Die Liebesgeschichtenerzählerin - Friedrich Christian Delius - E-Book

Die Liebesgeschichtenerzählerin E-Book

Friedrich Christian Delius

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Beschreibung

Eine Reise von fünf Tagen und durch ein ganzes Jahrhundert. Der neue Roman des Büchner-Preisträgers Eine Frau, für ein paar Tage frei von Pflichten, Mann und Kindern, fährt im Januar 1969 von Den Haag über Amsterdam nach Frankfurt. Drei Liebesgeschichten aus den Zeiten der Kriege und Niederlagen gehen ihr durch den Kopf: ihre eigene, die ihrer Eltern, die einer Vorfahrin während der napoleonischen Kriege. Davon möchte sie erzählen, aber die Geschichten und Leben verflechten sich immer mehr: ein König, der die modernen Niederlande aufbaut; seine uneheliche Tochter, die in eine mecklenburgische Adelsfamilie gezwungen wird; ihr Urenkel, der als kaiserlicher U-Boot-Kapitän die roten Matrosen von Kiel überlistet, seiner schwarzen Seele entkommen möchte und zum Volksprediger wird; seine Tochter – die reisende Erzählerin selbst –, die ein gutes deutsches Mädel und trotzdem gegen die Nazis sein wollte und nun im Schreiben Befreiung sucht neben einem Mann, lächelnder Gutsbesitzersohn und Spätheimkehrer, der sich allmählich von ihr entfernt. Dem neuen Roman von Friedrich Christian Delius liegt die bewegte Geschichte seiner eigenen Familie zugrunde. Er erzählt die Reise einer Frau zwischen Scheveningen, Heiligendamm und deutschem Rhein, eine Reise von fünf Tagen und durch ein ganzes Jahrhundert.

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Seitenzahl: 203

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Friedrich Christian Delius

Die Liebesgeschichtenerzählerin

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Eine Reise von fünf Tagen und durch ein ganzes Jahrhundert. Der neue Roman des Büchner-Preisträgers

 

Eine Frau, für ein paar Tage frei von Pflichten, Mann und Kindern, fährt im Januar 1969 von Den Haag über Amsterdam nach Frankfurt. Drei Liebesgeschichten aus den Zeiten der Kriege und Niederlagen gehen ihr durch den Kopf: ihre eigene, die ihrer Eltern, die einer Vorfahrin während der napoleonischen Kriege. Davon möchte sie erzählen, aber die Geschichten und Leben verflechten sich immer mehr: ein König, der die modernen Niederlande aufbaut; seine uneheliche Tochter, die in eine mecklenburgische Adelsfamilie gezwungen wird; ihr Urenkel, der als kaiserlicher U-Boot-Kapitän die roten Matrosen von Kiel überlistet, seiner schwarzen Seele entkommen möchte und zum Volksprediger wird; seine Tochter – die reisende Erzählerin selbst –, die ein gutes deutsches Mädel und trotzdem gegen die Nazis sein wollte und nun im Schreiben Befreiung sucht neben einem Mann, lächelnder Gutsbesitzersohn und Spätheimkehrer, der sich allmählich von ihr entfernt.

Dem neuen Roman von Friedrich Christian Delius liegt die bewegte Geschichte seiner eigenen Familie zugrunde. Er erzählt die Reise einer Frau zwischen Scheveningen, Heiligendamm und deutschem Rhein, eine Reise von fünf Tagen und durch ein ganzes Jahrhundert.

Vita

Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, gestorben 2022 in Berlin, wuchs in Hessen auf und lebte seit 1963 in Berlin. Zuletzt erschienen der Roman «Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich» (2019) und der Erzählungsband «Die sieben Sprachen des Schweigens» (2021). Delius wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Georg-Büchner-Preis geehrt. Im Rowohlt Taschenbuch Verlag erschienen seine Bücher als Werkausgabe.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2016

Copyright © 2016 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung any.way, Walter Hellmann

Coverabbildung (ohne)

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-12151-5

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

für Charlotte

Herab auf dem Fluss

Auf einem weißen Lastschiff die Vorfahren

fahren vorbei und winken uns zu

(…)

Ach unsere lieben Alten wie sie sich balgen

Um den Platz hinterm Steuerruder

Um einen unerschrockenen Blick von uns

Um die Nabelschnur zu uns um die letzten Gummibärchen

Spielen im Sandkasten die Bauern die Offiziere

Immer noch Krieg ihr großes Erlebnis

Und die Reihen einsamer Mütter

Geschlagen von dem was sie als Sünden verstanden

Und was ihnen die Herren antaten lachend

Nun beneiden sie uns weil das Herz uns so schlägt

Weil wir zusehn von weitem

Wie sie vorbeifahrn und winken

(…)

 

F.C. D., Mein Leben vor der Geburt (1979)

1

Schreib das, schreib uns das, Marie, forderten die Stimmen, weither vom Meer wehende Stimmen, leiser als die in der Ferne lärmenden Wassermassen, unregelmäßiger als der Takt der Wellen, schmeichelnder als der Wind in den Ohren der Frau, die auf einer Bank der Strandpromenade von Scheveningen saß, den tiefen Atem übte und sich nicht wunderte über das, was sie da hörte –

 

Schreib das, schreib das auf, in dem raunenden Chor meinte sie auch die Stimme ihres Vaters zu erkennen, des kleinen Kapitäns, des alten Kadetten, wie sie ihn nannte, natürlich musste er hier am Meer, das sein Element war, wieder mitreden und mitflüstern, das ist was für dich, die Geschichte des Prinzen und seiner Liebschaft –

 

Eine Möwe wischte nah vorbei, noch eine zweite, die Frau im dunkelgrauen Wintermantel, mit bescheidenem Hütchen, blieb ruhig sitzen, sehr konzentriert, den Kopf gereckt wie im Konzert, sie horchte den fernen Stimmen nach, ließ den Blick weit hinaus über das bleistichige Meer zum Horizont streifen und hörte und lauschte in die eigene Stimme hinein –

 

In den eigenen Entschluss hinein, den Schatz dieser Geschichte zu heben, auftauchen zu lassen aus den Wellen der Vergangenheit, sie war ein bisschen stolz auf die Formulierung Wellen der Vergangenheit und überlegte, ob das ein Zitat war oder eine frische Erfindung, angeregt von der herrlichen Salzluft auf der Strandpromenade, von den Wellen wurden sie angetrieben, die alten Geschichten, aus den Wellen tauchten sie auf –

 

Du schreibst das jetzt, Marie, egal, was die andern wollen, sagte sie halblaut zu sich selbst, während ihr Blick an einem Schiff festhielt, einem winzigen Punkt am Horizont, und sagte es noch einmal, da niemand in ihrer Nähe war, in normaler Lautstärke: du schreibst das jetzt, als wollte sie damit die Aufforderungen der fernen Stimmen vertreiben, die Einmischungen des Kapitänvaters und der Verwandten und Freunde waren überflüssig und störend, solchen gutgemeinten Zuspruch brauchte sie nicht, suggestive Befehle schon gar nicht, der Plan war ihr eigener seit vielen Jahren –

 

Endlich, kurz vor der runden Fünfzig, konnte sie sich Zeit dafür nehmen, konnte sie sich leisten zu schreiben, nach einer spürbaren Gehaltserhöhung ihres Mannes und einer winzigen Erbschaft war die finanzielle Lage für die sechsköpfige Familie etwas weniger angespannt, endlich Schluss damit, kostbare Stunden mit dem Tippen von Doktor- und Examensarbeiten für ein bisschen Zuverdienst zu verschwenden –

 

Endlich war alles bereit, sie musste nur die Erwartungen der anderen, den Chor der fernen Stimmen aus dem Kopf verbannen, sie wollte die eigene Stimme finden und schaffte es endlich, immer stärker und klarer diese eigene Stimme zu hören im fernen Wellengetöse, es lag allein an ihr –

 

Und an dem Stoff, durch den sie sich, nun den zweiten Tag, im Den Haager Archiv gegraben hatte, ein Stoff, der viele Leute interessieren wird, der Skandal, die große Liebe, höfische Intrigen, der Held ein Prinz, der später der erste König der Niederlande wird, die Heldin eine tanzende Bäckerstochter, deren Kind die Urgroßmutter des Kapitänvaters wird, und alles vor dem malerischen Hintergrund der Historie, in Berliner und niederländischen Palästen, auf mecklenburgischen Gütern –

 

Die Geschichte deiner im Staub der Akten versteckten, geheimnisvollen Ururgroßmutter, die wirst du zu Papier bringen, niemand anders als du, die Geschichte nimmt dir keiner, sagte sie sich, Fontane hat auch erst in deinem Alter angefangen, gleich nächste Woche den Handlungsplan, mit den neuen Fundstücken und Fakten aus dem Archiv gibt es keine Ausreden mehr, du musst nur den väterlichen Imperativ vergessen und deinem eigenen folgen, endlich die große Liebesgeschichte, die du immer schreiben wolltest, du Liebesgeschichtenerzählerin, lachte sie und stand auf –

 

Ein milder Januarnachmittag mit erträglichem Wind, trotzdem konnte man nicht lange sitzen bleiben, nur wenige Spaziergänger mit zugeknöpften Mänteln ließen sich für einige Minuten auf den einladend weißen, geschwungenen Bänken der Strandpromenade nieder, die etwas angeberisch als Boulevard bezeichnet wurde, die Holländer sammelten sich in dieser Jahreszeit und in der Stunde vor der Dämmerung lieber in Cafés und Bierstuben –

 

Sie aber, die deutsche Touristin Marie von Schabow aus Frankfurt, konnte sich die Gelegenheit dieser majestätischen Aussicht auf die niederländische Nordsee nicht entgehen lassen, die Gelegenheit, die ungewohnte, kräftige Salzluft zu atmen nach dem Papier- und Aktentag im Königlichen Archiv, die Gelegenheit, vor der imposanten Küstenkulisse einen festen Entschluss noch fester zu fassen –

 

Sie atmete tief aus und tief ein, voll Vorfreude auf die anstehende Arbeit, und spürte gleichzeitig die Komik, gerade jetzt, da sie ihre Fruchtbarkeit verlor und auch im Winter unter Hitzeschüben zu leiden hatte und der Mann sich öfter zur Seite drehte und auf seiner Seite blieb, mit einer Liebesgeschichte anzufangen, mit Liebesgeschichten zu antworten, vielleicht half das ja zu neuem Schwung, hoffte sie und zog ihren Mantel zurecht und den Schal enger, schlenderte auf der Promenade weiter bis zu den Treppen, die zum Strand hinunterführten –

 

Mit den für solche Gänge schlecht geeigneten Halbschuhen stapfte sie über die Unebenheiten des Sandes, atmete kräftig, labte die Lungen mit kostenloser Meerluft, übte, langsam schreitend, wieder einmal das bewusste Atmen, kämpfte sich weiter voran bis zum helleren, härteren, weitflächigen Sandboden, auf dem nur wenige Spaziergänger längs des Wassers unterwegs waren, hier konnte sie das Wellenspiel besser beobachten als von der Promenade oben, es herrschte nicht Flut, es herrschte nicht Ebbe, irgendeine Phase dazwischen, sie kannte die Gezeitenfolge dieser Tage in Scheveningen nicht, sie war nur ein Gast hier –

 

Sie versuchte sich die Bilder einzuprägen, wie die graugrünen Wassermassen sich hoben, hochreckten und aufschaukelten, Kämme und Wasserkronen hochwehten, sich neigten und kippten, wie die gar nicht so hohen Wellen stürzten und schäumten und abflachten und sich zu neuen, aus der Unerschöpflichkeit der Meere gespeisten, dem Ufer entgegenrollenden Wasserbänken formten und türmten –

 

Wie zum ersten Mal bestaunte Marie das Wellenspiel, das kannte sie nur aus Filmen, aus Büchern, aus Erzählungen des Vaters, sie war ein Kind der Ostsee und, wenn man Hamburg nicht zählte, nie an der Nordsee gewesen, der Krieg und der Nachkrieg und dann das schmale Familiengeld hatten ihr solche Reisen nicht erlaubt, sie kannte nicht die tosende, nur die flüsternde, die halblaut schmatzende, die plätschernde See vor der Haustür Heiligendamm, nicht weit von der Doberaner Bismarckstraße –

 

Das Meer war das Element ihres Vaters gewesen, des kleinen Kapitäns, der in den U-Booten des Ersten Weltkriegs in der Nordsee, der Ostsee und vor allem im Mittelmeer herumgefahren und beim großen Schiffeversenken beteiligt gewesen war, beim Wettkampf des Zählens von versenkten Bruttoregistertonnen, von vernichteten oder schwer beschädigten Schiffen der Feinde, der kleine Kapitän, der die Tonnen, aber nicht die Matrosen und Passagiere gezählt hatte, die nach seinem Befehl oder mit seinem Zutun in den Wellen versunken waren –

 

Die wilden Meere, die Totenmeere, die Kriegsmeere blieben der Tochter unheimlich und fremd, sie überlegte, ob der Vater mit den Torpedos in seinen U-Booten durch den von England gesperrten Ärmelkanal, also vielleicht an Scheveningen vorbei, in den Atlantik vorgestoßen war, eine nutzlose Überlegung, sehr unwahrscheinlich, nur eine Phantasie, ausgelöst durch die Schiffe in der Ferne, den Katzensprung nach England hinüber –

 

Sie nahm sich vor, das zu Hause nachzulesen, der alte Kapitän hatte vor kurzem seine Lebenserinnungen aufgeschrieben für seine Kinder und Enkel, sie hatte die sofort und begierig durchstöbert und auch da gleich einen heimlichen Plan gefasst: welch eine Liebesgeschichte mit gereimten, im U-Boot geschriebenen Liebesgedichten für die schöne Generalstochter mitten im fürchterlichsten Krieg, auch diese Geschichte von Mutter und Vater wollte geschrieben werden, auch die verlangte nach ihr –

 

In diesem Moment, nahe den mächtigen Wellen stehend, kräftigen Wind auf der Gesichtshaut, langsam atmend, packte sie ein kurzes Heimweh nach ihren mecklenburgischen Orten, nach dem Elternhaus in Bad Doberan, nach der Fahrradstrecke von der Haustür, von der Bismarckstraße hinunter zum Strand von Heiligendamm, wieder kamen sie hoch, die Erinnerungen an die Kindheits-Ostsee, Familienausflüge, Strandfotos, an den Nachmittag, als sie überlegt hatte, ob sie dem Lächeln des Reinhard von Mollnitz nachgeben sollte mit der Aussicht auf eine Verlobung, die Lebensentscheidung von Heiligendamm, das sie seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte, ihr Stück Ostsee unerreichbar in der unerreichbaren Ostzone –

 

Aber sie mochte sich nicht im Heimweh verlieren, nicht als Vertriebene jammern, nicht undankbar sein, dafür konnte sie heutzutage jedes Ziel im Westen erreichen, das war nur noch eine Geldfrage, einfach von Frankfurt nach Den Haag fahren, in wenigen Stunden den Rhein entlang und über Köln und Amsterdam oder Rotterdam an die Nordsee, an der Grenze genügte der Personalausweis, und schon war man im Ausland –

 

Bei den freundlichen Holländern in einer kleinen Pension am Bahnhof in Den Haag, eine Straßenbahnfahrt bis ins noble Scheveningen, und sie durfte sogar, nach artiger Voranmeldung und förmlich bestätigter Erlaubnis, das Königliche Archiv betreten, um nach alten Verwandten zu forschen, den Vorfahren des Vaters, des Korvettenkapitäns a.D. mit den königlich niederländischen Blutstropfen –

 

Es dämmerte, sie wandte sich ab vom Schauspiel der Wellen, nahm die langgestreckte Seepromenade oder den Boulevard, auf den sie nun zuging, genauer in den Blick, nur das Kurhaus fiel mit prächtiger, verblasster Schönheit auf, ansehnliche Häuser waren in der Minderzahl, zu viele Neubauten, Reklametafeln und Leuchtschriften störten das alte Gefüge, scheußlich moderne Hotelkisten, eines königlichen Badeorts unwürdig –

 

Sie stakte über lockeren Sand, verwundert, dass ihr ein so deutliches Wort wie scheußlich an diesem keineswegs hässlichen, aber irgendwie entstellten Ort in den Sinn gekommen war, vielleicht war das zu hart, sie wollte sich nicht mit Urteilen aufspielen, sie war nur Gast hier, sie wusste ja nicht einmal, ob Scheveningen noch ein königlicher Badeort war, ob Königin Juliana sich hier noch ins Wasser begab mit ihrer Familie –

 

Diese Küste fand sie vollgestopft, vollgebaut, zugebaut, kommerziell, als wäre die alte mondäne Welt schon ganz vom Massentourismus zur Seite gedrängt worden, aber sie musste aufpassen mit vorlauter Kritik, in deutschen Seebädern sah es bestimmt nicht schöner aus, sie sollte dankbar sein, sagte sie sich, die Füße auf diesen Sand, auf diese Promenade setzen zu können, sie durfte nicht alles vergleichen, mit Heiligendamm von früher schon gar nicht, und nicht diese endsechziger Jahre mit den dreißiger Jahren einer anderen Welt –

 

Auch in geheimen Gedanken wollte sie nicht undankbar sein gegenüber den Holländern, die sie mochte wegen der niedlichen Sprache und der Kaffeestuben und Radfahrer, die gemächlichen, die friedfertigen Holländer, denen sie sich verwandt fühlte über Willem den Ersten, den sie als ihren Urururgroßvater bezeichnen konnte –

 

Mit Fug und Recht, wie ihr der heutige Tag im Archiv wieder bewiesen hatte, dreimal Ur, das war eine direkte und ziemlich nahe Verwandtschaft, aber mit dieser Herkunft wollte sie gar nicht prahlen, die fand sie eher amüsant, ein königlicher Seitensprung in Berlin, außerdem war jede Adelsfamilie mit irgendeinem König verwandt und mit Karl dem Großen sowieso, von dem meinte jeder abzustammen, der einen längeren Stammbaum vorzeigen konnte, auch sie hatte solch eine lückenlose maschinengetippte Linie von ihrer Mutter aufwärts bis zum großen Karl in einer Schublade liegen –

 

Zurück auf dem Boulevard oder der Promenade, entdeckte sie einen Gedenkstein für Willem, und was da stand, konnte sie ohne Wörterbuch übersetzen, Willem hatte, noch als Prinz von Oranien und Statthalter, nach seinem Exil in England an diesem Strand, im Fischerdorf Scheveningen, seinen Fuß wieder auf niederländischen Boden gesetzt am 30. November 1813, bevor er 1815 König wurde –

 

Auf diesem Sand war Willem einst an Land gegangen, bejubelt, in Stiefeln wahrscheinlich, auf diesem Sand war sie nun gegangen, still, in Halbschuhen, die Enkelin mit drei Ur-Silben, die den leichten Ärger unterdrückte, dass auf dem Gedenkstein vom langen Exil in Preußen nicht die Rede war, nur vom sehr kurzen in England, und mit dem Vorsatz, nicht kleinlich, nicht besserwisserisch sein zu wollen, schlenderte sie weiter –

 

Zwei Möwen schwebten über ihr, und sofort blitzte der Gedanke auf, die kacken, die werden mir doch jetzt nicht auf den Hut kacken, die Willems-Möwen, doch sie kippten höhnisch keckernd davon, Marie musterte die wenigen Passanten und verneigte sich innerlich mit andächtigem Respekt vor dem Meer oder vor dem König, sie wusste es nicht, die Verneigung ein unabsichtlicher Ausdruck ihres Glücks, der Freiheit, endlich das anzufangen, was sie wollte –

 

Dabei wurde ihr Blick auf ein junges Paar gelenkt, das sich auffällig heftig küsste, heftiger als man das in der Öffentlichkeit tat, der junge Mann trug fast so langes Haar wie seine Freundin, beide in schlampigen langen Mänteln, Gammler sagte man in Frankfurt, und die Beobachterin verlangsamte, ohne es zu wollen, ihre Schritte und nahm im schüchternen Seitenblick die züngelnden Küsse des Paares wahr, das Spiel der Zungenspitzen –

 

Marie meinte im Vorübergehen die Hand des jungen Langhaarigen auf einer Brust der Freundin und deren Unterarm an seinem Schritt gesehen zu haben unter den halbgeöffneten Mänteln, die beiden lachten laut, als sie ihr Spiel kurz unterbrachen, sie fand das abstoßend und zugleich erregend, weil die beiden so frech, so fröhlich wirkten in ihrer Schamlosigkeit –

 

Sie sah weg, ging wieder schneller, wollte in ihre Pension zurück, die Dämmerung hatte sich verstärkt zu dunklerem Grau, und ehe sie in die Straße zur Haltestelle einbog, drehte sie sich noch einmal um, sie beneidete das Paar, das immer noch eng beieinanderstand, das Sekundenbild der spielenden Zungenspitzen vor dem Hintergrund der Nordseewellen würde so bald nicht verlöschen, das spürte sie, als sie mit der Straßenbahn ins Zentrum von Den Haag zurückfuhr –

 

Am Bahnhofskiosk näherte sie sich den übereinander festgeklemmten deutschen Zeitungen, Präsident Nixon vereidigt, meldete das vertraute Frankfurter Blatt, andere Überschriften berichteten von anhaltenden Unruhen nach der Selbstverbrennung eines Studenten auf dem Wenzelsplatz in Prag vor einigen Tagen, und obwohl die Tat des tschechischen Studenten sie heftig bewegt hatte, kaufte sie keine der Zeitungen, die waren zu teuer, da gab sie die wertvollen Gulden lieber für ein zweites der köstlichen Fischbrötchen aus, für das Abendessen, und suchte, weil sie kein Geld mehr ausgeben mochte, bald die Pension auf –

 

An einem Tischchen in ihrem schmalen Zimmer mit schmucken alten Möbeln aß sie die Brötchen, wusch gründlich die Hände, bis kein Finger mehr nach Fisch roch, und blätterte die Aufzeichnungen durch, die sie den Tag über im Königlichen Hausarchiv gemacht hatte, sie ärgerte sich schon nicht mehr, dass sie alles in schneller Handschrift hatte notieren müssen und dass man ihr nicht erlauben wollte, Fotokopien fertigen zu lassen, obwohl es im Archiv diese wunderbaren neuen Apparate gab, auf die man ein Blatt eines Originals legen und in zehn Sekunden eine perfekte Kopie in der Hand halten konnte –

 

Diese Apparate hatte es vor sechs Jahren in Neuwied noch nicht gegeben, als ihr Vater und sie zum ersten Mal Einblick in das Material erhalten hatten, damals musste man umständliche fotografische Ablichtungen erbitten und teuer bezahlen, die Kopie des Taufbuchs von 1812 der Wilhelmine, später Minna genannt, mit den Namen des Vaters von Dietz, des getarnten Oranierprinzen, und der Mutter Marie Hoffmann, zum Zweiten die Kopie eines Briefs der verlassenen Frau Hoffmann an den Alimente zahlenden König Willem, drittens ein Auszug aus dem Testament des Königs, in dem er Minna, geboren von Marie Hoffmann, fast so reich bedacht hatte wie seine legitime Tochter, die Prinzessin Marianne –

 

Wie einfach könnte die Arbeit sein, wenn die königlichen Archivleute ihr den Zugang zur Xeroxmaschine gestattet hätten, aber sie wollten es ihr nicht einfach machen, das spürte sie durch alle Höflichkeit, mit der man ihr begegnete, und sie hatte beschlossen, sich darüber nicht mehr zu ärgern, viel wichtiger war, dass sie nach dreißig Wartejahren endlich zum richtigen Schreiben kam und die Zeit als Tippse von Doktorarbeiten aufhörte und mit der Schreibmaschine ein neues Leben beginnen konnte –

 

Sie blätterte die handschriftlichen Seiten durch, sie war zufrieden, da war Stoff, da war Drama, da waren historisches Flair und zeitlose Liebeskraft, schon damals nach der Entdeckung von Neuwied hatte sie anfangen wollen, aber jetzt erst konnte sie loslegen, dank Reinhards Gehaltserhöhung und der Erbschaft von zweitausend Mark –

 

Und sah gleich drei neue Bücher vor sich mit dem Namen Marie von Schabow, von den ersten kleinen Veröffentlichungen an hatte sie ihren Mädchennamen beibehalten bis hin zur vielbeachteten Biographie ihrer einstigen Lehrerin Thadden, als Autorin hatte Marie immer eine Schabow, eine Schabow-Tochter bleiben wollen, während Reinhards Name, auch von gutem alten Adelsklang, für die Ehefrau und vierfache Mutter reserviert blieb, nun sollte Marie von Schabow endlich sichtbarer werden als Marie von Mollnitz –

 

Nach und nach spürte sie Anflüge von Freiheit und Lockerung ihrer Kräfte, selbst in dem plüschigen, schmalen Pensionszimmer konnte sie die Phantasie anwerfen und Stichworte für einen ersten Entwurf notieren: Staatsoper Unter den Linden, abends, Bühneneingang, der Prinz von Oranien, Statthalter der Niederlande im Exil in Berlin, wartet auf seine Geliebte, die Tänzerin Marie Hoffmann –

 

Sie skizzierte so fort, wagte auch das Stichwort züngelnde Küsse, es ging ihr leicht von der Hand, bei der Biographie war sie noch ganz hinter ihre Vorbildfigur Thadden zurückgetreten, nun beim Roman durfte sie sich endlich entfalten, sie schrieb, bis sie müde wurde, sich schlafen legte, die Nachttischlampe ausknipste und sich die Szene mit Marie und Willem weiter ausmalte, nicht mehr aufhören mochte und ihre Phantasie weit hinausfliegen ließ über das, was sie in einer Liebesgeschichte hätte schreiben dürfen –

 

Schweißnass wachte sie auf, sich aus dem Turm eines U-Boots windend, in dem sie eingezwängt gewesen war, in stickiger Enge, in Atempanik, in öliger Luft, zwischen lauter Matrosen, von denen keiner bemerkt hatte, dass in ihrer Uniform eine Frau verborgen war, auch ihr Vater nicht, dem sie hatte helfen wollen in seiner Not, dem Kapitän, der von einer Stunde zur andern nicht mehr der Admiralität, sondern dem Matrosenrat zu gehorchen hatte mit dem Befehl, den roten Wimpel zu setzen und nach Kiel zu fahren im November 1918, Waffenstillstand, Revolution, die rote Fahne, wie klein auch immer, ging gegen Eid und Ehre eines deutschen Offiziers, ein Kampf um Leben und Tod im U-Boot, die Mannschaft gegen den Kapitän, da half kein Torpedo –

 

Schon lange hatte sie nicht mehr von ihrem Vater geträumt, dessen Geschichten sie mit sich herumtrug, offenbar hatten die Wellen der Nordsee den Traum angeregt, die Aussicht von der Bank in Scheveningen auf das Meer bis tief in die U-Boote des Ersten Weltkriegs hinein, wo sie es keine fünf Minuten ausgehalten hätte, in der Enge einer solchen Zigarre aus Stahl, in der man entweder ersticken oder ersaufen musste, allein dafür hätte der Vater Bewunderung verdient, dass er das ausgehalten hatte fast drei Jahre, zuerst als Wachoffizier, dann als Kommandant, Oberleutnant zur See in mehreren solcher schwimmenden, lärmenden, stählernen Gefängnisse, zusammengenieteten Gefängnisschläuche –

 

Das wollte sie sich einmal in allen Einzelheiten von ihm beschreiben lassen, das fürchterliche und gefahrvolle Leben in solchen tauchfähigen, bewohnbaren Kanonen, die Hälfte der U-Bootmänner war untergegangen im Laufe des Krieges, aber sie mochte jetzt am frühen Morgen in einem holländischen Pensionsbett nicht an den kleinen Kapitän und seine zweifelhaften Leistungen denken, wollte ihn abschütteln, den allgegenwärtigen Alten, er war schon wieder präsent wie gestern in Scheveningen, er mischte sich ständig ein in ihre Gedanken, Pläne, Träume –

 

Sogar in das Wohlbehagen des Frühstücks, das hier Ontbijt hieß, mit duftendem Kaffee, der hier Koffie hieß, und frischen Brötchen, die hier Kadetjes hießen, das fand sie lustig, das musste sie dem Vater erzählen, dem alten Kadetten, der mit zehn Jahren stolz die Uniform der Kindersoldaten angezogen und das Gehorchen gelernt hatte, achtzehn Jahre mit ungebrochenem Stolz des Kaisers Rock getragen, und am Ende als U-Boot-Kommandant fast vor einem Fetzen Stoff kapituliert, herrlich schmeckten sie, die Kadetjes, so viel Humor hatte der Alte, dass er mitlachen würde über die Brötchen, der Kadett mit seinen beinah achtzig Jahren, er lachte viel, der strenge Familienkapitän –

 

Er wird achtzig, dachte sie, ich muss mir das endlich klarmachen, er wird mir, er wird uns bald entschwinden, ich kenne sein Weltbild, sein etwas einfach gestricktes Weltbild, sein geschlossenes Raster von Gut und Böse, Kaiser und Chaos, Jesus und Teufel, seine Warnungen vor dem Zeitgeist und der dämonischen Macht der Sexualität, was gärt da in ihm, ich höre ständig seine Stimme, seine Gewissensstimme, aber was ist mit seinen düsteren, seinen vom Krieg geschlagenen Seelenwunden, was ist mit dem großen Tabu, mit seiner in die Anstalt gesperrten Mutter, meiner versteckten, verschwiegenen Großmutter –

 

So viele Rätsel bot der Vater noch, so viele weiße Flecken in seinen sorgfältig formulierten Erinnerungen, und bei diesem holländischen Frühstück war die Idee nicht mehr abzuwimmeln, sich schreibend auf den Vater, die Eltern und ihre Liebesgeschichte einzulassen, auf die Liebe des Kapitäns und seine Lähmung, nachdem der Kaiser abgedankt hatte, auf seine Bekehrung, nachdem er von der Lähmung geheilt war, auf seine Erweckung als Prediger und Kurgastmissionar, nachdem die eiserne Zeit der Befehle vorbei war und Vater und Mutter in den Himmel schauten und ihr Leben Gott zur Verfügung stellten und ihm alles überließen, wie sie sagten –

 

Es war ihr dritter, ihr letzter Arbeitstag, auf dem Weg von der Pension zum Archiv festigte sich der Plan, möglichst bald nach dem Minna-Projekt aus den Lebenserinnerungen des Vaters dessen Lebensroman oder Liebesroman zu formen, pünktlich um acht Uhr dreißig schritt sie durch den winterlich streng gescheitelten Garten des Schlosses Nordeinde und fühlte sich wie von königlicher Huld empfangen –

 

Vor dem Eingang des Huisarchief zögerte sie einen Moment, als müsse sie den eigenen Arbeitsauftrag überdenken, klingelte dann doch, wurde eingelassen, freundlich begrüßt und in den Lesesaal geleitet, wo der sie betreuende Archivar Uebbels das vorbestellte Material schon auf den Tisch gestapelt hatte –

 

Es ging um das Gut Dobbin in Mecklenburg, das die mit dem edlen Namen Gräfin Wilhelmine von Dietz und mit reichem Erbe ausgestattete uneheliche Tochter des Königs und der Tänzerin erhalten hatte, ein Vermögen, das nach ihrer Hochzeit mit einem Carl von Jasmund wie damals üblich in einen großen landwirtschaftlichen Gutsbetrieb investiert wurde –