglas machte, denn dafür baute er einen steinernen Rahmen in eine Wand seines Thronsaals. Er meißelte Runen aus einem Buch über Dämonenbeschwörung aus der Alten Welt in den Stein und verbarg den Rahmen hinter einem großen Vorhang. Er machte mit seinen Experimenten allerdings kaum sichtbare Fortschritte. Der Bau seines Portals ging nur sehr schleppend voran und außer ihm glaubte niemand, dass es wirklich funktionieren würde.«

»Etwa zwei Jahre nachdem Erin nach Dakenhall gegangen war, erhielten wir von ihr die Nachricht, dass sie schwanger war«, übernahm jetzt Mia wieder. »Sie war ziemlich aufgelöst, weil sie als Spionin sehr gefährlich lebte und nicht wollte, dass Konstantin ein Kind in die Hände bekam, das er mit seinen Machtfantasien vergiften konnte.« In ihren Augen lag wieder jede Menge Mitgefühl, als sie Noahs Blick suchte. »Sie wollte nur dein Bestes.«

Noah hatte keine Ahnung, was er dazu sagen sollte. Man sah ihm Hilflosigkeit, Wut und Überforderung aber auch ohne Worte an. Mia war bewusst, wie viel er gerade verarbeiten musste, sie hoffte jedoch, dass er besser klarkam, wenn sie ihm alle Fakten gaben, und damit zumindest keine Geheimnisse mehr zwischen ihnen standen.

»Ben und ich hatten gerade geheiratet und Erin bat uns, dich aufzunehmen«, sprach sie deshalb weiter.

Liv runzelte die Stirn. »Aber das hätte Konstantin doch niemals zugelassen.«

»Mit Sicherheit nicht«, gab Ben ihr recht. »Deshalb schmiedeten wir damals einen ziemlich tollkühnen Plan.«

»Erin sollte ihre Schwangerschaft vor Konstantin geheim halten und zu uns zurückkommen, um das Kind zu bekommen«, erklärte Mia. »Wir schickten ihr eine offizielle Nachricht aus Burgedal, in der wir ihr mitteilten, dass ihr Großvater, bei dem sie aufgewachsen war und der ihre einzige Familie darstellte, schwer erkrankt sei und sie bat, noch einmal zu ihm zu kommen, bevor er starb. Das war zwar eine Lüge, wäre aber nicht aufgefallen, da Adam als Kräutersammler abgeschieden in einer Hütte im Wald lebte. Erin hätte bis zur Geburt ihres Kindes bei ihm wohnen können und Konstantin hätte nie erfahren, dass sie schwanger war.«

»Währenddessen gab Mia vor, ebenfalls schwanger zu sein. Schließlich hätten die Leute Fragen gestellt, wenn plötzlich aus dem Nichts ein Kind aufgetaucht wäre«, erklärte Ben weiter und richtete sich wieder an Noah. »Um deine Sicherheit zu gewährleisten, entschieden wir, dass nur so wenig Leute wie irgendwie möglich von unserer Täuschung wissen sollten. Mia hätte Erin bei der Geburt geholfen und dann das Kind als unseres ausgegeben, während Erin zurück nach Dakenhall gegangen wäre, um weiter Konstantin zu bespitzeln.«

»Aber der Plan schlug fehl und Konstantin ließ sich nicht täuschen«, stellte Kaelan fest.

Mia nickte betrübt. »Er wurde misstrauisch, als Erin ihm die Nachricht über ihren Großvater zeigte, und wollte sie nicht gehen lassen. Er hatte wohl schon vermutet, dass sie schwanger sein könnte.« Müde fuhr sie sich über die Augen. »Was genau passiert ist, wissen wir nicht, aber Konstantin traute Erin nicht mehr.«

Eine Weile herrschte in der kleinen Kapelle betroffenes Schweigen.

Dann fragte Ari leise: »Wie habt ihr davon erfahren? Erin konnte euch ja nun keine Botschaften mehr zukommen lassen, oder?«

»Konstantin schickte Ignatius eine hämische Nachricht, in der er uns mitteilte, dass Erin als unsere Informationsquelle in Zukunft ausfallen und er es nicht zulassen würde, dass wir sein Kind entführten«, seufzte Ben. »Von Karim, unserem Spion, der als Wache in Burg Dakenhall arbeitete, erfuhren wir, dass Konstantin Erin in seinem Labor gefangen hielt.«

»Wir konnten Erin aber nicht bei ihm lassen«, fuhr Mia fort. »Nach allem, was sie für uns riskiert hatte, waren wir es ihr schuldig, sie zu befreien. Das Problem war nur, dass Konstantin sie und ihr Kind mit Sicherheit gnadenlos gejagt hätte, wenn wir sie einfach zurück nach Burgedal geholt hätten. Uns blieb daher nur eine Möglichkeit: Wir mussten Erins Tod vortäuschen und sie musste danach entweder auf irgendeinem abgelegenen Hof untertauchen oder Interria ganz verlassen und in die Alte Welt gehen.«

»Unser Plan sah wie folgt aus«, erzählte Ben weiter. »Ignatius berichtete der Garde, dass Konstantins Bau an seinem Portal gestoppt werden musste, um Interria nicht in Gefahr zu bringen. Die Garde sollte deshalb in die Burg eindringen und das Portal zerstören. Dieser Vorschlag fiel sofort auf fruchtbaren Boden. Ragnar, Gaius und vielen anderen waren Konstantins Machenschaften schon lange ein Dorn im Auge und sie waren sofort einverstanden, das Portal zu vernichten. Selbst wenn damals viele noch nicht daran glaubten, dass Konstantin wirklich einen Übergang zum Schattenreich erschaffen konnte, wollten sie ihn in seine Schranken weisen und lieber auf Nummer sicher gehen.«

»Parallel zum Angriff auf Konstantins Thronsaal wollten deine Eltern«, Mia blickte zu Liv, »sowie Ben und ich mit Karims Hilfe in Konstantins Labor eindringen, Erin befreien und dort Feuer legen, um so Erins Tod vorzutäuschen. Es sollte für Konstantin so aussehen, als ob es beim Versuch, Erin zu befreien, einen schrecklichen Unfall gegeben hätte.«

»Aber hätte Konstantin denn nicht gemerkt, dass es keine Leiche gab?«, fragte Liv stirnrunzelnd.

Ben schüttelte den Kopf. »Karim hatte uns den Leichnam einer Frau aus Dakenhall besorgt. Es gab dort damals ein Freudenhaus, in dem man gegen eine entsprechend hohe Bezahlung grausame Fantasien ausleben konnten. Dabei kam es wohl nicht selten vor, dass Menschen starben.«

Liv schauderte vor Entsetzen und konnte Noahs Abscheu und Ekel ebenfalls spüren.

»Karim hatte eine der Toten in einer geheimen Nische im Keller der Burg versteckt«, erzählte Ben weiter. »Sobald wir Erin befreit hätten, hätte er die Leiche in Konstantins Labor gebracht. Dabei hätte er dafür gesorgt, dass sie durch das Feuer so stark entstellt worden wäre, dass niemand hätte erkennen können, dass es nicht Erin war.«

Mia atmete schwer durch. »Was stattdessen passiert ist, wisst ihr ja bereits«, sagte sie dann bedrückt. »Wir kamen zu spät, um Erin zu retten. Was Konstantin ihr angetan hatte, hatte sie zu sehr geschwächt, als dass sie die Flucht geschafft hätte. Ihr letzter Wunsch war, dass wir ihr Kind auf die Welt holten.« Sie blickte zu Noah. »Ben und ich sollten dich zu uns nehmen und mit dem Glauben an das Engelslicht aufwachsen lassen.« Sie schluckte hart und ihr war deutlich anzusehen, wie nahe ihr das damalige Geschehen auch heute noch ging. »Ich gab deiner Mutter eine Überdosis Mohnsamensaft und ließ sie einschlafen. Dann holte ich dich mit Annas Hilfe auf die Welt. Wir verschwanden aus der Burg und Karim legte Feuer, während die Garde im Thronsaal das Portal zum Schattenreich zerstörte. Ben und Magnus schlossen sich dem Kampf an, während Anna und ich ungesehen mit dir nach Burgedal zurückkehrten. Hier angekommen, gab ich dann vor, einen Sohn zur Welt gebracht zu haben.«

Sie suchte erneut Noahs Blick.

Noah wich ihr nicht aus, wusste aber nicht, was er dazu sagen sollte. Verdammt, er wusste nicht mal, was er fühlen sollte!

»Und Konstantin hat nie Verdacht geschöpft?«, wunderte sich Ari. »Dass es während des Angriffs auf das Portal ein Feuer in seinem Labor im Keller gab, bei dem Erin und sein Kind starben, hat ihn nicht misstrauisch gemacht? Besonders, da du so bald danach ein Kind bekommen hast?«

Mia hob die Schultern und schüttelte den Kopf. »Selbst wenn er vielleicht vermutet hat, dass wir den Angriff nutzen wollten, um Erin zu befreien, war ihm sicher klar, dass sie eine Flucht niemals geschafft hätte. Und ihre verbrannte Leiche war ja im Labor. Ob er bezüglich des Kindes damals einen Verdacht geschöpft hat, ist schwer zu sagen. Falls ja, haben wir davon nichts mitbekommen.« Sie blickte wieder zu Noah und schenkte ihm ein kleines Lächeln. »Jedenfalls hat er bestimmt nicht in Erwägung gezogen, dass der Sohn, den Ben und ich bekamen, eigentlich seiner sein könnte. Er hätte schließlich nie im Leben für möglich gehalten, dass sein Sohn ein Cay ist und somit das Engelslicht bewahren würde, das er mit aller Macht vernichten will.«

Kapitel 2

 

Noah zog seine Hand aus Livs und starrte stumm auf seine rechte Handfläche.

Caya.

Sein Zeichen des Lichts.

Das rote Mal des Engels wirkte im dämmrigen Schein des Engelslichts dunkler als sonst.

Bitter schloss er die Augen und ballte die Hand zur Faust. »Aber jetzt weiß er es. Er weiß, dass ich sein Sohn bin, weil er Erin und mich mit der Finsternis infiziert hat. Deswegen bin ich nicht gestorben, als der Schattenmar mich berührt hat. Stimmt’s?«

Und ganz plötzlich tobten all die Gedanken und Gefühle zu sehr in ihm, als dass er noch still auf der Kirchenbank hätte sitzen bleiben können. Er sprang auf und ballte jetzt beide Hände zu Fäusten. »Was hat dieser Dreckskerl mit mir gemacht?«

Mitfühlend schüttelte Ben den Kopf. »Das wissen wir nicht.«

»Natürlich wisst ihr es!«, fuhr Noah ihn an, weil der lähmende Schock über alles, was er erfahren hatte, jetzt nachließ und dafür die Wut auf Ben und Mia und das Gefühl von Enttäuschung und Verrat ihn zu übermannen drohten. »Ihr wart da! Ihr habt das Labor gesehen! Erin hat euch alles erzählt!«

Wieder schüttelte Ben den Kopf und zwang sich, Noahs Aufgebrachtheit mit Ruhe zu begegnen. »Als wir Erin fanden, war sie kaum mehr bei Sinnen. Sie litt an fürchterlichen Schmerzen und hat im Fieber fantasiert. Wir können daher nicht mit Sicherheit sagen, ob das, was sie uns erzählt hat, wirklich wahr gewesen ist oder ob es nur Halluzinationen waren.«

»Das ist doch Bullshit!« Unwirsch raufte Noah sich durch die Haare. »Irgendwas davon muss ja wahr sein, schließlich hab ich die Berührung des Schattenmars überlebt! Und das liegt nicht daran, dass ich ein Cay bin! Liv hat ein Buch über die ersten Reisen zu den Lichtsteinen gelesen und dabei wurde einer der Cays von einem Schattenmar getötet. Und sagt mir jetzt nicht, dass ihr das nicht wusstet! Ignatius ist der absolute Experte für Cayaniel, das Engelslicht und die Cays. Er kennt vermutlich jedes Buch dazu auswendig! Also seid endlich ehrlich! Was verdammt hat Konstantin mit mir gemacht?«

Mia merkte, dass es Ben schwerfiel, ruhig zu bleiben, weil er es hasste, Noah so aufgewühlt und verzweifelt zu sehen. Beschwichtigend legte sie ihrem Mann eine Hand auf den Arm und wandte sich dann an Noah. »Wir wissen es wirklich nicht genau. Das ist die Wahrheit.«

Noah wollte erneut aufbrausen, aber Mia sprach schon weiter.

»Ich erzähle dir aber das, was Erin uns gesagt hat. Okay?«

Noah presste die Kiefer aufeinander und nickte knapp.

»Laut Erin hat Konstantin mit einem Schattenmar experimentiert. Sie berichtete uns, Konstantin hätte den Schattenmar in einen Kessel eingesperrt und ihm sein Blut zugefügt, um ihn so unterwürfig zu machen. Diesen Kessel haben wir in Konstantins Labor gesehen. Er enthielt eine schwarze Flüssigkeit, die Bens Engelsschwert zum Leuchten brachte, als er sich dem Gefäß näherte. Daher können wir davon ausgehen, dass Erins Schilderung in dem Punkt stimmte.«

Noah bohrte seinen Blick in sie. »Das erklärt aber immer noch nicht, was er mit ihr – und mit mir! – gemacht hat«, knurrte er ungeduldig.

Mia seufzte, weil klar war, dass er das Nächste nicht gut aufnehmen würde. »Erin hat außerdem erzählt, dass Konstantin nicht nur sein Blut, sondern auch ihres mit dem Schattenmar vermengt und sie dann mit der Finsternis infiziert hat.«

Entsetzt starrte Noah sie an. »M-Mit der Finsternis infiziert?«, brachte er stammelnd hervor und sofort waren die schrecklichen Bilder aus seinem Albtraum in seinem Kopf. Sein Engelsmal, das sich von Rot nach Schwarz verfärbte.

»Das waren ihre Worte, ja. Aber bedenke, als wir Erin gefunden haben, war sie kaum bei klarem Bewusstsein und sie hatte hohes Fieber. Deshalb stimmt das, was Ben dir gerade schon gesagt hat: Wie viel von dem, was Erin uns erzählt hat, tatsächlich passiert ist, und was vielleicht auch nur Albträume oder schlimme Fieberfantasien waren, ist schwer einzuschätzen. Sie hat aber anscheinend geglaubt, Konstantin hätte das Gemisch aus Schattenmar und Blut über Schnitte an ihren Unterarmen in ihren Körper eindringen lassen. Ob das wirklich stimmt, wissen wir aber nicht. Ich bin mir nicht mal sicher, ob das möglich wäre. Ein Schnitt blutet, das heißt, es tritt etwas aus der Wunde aus. Das macht es eigentlich schwierig, auf diesem Weg etwas in den Körper hineinzugeben. Dafür würde man eher Spritzen verwenden. Erin hatte aber tatsächlich etliche Schnitte an den Unterarmen und in ihren Augen schwamm ein dunkler Schleier.« Sie zögerte kurz, weil ihr klar war, wie sehr sie Noah damit verunsichern würde. Doch sie wollte keine Geheimnisse mehr. »Derselbe dunkle Schleier lag über deinen Augen, nachdem der Schattenmar dich angegriffen hatte.«

Noah starrte sie erschrocken an und auch Liv, Ari und Kaelan war der Schock anzusehen.

»Dann hatte Konstantin sie also wirklich mit der Finsternis infiziert«, flüsterte Noah tonlos. »Und ich trage sie damit auch in mir.«

Sofort schüttelte Mia den Kopf. »Nein. Bei deiner Geburt waren deine Augen klar. Du hattest diesen Schleier vor ein paar Wochen zum ersten Mal, als der Schattenmar dich berührt hatte, und er ist wieder verschwunden, nachdem wir dich zum Engelslicht gebracht hatten. Auch dein Blut ist rein. Erins Blut war mit Schwärze durchzogen, als ich bei ihr den Kaiserschnitt gemacht habe. Dein Blut ist aber so rot wie das von jedem von uns. Es mag sein, dass Konstantin Erin wirklich dieses Schattenmargemisch eingeflößt hat. Vermutlich hat sie das geschwächt und krank gemacht. Für dich muss es aber nichts Negatives bedeuten. Im Gegenteil. Ich glaube, das Ganze hat auf dich wie eine Art Impfung gewirkt. Da du und Erin während der Schwangerschaft miteinander verbunden wart, hast du von diesem Zeug zwar auch etwas in deinen Körper aufgenommen, aber es hat dich nicht krank gemacht, sondern gegen die tödliche Berührung des Schattenmars immunisiert. Zumindest zu einem Teil. Die Berührung hat dich nicht getötet, nur stark geschwächt. Das ist aber nichts Schlimmes, sondern eigentlich nur ein logischer Vorgang. Schattenwesen rauben uns unsere Lebensenergie, um im Tageslicht existieren zu können. Da ist es nicht abwegig, dass wir genauso Resistenzen gegenüber ihnen entwickeln können, wenn wir ihre Energien in uns aufnehmen.«

Ari runzelte die Stirn. »Du denkst, wenn wir das Gemisch, das Konstantin hergestellt hat, ebenfalls herstellen könnten, könnten wir daraus eine Art Impfstoff machen, der uns alle vor tödlichen Berührungen durch Schattenmare schützt?«

Mia hob die Schultern. »Ja, vielleicht.«

»Und damit ist das, was Konstantin getan hat, okay?«, fuhr Noah die beiden an und ballte seine Fäuste so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Er hat eine schwangere Frau halb totgequält und hatte nicht die geringste Ahnung, was seine Experimente mit dem Kind machen, aber hey! Wir brauchen schließlich medizinische Forschung! Wenn ich bei ihm geblieben wäre, hätte er mit Sicherheit weiter mit mir herumexperimentiert und mich dabei Schattenwesen ausgesetzt, völlig egal, wie sehr er mich damit gequält hätte. Das war ihm bei Erin ja offensichtlich auch scheißegal. Aber hey – alles für die Forschung! Und wer weiß? Vielleicht ist mein Blut ja schon jetzt – ohne weitere Experimente – eine perfekte Impfung gegen die Schattenwesen! Warum schnallt ihr mich dann nicht auf einen Versuchstisch und lasst mich bluten, damit ihr euch alle immunisieren könnt? Achtet nur darauf, dass ihr nicht zu viel auf einmal nehmt, damit ich mich immer wieder schön regenerieren kann. Wäre ja schließlich übel, wenn der Impfstofflieferant stirbt, solange ihr noch keinen neuen mit irgendeiner armen Schwangeren herangezüchtet habt, der ihr Konstantins Schattenmargebräu einflößen könnt!« Seine Stimme triefte vor Wut, Bitterkeit und Zynismus.

Liv stand von der Kirchenbank auf und wollte seine Hand nehmen, um ihn zu besänftigen, doch danach stand Noah jetzt nicht der Sinn und er entzog sich ihr.

»Noah, niemand hier hat gesagt, dass das, was Konstantin getan hat, okay war«, stellte Mia ruhig klar. »Ganz im Gegenteil. Er hat Experimente an einem Menschen durchgeführt. Gegen Erins Willen. Und da sie schwanger war, hat er sogar mit einem ungeborenen Leben experimentiert. Das ist unverzeihlich und steht hier in Interria unter Strafe. Natürlich ist medizinische Forschung wichtig, weil wir nur so Heilmittel finden können. Aber es darf niemals ohne Einwilligung oder gar gegen den Willen eines Wesens geschehen.«

Noah schnaubte biestig. »Klingt ja wahnsinnig nobel, hat Konstantin nur offenbar null interessiert. Und wer weiß, wie viele Frauen er nach Erins Tod noch geschwängert hat, um mit ihnen weiter zu experimentieren.«

»Keine«, antwortete Ben genauso ruhig wie Mia. »Wir hätten niemals zugelassen, dass Konstantin noch einer Frau und ihrem Kind das antut, was er Erin und dir angetan hat. Unsere Spitzel hatten ihn in den letzten Jahren immer im Blick. Seit Erins Tod scheint Konstantin jedoch kein Interesse an weiteren Experimenten mit Frauen und deren ungeborenen Kindern zu haben. Stattdessen hat er sich voll und ganz auf den Wiederaufbau – und vermutlich die Verbesserung – des Portals zum Schattenreich fokussiert.«

»Na, was für ein Glück!«, ätzte Noah und wieder war der Zynismus in seiner Stimme nicht zu überhören.

Mia seufzte schwer. »Ich kann deinen Zorn verstehen. Konstantin hat dich für seine Machenschaften missbraucht und dabei dein Leben aufs Spiel gesetzt – und wir haben dir all das verschwiegen und dich angelogen. Das tut uns leid und ich wünschte, du hättest es nicht auf diese Weise erfahren müssen.«

Noah lachte bitter auf. »Ja, echt blöd, dass ich heute Konstantin über den Weg gelaufen bin. Das ließ euch dann jetzt dummerweise keine andere Wahl mehr, weil ich mir die Antworten sonst von ihm geholt hätte, statt weiter ein braver Cay zu sein und den verdammten vierten Lichtstein ins Kloster zu holen.«

»Noah –«, begann Ben, doch Noah fiel ihm ungehalten ins Wort.

»Nein, ich will nicht hören, warum ihr es richtig fandet, mir all das zu verschweigen! Lügen sind immer scheiße, weil sie Vertrauen kaputtmachen. Außerdem geht es bei alldem um mich, also hatte ich ein Recht darauf, es zu erfahren.« Aufgebracht deutete er zu Liv, Ari und Kaelan. »Das Gleiche gilt für sie! Sie hätten es ebenfalls wissen müssen. Was, wenn ich gefährlich bin? Ist ja wahnsinnig toll, dass wir die Tatsache, dass Konstantin mir über Erin die Finsternis eingeflößt hat, jetzt als geniale Impfung gegen Schattenwesen sehen, aber was, wenn der Scheiß Nebenwirkungen hat? Seit der Berührung durch den Schattenmar hab ich immer wieder denselben Albtraum.« Er streckte Mia und Ben die Hand mit Cayas Zeichen entgegen. »Mein Engelsmal wird schwarz und die Schattenwesen holen mich. Was, wenn genau das passiert, sobald ich in ihre Nähe komme oder sie gar berühre? Vielleicht aktivieren sie dann die Finsternis in mir. Vielleicht übernehmen sie mich oder ich werde wie sie und giere dann plötzlich nach Lebenssaft und falle über euch her! Das hätte ich wissen müssen!« Wieder deutete er auf Liv, Ari und Kaelan. »Das hätten sie wissen müssen!«

Vehement schüttelte Ben den Kopf. »Noah, du bist nicht gefährlich. Wenn tatsächlich Finsternis in dir wäre, durch die du zu einer Gefahr für andere werden könntest, glaubst du, dann hätte Cayaniel dich als Cay ausgewählt?«

»Keine Ahnung!«, gab Noah zurück. »Leider können wir ihn ja nicht fragen! Der großartige Engel ist genauso toll wie ihr. Er bestimmt, wie unser Leben zu verlaufen hat und dass wir für seine Sache unsere Hälse riskieren sollen, aber Antworten darauf, warum er ausgerechnet uns diesen ganzen Scheiß angetan hat – Fehlanzeige!«

Wieder wallten Wut, Bitterkeit und Frust so stark in ihm hoch, dass er sich zusammenreißen musste, um seine Fäuste nicht irgendwo reinzuschlagen.

Er hatte so was von die Schnauze voll.

Es reichte.

Er hatte genug und hielt es keinen Moment länger hier in der Kapelle aus, die plötzlich viel zu klein und eng war und ihn kaum atmen ließ.

»Ich muss hier raus«, presste er durch zusammengebissene Zähne hervor. Ohne Ben oder Mia noch eines weiteren Blickes zu würdigen, wandte er sich um, riss die Tür der Kapelle auf und stürmte hinaus. Krachend fiel die Tür hinter ihm wieder ins Schloss.

Kapitel 3

 

Ich kümmere mich um ihn.« Liv lief ebenfalls zur Tür und trat aus Cayas Kapelle.

Die Gebäude des Klosters sowie Vorplatz und Kräutergärten lagen still und verlassen da, während die Sonne gerade hinter den Bergen versank. Ignatius, Helen und Marta waren sicher im Haus und bereiteten die Ankunft der Verletzten vor. Fenja, Korbas und Ferro, die drei Drachen, die sie aus den Roten Bergen hergebracht hatten, hatten versprochen, zum Schlachtfeld zu fliegen und die Verwundeten nach Hause zu bringen, damit diese schnell versorgt werden konnten. Liv wusste, dass es im Kloster eine Krankenstation gab, die allerdings nur selten benutzt wurde. In der Regel behandelten Mia und die anderen Heiler ihre Patienten in den eigenen vier Wänden. Da es in der Schlacht jedoch vermutlich einige Verletzte gegeben hatte, machte eine zentrale Unterbringung die Versorgung leichter. Liv verdrängte den Gedanken daran, wie viele wohl verwundet worden oder gar gestorben waren, und dankte dem Engel, dass Ben und Mia nichts passiert war. Auch Quin war unverletzt gewesen, als die beiden sich von ihm getrennt hatten, um Konstantin zum Tal der Drachen zu folgen. Mehr wusste Liv allerdings noch nicht über die Schlacht und sie betete, dass sie ohne größere Verluste ausgegangen war.

Sie blickte hoch zum Uhrenturm. Die Zeiger der Uhr zeigten halb neun, doch es hätte auch erst sechs Uhr oder schon kurz vor Mitternacht sein können. Heute Morgen waren sie noch auf dem Weg zum Tal der Drachen gewesen und in der Zwischenzeit war so viel geschehen, dass Liv ihr Zeitgefühl komplett verloren hatte.

Egal. Es gab jetzt etwas viel Wichtigeres als ihr verlorenes Zeitgefühl, um das sie sich kümmern musste.

Noah durfte keinen Mist bauen.

Dass er nach allem, was er gerade hatte erfahren müssen, ziemlich durch den Wind war, konnte sie absolut nachvollziehen. Ihr war auch klar, dass er nicht der Typ dafür war, Wut, Frust und Enttäuschung einfach runterzuschlucken, sondern sich Luft machen musste. Sie fand es sogar gut, wenn er all das rausließ. Sie wollte nur nicht, dass er blind vor Wut etwas tat, das er hinterher bereute.

Von den Ställen drang das Klappern von Eimern und begeistertes Scharren und Schnauben der Pferde herüber. Eddie und Sean, die beiden ehemaligen Ritter der Garde, die sich momentan im Kloster sowohl um die Tiere als auch um die innere Verteidigung kümmerten, machten vor der Nachtruhe offensichtlich noch einen letzten Rundgang. Liv sah gerade noch, wie Noah den Stall links liegen ließ und weiter zu einer angrenzenden Scheune rannte, in der Futtermittel sowie Heu und Strohballen gelagert wurden. Er verschwand in der Scheune, tauchte aber nur einen Augenblick später mit einem dicken Strohballen wieder auf und lief damit weiter in Richtung des abgelegenen Klostergartens, in dem sie mit ihren Schwertern trainierten.

Deutlich erleichtert atmete Liv durch, als ihr klar wurde, was Noah vorhatte. Sie folgte ihm und hörte die Hiebe auf den Strohballen schon, bevor sie das schmale Eisentor erreichte, das in den kleinen Innenhof führte. Kräuterbeete waren entlang der Mauern angelegt, die zu einem guten Teil mit wildem Wein überwuchert waren, und ein Maronenbaum spendete tagsüber Schatten. Noah hatte den Strohballen auf die Wiese geworfen und vertrimmte ihn gnadenlos mit seinem Schwert.

Die mittelalterliche Version von Antiaggressionstraining.

Liv mochte Noahs Lösung sehr. Sie hockte sich neben das Tor und ließ ihn sich auspowern. Das brauchte er jetzt gerade mehr als Worte. Von denen hatte er in der letzten Stunde genug gehört. Und Nähe oder eine Umarmung brauchte er jetzt auch nicht. Es reichte, dass er wusste, dass sie da war.

Liv ließ ihm die Zeit, die er brauchte, sah ihm eine Weile still zu und blickte dann hinauf zu den Bergen. Die untergehende Sonne färbte die schneebedeckten Gipfel orange und rot und am immer dunkler werdenden Himmel erschienen die ersten Sterne.

Noah keuchte auf und Liv wandte sich wieder ihm zu.

Der Strohballen war komplett zerlegt.

Noah warf das Schwert beiseite, sank auf den zerfledderten Haufen und streckte alle Viere von sich. Liv stand auf, legte sich zu ihn und nahm seine Hand. Eine ganze Weile lang lagen sie so da und blickten schweigend hinauf in den Sternenhimmel. Irgendwann hörten sie Stimmen von der Vorderseite des Klosters. Vermutlich hatte Ignatius nach den anderen Heilerinnen und Heilern geschickt und sie kamen gerade an, um den Krankenflügel vorzubereiten und schon vor Ort zu sein, wenn die ersten Verletzten hier eintrafen. Vielleicht brachten Anton und seine Mutter Grisella auch zusätzliche Heilmittel oder Verbandsmaterial her. Die beiden betrieben in Burgedal eine Apotheke. Je nachdem wie viele Verwundete kamen, wurden womöglich mehr Mittel gebraucht, als Mia in ihrer Klosterapotheke vorrätig hatte. Worte waren nicht zu verstehen und die Stimmen verebbten, als sie irgendwo in den Gebäuden verschwanden.

Als wieder Stille herrschte, drückte Noah Livs Hand, sagte aber nichts. Sie wandte sich ihm zu, doch er starrte nur weiter hinauf in den Himmel und krallte seine Finger fest um ihre.

»Es ist alles okay«, brach sie das Schweigen und erwiderte versichernd den Händedruck. »Nichts von dem, was wir heute erfahren haben, ändert irgendwas zwischen uns.«

Noah schluckte hart. »Das sollte es aber«, sagte er leise.

»Warum? Weil Konstantin Erin in abartigen Experimenten ein Schattenmargebräu eingeflößt hat und Teile davon auch in dir sind? Das ist ja nicht erst heute passiert. Das war schon die ganze Zeit so. Und hat sich das in irgendeiner Weise auf uns beide ausgewirkt? Nein. Warum sollte es das dann also jetzt tun, nur weil wir es wissen?« Sie drückte erneut seine Finger. »Und dass irgendetwas Böses oder Gefährliches in dir aktiviert werden könnte, wenn du mit Schattenwesen in Berührung kommst, glaube ich nicht. Das ist bei der Berührung des Schattenmars ja schließlich nicht passiert. Da hat dir das, was du in dir trägst, das Leben gerettet. Und was immer das sein mag, ich bleibe bei dem, was ich dir in den Weißen Bergen gesagt habe. Unabhängig davon, wie viel Licht oder Finsternis du mit dir herumschleppst – du allein entscheidest, was dir wichtig ist und wofür du kämpfen willst.« Sie hob ihrer beider Hände und schenkte ihm ein liebevolles Lächeln. »Außerdem kann ich deine Seele fühlen und die fühlt sich noch genauso gut an wie gestern und alle Tage davor. Sie ist gerade nur ziemlich aufgewühlt und durcheinander.« Sie ließ ihre Hände wieder sinken. »Aber ich helfe dir gerne dabei, wieder Ordnung in das Chaos zu bringen.«

Sie rutschte noch näher zu ihm und küsste ihn, weil Worte zwar gut waren, doch manchmal waren Taten wichtiger. Und was konnte Noah besser davon überzeugen, dass sie keine Angst vor ihm hatte und zwischen ihnen noch alles genauso war wie zuvor als ein Kuss? Sie spürte sein kurzes Zögern, doch als ihre Lippen seine berührten und sie ihre Finger zärtlich in sein Haar grub, bröckelte seine Mauer ziemlich schnell dahin. Er zog sie in seine Arme, erwiderte den Kuss und hielt sie so fest, als würde er sie nie wieder loslassen wollen.

»Schon okay«, wisperte sie und suchte seinen Blick, während sie ihm sanft die Haare aus der Stirn strich. »Ich gehe nicht weg.« Dann grinste sie verschmitzt. »Und so, wie du dich gerade an mich klammerst, kannst du mir nicht erzählen, dass du dir von irgendeinem Scheiß, den jemand vor deiner Geburt mit dir angestellt hat, die Sache zwischen uns kaputtmachen lassen willst.«

Hilflos schnaubte er und musste lächeln, obwohl ihm danach eigentlich gar nicht zumute war. »Du bist unglaublich.« Zärtlich schob er eine Haarsträhne, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte, hinter ihr Ohr.

Liebevoll lächelte sie zurück und stahl sich noch einen Kuss. »Du doch auch.« Dann ließ sie von ihm ab und setzte sich auf. »Gemeinsam rocken wir das alles schon. Immerhin fehlt ja jetzt nur noch ein Stein. Sobald wir den hier haben, sind die Grenzen zum Schattenreich wieder sicher und die Garde kann das Portal zerstören. Dann können von dort keine Bestien mehr hierherkommen und du musst dir keine Sorgen mehr darüber machen, was sie mit dir machen könnten.«

Wieder schnaubte Noah und setzte sich ebenfalls auf. »Klingt fantastisch.« Er deutete zum Gartentor. »Wollen wir dann jetzt gleich zu den Zwergen aufbrechen? Ihre Bergwacht liegt nur drei Tagesritte entfernt.«

Liv bedachte ihn mit einem kleinen Lächeln, weil klar war, dass er es nicht ernst meinte, und stand auf. »Ich bin zwar auch sehr dafür, dass wir uns nicht ewig Zeit lassen sollten, um meinen Stein zu holen, aber eine warme Mahlzeit, eine Dusche und eine Nacht in einem Bett statt Camping auf der Strohmatte müssen vorher drin sein.« Sie streckte ihm ihre Hand hin.

Noah erwiderte das Lächeln schief, packte sein Schwert und ließ sich von ihr auf die Füße ziehen. »Überredet.«

Sie gingen durch die Klosteranlage zurück zum Vordereingang und betraten das Hauptgebäude. Alles war still. Die Krankenstation lag in einem der Nebengebäude und vermutlich waren alle dort, um die Betten vorzubereiten.

Noah war das nur recht. Enttäuschung und Wut brannten zwar nicht mehr so heiß wie zuvor, völlig verflogen waren sie aber auch noch nicht, und wenn er Ben und Mia für den Rest des Abends aus dem Weg gehen konnte, war ihm das nur recht. Er brauchte Abstand, deshalb hoffte er sehr, dass sie woanders waren, als Liv ihn in den Gang zur Küche zog und die Tür aufstieß.

Er hatte Glück.

Nur Ari und Kaelan saßen am Tisch. Vin hatte sich zu ihren Füßen zusammengerollt, sprang aber sofort auf, um sie zu begrüßen.

»Hey, da seid ihr ja.« Kaelan musterte vor allem Noah, als die beiden sich zu ihnen an den Tisch setzten. »Alles soweit okay?«

Noah nickte. »Ich musste nur Dampf ablassen.«

»Verständlich.« Kaelan sah kurz zu Liv, suchte dann aber wieder Noahs Blick. »Ich schätze, Liv hat dir schon klar gemacht, dass sich nichts zwischen uns ändert? Oder müssen wir das noch ausdiskutieren und dir erklären, dass wir dich spüren können und du dich kein bisschen gefährlich anfühlst?«

Noah verzog das Gesicht. »Nein. Mein Bedarf an klärenden Gesprächen wurde heute mehr als gedeckt.« Dann sah er zwischen seinen beiden besten Freunden hin und her. »Aber danke, dass wir nichts diskutieren müssen.«

Ari schenkte ihm ein Lächeln und verpasste ihm unter dem Tisch einen freundschaftlichen Tritt. »Kein Ding.«