Die Nullform (Buch 5): RealRPG-Serie - Dem Mikhailov - E-Book

Die Nullform (Buch 5): RealRPG-Serie E-Book

Dem Mikhailov

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Beschreibung

Das Streben nach der Spitze ist nur was für die Allerstärksten. Wenn du dich nicht nach oben kämpfst, landest du früher oder später wieder ganz unten. Elb hat längst begriffen, dass das Leben unter dem Abschaum im Käfig nichts für ihn ist. Seine neue Machtposition in der stinkenden Drainagestadt bedeutet ihm nichts. Der Held will einen Ausweg aus dem stählernen Labyrinth finden. Doch selbst wenn er es schaffen sollte, was erwartet ihn jenseits der Stahlmauern? Elb und sein Trupp von Goblins werden nicht nur auf diese, sondern auch auf andere Fragen eine Antwort bekommen. Die Gruppe hat viel gemeinsam durchgestanden und ihre Einheit bewahrt, aber wird das immer so sein? Denn nicht jeder ist gewillt, absolut alles für das gewünschte Ziel zu tun – vor allem nicht, wenn es sich um das Ziel des Goblins Elb handelt, der vor nichts Halt macht und zu jedem Opfer bereit ist.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Über den Autor

Die Nullform

Eine LitRPG-Serie von Dem Mikhailov

Buch #5

Herausgegeben von Magic Dome Books in Zusammenarbeit mit 1C-Publishing

Die Nullform, Buch #5

Originaltitel: Nullform, Book #5

Copyright © Dem Mikhailov, 2022

Covergestaltung © Sergei Kolesnikov, 2022

Designer: Vladimir Manyukhin

Deutsche Übersetzung © Valeria Treise, Ruben Zumstrull, 2022

Lektor: Youndercover Autorenservice

Herausgegeben von Magic Dome Books in Zusammenarbeit mit 1C-Publishing 2022

Anschrift: Podkovářská 933/3, Vysočany, 190 00

Praha 9 Czech Republic IC: 28203127

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Buch ist nur für deine persönliche Unterhaltung lizensiert. Das Buch sollte nicht weiterverkauft oder an Dritte verschenkt werden. Wenn du dieses Buch mit anderen Personen teilen möchtest, erwirb bitte für jede Person ein zusätzliches Exemplar. Vielen Dank, dass du die harte Arbeit des Autors respektierst.

Die Personen und Handlung dieses Buches sind frei erfunden. Jede Übereinstimmung mit realen Personen oder Vorkommnissen wäre zufällig.

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Kapitel 1

KLOPF, KLOPF. Klopf, klopf, klopf.

Ein dumpfes Klopfgeräusch drang durch die Wand meines Yarangas und weckte mich.

Klopf, klopf. Klopf, klopf.

Ich lächelte in die Dunkelheit, löste sanft den Arm der Dame von meiner schweißnassen Brust und erhob mich vorsichtig aus dem Fellbett. Dann tastete ich nach meinen Kleidern, zog mich in aller Ruhe an, kroch aus dem warmen Schlafquartier und schloss den Innenvorhang. Fröstelnd erblickte ich das kaum mehr glimmende Feuer in der Mitte des Zeltes und trat nach draußen. Nach einem ausgedehnten Gähner zog ich die krumme Lattentür hinter mir zu und ging um den Yaranga und seinen Felsgürtel herum, um mich an einer anderen blaugelben Flamme niederzulassen. Ein siedender Kessel pfiff friedlich auf seinem dreibeinigen Gestell, während mit einem leisen Zischen brennende Gasstrahlen aus im Boden verborgenen Düsen strömten. Auf einem abgenutzten weißen Hirschfell saß der alte Girgol. Er schenkte mir keinerlei Beachtung und kümmerte sich um seine eigenen Angelegenheiten.

Klopf, klopf. Klopf, klopf, klopf.

Mit dem Horngriff eines alten, scharf geschliffenen Messers klopfte er geschickt das süße Mark aus einigen Rentierknochen.

Klopf, klopf. Klopf, klopf.

„Möchtest du auch?“

„Hm-hm“, sagte ich, trat vor und schnappte mir ein paar der größten Brocken rötlich-weißer Farbe.

Im nächsten Augenblick schnellte ich in die Hocke, sodass das auf meine Kehle gerichtete Messer stattdessen die Luft über meinem Kopf durchschnitt. Nachdem ich mich wieder aufgerichtet hatte, schob ich mir den Leckerbissen in den Mund und begann träge zu kauen, während ich dem alten Mann dabei zusah, wie er sich einen neuen Knochen von seinem Stapel nahm.

„Wie geht es meiner Enkelin?“

„Sie ist nicht deine Enkelin“, erwiderte ich gleichgültig und hob den Kopf, um den mit Dutzenden von hellen Sternen übersäten Nachthimmel zu bestaunen.

Als ich wieder nach unten blickte, ertappte ich den alten Mann dabei, wie er seine Hand flink vom Griff einer kurzen Harpune wegzog.

Klopf, klopf. Klopf, klopf.

„Ich sorge mich um sie wie um meine eigene.“ Girgol schüttelte seinen grauen Kopf. „Ich sorge mich um jedes Stammesmitglied.“

„Du bist ein Möchtegern-Diktator, der nichts lieber tut, als sich das Maul vollzustopfen“, schnaubte ich und streckte eine fordernde Hand aus. „Mehr.“

„Ja, ja, eine Sekunde.“

Klopf, klopf. Er schlug mit dem Griff des Messers gegen den splitternden Knochen, und die Markstücke plumpsten auf das Fell und das Gras.

„Du bist hilflos hierhergebracht worden, vergiftet und im Sterben. Wir haben dich gerettet. Meine Enkelin ist die schönste Frau des Stammes. Sie hat dich mit ihrem Körper gewärmt. Ich habe ihr Stöhnen gehört.“

Ich nahm eine weitere Portion Knochenmark und ein Stück Wildbret und zog mein Messer aus dem Gürtel. Der alte Mann schreckte auf, und statt des Rentierknochens traf der Messergriff diesmal seinen Daumen, woraufhin er vor Schmerz zischte. Nachdem ich das Mark heruntergeschluckt hatte, klemmte ich das Fleisch zwischen Zähne und Hand und schnitt es mit der anderen Hand von oben nach unten durch, bis knapp an meine Nasenspitze. Dann nahm ich das Kauen in aller Ruhe wieder auf.

„Jeden Tag füttern wir euch mit heißer Fleischbrühe und Nahrungsbrei.“

„Ihr füttert uns“, ich nickte, „und gebt uns zu trinken.“

„Es scheint mir, dass du nicht dankbar bist.“

„Es scheint mir, dass du ein alter Mann bist, der keinen Arsch in der Hose hat und sich zu sehr daran gewöhnt hat, über seinen unterwürfigen Stamm zu herrschen, voller Angst vor Neuem.“

„Du bist von dort unten gekommen!“ Girgol deutete mit dem Finger auf den Boden. „Von dort unten! Was kann schon Gutes von dir kommen? Nichts, glaub‘ ich. Und du hast keine Geschenke mitgebracht.“

„Wieder einmal liegst du richtig. Es kann nichts Gutes von uns kommen. Wir sind aus dem Arschloch der Welt gekrochen. Wir sind als blutverschmierte Häufchen Scheiße direkt aus einem miefenden Arschloch herausgekrochen. Was für Geschenke hast du erwartet?“

„Ich bin alt und weise. Ich hab‘ verstanden und es akzeptiert. Ihr seid vergiftet und geschwächt gewesen. Wir haben euch geholfen. Und was habe ich als Gegenleistung bekommen? Ein Todesversprechen?“

„Ja.“

„Du hast versprochen, mich zu töten! Mir die Kehle aufzuschlitzen!“

„Ich hab‘ dir die Wahl gelassen und dir Zeit gegeben, dich zu entscheiden“, korrigierte ich ihn. „Du bist schon alt. Geh in den Wald des Todes. Gönn dir selbst die Spritztour, auf die du die anderen Alten so gerne schickst. Bekomm ein Gefühl dafür, wie’s ist. Wenn du bis Mittag noch nicht das Zeitliche gesegnet hast, bring‘ ich dich persönlich um, schleppe deine Leiche in den Wald des Todes und werfe sie in die dornigen Äste der Zärtlichen Lärche.“

„Du sprichst mit unseren Worten, doch sie bedeuten dir nichts. Du bist keiner von uns, so scheint es mir.“

Ich schluckte meinen Fleischhappen hinunter und grunzte:

„Euthanisiere dich selbst. Wer weiß, vielleicht gefällt‘s dir ja.“

„Wir waren nett zu euch!“

„Sie waren nett zu uns.“ Ich zeigte über meine Schulter hinweg auf die drei Dutzend Yarangas, die auf der hoch gelegenen sandigen Küste standen, etwa 20 Meter von der nicht sichtbaren, aber hörbaren Brandung entfernt, an dessen Strand braune Algen und Eisbrocken gespült wurden.

„Ich bin ihr Häuptling!“

„Du hast ihnen befohlen, uns in den Wald des Todes zu werfen. Du hast geglaubt, wir hätten es nicht mitbekommen, aber ich hab‘ jedes Wort verstanden.“

„Ihr seid Fremde!“

„Du hattest Angst.“

„Ja.“ Der alte Girgol senkte den Kopf und ließ in seiner Machtlosigkeit das Messer fallen. „Ja.“

„Und du wolltest uns töten.“

„Nein. Ich wollte euch nur in …“

„… in den verfluchten Wald des Todes schicken. Und damit direkt in die Arme der ebenso verfluchten robotisierten Zärtlichen Lärche. Du wolltest uns der kratzbürstigen Kehrschaufel zum Fraß vorwerfen und uns geradewegs ins Arschloch zurückbefördern.“

„Geradewegs nach unten. Da kommt ihr doch her, oder nicht? Und da gehört ihr doch sicherlich hin. Der Zärtliche Baum tötet nicht. Er fegt nur alles nach unten.“

„Mhm“, höhnte ich verärgert. „Direkt ins Grab, ja?“

„Mir scheint, dass niemand weiß, wohin.“

„Dann find‘s heraus. Geh in den Wald des Todes, dreh eine Runde mit der Kehrschaufel und sieh nach, was unten ist. Und wenn dir langweilig wird, kommst du zurück.“

„Willst du mich immer noch umbringen?“

„Ja.“

„Es scheint mir …“

„Andere Dinge sollten dir scheinen, alter Häuptling. Ist dir vor Augen erschienen, warum mein Todesversprechen von all deinen Leuten mit stiller Zustimmung aufgenommen worden ist? Ist dir aufgefallen, warum mich niemand infrage gestellt hat, warum niemand dich angesehen hat, warum niemand darum gebettelt hat, dass ihr weiser alter Häuptling Girgol verschont wird? Genau das sollte dir durch den Kopf gehen. Du hast Zeit bis zum Mittag.“

Ich steckte mein Messer in die Scheide, hob ein Stück Rohhaut hoch und nahm den kochenden Kessel von der Gasflamme. Dann fischte ich einige Klumpen gepressten Tees aus einem Stoffbeutel und warf sie ins Wasser, bevor ich eine Handvoll grauen Zucker aus einer alten, knöchernen Schmuckschatulle beifügte. Ich erhob mich, nahm den Kessel in die Hand und entfernte mich von dem vagen Kreis des Feuers und dem hängenden Kopf des beknackten alten Girgols.

Ich stapfte langsam durch den Sandstrand bis hin zum eisbedeckten Algengürtel. Dort fand ich einige Felle und legte mich hin, um den Kessel im kalten Sand zu kühlen. Regungslos lag ich auf der Seite und beobachtete, wie das kalte, rauschende Meer sein salziges Wasser unter dem Sternenhimmel wogte.

So wunderschön.

Und fast wie echt.

Ich wandte mich wieder meinen Gedanken und den jüngsten Ereignissen zu – zurück zu dem Moment, als wir gerade hier aufgetaucht waren. Oder vielleicht auch nur einen Augenblick später, als ich endlich wieder mein volles Bewusstsein erlangt hatte.

Zu dem Zeitpunkt, als wir hochgezogen wurden - begleitet von der überraschend gelassenen Aussage: „Mir scheint ...“ -, war ich nicht in der Lage, mein Bewusstsein aufrechtzuhalten. Ich wurde immer wieder ohnmächtig. Der Expeditions-Medizinkoffer der Spinnen katapultierte mich allerdings immer wieder für einige Sekunden zurück, bis ich zu Zucken begann und mir eines Griffs an meinen Armen bewusst wurde – begleitet von erstaunten Ausrufen und mitleidigem Gekreische der Damenwelt. In diesem Augenblick vernahm ich zum ersten Mal Girgols bissige Stimme, die sich in mein Gedächtnis bohrte und verlangte, dass wir entweder zurück in das Loch geworfen oder in den Wald des Todes geschleppt und der Zärtlichen Lärche ausgeliefert werden sollten. Dann wurde es dunkel. Entweder hatte sich der geringe Proviant des Medizinkoffers erschöpft, oder mein Körper wollte einfach nicht auf die vitalisierenden Chemikalien reagieren. So oder so - ich war ohnmächtig geworden.

Erst Stunden später kam ich wieder zu mir. Ich öffnete meine Augen nicht sofort, sondern stellte mich weiterhin bewusstlos und lauschte ein Weilchen den Stimmen der Damen um mich herum. Sie sprachen langsam und ruhig. Meine Finger tasteten heimlich das bemerkenswert weiche Bett unter mir ab, und es dauerte ein paar Minuten, bis ich wirklich überzeugt war, auf einem Fell zu liegen. Oder einer fantastischen Imitation dessen. Der Geruch jedoch ... Der Geruch verriet mir, dass der Pelz echt sein musste. Genau wie alles andere auch.

Schließlich wagte ich, meine Augen zu öffnen, um mich heimlich umzusehen und das Spionagespiel zu beenden. Langsam setzte ich mich auf und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf den umliegenden Raum.

Ein großes Zelt. In der Mitte loderte ein kleines bläulich-gelbes Feuer, darüber blubberte ein großer Kessel, während die Luft von dem Geruch gekochten Fleisches, Blutes, von etwas Pflanzlichem und etwas leicht Verdorbenem erfüllt war. Ein paar Meter von mir entfernt hockten zwei Frauen mit nacktem Oberkörper und flickten zerrissene Kleidung. Ich erkannte mein schwarzes T-Shirt und meine Hose. Bevor sie mich schließlich bemerkten, gelang es mir, einen passablen Blick auf sie zu erhaschen: langes glattes schwarzes Haar, ruhevolle und sanfte, schräg stehende Augen, hohe Wangenknochen und eine Art Fell-Overall, der bis zur Taille heruntergezogen war.

Und das war nur der Anfang.

Erfreut über mein Erwachen, rückten die Damen im Handumdrehen an meine Seite und fütterten mich mit einer dickflüssigen dunklen Suppe, die Fleischfasern und irgendeine Art von Gemüse enthielt. Sie war lecker. Und heiß. Überraschenderweise.

So überraschend, dass ich in meinem leichten Schock und meiner totalen Verwirrung – wo war ich? – gehorsam den Inhalt einer ganzen Schüssel verdrückte und mit einer Tasse heißem süßen Tee nachspülte, bevor ich mich überhaupt nach dem Schicksal meiner Kämpfer erkundigte.

Meine Befürchtungen wurden durch die Versicherung gelindert, dass sie alle am Leben wären und sich in den benachbarten Zelten erholen würden. Ob ich sie gerne sehen würde?

Ich nickte.

Man half mir auf die Beine, zwängte mich in meine frisch geflickte Hose, hüllte meine nackten Schultern in einen weichen Pelz und führte mich zu einer Gittertür, die vor mir aufgeworfen wurde. Helles Licht schlug mir ins Gesicht. Eine weibliche Hand stupste mich sanft in den Rücken, als wollte sie sagen: „Beweg dich, Goblin.“ Und ich bewegte mich.

Kurz darauf klebte ich regelrecht am Boden fest. Nein, wirklich, am Boden. Nicht auf Stahl, nicht auf Gitter, und nicht in einer giftigen Pfütze aus Scheiße und Säure. Nein, am Boden. Oder, um es zu präzisieren, auf grobkörnigem grauem Sand.

Bei dem hellen Licht handelte es sich tatsächlich um Sonnenlicht, und vor meinen Augen schimmerte ein bleigraues Meer. Meine Ohren vernahmen das Rauschen der Brandung und das Kreischen schmutzig-weißer Vögel, die über den Sand flogen und nach Dingen pickten. Einen Moment lang schien es, als stünde ich im Bordell der Nymphe Copula, vor dem Bildschirm, der die nicht existente Welt projizierte.

Aber nein, das hier war kein Bildschirm.

Das war ein echter Strand, ein echtes Meer und eine echte frische Brise. Und die Sonne.

Ein Rentier trabte vorbei. Ein verfluchtes echtes Rentier!

Meine Beine gaben unter mir nach, und ich ließ mich sanft in den Sand sinken. Die Damen nuschelten beruhigend, während sie mir über Kopf und Wangen streichelten und meinen Nacken massierten. Sie stellten Fragen in einem überraschten Tonfall, doch deren Sinn erschloss sich mir nicht, obwohl ich natürlich die Sprache verstand. Mein Bewusstsein vernahm nichts außer der Welt um mich herum.

Ein paar Minuten später kam mir ein unschöner sowie ernüchternder Gedanke.

Nein, das glaub‘ ich einfach nicht! Irgendetwas stimmt hier nicht!

Dieser Gedanke vertrieb meine Trägheit in Windeseile und belebte mich so sehr, dass ich wieder aufstand. Ich schaute mich mit Falkenaugen um und hörte auf, den aufgeregten Dingo-Welpen zu spielen, der gerade zum ersten Mal seine Schnauze aus seinem dunklen Versteck gestreckt hatte und nun die Welt bestaunte.

Dieser Entschluss trug sofort Früchte. Innerhalb einer Minute begriff ich, dass wir nach wie vor zwischen Stahlwänden gefangen sein mussten. Nur die Dimension der Mauern hatte sich verändert.

Das hohe Ufer war sandig und kieselig. Mehrere Dutzend Zelte aus gegerbtem Leder waren darauf aufgebaut. Verstreut auf dem Sand und im Sonnenlicht kaum sichtbar, waren kleine Lagerfeuer verteilt. Frauen hantierten an den Feuern und Kesseln herum, während die halb bekleideten Männer etwas weiter abseits saßen und mich mit unverhohlenem Interesse beobachteten.

Was war das für eine Küstenlinie?

Es handelte sich um eine ausgedehnte Landzunge, die sich mehrere Kilometer seitlich dieses ... Viehstalls erstreckte? Oder Viehlagers? Viehdorfes?

Die Nehrung war auf drei Seiten von der grauen See umschlossen. Und dahinter, etwa einen Kilometer von der Siedlung entfernt, wuchsen Bäume. Sehr echt aussehende Tannen, jedoch alle irgendwie deformiert und reuevoll nach unten hängend, so als hätte jemand einen Amboss auf ein kleines Wäldchen geworfen.

Später sollte ich erfahren, dass das Wäldchen „Wald des Todes“ genannt wurde und dass alle Toten dorthin gebracht wurden. Es war auch ein Ziel für jene, die nicht weiterleben wollten, da dort, auf einer kleinen Lichtung, die Zärtliche Lärche wuchs. Rastete man länger als eine Minute unter ihr, so erwachten ihre dornigen Äste zum Leben, umschlangen feinfühlig den Todessehnsüchtigen und zogen ihn in ein finsteres Loch, das sich zwischen den Wurzeln auftat. Sobald sich das Loch hinter ihnen wieder schloss, stimmte der Baum ein uraltes Klagelied an. Oder zumindest schien es so. Niemand vermochte die Gesangssprache der Zärtlichen Lärche wirklich zu verstehen. Was aber war so zärtlich an diesem gespenstischen Baum? Die Tatsache, dass die stacheligen, den Körper durchbohrenden Äste aus irgendeinem Grund keine Schmerzen verursachten.

Was kam hinter diesem Wald des Todes?

Eine Wand. Eine stählerne Wand, deren unterer Teil in einem dunklen Blau gestrichen war, das sich nach oben hin allmählich aufhellte, um sich nahtlos in himmelblauer Farbe im hohen Himmelsgewölbe zu verlieren, das sich gut 200 Meter über meinem verblüfften Kopf befinden musste.

Dort oben an der Decke brannte eine gleißende Sonne. Eine leichte Brise zerzauste mein Haar und legte sich mit dem Geruch von Salz, Jod und verrottendem Seetang um mein Gesicht.

Eine beinahe reale Welt.

Eine Welt mit einem Namen.

Als man mir in stolzem Ton den Ortsnamen verkündete, staunten meine Informanten nicht schlecht darüber, dass ich mir ein bitteres Lachen verkniff.

Der Rand der Welt. So nannte man diese lange, sandige und kieselige Landzunge, die mit üppigem Moos und parallel zum Boden wachsenden Bäumen bewuchert war. Eine Insel, die sich an eine Tarnwand schmiegte, eine Insel mit einer hohen Küstenlinie, einer blühenden Tundra in der Mitte, dem Wald des Todes entlang der Wand und verstreutem Schnee und Eis in der gesamten Landschaft.

Außerdem gab es noch den von den Einheimischen durchaus zurecht hochverehrten braunen Mutterfelsen, bei dem es sich sowohl um eine technische Errungenschaft als auch um einen Segen für die Zivilisation handelte, der kunstvoll von natürlichem Gestein eingefasst worden war.

Drei Med-Blöcke, mehrere Handelsposten und Kisten, die junges Rotwild und schlafende Rohtarier beherbergten, die die Toten ersetzen sollten.

Rohtarier. So nannten sich die Bewohner dieser gefälschten Polarinsel. Wenn sie sich nicht gerade als gerettet, geschützt und ethnisch bezeichneten.

Gerettete und geschützte, ethnische Rohtarier, die am Rand der Welt lebten.

Was hatte ich zu dieser Enthüllung gesagt?

Nichts sonderlich Bemerkenswertes. Aber was erwartete man schon von einem dreckigen Goblin? Wir waren weder ethnisch, noch lebten wir am Rand der Welt. Wir waren aus dem Arschloch der Welt herausgekrabbelt, und das nur halblebendig.

Nachdem ich mir den Mund fusselig geredet hatte, fasste ich mich schließlich wieder und blickte auf das Meer. Jenseits des Horizonts zeichneten sich die vagen Umrisse eines aus Bergen und Wäldern bestehenden Geländes ab. Es schien Festland zu sein und war nicht sonderlich weit von der Insel entfernt. An den Seiten ragten endlos viele Klippen aus dem Wasser und streckten sich in Richtung des fernen Landes, sodass ein dreieckiges Meeresgebilde entstand, das von hohen Felsen gesäumt war. An einer Stelle ragte die zerklüftete Felswand besonders hoch empor und bildete einen hohen Bogen, der auf zwei Steinsäulen ruhte. Wohin führte er? Ich wusste es nicht. Vielleicht nur von einem Meer zum nächsten.

Was für eine sagenhafte Welt.

Nachdem ich mich sattgesehen hatte, kehrte ich in die dunkle Yaranga zurück, ließ mich auf mein Bett fallen und schlief noch ein paar Stunden tief und fest. Nach meinem erneuten Erwachen stellte ich den bedienenden Damen eifrig Fragen – und im Anschluss auch den Männern, nachdem sie zu uns gestoßen waren. Sie informierten mich über all die Scheißdetails über den Rand der Welt, den Wald des Todes, den Mutterfelsen und die ethnischen Rohtarier. Außerdem erzählten sie mir, wenn auch nur sehr widerwillig, von dem weisen Häuptling Girgol.

Nachdem ich die Anwesenden drei Stunden lang wie eine Zitrone ausgequetscht hatte, glaubte ich, dass mich nichts mehr überraschen würde, doch tatsächlich gelangten erst dann die spannendsten und unerwartetsten Dinge ans Tageslicht. Und als ich erst einmal in Schwung gekommen war, setzte ich meine Befragung fort, die von den wohlmeinenden, wenn auch etwas trägen Rohtariern bereitwillig beantwortet wurde.

Sie wiesen keine Narben an Armen und Beinen auf, und ihre Gliedmaßen schienen bereits seit ihrer „Geburt“ an ihnen zu kleben. Ich kam nicht umhin, nachzuhaken, doch sie verstanden die Frage nicht. Also erläuterte ich es und stieß dabei auf platte sowie angstbesetzte Verblüffung – gefolgt von der ersten emotionsgeladenen Frage- und Antwortrunde, die mit dem typischen, farbenfrohen Ausdruck der Einheimischen verziert wurde und ungefähr so klang: „Wie zum Henker können die dir Arme und Beine wegnehmen, sie durch andere ersetzen und diese auch wieder wegnehmen, wenn du nicht bezahlst? Sind die völlig übergeschnappt und haben ihren verdammten Verstand verloren oder was?“

Vorzüglich. Aber das war noch nicht alles.

Wer seid ihr? Inselbewohner?

Wir sind Rohtarier. Wir sind die geschützte ethnische Gruppe Nummer 17.

Erscheinen grüne Buchstaben vor euren Augen?

Es kam vor, dass diese gelegentlich aufflackerten. Bei der Geburt auf jeden Fall, aber dann gab es manchmal ein Leben lang kein einziges Flackern mehr. Obwohl der alte Girgol, wie andere Älteste vor ihm, das geschriebene Grün häufiger zu Gesicht bekam. Er war schließlich der Häuptling, eine hochrangige Person. Er erhielt Informationen vom Mutterfelsen, die sowohl die Ankunft neugeborenen Rotwildes und das das Auftauchen neuer Rohtarier nach dem Begräbnis älterer sowie den Beginn einer neuen Migration betraf. Wenn ihm diese Neuigkeiten übermittelt wurden, benachrichtigte der Häuptling auch die anderen Rohtarier.

Ich verstand.

Neugeborenes Rotwild?

Exakt. Es musste eine gewisse Zeit lang aufgezogen werden. Aber es dauerte nicht lange, bis es zu den Rentierflechten weiterziehen durfte.

Sahen sie wirklich so klein aus?

Ja, natürlich. Wie denn sonst? Auch Rene mussten erst einmal wachsen.

Tauchten Rohtarier auch als Erwachsene auf?

Die Anwesenden nickten mit dem Kopf, als wollten sie sagen, dass dies üblicherweise der Fall war. Allerdings konnten sie auch als Kinder erscheinen.

Wie das? Kinder? Wirklich?

Ja, natürlich. Das Mädchen dort drüben, sie, er und die drei daneben – sie alle waren als Kinder zwischen zwei und zehn Jahren aufgetaucht. Der ganze Stamm hatte sie gehütet und großgezogen. Und das war eine freudige Sache, weil die Siedlung ein entzückender Ort war, wenn die Yarangas von Kinderstimmen erfüllt waren.

Nun, ja, das mochte so sein. Aber wie stand es um die Erinnerungen? Wurden die der Rohtarier nicht gelöscht?

Doch, sie waren komplett ausgelöscht worden. Und zwar von allen. Das war das Diktat des Mutterfelsens, der dafür sorgte, dass sich die Rohtarier ihre jämmerlichen vergangenen Leben nicht zu Gemüte führen konnten. Wozu auch an eine dunkle Vergangenheit erinnern, wenn es viel schöner war, eine lichtvolle Gegenwart zu leben?

Wie kamen sie darauf, dass die Vergangenheit dunkel gewesen war?

Wie sonst hätte sie sein können? Wenn sie hell gewesen wäre, wozu hätte man sie dann aus dem Gedächtnis der Menschen gelöscht?

Ich fing an zu begreifen – Erinnerungen gelöscht, Arme und Beine von Geburt an die eigenen, Tote wurden gelegentlich durch frisch eingetroffene Kinder ersetzt. Ja, ich begriff. Aber wie verdienten sie ihren Lebensunterhalt? Ich verstand, woher sie ihre Felle bekamen, aber was war mit Werkzeugen?

Mutters Handelsposten waren immer bis zum Rand gefüllt. Und jeder Rohtarier konnte jederzeit alles Nötige mithilfe der heiligen B.E.L.W.-Coins kaufen.

Verzeihung? Was für Coins?

B.E.L.W.

Bereitwillig wurde mir erklärt, dass dies die einzige lokale Währung war und dass das interne Goldkonto jedes Rohtariers täglich aufgefüllt wurde.

Goldkonto?

Ja, genau. Wann immer man Lust hatte, schaute man auf sein Konto und überprüft, wie viele B.E.L.W.-Coins man angespart hatte. Es erschien als eine kurze gelbe Linie vor den Augen:

B.E.L.W.-Guthaben: 15

Und wofür stand die Abkürzung B.E.L.W.?

Das war nicht schwer. B.E.L.W. war ein Guthaben für die Bewahrung der Ethnischen Lebensweise.

Was für eine Scheiße?

„Nicht „Scheiße“, es heißt B.E.L.W.! Die heiligen Coins der gütigen Mutter. Wir werden dafür bezahlt, dass wir ein rechtschaffenes Leben führen, das Leben eines Rohtariers.“

Und was hatte solch ein Rohköstler zu tun? Richtig: Fische mit Harpunen und Keschern fangen, Polarfüchse jagen, die essbaren Gräser und Beeren der Tundra sammeln, junges Rotwild aufziehen, Hirschfelle gerben, Yarangas zusammen- und auseinanderbauen, am Lagerfeuer Geschichten erzählen, schmackhaftes frisches Fleisch in blubberndem Wasser kochen und fröhliche Lieder singen. Das war das Leben eines echten Rohköstlers abseits der ausgetretenen Pfade. Und es wurde mit B.E.L.W.-Coins finanziert.

Hm, verstehe. Migration, sagten sie? Wohin emigriert die ethnische Gruppe Nummer 17? Und warum?

„Was meinst du mit ‚warum‘? Andererseits habe ich mir schon gedacht, dass ihr hier fremd seid und nicht viel wisst. Also, die Migration ist absolut notwendig. Die jungen Rentiere sind gefräßig und verschlingen in kürzester Zeit alle Rentierflechten in der Gegend. Also muss der ganze Stamm regelmäßig zusammenpacken, die Yarangas auseinandernehmen, alles auf die Schlitten laden und zu üppigeren Weiden aufbrechen.“

Nach dieser Erklärung erhob ich mich und verließ das Yaranga, um mich kurz in der Siedlung umzusehen und bei der Gelegenheit auch nach meinen Kämpfern und der Laus zu schauen. Anschließend kehrte ich zum Yaranga zurück und vermutete voller Überzeugung, dass die Rohtarier mit der Wahrheit sparsam umgegangen waren. Dies war eine an die Wand gepresste Insel. Wohin zum Teufel hätten sie emigrieren sollen? Auf den Meeresboden?

Die Rohtarier waren von meinen Fragen enttäuscht, ließen sich jedoch zugleich nicht den Wind aus den Segeln nehmen. Einer der geschwätzigeren alten Männer lachte krächzend, zündete sich eine Pfeife an und blies mir ungeniert den Rauch in die Nase, begleitet von einer Erläuterung: Die Migration fand heute statt. Ich durfte mich selbst davon überzeugen. Wann sie beginnt? Sie konnten sofort beginnen, wenn ich wollte.

Oh, nur zu gern.

Daraufhin schickten sie mich zu Häuptling Girgol. Hier hing alles von seinem Wort ab. Wenn er grünes Licht gab, trat die Gruppe die Reise an.

Ich?

Ich schnappte mir ein Stück Fleisch, schlürfte einen Schluck versalzene Brühe, verließ erneut das Zelt und begab mich in Begleitung eines Haufens Inselbewohner zu dem grauen Häuptling, der auf einem fadenscheinigen Fell saß und das Mark aus den Rentierknochen klopfte. Sobald er den Mund aufmachte, erkannte ich die Stimme wieder, die verlangt hatte, dass wir in die Stahlgrube zurückgeworfen oder an die Äste der Zärtlichen Lärche im Wald des Todes ausgeliefert werden sollten.

Sofort kehrte mein brüllender, tobender Hass zurück. Der Hass, der seit meiner Geburt in dieser Scheißwelt in meiner Seele brodelte, aber beim Anblick des pastoralen Insellebens der Rohtarier zumindest etwas nachgelassen hatte.

Ohne dem alten Mann auch nur einen Finger zu krümmen, wandte ich mich an den „Trupp“, um mehr über die Umarmung der Lärche zu erfahren. Nachdem ich die Funktion des Baumes endgültig verstanden und dabei auch noch kostenlose Zusatzinfos über den freiwilligen Tod erhalten hatte, bedankte ich mich mit einem Nicken bei den Geschichtenerzählern und versprach beiläufig, den alten Häuptling morgen Vormittag zu töten. Sollte er nicht unter Schmerzen sterben wollen, so sollte er vorher in den Wald des Todes aufbrechen und sich in die stacheligen Äste des Killerbaums verkriechen.

Also, was war mit der Migration? War es nicht an der Zeit zu beginnen?

Fassungslos über meine Drohung, hatte der Häuptling etwas Mühe, seine Gedanken zu sortieren. Er winkte mit einer schlaffen Hand, als wollte er sagen: „Fangt an.“ Doch dann verlor er jedes Gefühl für Seriosität und blickte weinerlich in die Augen seiner Stammesmitglieder, als wollte er fragen: „Ihr werdet euren geliebten Häuptling doch verteidigen, oder?“ Er erhielt keine Antwort, und die Inselbewohner kehrten zu ihren Yarangas zurück. Ich trottete hinter ihnen her, ohne den todgeweihten Ältesten eines letzten Blickes zu würdigen.

Weil ich ein kranker Mann war, wurde ich gebeten, mich auf einen kleinen Hügel zu setzen. Meine Kämpfer gesellten sich bald zu mir, zusammen mit der Laus und ihrem zerrissenen Allerwertesten – ein Riss, der inzwischen bis zu seinem Hinterkopf reichte. Wir schlürften Tee und Brühe und wärmten uns unter Fellen, während wir uns im Flüsterton unterhielten und aufmerksam die Aktivitäten der Rohtarier verfolgten. Sie hingen nicht herum, sondern versuchten ganz klar, die Migration so schnell wie möglich in Gang zu bringen.

Schnell und geschickt lösten sie die Felle von den Yarangas, rollten sie auf und legten sie auf den Boden. Als Nächstes bauten sie die Karkassen der Zelte ab und deponierten sie auf Schlitten, bedeckten sie mit den Häuten und sicherten alles mit Seilen. Andere Schlitten wurden mit den weltlichen Habseligkeiten der Bewohner beladen und schließlich mit zwei gebrechlichen, weißbärtigen alten Männern gekrönt. Dann begaben sich die Stammesmänner in die Mitte der Insel, um die Rentiere flott zusammenzutreiben. Ich fragte mich zum tausendsten Mal, wohin sie verflucht noch mal abwandern würden. Es war eine Insel. Befand ich mich immer noch im Delirium?

Als die Rentiere zusammengetrieben worden waren, brach der ganze Stamm in Gesang aus – laut und fröhlich, nahezu lebensbejahend. Durch die Heiterkeit hindurch ertönte ein leises Heulen aus der Richtung des Waldes des Todes. Die Heiterkeit des Singgelages intensivierte sich. Girgol winkte ausladend: das Signal zum Aufbruch. Doch niemand rührte sich. Die Rohtarier begannen, während sie in die Ferne starrten, zwar im Gleichschritt zu marschieren, allerdings auf der Stelle.

Die Rene schüttelten ihre Köpfe, während sie gemächlich die zerstörte Siedlung umkreisten. Erstaunt starrte ich auf das Zentrum der Insel und die erbärmlichen Überreste des abgegrasten Grases und Mooses. Der Grund für mein erstauntes Starren? Der Boden drehte sich! Das Land teilte sich in etliche rechteckige Abschnitte, die sich sofort um ihre eigene Achse drehten, bevor sie sich schließlich wieder zusammenfügten. Das Inselzentrum verwandelte sich in eine riesige Fläche blühender, jungfräulicher Tundra, deren Farbenvielfalt mich im Angesicht des stählernen Graus erfreute und zugleich quälte. Noch einmal ertönte kurz das heisere Heulen, dem sofort freudiges Jubeln folgte, das nach der „langen“ Reise sogar müde klang und in der ganzen Siedlung widerhallte: „Wir haben‘s geschafft! Wir sind da! Lasst uns hier Halt machen! Was für eine erfolgreiche Wanderung! Was für ein herrlicher Ort!“

Herrje.

Oh, herrje.

Ich wiederholte dieses einfache, gefühlvolle Wort immer und immer wieder, während ich beobachtete, wie die Rentiere zum nahrungsreichen Teil der Tundra getrieben wurden und die Frauen in ihrer Eile Beeren und Gräser sammelten. Die Männer massierten theatralisch ihre von der Wanderung betäubten Beine, um ihre Erschöpfung vorzutäuschen, bevor sie sowohl die Ältesten als auch die Felle von den Schlitten abluden und begannen, die Zeltspanten zu montieren und die Yarangas an denselben beschissenen Stellen aufzubauen wie zuvor!

Und das wars dann – Migration abgeschlossen.

Herrje.

Ich betrachtete die lächelnden Gesichter, die affektierten Posen, die luxuriöse ethnische Pelzkleidung, und ich hörte, wie diese Gesichter etwas in sich hinein nuschelten und die Lagerfeuer wieder einmal „ganz von selbst“ in Flammen aufgingen.

Eine großartige und gut inszenierte Theatervorstellung: Die Wanderung der Rohtarier. Das war es, was gerade passiert war. Doch niemand war verfickt noch mal irgendwohin gewandert.

Und hätte ich nicht hier gesessen, unter den Teilnehmern dieser verrückten Clownsnummer, sondern beispielsweise vor einem Bildschirm, der diese ... Was zur Hölle war das überhaupt? Es hätte zweifellos einen naheliegenden Namen erhalten, so was wie: Der Lebensstil und die Gepflogenheiten der ethnischen Rohtarier. Außerdem Untertitel am unteren Rand des Bildschirms, die erklärten: Hier wandern die Rohtarier, hier schlachten sie Rotwild, hier bauen sie Yarangas, hier singen sie, und so weiter. Eine Tonbandstimme wäre auch nicht verkehrt: „Die Kultur der Rohköstler reicht Jahrtausende zurück. Sie ist aufgrund der harten Umweltbedingungen des Nordens entstanden, wo das tägliche Leben dem Überleben gilt. Die Rohköstler waren in der Lage, sich Bedingungen anzupassen, denen vor ihnen noch niemand hat standhalten können.“ Und anderes solches Gefasel.

Fuck.

Diese ganze Insel war eine reine Museumsausstellung.

Eine zum Leben erwachte Museumsausstellung.

Hierher waren wir also gekrochen, nachdem wir uns aus der Stahlwelt hatten befreien können: geradewegs hinein in ein beschissenes Schaufenster und eine noch beschissenere Theateraufführung.

B.E.L.W.-Coins.

Jetzt verstand ich, warum die lokale Währung einen so langen und originellen Namen trug.

Geldmittel für die Bewahrung der ethnischen Lebensweise. Singen, tanzen, Rentiere hüten, in einem Yaranga ficken, Beeren sammeln, für einen selbst gewählten Tod in den Wald des Todes gehen, wieder in einem Yaranga ficken, Fische fangen, Fische essen, Mark aus Knochen klopfen, in einem Yaranga ficken ... und dein Goldkonto wurde regelmäßig mit klimpernden B.E.L.W.-Coins aufgestockt.

So ein Dreck.

Das musste so eine Art Realityshow sein.

Und da es sich um eine Show handelte, müsste auch jemand zuschauen, oder? Ein Publikum, das sich auf bequemen Sofas vor riesigen Bildschirmen rekelte, seine haarigen Wampen kratzte, den lächelnden Rohtariern zusah und sich dumpf dachte: „Verrückte unwissende Wilde! Obwohl dieses schlitzäugige, schnittige junge Ding schon ein bisschen in Ordnung ist. Es ist ja schön und gut, ihr dabei zuzusehen, wie sie ihr dunkles Haar am Feuer kämmt, aber ich würde lieber zusehen, wie sie nackt auf diesem muskulösen Kraftprotz auf und ab springt. Gibt‘s hier keinen Sender mit Premium-Nachttarif?“ Und die Hand des Zuschauers intensivierte die Massage des haarigen Wanstes, der über dem ausgeleierten Bund seiner Jogginghose hing.

So ein Mist.

Wobei mein Zustand der allgemeinen Verblüffung nur dazu diente, neue Nüchternheit und Kraft aufzubringen.

Während ich auf die Wiederkehr der ursprünglichen Siedlungsgestaltung wartete, setzte ich mich neben die Damen, die sich mit dem Stopfen der getragenen Kleidung beschäftigten, und nahm meine Nachforschungen wieder auf.

Wie war ihr Status? Waren sie willensstarke Nullformen?

Meine Fragen stießen auf Verwunderung: Was zum Henker war das? Natürlich waren sie das nicht! Sie waren die ethnische Gruppe 17 (willentlich geschützt).

Hatten sie Ränge und ein festgelegtes Arbeitspensum?

Was zum Henker sollte das nun wieder sein? Nein. Allerdings stand der alte Häuptling Girgol einen Rang höher. Er konnte viel machen. Und Schamane war er obendrein. Er hatte diese Verpflichtung auf sich genommen, nachdem der vorherige Schamane auf seine letzte Reise geschickt worden war, ohne einen Nachfolger zu bestimmen.

Aha. Gab es irgendwelche Tabus bei ihnen?

Was für Tabus? Sie waren Rohtarier, ein freier Stamm. Sie gingen, wohin sie wollten, sie fischten, sie wanderten weiter.

Und Junge, waren sie weitergewandert! Lächelnd auf der Stelle marschierend, hatten sie ihre Wanderung inszeniert und offensichtlich keinen blassen Schimmer gehabt, wie schrecklich das Ganze von außen ausgesehen hatte.

Ich legte mich auf einen verflixten Pelz und schaute eine Weile schweigend in den bemalten Himmel, um das Gehörte zu systematisieren. Doch es gab nicht wirklich etwas zu systematisieren - alles war glasklar. Dennoch interessierte mich die Antwort auf die nächste Frage: Von wem stammte das heisere Heulen, das vor und nach der sogenannten Migration ertönt war?

Das war Itchi. Der Schutzgeist des Waldes des Todes.

Wer?

Itchi. Der Geist des Waldes des Todes, in Gestalt eines alten schwarzen Wolfes. Sie nannten ihn einfach Itchi, obwohl alle Geister der Natur Itchis waren. Aber hier gab’ es nur einen Itchi. Und das, obwohl manche Menschen ihn früher nicht für einen Itchi, sondern für einen Deretnik gehalten hatten. Und jeder, der einen Itchi mit eigenen Augen gesehen hatte, würde wohl zustimmen, dass dieser Itchi längst zu einem Deretnik mutiert war.

Ich massierte mir grübelnd die Schläfen, bevor ich ein paar weitere Fragen stellte.

Was war ein Itchi?

Der Geist der Natur, den Rohtariern wohlgesonnen.

War das Heulen alles, was der Itchi im Wald des Todes trieb?

Nein, Itchi war wichtig. Er gab das Signal zum Beginn der Migration. Und er sagte, wann es an der Zeit war, eine große Wanderung abzuschließen. Itchi half auch den alten Männern, die Zärtliche Lärche im Wald zu erreichen, sollten sie die Kraft nicht allein aufbringen können. Itchi wachte über den Wald des Todes, ließ nicht zu, dass er abgeholzt oder entwurzelt wurde, verscheuchte dumme, herumschnüffelnde Tiere von der Zärtlichen Lärche, und in seltenen Fällen riss er das kränkste und schwächste unter den Rentieren. Er säuberte den Wald sowie die Tundra von Aas, und er trug die Leichen von Menschen fort, die unbemerkt in der Tundra gestorben waren. Und Itchi beschützte auch die Rohtarier.

Beschützte sie wovor?

Vor jeder erdenklichen Gefahr. Niemand hatte es selbst gesehen, aber die Ältesten sagten, dass Itchi beim ersten Anzeichen einer Bedrohung sofort den Wald verließ und zur Siedlung der Rohtarier kam, um sie zu beschützen.

Okay. Ich verstand. Und was war ein Deretnik?

Ein böser Geist, der sich im Körper eines anderen niedergelassen hatte.

Also hatte sich ein Deretnik in Itchi niedergelassen?

Ja.

Wieso glaubten sie das?

Weil das Böse in einem guten Körper nicht existieren konnte. Der Körper würde sich gegen eine solche Präsenz wehren und sich selbst in Stücke reißen.

Ich musste ehrlich zugeben, dass ich überhaupt nichts von alledem verstand.

„Dann geh in den Wald des Todes und sieh dich um. Es ist ganz einfach, einen Deretnik zu entdecken. Geh einfach in den Wald, lass dich an einem beliebigen Baum nieder und hocke dort ein Weilchen regungslos und mit geschlossenen Augen. Aber verschränke unter keinen Umständen die Arme vor der Brust. Und leg dich nicht hin. Bleib weg von der Zärtlichen Lärche. Es sei denn, du bist deines Lebens überdrüssig oder möchtest dorthin hinabsteigen, wohin der Baum die Alten und diejenigen, die nicht mehr leben wollen, aussortiert.“

Ich verstand.

Nach einigen Minuten des Grübelns erhob ich mich, packte mir mein Fell und schlenderte durch die Siedlung. Unterwegs kramte ich in meinen Sachen herum und zog ein Messer, eine leere Flasche und ein paar Nusstabletten hervor. An der einzigen Trinkwasserquelle der Insel – einem plätschernden Rinnsal von einem Wasserfall, der an einer Seitenwand des Mutterfelsens hinabfloss – füllte ich meine Flasche auf, bevor ich meinen Weg in den nahe gelegenen Wald des Todes fortsetzte.

Unter meinen Füßen wuchsen bunte Wildgräser, und ich bückte mich mehrmals, um eine Handvoll davon zu pflücken, sie zwischen den Händen zu reiben und genüsslich den Duft der einheimischen Flora einzuatmen. Dabei realisierte ich, dass hier keine Täuschung stattfand. Alles war echt. Zumindest so echt, wie es in einem riesigen falschen Museums-Schaufenster hätte sein können.

Der Wald begann nicht abrupt. Zunächst sprossen aus gelbem Gestrüpp bestehende Büschel aus dem Tundra-Gelände. Kleine pelzige Kreaturen schnupperten am Gras, Schmetterlinge flatterten umher, und das gefiederte Hinterteil eines hastigen Vogels kreuzte meinen Weg. Natur, was?

Weiter hinten standen kleine Bäume, die völlig krank, deformiert und zertrampelt aussahen. Ihre verdrehten Stämme verliefen fast waagerecht, und die Äste berührten mit ihren vielen kleinen, runden Blättern den Boden. Alle diese Bäume hatten weiß und schwarz gefleckte Stämme. Dahinter erschienen dunklere und mächtigere Bäume: Tannen mit knorrigen Stämmen. Sie wuchsen dicht an dicht, und zu ihren Kronen hin wurde die Vegetation immer dichter.

Ich setzte den nächsten Schritt und war im Begriff, einen echten Wald zu durchqueren, wenn auch nicht den größten.

Hier sah ich zum ersten Mal seine Spuren. Tief eingedrückt in einen graslosen, feuchten Boden war ein tierischer Fußabdruck, der nur etwas größer als meine Hand war. Jetzt wusste ich, dass die Geschichte um den Wolf keine Fabel war. Und obendrein, dass er ein verdammt großes Biest war. Ich bewunderte den Abdruck einen Moment lang, bevor ich mich umschaute und anschließend meinen Weg fortsetzte.

Leise stapfte ich über den braunen Nadelteppich und wagte mich weitere 20 Meter in die Baumlandschaft hinein. Als ich eine Lichtung vor mir erblickte, kauerte ich mich langsam nieder und lehnte mich mit dem Rücken an einen Baum, um ein anderes spektakuläres Exemplar zu bestaunen, das in der Mitte des freien Platzes emporragte.

Dieser Baum unterschied sich in jeder Hinsicht von allen anderen, mit Ausnahme seiner äußeren kränklichen Morbidität. Er war größer als die anderen, deutlich größer, und er wuchs allein. Sein dicker, mächtiger Stamm drehte und krümmte sich an mehreren Stellen, hier parallel zum Boden, dort vom Boden weg. Die Äste waren dicht bedeckt mit smaragdgrünen Nadeln, die so hell leuchteten, dass ich die gebogenen schwarzen Stacheln, die aus den unteren Ästen dahinter ragten und eine Art Zeltdach über dem Boden bildeten, beinahe nicht bemerkt hätte. Unter diesem Schauspiel erhob sich ein kleiner Erdhügel, bedeckt von hochgewachsenem grünem Gras, das sich in fließender Bewegung der leichten Brise hingab. Es sah so einladend sanft aus, dass ich mich am liebsten hineingelegt hätte.

Hier war sie also, die Zärtliche Lärche, die die Ältesten von ihren Todesqualen befreite.

Ich fand keine Löcher im Boden, was logisch erschien. Wozu sollte man einem Toten sein Grab zeigen, wenn es in Wahrheit gar kein Grab war, sondern vielmehr eine Art Müllkippe?

Aber was befand sich unter unseren Füßen?

Richtig. Unter unseren Füßen befand sich die dreckige, gottverdammte Stahlwelt. Es führte kein Weg daran vorbei – die toten Körper von Rohtariern und Tieren wurden genau dorthin verfrachtet, wo sie verwertet werden konnten: pulverisiert zu einer Pastete durch ein Geflecht von Rohren gepresst, um dem stinkenden Abwasser anschließend eine gewisse Dosis Festigkeit zu verleihen. Und sollte die Pastete eines Tages aus einem korrodierten Rohr auslaufen, würde sie sich als klumpiger Regen über die Straßen von Drainagestadt ergießen, deren Bewohner nicht die leiseste Ahnung von den über ihren Köpfen lebenden Rohtariern hatten.

Obwohl sie streng genommen nicht „über“ ihren Köpfen lebten. Unter dem Baum kauernd, zeichnete ich mit einem Zweig – einem echten Zweig! – allmählich eine Karte unserer nahezu planlosen Bewegungen und zwang mich dazu, jede Kurve und die grobe Länge eines jeden Abschnitts in meinem Gehirn abzuspeichern. Ich skizzierte das Ganze, indem ich vom Endpunkt unserer Reise rückwärts vorging, um auch die Insel der Rohtarier in meinem Orientierungssystem zu verankern.

Hier waren wir fast einen Kilometer lang geradlinig eine leichte, aber stetige Steigung hinaufgelaufen. Hier hatte uns die Laus geraten, links abzubiegen, woraufhin wir etwa 700 Meter hinuntermarschiert waren, bevor wir nach rechts in einen „Rastplatz“ im Rohr eingebogen waren, der sich auf einem kurzen, ebenen und überfluteten Gitter befand. Hier waren wir gestartet …

Nach zehn Minuten mentaler Kartenrekonstruktion hatte ich den Zielpunkt – den Fahrstuhlschacht – fast erreicht, als ich eine geräuschlose Präsenz neben mir registrierte. Ich schaute hoch. Und erstarrte. Drei – DREI! – Schritte von mir entfernt saß ein riesiger, nachdenklich wirkender schwarzer Wolf, dessen Fell so grau war, dass es als weiß hätte durchgehen können.

Das war er: Itchi aus dem Wald des Todes.

Sein linkes Auge visierte mich hoch konzentriert an, während sich anstelle seines rechten Auges die hässliche kahle Wucherung eines bizarren Tumors aus seiner Augenhöhle neigte. Ein Krebsgeschwür? Möglich. Aber ich hatte noch nie von Krebs gehört, der der Grund dafür war, dass nicht nur krankes, degeneriertes Fleisch aus dem Körper wucherte, sondern auch die Enden hauchdünner bunter Drähte, an denen Stücke zerbrochener elektronischer Platinen hingen. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, sickerte eine trübe Flüssigkeit aus der Blase und verunstaltete den andernfalls so edlen Kopf. Sowohl die geneigte Haltung dieses Kopfes als auch das daran gepresste rechte Ohr zeugten deutlich von den Qualen, die das Tier erdulden musste. Dennoch verrichtete es pflichtgemäß seinen Dienst.

Sein gesamtes Erscheinungsbild war eine stumme Botschaft darüber, dass er extrem gefährlich und bereit war, mich in Stücke zu reißen.

Der sitzende Wolf rührte sich ein wenig, und in seinem Körper begann etwas zu summen und zu klappern. Mit einem Ruck stieß das Tier ein kaum hörbares Jaulen aus und fiel flach auf den Bauch. Dann wölbte es den Rücken, atmete schwer, streckte die schwarze Zunge heraus und schüttelte mühsam die Bauchseiten und die unter der Haut hervorstehenden Rippen. Nicht wenige seiner einst furchterregenden braunen Reißzähne waren bis auf die Wurzel abgebrochen, und sein verwesendes Zahnfleisch und seine Zunge boten einen wahrhaft grausigen Anblick.

Ich erhob mich langsam auf die Füße, während ich die mich fixierenden Augen des Wolfes beobachtete. Dann streckte ich meine leeren Hände nach vorne und sagte leise:

„Friede sei mit dir, Kämpfer. Ich muss nirgendwo hingebracht werden.“

Eine Sekunde.

Und der Wolf sprang auf und lief davon, während seine massigen Pfoten sich lautlos bewegten. Ein Blick auf seinen Gang genügte, um selbst ohne Physiologie-Kenntnisse treffsicher zu behaupten, dass das Tier ernsthafte Probleme mit seiner Wirbelsäule hatte. Sein Hinterteil war merkwürdig schief - so schief, dass es seine Hinterbeine nach links trugen und der Wolf seinen Kurs ständig korrigieren musste.

Ein weiterer Beweis dafür, dass hier langsam aber sicher alles verfaulte und zerfiel. Wie viele Jahrzehnte Betriebsdauer hatte dieser cyborgisierte Wolf schon hinter sich?

Ja, genau darum handelte es sich: Betriebsdauer.

Das Ding war hierhergeschickt worden, um eine definierte Funktion zu erfüllen. Namentlich der Schutz der Zärtlichen Lärche und die Säuberung der Tundra sowie des Waldes von jeglichem Aas, egal ob totes Rentier oder toter Rohtarier. Darüber hinaus war es auch dem Schutz der Rohtarier und der ganzen Insel vor Bedrohungen verpflichtet.

Welchen Bedrohungen? Jeglichen Bedrohungen, mit denen ein mächtiger Riesenwolf fertig werden könnte.

Zusätzlich handelte es sich bei Itchi ganz zufällig um ein mobiles Systemauge – das stumpfe Glitzern des Kameraobjektivs auf seinem alten Stahlbrustpanzer war schwer zu übersehen gewesen. Ich wusste nicht, ob die Kamera momentan in Betrieb war, aber es juckte mir in den Fingern, mein Interface zu überprüfen. Ich zügelte den Drang. Die Zeit würde noch kommen.

Ich warf einen letzten Blick auf die Lärche, drehte mich um und marschierte davon, wobei ich die Büsche und Miniaturbirken umging und die flinken kleinen Raubtiere ignorierte, die zwischen den Gräsern und dem Moos jagten. Nachdem ich den Wald des Todes verlassen hatte, ging ich noch zehn Schritte weiter, bevor ich am Fuße des nächsten Büschels zusammenbrach und mein Gesicht in einer würzig duftenden Blütenkonstellation vergrub.

So ein Mist. Schon wieder?

* * *

Nachdem ich ein sehr dickes und schweres Buch inspiziert hatte, legte ich den Wälzer auf einen von Sonnenstrahlen durchfluteten Teppich und bellte dem alten Green, der über das Gemüsebeet gebeugt war, meinen Unmut entgegen:

„Es ist zu groß und zu schwer! Gib mir ein anderes!“

„Lies“, knurrte der alte Mann, während er zehn Tropfen einer kostbaren Flüssigkeit auf die Blätter eines jungen Winterrettichs träufelte.

„Aber warum ist es in diesem Behälter aufgetaucht? Diese unvergänglichen Brocken wären in der Kiste besser aufgehoben.“

„Lies.“

„Aber warum?“

„Um zu verstehen.“

„Was zu verstehen?“

„Die Notwendigkeit von echtem Schneid, Tatkraft, Furchtlosigkeit und Entschlossenheit, alles und jeden für das Erreichen eines gewünschten Ziels zu opfern – die unaufhörliche und unbeirrbare Bewegung vorwärts, und nur vorwärts. Echtes Training und die Bereitschaft, durch Bewegung stärker zu werden. Und, dass es in dieser beschissenen Welt keine beschissenen Weltverbesserer gibt, die rein altruistisch zu helfen versuchen, weil nämlich jeder darauf aus ist, bei allem etwas für sich selbst herauszuschlagen. Schreib dir das hinter die Ohren. Und jetzt lies!“

„Aber hier auf der Rückseite steht was von einem edlen Bogenschützen, einer durchgedrehten Welt und dunklen Mächten. Soll das ein Märchen sein?“

„Lies!“

„Kann ich‘s mit meinen Freunden lesen? Das macht‘s interessanter.“

„Nein.“

„Aber es ist so dick. Und lang.“

„Nein! Friss es selbst, Junge! Friss es selbst! Kaue und genieße den Geschmack! Und lies laut vor.“

„Das ist kein appetitlicher Winterrettich.“

Ich seufzte und schaute hoffnungsvoll zu Green, der sich auf das nächste Beet verzogen hatte, meinen Hinweis aber nicht beachtete. Ich seufzte noch mal schwer und riss den Einband auf, legte eine geschwärzte, wettergegerbte Hand auf die vergilbte Seite und begann zu lesen, wobei ich mich bemühte, keine Pausen zu machen, da Green das hasste.

„Die Gestalt in Schwarz wollte sich in der Einöde verstecken, doch der Bogenschütze behielt sie im Visier ...“

* * *

Ich ächzte, schüttelte schläfrig den Kopf und stand auf. Ein verfluchter Flashback. Wieder einmal konnte ich mich an fast nichts erinnern, lediglich an einige winzige Bruchstücke: die Worte eines dünnen, alten schwarzen Mannes, das Muster auf einem verwitterten Teppich, die erste Seite eines zerlesenen Wälzers, auf dem ein düsterer schwarzer Turm abgebildet war.

Ein Schatten huschte vorbei.

Ich wich zur Seite und stürzte, als eine lange Harpune mit einem dumpfen Aufprall auf dem Erdboden aufschlug. Ich griff nach dem Schaft, um sie zu mir heranzuziehen, und riss so die Waffe aus den schwachen Händen von Häuptling Girgol. Dann stützte ich mich dagegen, um mich aufzurichten, und knurrte verächtlich:

„Du bist ein fieser alter Mann. Und dämlich. Greifst mich von der Sonnenseite aus an ...“

„Töte mich nicht“, sagte Girgol, wich einen Schritt zurück und wandte sich mit einem hoffnungsvollen Blick dem Zwielicht des Waldes des Todes zu.

„Das hab‘ ich nicht vor“, sagte ich grinsend, drehte mich um und ging davon. „Wir sehen uns morgen Mittag.“

Wir bemerkten beide, wie der graue Wolf unseren Austausch aus dem Schatten eines Baumes heraus beobachtete. Weiterer Stoff zum Nachdenken. Würde Itchi den Häuptling bestrafen, wenn er mich tötete? Und wenn ich den Häuptling tötete? Oder scherte der Wolf sich einen Dreck um die Streitereien der Rohköstler?

So oder so, ich würde keine Tests durchführen, denn Itchi aus dem Wald des Todes machte einen viel zu paradoxen Eindruck. Zugegeben, einen sterbenden Eindruck, aber dennoch einen von gewaltiger Kraft.

Ich ließ die Harpune – ein Holzschaft mit einer zweizackigen Stahlspitze – beim ersten Yaranga liegen, änderte leicht den Kurs und ging auf die Klippe zu, die die Siedlung überragte. Bei ihrem Anblick erinnerte ich mich wie aus dem Nichts heraus an die gesichtslose weiße Wand in der Wohnstätte der sanftmütigen Deva-Riesen. Hier zeichnete sich ein Muster ab: Es war, als wären beide nach derselben Schablone geformt worden, nach demselben System. Dass sie sich äußerlich trotzdem nicht ähnelten, war durchaus verständlich: Es war die Parodie eines wertlosen Lagers arbeitender Reinigungskräfte. Und es führte nichts an der Tatsache vorbei, dass es sich hier um ein lebendiges Museumsschaufenster handelte.

Harpune.

Diese primitive tödliche Harpune.

Oder genauer gesagt, ein Speer.

Gabby die Laus hatte bei einer unserer Unterhaltungen ein paarmal erwähnt, dass ein Speer in seinem Bauch gesteckt hatte. So weit, so gut. Wenn man eine tiefe Wunde im Bauch entdeckte und die verantwortliche Waffe noch in der Wunde steckte, würde man sich für den Rest seines Lebens daran erinnern.

Das Aussehen des Speers hatte mich schon auf unserem Weg hierher interessierte, also hatte ich Gabby ein paar Fragen gestellt, auf die ich ein paar unerwartete automatisierte Rückmeldungen erhalten hatte.

Aus welchem Material war der Schaft? Und der Griff? Ich hatte vermutet, er würde vielleicht Eisen oder Plastik sagen.

Aber die Laus, die nicht gewusst hatte, dass sie mit einem Goblin aus der Stahlwelt gesprochen hatte, hatte geantwortet: „Holz.“

Ganz sicher Holz?

Ziemlich sicher. Er hatte eindeutig kleine Schnitte nahe der Stelle gesehen, an der die Spitze am Ende montiert worden war. Und außerdem tiefe Zahnabdrücke, so als hätte sich jemand vorgebeugt und seine Zähne mit voller Wucht in die Waffe gebohrt, die seinen Bauch aufgespießt hatte.

Woraus hatte die Spitze bestanden?

Aus Eisen. Irgendwie abgeflacht. Sehr lang. Mit einer ausgefransten Kordel am Schaft.

Ich hatte genickt und ihn aufgefordert, mir mehr über seine Kriechtouren in der stinkenden Dunkelheit zu erzählen. Allerdings hatte ich bereits vor dem Ende seiner Geschichte beschlossen, dass wir dem „Salzlicht“ auf jeden Fall einen Besuch abstatten würden – wo neugeborene Prismen mit Speeren getötet wurden, die aus hölzernen Schäften und blattförmigen, mit Kordeln befestigten Spitzen gefertigt worden waren.

Und wieder einmal huschte dieses verfluchte Wort durch meine Gedanken. Elben. Elben. Elben ...

Gingen sie nicht Hand in Hand mit Magie, Waldleben, einem bezaubernden Aussehen und dem Hass auf alles Unbekannte? Ein hölzerner Speer hatte wahrscheinlich keine direkte Verbindung zu höheren Wesen, aber er hatte definitiv nichts mit unserer stählernen Welt zu tun, in der ein Speer ein angespitztes Stück Betonstahl war, das dir in einer dunklen Hintergasse in die Leber gerammt wurde.

Darüber hinaus war der Holzschaft aus einem echten Stück Holz. Ein angespitzter Ast oder der Stamm eines geradlinigen jungen Schösslings. Nein? Ähnliche Gedanken waren in meinem Kopf herumgeschwirrt, als ich meine Kämpfer durch die namenlosen Stahlgänge und Rohre voller stinkender Abwässer geschleppt hatte.

Und hier waren wir nun. In einem Schaufenster mit regelmäßigen Clownsshows, die die alten Bräuche und die Lebensweise eines Stammes von Rohtariern demonstrierten.

Nun ja, es war nicht gerade das, was ich erwartet hatte. Aber immerhin war die Insel von Wasser umgeben. Und hinter dem Wasser befand sich Land, ein dunkler Waldrand, und jenseits dessen ragte etwas in den Himmel hinein.

Und so ließ ich den bösen alten Girgol, der machtlos mit den Überresten seiner Zähne knirschte, und den noch älteren Itchi zurück und bewegte mich hocherfreut auf die Klippe zu. Von dort aus wollte ich direkt auf die Yarangas zusteuern, um Antworten auf einige noch sehr viel spezifischere Fragen zu finden.

Der Mutterfelsen, auch bekannt als Felsenmutter - oder treffender gesagt, die ausgehöhlte rötlich-braune Steinsäule -, machte keinen Eindruck auf mich. Optisch hatte es sicherlich seinen Reiz, auf eine Fülle von grünem und braunem Moos zu starren, das hoch oben auf einem Felsen außerhalb der Reichweite von grasenden Renen wuchs, allerdings war das auch schon alles. Und die Rentiere kamen trotzdem ziemlich hoch, wenn sie sich auf ihre Hinterbeine stellten und ihre geweihtragenden Köpfe zurückwarfen.

Als ich mit der Untersuchung der Säule fertig war, bemerkte ich die getarnten Eingänge zu den Med-Blöcken sowie die als Felsbrocken getarnten Handelsposten. Das bestärkte mich nur noch mehr in meiner Überzeugung, dass das Leben in dieser Gegend ein Trugbild war, auch wenn es realer erschien. Die Rohtarier lebten und starben tatsächlich und wurden erst danach auf die Müllkippe im Wald des Todes verfrachtet.

Den Inhalt der Handelsposten bekam ich nicht zu sehen, denn ich hatte meinen Finger gerade erst auf den fast unmerklichen dunklen Kreis des Sensors gelegt, als bereits ein kurzes, scharfes Signal ertönte und ein schmaler Spalt anmaßend rot aufblinkte.

Dieser Goblin war kein Narr. Dieser Goblin verstand sofort, dass dieser Handelsposten nicht für seine dreckige Visage bestimmt war. Nur edle Rohköstler durften hier handeln.

Wieder hatte ich Lust, einen Blick auf mein Interface zu werfen, und wieder ließ ich es trotz der Tatsache sein, dass meine Kämpfer nicht gerade für ihre Ausdauer bekannt waren und sich sicher längst mit den Verhaltensweisen des Systems vertraut gemacht hatten, das uns aus den Augen verloren hatte. Verloren und wiedergefunden – ein bisschen zu weit weg von Drainagestadt und seiner Umgebung. Die von Elbenscheiße übersäten Goblins hatten sich auf den Weg nach oben gemacht. Was stand jetzt an?

Ich würde später herausfinden, was das System mit uns vorhatte.

Im Moment verließ ich mich auf meinen Status als Truppführer, was für das System kein leeres Wort war. Und da meine Kämpfer nicht mit terror- oder angsterfüllten Augen zu mir gerannt waren, konnte nichts allzu Grauenvolles passiert sein.

Da konnte ich genauso gut die Örtlichkeiten genauer studieren.

Ich entfernte mich vom Felsen und schlängelte mich in Serpentinen um das Lager herum, schlenderte dann zwischen den Yarangas umher und blieb hier und da stehen, um den bewaffneten Männern die eine oder andere Frage zu stellen.

Ich erkundigte mich nach Geburt und Bewaffnung und scheute mich nicht, meine Frage vor dem nächstbesten Rohtarier zu wiederholen, selbst wenn ein zuvor Befragter alles hören könnte.

Gebar die Felsenmutter noch andere Wesen als Rohtarier?

Nein. Nein, das tat sie nicht. Warum sollte sie auch, wenn dies doch das Land der Rohtarier war? Es war schon immer so.

Also brachte sie keine Prismen zur Welt?

Was? Missgeburten wie den mit der Ritze am Arsch, der in dem Yaranga vor sich hin vegetierte? Nein, das tat sie nicht. Mutter bewahrte sie vor solcher Sippschaft.

Und was war mit Waffen? Speere mit Holzschäften und blattförmigen Spitzen?

Sie hatten Harpunen mit Holzschäften. Manchmal erlaubte Itchi das Fällen einer dürren Lärche oder brachte selbst eine zu Fall und ließ Girgol wissen, dass er sie einsammeln sollte. Die Rohtarier waren ziemlich tüchtig, wenn es um das Zerlegen eines Baumes in seine Einzelteile ging, und verwerteten jedes noch so kleine Ästchen. Blattförmige, also flache Spitzen gab es bei ihnen allerdings nicht. Sie erlegten Rentiere mit Messern, schnell und geschickt. Ihre Fischharpunen hatten zwei oder drei nadelartige Spitzen. Aber blattförmig? Was hätte man damit jagen sollen?

Nachdem ich eine Weile über ihre Worte nachgedacht hatte, begab ich mich zu den Damen, die mir eine Schale mit Brühe reichten, die braun vom gekochten Blut und voller Fleisch sowie halb verdautem Moos war. Ich stürzte mich begeistert auf das sättigende Gericht und sinnierte beim Kauen über mein Dilemma.

Wie war ein gliederloses Prisma mit einem abgebrochenen Speer in seinem Bauch auf die Insel gekommen?

Ich hatte mir noch nicht das Loch angesehen, durch das wir in diese Welt hinaufgestiegen waren, aber ich kannte seinen groben Standort. Ich würde mich auf den Weg dorthin machen, nachdem ich meinen Teller und meinen Löffel abgewaschen und einer Frau zurückgegeben hätte. Sie schnalzte beim Anblick meiner Muskeln anerkennend mit der Zunge. Ich trug nur eine Hose und einen offenen Pelzmantel. Meine ideal definierten Brustmuskeln und mein Sixpack zogen die Blicke der Frauen magisch auf sich, wenn auch mehr aus Überraschung als aus schwärmerischer Begeisterung. Mit einem brutalen und kräftigen Körperbau konnte ein Rohtarier nicht dienen. Es gab große und kleine Gestalten, breitschultrige und dickbäuchige, und der durchschnittliche Körperbau war das solide Resultat körperlicher Arbeit. Sie waren stark und zäh – ihre Kraft hatten sie sich durch das Schleppen schwerer Lasten und das Hüten und Einfangen von Wild verdient, jedoch nicht durch das Stemmen von Eisen.

Bald hatte ich das Loch zu unserer Welt gefunden. Es lag nicht weit von der Siedlung entfernt, versteckt zwischen einigen felsigen Hügeln in einem schmalen Teil der langgestreckten Insel.

---ENDE DER LESEPROBE---