Herrschaft der Clans - Die Rastlosen (Buch 5): LitRPG-Serie - Dem Mikhailov - E-Book

Herrschaft der Clans - Die Rastlosen (Buch 5): LitRPG-Serie E-Book

Dem Mikhailov

0,0
7,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Rosgard ist in den Besitz des einzigartigen Zaubers gelangt, der den Weg zum verlorenen Kontinent bahnt. Ihm bleibt also keine andere Wahl. Sein Charakter muss sehr viel stärker werden, bevor die Große Expedition beginnt. Oder er muss den Zauber aufgeben und ihn an jemand anderen weitergeben. Doch die Chance darauf, eine Legende Waldyras zu werden, einfach verspielen? Niemals. Das Spiel stellt Rosgard und sein Team jedoch vor eine neue Herausforderung: Sie müssen das Ultimatum der Krabber, einer aggressiven Unterwasserrasse, annehmen und sich auf eine schwierige und gefährliche Mission begeben. Ein Scheitern würde schreckliche Konsequenzen nach sich ziehen. Gleichzeitig gelingt es kaum noch, die Identität des Großen Navigators geheim zu halten. Immer mehr Menschen erfahren, dass niemand anderer als Rosgard der Navigator ist. Die Lage spitzt sich zu. Unser Held muss sich sowohl in der realen Welt als auch im Spiel bedeckt halten. Schließlich geht es um Millionen von Dollar. Könnte dies der Zeitpunkt sein, an dem Rosgard wieder Kontakt zu seinem Vater aufnimmt, um ihn um Hilfe zu bitten? Die Vater-Sohn-Beziehung ist zerrüttet, nachdem beide jede Verbindung zueinander gekappt haben. Ros könnte die Hilfe seines Vaters aber wirklich gut gebrauchen. Dann sind da noch die Rastlosen, die Rosgard unter allen Umständen auf ihre Seite ziehen wollen. Doch der Navigator hat kein Interesse an einem Konflikt mit dem mächtigsten Clan des Spiels, auch wenn er seine eigene Freiheit über alles schätzt. Soll er weiter seine eigene Strategie verfolgen oder sich dem starken Clan anschließen? Ros steht vor einer schwierigen Entscheidung. Und die Zeit bis zur Großen Expedition vergeht immer schneller.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Über den Autor

Herrschaft der Clans - Die Rastlosen

Eine LitRPG-Serie von Dem Mikhailov

Buch #5

Magic Dome Books

in Zusammenarbeit mit

1C-Publishing

Herrschaft der Clans - Die Rastlosen. Buch #5

Originaltitel: Clan Dominance: The Sleepless Ones. Book #5

Copyright © Dem Mikhailov, 2021

Covergestaltung © Ivan Khivrenko, 2021

Designer: Vladimir Manyukhin

Deutsche Übersetzung © Katharina Baxter de Aizpurua, 2022

Lektor: Youndercover Autorenservice

Herausgegeben von Magic Dome Books in Zusammenarbeit mit 1C-Publishing 2022

Anschrift: Podkovářská 933/3, Vysočany, 190 00 Praha 9

Czech Republic IC: 28203127

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Buch ist nur für deine persönliche Unterhaltung lizensiert. Das Buch sollte nicht weiterverkauft oder an Dritte verschenkt werden. Wenn du dieses Buch mit anderen Personen teilen möchtest, erwirb bitte für jede Person ein zusätzliches Exemplar. Vielen Dank, dass du die harte Arbeit des Autors respektierst.

Die Personen und Handlung dieses Buches sind frei erfunden. Jede Übereinstimmung mit realen Personen oder Vorkommnissen wäre zufällig.

Laden Sie unseren KOSTENLOSEN Verlagskatalog herunter:

Geschichten voller Wunder und Abenteuer: Das Beste aus LitRPG, Fantasy und Science-Fiction (Verlagskatalog)

Neue Bestellungen!

Aufgetaut (Unfrozen) LitRPG-Serie

von Anton Tekshin

Die Triumphale Elektrizität Steampunk Roman

von Pavel Kornev

Phantom-Server LitRPG-Serie

von Andrei Livadny

Der Neuro LitRPG-Serie

von Andrei Livadny

Einzelgänger LitRPG-Serie

von Alex Kosh

Herrschaft der Clans - Die Rastlosen LitRPG-Serie

von Dem Mikhailov

Deutsche LitRPG Books News auf FB liken: facebook.com/groups/DeutscheLitRPG

Erstes Kapitel

Ein Riesentrottel. Und meine Freunde erst. Zu Boms Verzückung.

DAS ULTIMATUM!

Anforderungen: Finde Digratius!

Finde Digratius, den in den Wahnsinn getriebenen göttlichen Beschützer der Krabber Waldyras, und bringe ihn entweder zu den Krabbern oder verrate ihnen seinen genauen Aufenthaltsort!

Zeit, um die Bedingungen des Ultimatums zu erfüllen: fünf Tage!

Werden die Bedingungen des Ultimatums nicht fristgerecht erfüllt, so werden Crack-Krabber-Truppen in die Lebensräume der Tucker-Ausgestoßenen eindringen und eine Ausrottungskampagne gegen sie beginnen.

Werden die Bedingungen des Ultimatums fristgerecht erfüllt, belästigen die Krabber keine der großen Städte Waldyras mehr. Ehren und Geschenke, die der ältesten Krabberhäuptlinge würdig sind, werden jenen zuteil, die die Bedingungen erfüllen.

Wird das Ultimatum rundweg abgelehnt, so werden Crack-Krabber-Truppen in die Lebensräume der Tucker-Ausgestoßenen eindringen und eine Ausrottungskampagne gegen sie beginnen. Du und alle anderen Mitglieder deiner Gruppe (alle, die in den letzten 60 Minuten dabei waren) werden auf ewig zu Todfeinden der Krabber erklärt.

Das Ultimatum wurde ANGENOMMEN!

Für die Annahme verantwortlicher Spieler: Rosgard. Höchste Verantwortung.

Countdown bis zum Ende des Zeitlimits: 4 Tage, 23 Stunden und 36 Minuten.

ICH SASS IN einer Pfütze mit abgestandenem Wasser, die Beine an die Brust gezogen, den Kopf in die Hände gestützt, und wiegte mich sanft hin und her. Oh Mann. Was hatte ich nur verbrochen, um von so viel Pech verfolgt zu werden?

Die letzten drei Zeilen waren besonders ermutigend. Deutlicher konnte man eine Drohung wohl nicht aussprechen.

Doch das Ultimatum war nun angenommen. Und unabhängig davon, ob meine Entscheidung von meinen Freunden beeinflusst worden war oder nicht, würde ich, wenn ich die Bedingungen des Ultimatums nicht erfüllte, für die Konsequenzen verantwortlich sein. „Höchste Verantwortung“ eben.

Wenn die geächteten Tucker umkämen, würde ich die ganze Schuld auf mich nehmen müssen. Andere Teilnehmer waren in weitaus geringerem Maße involviert und durften damit rechnen, dass ihr Ruf bei der einen oder anderen Fraktion viel weniger leiden würde, falls wir scheiterten.

Jetzt konnte ich nachvollziehen, was mein Vater, der Marineoffizier, mir immer gesagt hatte: „Jede Entscheidung ist eine große Verantwortung.“

„Nichts als Zoff“, murmelte ich, während ich den Text des Ultimatums noch einmal las.

„Sprichst du mit mir?“, fragte Kyrea und wischte sich mit einer schmutzigen Hand über ihr noch schmutzigeres Gesicht.

„Du geh mir lieber aus der Sonne!”, blaffte ich.

„Ros! Man muss doch Mitleid mit den Tuckern haben!“

„Genau! Mitleid mit uns!”, wiederholte Glupsch Klotz, der mit einem Platschen aus einer nahegelegenen Pfütze aufgetaucht war, wie ein Papagei.

„Und du hältst den Mund!“, rief ich. „Du … Schildkrötensnack!“

„Ros, du hast das Ultimatum bereits akzeptiert, jetzt brauchst du dich auch nicht mehr aufzuregen“, sagte Kyrea die Beschützerin beschwichtigend. „Wir werden uns etwas einfallen lassen. Lasst uns die Loot einsammeln, uns in irgendein Fischrestaurant teleportieren und ein bisschen nachdenken!“

„Hach. Fisch“, seufzte der Tucker verträumt.

„Mitleid. Von wegen“, grummelte ich. „Wenn ich jeden Trottel, äh, jeden Tucker meine ich, bemitleiden würde, wäre mir das Mitleid schon längst ausgegangen. Stimmt’s, Tyrann?“

„Rrrwuff!“ Das extrem schmutzige, triefend nasse Fellknäuel an meinen Knien war eindeutig meiner Meinung. Armer Tyrann, man sah ihm weder an, dass sein Fell tatsächlich schwarz und weiß war, noch, dass er Legendenstatus besaß. Dann machte sich das Wolfsjunge wieder daran, irgendein halb totes Geschöpf zu malträtieren – einen Aal vielleicht oder ein Neunauge.

„Wenigstens einer hier, der auf meiner Seite ist.“ Ich seufzte. „Also gut. Bom! Leute! Meine Geduld ist langsam zu Ende, wie lange wird es noch dauern?“

„Boss! Also hör mal! Wir haben gerade erst angefangen“, röhrte der riesige Halbork, der bis zu den Knien im zähen Schlamm stand und diesen mit bloßen Händen durchwühlte. „Es gibt hier noch verdammt viel auszugraben! Sachen zum Mitnehmen, Sachen, die wir in die Rucksäcke packen müssen! Es gibt noch jede Menge!“

Unsere kleine Gruppe sammelte überall auf dem Schlachtfeld Beute ein – hier lag so viel, dass wir tatsächlich ständig darüber stolperten.

„Du gräbst hier schon seit einer halben Stunde herum und machst alle möglichen anderen Sachen!“, protestierte ich.

„Und es gibt keine Fische!“, mischte sich der vermaledeite Tucker wieder ein, der gerade wieder aus dem Matsch aufgetaucht war.

Der kleine Mistkerl log wie gedruckt. An Fischen mangelte es ihm nicht. Im Gegenteil, die Höhle sah aus, als hätte hier jemand sehr erfolgreich dynamitgefischt.

Bom zuckte mit den breiten Schultern und ignorierte die Sumpfkreatur.

„Was würdest du denn tun? Wir müssen weitergraben! Schau dir die Beute hier an! Denkst du etwa, wir sollten sie einfach liegen lassen, Ros? Bleib du nur dort in deiner Pfütze sitzen und mach den Chef: kopflos und die Hosen nass vom Stress.“

„Sehr witzig!“, brummte ich und ignorierte Kyres Gelächter.

Sie hatte gut lachen. Ihrer Hartnäckigkeit war es zu verdanken, dass ich das idiotische Ultimatum der Krabber akzeptiert hatte. Die Beschützerin der Mittellosen und Unterdrückten? Ich schnaubte. Die Suppe auslöffeln durfte am Ende ich. Oder besser gesagt, wir alle. Das Ultimatum betraf jeden einzelnen von uns. Immerhin eine willkommene Abwechslung, dass ich diesmal Gesellschaft hatte. Zuvor war ich meistens mutterseelenallein in der Jauchegrube gelandet. Aber die anderen steckten nur bis zum Hals in der Scheiße. Mir reichte sie bis weit über die Ohren.

„Da ist mehr! Und noch mehr! Und noch viel, viel mehr!“, frohlockte Bom, während er sich durch den Schlamm harkte.

Ich hoffte inständig, dass unseren Mule nicht vor lauter Aufregung der Schlag traf. Der Rest freute sich ebenfalls, blieb aber relativ zurückhaltend. Der kahlköpfige Elf scherte sich nicht um materielle Dinge. Er schob träge einen Haufen Knochen mit seinem Fuß hin und her. Er war meinem Rat gefolgt und hatte sich einen mächtigen Geisterdiener zugelegt. Das Ding, das hinter seinem Rücken lauerte, übersah ich großzügig, sonst hätte ich auch noch den Verstand verloren.

Es lag mehr Beute herum, als wir schleppen konnten. Wir hatten ganze Scharen von Feinden ausgerottet. Richtig mächtige und eine Menge kleinerer. Ein buchstäbliches Massaker, wie ein taktischer Atomschlag, der eine dicht besiedelte Lagune traf. Selbst ich fischte immer wieder Gegenstände aus dem Schlamm, ohne auch nur mein Hinterteil aus meiner Pfütze bewegen zu müssen. Da waren Knochen, Schädel, Zähne, Schwänze, Eingeweide, winzige Fläschchen gefüllt mit nicht identifizierbaren Flüssigkeiten, die Reißzähne unbekannter Arten, Schuppen, Augäpfel, Flossen. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wie viele leere Fläschchen meine Gefährten mitgebracht hatten, aber es gab mehr als genug von dieser „flüssigen Loot“.

Callen und Orbit sammelten gelegentlich Gegenstände ein, warfen mir aber immer wieder erwartungsvolle Blicke zu. Sie langweilten sich wohl bereits und sehnten sich nach etwas „Interessaaantem“.

„Na, woran denkst du?“, fragte Kyre und streckte mir einen widerlich gelben Augapfel entgegen, dessen Pupille direkt auf mich gerichtet war.

„Daran, wie viel Zeit uns bleibt“, antwortete ich abwesend. Mit einiger Mühe sammelte ich mich. „Und welche Informationen wir brauchen. Und ans Geld. Was Ersteres betrifft, kommt es auf das richtige Timing an. Es gibt viele Informationsquellen. Wir sollten auf keinen Fall Gasthäuser und Bibliotheken vergessen. Was das Geld angeht … Verdammt, wir brauchen einen Haufen davon. Irgendeine Idee, wo wir eine riesige goldene Statue oder so was stehlen und an den nächstbesten Hehler verkaufen könnten?“

„Du sollst nicht stehlen“, entgegnete unser tapferer Paladin scharf. „Das gilt auch für die Zerstörung von Kunstwerken. Was das Geld angeht, ach, ich bin sicher, dass uns etwas einfallen wird.“

„Ich habe nicht die geringste Absicht, den Goldschatz deines Clans auszugeben“, sagte ich mit einem Schnauben und schüttelte den Kopf.

„Musst du auch nicht“, sagte Zoff und grinste. „Kein Grund dazu. Wir haben Loot und wir haben dich. Mir ist sogar schon ein Plan eingefallen. Wir werden uns hier rausteleportieren, sobald unsere Säcke voll sind. Hey, Bom!“

„Ja?“

„Du kannst gut verhandeln, nicht wahr? Leugnen zwecklos, ich habe dich schon in deinem Element gesehen.“

„Klar kann ich das!“, sagte der Halbork schroff. „Wenn du letztens nicht mit einer Tasche voller Geld in den Laden gestürmt wärst, hätten wir ein besseres Geschäft machen können. Da stehe ich und beschwere mich darüber, wie arm ich bin und heule fast, und dann spazierst du herein und sagst: ‚Bist du der Typ, dem ich diesen Sack voll Gold geben soll?‘ Verdammt! Wir hätten das Zeug zu viel besseren Bedingungen bekommen können, weißt du?“

„Sehr gut“, sagte Kyre und nickte nachdenklich. „Als Nächstes gehen wir also zum Alchemiemarkt. Höchste Zeit, uns an die Arbeit zu machen. Zumal wir ja den großen Rosgard dabei haben.“

„Könntest du dich vielleicht genauer ausdrücken?“, fragte ich, von einer unheilvollen Vorahnung überkommen. „Der Teufel steckt bei dir immer im Detail.“

„Das wirst du alles schon selbst sehen“, sagte Kyre beiläufig und schenkte mir ein breites Lächeln, das wirklich alles hätte andeuten können. „Du musst dich auch nicht anstrengen. Nur dastehen und lächeln.“

„Aha. Und wieso genau?“

„Habe ich nicht gerade gesagt, dass du bald alles selbst sehen wirst? Ich zeige dir, wie man auf ehrliche Weise Geld verdient, indem man einfach nur dasteht und lächelt. Alles legal. Nur ein bisschen unverschämt vielleicht.“

„Oh, Ros, komm schon! Einfach dastehen und lächeln!“

„Das tu ich doch“, knurrte ich und versuchte, meine frustrierte Grimasse in ein breites Grinsen zu verwandeln, bei dem alle meine virtuellen Zähne schimmerten. Meine Wangen fühlten sich bereits an, als stünden sie kurz vor einem Krampf.

„Dann bleib ruhig stehen!“

„Das ist genau das, was ich tue! Sehe ich vielleicht aus wie eine Werbetafel?“

„Absolut! Eine wandelnde Werbetafel! Bitte schön lächeln!“

„Cheese!“ Der muskulöse Arm eines mir unbekannten Halbork-Spielers mit einem knallroten Irokesenschnitt und mindestens einem Kilo Piercings im Gesicht legte sich um meine Schultern. „Ein Lächeln und ein Peace-Zeichen, bitte! Super, und jetzt der Schnappschuss!“

„Erledigt“, zwitscherte Callen. „Gleich hast du den Screenshot. Danke!“

Der Halbork nahm seine Pranke weg, klopfte mir auf die Schulter und sagte: „Du bist schwer in Ordnung, Alter“, bevor er ging.

„Ebenso!“, antwortete ich mit rauer Stimme, mein steifes Lächeln immer noch im Gesicht.

Was für eine lächerliche Aktion. Heiliger Bimbam. Wozu hatte ich mich da wieder überreden lassen?

Nun, wozu ich mich hatte überreden lassen, war, auf einer kanzelartigen Holzkonstruktion zu stehen, die von einem smaragdgrünen Teppich bedeckt war. Daran prangte ein riesiges Schild, auf dem stand: „ROSGARD! Hol dir dein Foto mit einer lebenden Legende!“

Das Schild war von einem professionellen Künstler, den Kyre angeheuert hatte, in einer fetten Schrift gemalt worden, die sofort jedermanns Aufmerksamkeit erregte. In der unteren rechten Ecke eine kleine gedruckte Zeile, die den bescheidenen Preis angab. Nur drei Goldstücke.

Kyre höchstpersönlich hatte dafür gesorgt, dass ich halbwegs kultiviert aussah. Sie hatte mir befohlen, mich zu waschen, hatte mir eine Frisur verpasst und einen schicken Anzug gefunden. Ich war ganz in Samt gekleidet, der der Charakterstatistik keine Boni gab, aber auffällig war und von Weitem sichtbar. Ein dunkelrotes Wams mit einer doppelten Reihe versilberter Knöpfe und Stickereien in passender Farbe und gut polierte Stiefel, die sie ebenfalls eilig irgendwo aufgetrieben hatte. Sie waren groß und hatten, den Sporen nach zu urteilen, eindeutig einem Kavallerieoffizier gehört. Tyrann, mein schwarz-weißes Wolfsjunge, war gründlich gewaschen und adrett gebürstet. Er saß neben meinem rechten Bein und genoss hechelnd die Aufmerksamkeit. Das legendäre Haustier eines legendären Haustierbesitzers. Links von mir saß der Tucker, ebenso gründlich gewaschen und adrett gebürstet, sein kahler Schädel sauber poliert. Er kaute an einem riesigen Fischschwanz und lächelte selig.

Doc und Callen, unsere beiden Marktschreier, waren damit beschäftigt, immer mehr Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Und sie taten es laut und ohne Unterlass. Sie leierten eine ständige Litanei meiner Erfolge in Waldyra herab. „Das ist der Rosgard!“, oder „Rosgard der Einzigartige“. Sie nannten mich „erstaunlich“, „wunderbar“ und „großartig“. Ich kam mir bald vor wie der sagenhafte Zauberer von Oz, der in der Smaragdstadt saß und darauf wartete, dass Vogelscheuche erschien, gefolgt von Blechmann mit bluttriefender Axt … Verdammt!

Orbit schlurfte auch irgendwo herum und rief gelegentlich etwas nach dem Motto: „Er ist interessaaant, das könnt ihr mir glauben!“ Ich konnte nicht behaupten, dass mich das aufheiterte, aber er trug definitiv seinen Teil zur Zirkusatmosphäre bei. Weniger durch seine besonders exzentrische Art der Marktschreierei, sondern eher dank der riesigen gespenstischen Gestalt, die ihm auf Schritt und Tritt folgte.

Ich hatte es immer vorgezogen, nicht aufzufallen, also war mir das Theater gerade zehnfach unangenehm. Es half aber alles nichts, denn wir brauchten richtig viel Geld. Augen zu und durch. Ich setzte mein Grinsen wieder auf.

Etwa fünf Schritte weiter lag ein riesiges Stück Stoff auf dem Boden – unser improvisierter Marktstand. Noch lag dort nichts, aber das würde nicht lange so bleiben. Bom und Kray waren damit beschäftigt, den Inhalt ihrer Säcke zu durchwühlen. Hinter ihnen hatten sich zwei Stadtwächter aufgebaut, die einschüchternde Blicke nach links und rechts warfen und die meisten potenziellen Diebe allein durch ihr Aussehen abschreckten. Diese Wachen waren ebenfalls von Kyrea der Beschützerin angeheuert worden. Sie selbst wuselte geschäftsmäßig von hier nach dort.

Als Nächstes kam eine lächelnde Elfe in einem äußerst provokativen Outfit aus mehrfarbigen Blütenblättern herangehüpft und lehnte sich an meine Schulter. Ich setzte mein unbeholfenes Lächeln gern wieder auf, als ich den flüchtigen, aber äußerst eifersüchtigen Blick bemerkte, den Kyre mir zuwarf, während sie wie ein Meteor an mir vorbeizog. Sah mich diese Frau doch tatsächlich an, als hätte sie mich in flagranti erwischt! Dabei war das Ganze ihre Idee gewesen. Dachte sie wirklich, nur männliche Spieler würden ein Foto mit mir wollen?

Es war gesteckt voll – der Alchemiemarkt, ein provisorischer Markt auf einem der nicht zentralen Plätze Algoras, war nie leer. Wir hätten es am Platz der Sieben Brunnen versuchen können, aber es gab dort nie Händler, die es auch ernst meinten. Und solche brauchten wir, um all unsere Beute zu verkaufen. Das meiste davon waren nämlich Zutaten für die Alchemie. Molchaugen, Froschzehen und dergleichen.

Hier waren überall Stände, deren Besitzer laut ihre Waren anpriesen. Ihr Geschrei erfüllte die Luft, alle waren in Eile, ihre Bestände so schnell wie möglich zu verkaufen. Alchemiezutaten waren schließlich verderblich. Einige verkauften nur Sachen, die sie von Mobs bekommen hatten, während andere zuerst die Zutaten kauften und verarbeiteten und dann fertige Tränke verkauften. Das Geschäft florierte hier, ganz wie in einer Markthalle.

„Heilkräuter! Frisch! Schnell zugreifen!“

„Zwei Nashornhörner! Teuer und wertvoll! Ein schwarzer Stoßzahn vom Wollhaarmammut!“

„Jede Menge Loot aus den Moderlanden!“

„Hängmoos-Sekretionsdrüsen und Schnellstampfer-Knochen! Kommt, kommt! Mengenrabatt!“

„Elfengrün aller Art! Kommt und holt es euch!“

„Lebende Blutegel aus dem Schwarzrabensumpf! Alle von ihnen sind von Ausstrahlungen göttlicher Wut durchdrungen! Guter Preis!“ Der Verkäufer war ein stämmiger Zwerg, dessen Erscheinungsbild darauf hinwies, dass er ein Tank mit jeder Menge HP sein musste. „Holt sie euch hier!“

Mehrere Spieler stürmten gleichzeitig auf den Blutegel-Typen zu. Alle redeten sie auf ihn ein und feilschten, was das Zeug hielt. Ausstrahlungen göttlicher Wut waren teuer. Außerdem musste man sie erst noch aus den Blutegeln extrahieren.

„Seerosenblätter und -blumen aus dem Abrahamoss! Das Angebot ist begrenzt! Heute Morgen gesammelt!“

„Schneckenschleim! Ganz frischer Schneckenschleim!“

„Tuckeraugen, drei Dutzend!“, platzte ein menschlicher Spieler in einem dunklen Umhang heraus. „Oha …“

„Schnappt ihn euch!“, röhrte eine der Wachen. „Schnappt euch den Verbrecher!“

Zwei weitere Wachen hefteten sich an die Fersen des Spielers. Die Menschenmenge auf dem Platz teilte sich. Der glücklose Tuckeraugenverkäufer rannte in halsbrecherischer Geschwindigkeit davon. Was für ein Idiot. Was zum Teufel hatte er erwartet? Tucker waren eine empfindungsfähige Rasse, die die Gottheiten des Lichts verehrte, daher war der Verkauf ihrer Körperteile auf einem offiziellen Markt strengstens verboten. Jemand, der einen solchen Handel versuchen wollte und auch nur einen Funken Verstand besaß, hätte das auf dem Schwarzmarkt getan, wo jede Sekunde Dutzende ähnlicher Geschäfte abgeschlossen wurden. Er musste ein absoluter Newbie sein, der nicht wusste, wie die Dinge hier in Waldyra liefen. Den Wachen würde er niemals entkommen, es sei denn, er besaß eine Teleportationsrolle. Ich war froh, dass Glupsch Klotz nichts gehört hatte, sonst hätte auch er den Spieler gejagt, und den Tucker anschließend in der Menge wiederzufinden, wäre ein schönes Stück Arbeit gewesen.

Die Elfe, die mich gerade umarmt hatte, drückte mir einen Kuss aufs Ohr und eilte dann fröhlich lachend davon. Kyre funkelte mich an. Ich seufzte. Frauen!

„Hey!“, schnurrte eine Stimme dicht an meinem Ohr. „Ich interessiere mich auch für die lebende Legende! Hallo!“

Ich drehte meinen Kopf in Richtung der Stimme und zuckte zusammen. Die Person, die mir eben den Arm um die Schulter gelegt hatte, war keine andere als die Schwarze Baronin. Sie stand in voller Ledermontur da und hatte ein breites Grinsen aufgesetzt. Ihr Haar wallte über eine Schulter und ihre Augen leuchteten keck. Bevor ich etwas sagen konnte, fing die Menge an, mit beachtlicher Lautstärke zu tuscheln.

„Die Baronin!“

„Es ist die Baronin!“

„Wer ist das?“

„Bist du ein totaler Noob, Mann? Die Baronin!“

„Wow, der Clan-Anführer der Rastlosen! Und der Blutrote Luchs ist auch da! Dort neben ihr, siehst du ihn nicht?“

„Leute! Die Schwarze Baronin kuschelt dort oben mit Rosgard! Zwei Legenden zum Preis von einer, mit einem seltenen Haustier als Zugabe! Darf ich ein Foto mit euch machen? Was kostet es? Ich werde nicht feilschen!“

„Du wirst immer bekannter“, flüsterte die Baronin und zeigte immer noch ihr strahlendes Lächeln.

Ich riss mich zusammen und grinste ebenfalls wieder in die Menge. „Zu deiner Information: Wir sind nur auf die Kohle aus.“

„Hey, warum hast du dann nicht mich gefragt?“, sagte die Anführerin der Rastlosen mit sehr leiser Stimme. „Wie viel brauchst du?“

„Wir kommen allein zurecht“, schnaubte ich.

„Beeessie! Lass ihn in Ruhe!“, sagte Orbit verärgert. Seine zerfetzten Ohren zuckten bedrohlich.

„Ich bin nur kurz vorbeigekommen.“ Die Baronin schenkte ihrem Bruder ein liebevolles Lächeln.

Kyrea die Beschützerin rollte die Augen. „Also wirklich ...“

„Sag schon, Rosgard, wie viel Gold brauchst du?“ Die Baronin ließ nicht locker.

„Ich hab‘ es dir doch gerade gesagt. So ist es viel interessanter. Wir schaffen es mit den Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen.“

„Oh, ganz bestimmt. Sag, hast du meine Einladung bekommen?“

„Ja.“

„Ja und weiter?“

„Ich bin auf jeden Fall dabei. Mit ein paar Freunden.“

„Freunde sind immer willkommen.“ Die Baronin warf mir ein Lächeln zu und drehte sich anmutig weg. „Also, geben wir der Menge, was sie will? Hallo, Freunde! Wer sich mit uns fotografieren lassen möchte, kann dies gern gleich jetzt tun! Es ist kostenlos! Nur du allein oder bring deine Freunde mit!”

„Kostenlos?“, entrüstete Bom sich, doch er verstummte, als er den Blutroten Luchs auf sich zukommen sah, der ihm prompt einen Beutel in die Hand drückte, dessen Inhalt verheißungsvoll klimperte.

Die Menge brüllte und wurde noch aufgeregter. Ich nahm nichts mehr eindeutig wahr. An die nächste halbe Stunde konnte ich mich kaum erinnern. Händeschütteln, Schulterklopfen, Umarmungen. Spieler, die sich an mich drückten und mit dröhnenden bis flötenden Stimmen mit mir sprachen. Ich behielt immer noch mein gespreiztes Lächeln auf den Lippen und fing sogar an, dem Publikum Küsschen zuzuwerfen.

Als die Qual endete, war ich völlig ausgelaugt. Die Baronin hingegen sah frisch und munter aus und lächelte immer noch genauso strahlend wie zuvor. Übung macht den Meister, dachte ich.

„Ich freue mich so auf deine Anwesenheit später“, schnurrte die Baronin und trat zur Seite.

„Baronin! Baronin! Wir sind vom Waldyra Boten! Können wir dir bitte eine Frage stellen?“ Eine sommersprossige Frau mit unnatürlich blauen Augen hüpfte vor Ungeduld beinahe auf und ab. Der Elf mit dem seltsam malvenfarbenen Haar neben ihr nickte bekräftigend. Seine etwas glasigen Augen starrten uns direkt an. Offenbar war er der Kameramann, der keine andere Ausrüstung als seine eigenen bernsteinfarbenen Augen benutzte.

„Solange es nur eine Frage ist.“

„Kennst du Rosgard?“

„Oh, natürlich“, antwortete das Oberhaupt der Rastlosen. „Wir sind gute Freunde. Rosgard steht in einem freundschaftlichen Verhältnis mit unserem Clan. Das ist meine offizielle Stellungnahme.“

Die Stimme in meinem Kopf lief schreiend im Kreis, der Rest von mir stand immer noch da, mit einem aufgesetzten Lächeln im Gesicht.

Die Schwarze Baronin hatte es gerade allen verkündet: Rosgard stand unter dem offiziellen Schutz der Rastlosen.

Verdammt! Ganz Waldyra würde davon Wind bekommen – zumindest alle Spieler, die auch nur im Entferntesten an der Sache interessiert waren.

Die Baronin schenkte uns allen zum Abschied ein Lächeln und verschwand im schillernden Strudel ihres Teleports, gefolgt vom wortkargen Blutroten Luchs.

Ich stand da und begriff nicht ganz, was da gerade passiert war. Halb Waldyra würde sich nun fragen, warum ich unter dem Schutz der Baronin höchstpersönlich stand. Wozu in aller Welt hatte sie so viel Aufmerksamkeit auf meine unbedeutende Wenigkeit lenken müssen?

Andererseits war die Tatsache, dass es zwischen den Rastlosen und mir eine gewisse Verbindung gab, kaum ein Geheimnis – jeder, der das Video gesehen hatte, in dem Flüsterer und ich Hackfleisch aus Madame Fäulnis machten, wusste das.

Wahrscheinlich nahm man einfach an, dass die Baronin den legendären Rosgard in den Clan aufnehmen wollte. Jeder Clan war schließlich erpicht darauf, so viele prominente Spieler wie möglich in seinen Reihen zu haben. Das hätte sie sich bei mir wirklich sparen können. Ich jedenfalls hätte gut überlegt, bevor ich unnötige Aufmerksamkeit auf den Navigator lenkte.

„Dein Freund ist hier“, sagte Callen und riss mich aus meinen Träumereien.

Ich drehte mich um und sah Tapferlicht, den Alchemisten, der sich gerade seinen Weg durch die Menge bahnte.

„In Ordnung, Leute! Mittagspause!“, verkündete ich allen und stieg umständlich von der bühnenartigen Konstruktion ab. „Hey, na, wie geht’s?“

„Hallo!“ Der Alchemist schenkte mir ein strahlendes Lächeln. „Hier bin ich!“

„Schön, dich zu sehen. Du kommst gerade rechtzeitig. Hier sind die Säcke mit der Beute. Du bist mein VIP-Kunde und hast die erste Wahl, wie versprochen.“

„Bin schon gespannt!“ Tapferlicht rieb sich erwartungsvoll die Hände. „Alsdann, rein in den Schleimhaufen!“

„Tob dich aus!“, sagte ich und hielt Bom zurück, der gerade empört aufspringen wollte und schon seine Faust in Richtung des unverschämt in seiner heiligen Loot stöbernden Alchimisten reckte.

Ich hatte darauf bestanden, dass mein Bekannter, Tapferlicht der Alchemist, als Erster einen Blick auf die Beute werfen durfte. Er bekam nichts geschenkt, aber er hatte erste Wahl. Ich wollte mit ihm eine gute Geschäftsbeziehung aufbauen, und alle meine Begleiter wussten das. Bom hätte mit seinen Feilschkünsten zweifellos mehr für uns herausgeschlagen, aber so knapp bei Kasse waren wir auch wieder nicht und genug zu verkaufen hatten wir allemal. Ich hoffte, dass wir ein paar seltene Gegenstände in unseren Säcken hatten. Es war nicht alle Tage, dass man als Alchemist Beute aus dem Ozean in die Hände bekam, und Tapferlicht rechnete bestimmt damit, dass ihm das Zeug nicht billig kommen würde.

„Ist er denn so ein guter Alchemist?“, fragte Kyre leise und kam näher.

„Noch ein Anfänger“, antwortete ich mit einem Achselzucken. „Aber er ist ein tüchtiger Geschäftsmann und nicht dumm.“

„Ich verstehe. Du investierst in die Zukunft?“

„Zumindest versuche ich das.“

„In Ordnung, aber was ist mit unserem dringendsten Anliegen?“

„Da habe ich ein paar Ideen. Aber das können wir besprechen, wenn wir uns ausgeloggt haben.“

„Alles klar. Noch fünf Minuten, dann gehst du zurück auf die Bühne und lächelst brav.“

„Ach, verdammt, Kyre!“

„Du kannst mich ruhig beschimpfen, aber dein schiefes Grinsen hat uns schon einen Hunderter eingebracht, und da ist das Geld, das der Leibwächter der Baronin dem Halbork zugesteckt hat, noch nicht mitgerechnet! Da fällt mir ein, ich muss ins Gasthaus und ein paar Spuren überprüfen, die zu Digratius führen könnten. Und unsere Kostüme aussuchen!“

„Kostüme?“

„Ja, für den Maskenball der Rastlosen!“

„Aber die haben doch ihre eigenen, und die Gäste können sie sich aussuchen!“

„Ja, aber ich habe keine Ahnung, wie die aussehen. Vielleicht sind es Lumpen! Ich ziehe mir lieber etwas an, das mir auch gefällt. Ihr Männer kümmert euch doch sowieso nie um eure Kleidung.“

„Du bringst mich noch ins Grab, Zoff!“

„Abwarten! So, deine fünf Minuten sind um. Los, ab auf die Bühne mit dir und lächeln, was das Zeug hält.“

„Noch drei Minuten!“

„Zeit ist Geld! Leg einen Zahn zu!“

Ich seufzte niedergeschlagen, warf einen Blick auf Tapferlicht, der emsig seine gewünschten Beutestücke auswählte, und setzte meine Karikatur von einem Lächeln wieder auf. Dann stakste ich zurück zu der verfluchten Bühne. Zeit, Kohle zu scheffeln. Ich lächelte, bedankte mich, winkte und verbeugte mich. Auch andere waren beschäftigt, und ich hatte keinen Grund, mich zu beschweren.

„Lach mal, Rosgard!“ Der nächste Spieler kam auf mich zugeeilt, kaum, dass er Callen die drei Goldstücke in die Hand gedrückt hatte.

Also ging ich zurück auf die Bühne, mit dem strahlendsten Lächeln, das ich aufbringen konnte. Frei nach Freddie Mercury, dachte ich, the show must go on.

Zweites Kapitel

Spaß IRL und Realitätsreue

MEINE PROBLEME BEGANNEN in dem Moment, in dem ich mein Handy einschaltete.

Geistig und körperlich ausgelaugt kroch ich aus meinem Kokon, schleppte mich in die Küche und setzte Wasser auf. Dann drückte ich auf die Einschalttaste meines alten Mobiltelefons und dachte dabei gar nicht darüber nach, dass jemand meinen Standort per GPS verfolgen könnte. Ich war zu müde, um mich um solche Kleinigkeiten zu kümmern, und hatte außerdem nicht die Absicht, das Telefon länger als zwei Minuten eingeschaltet zu lassen.

Sobald ich jedoch einen Blick auf den Bildschirm geworfen hatte, war meine Müdigkeit wie weggeblasen.

318 verpasste Anrufe. Wer versuchte da so hartnäckig, mich unter meiner alten Nummer zu erreichen?

Noch bevor ich es geschafft hatte, einen genaueren Blick auf die Nummern des Anrufers zu werfen, vibrierte das Telefon in meiner Hand und zeigte ebendiese Nummer an.

Mein Vater! Es war mein Vater.

Verdammt. Ich hoffte inständig, dass er nicht derjenige gewesen war, der über 300 Mal versucht hatte, mich zu erreichen. Wenn er es gewesen war, musste er inzwischen richtig wütend sein. Meine Hände begannen so heftig zu zittern, dass mir das Telefon fast aus den ungeschickten, vor Angst beinahe tauben Fingern geglitten wäre. Diese Reaktion war wie ein Pawlowscher Reflex, auch wenn mein Vater mittlerweile nicht mehr so ein Kontrollfreak war wie früher. Dennoch hallte der arktische Wind jedes Mal in meinen Ohren wider, wenn ich an meinen Vater dachte.

Ich tippte unbeholfen auf die Annahmetaste und hielt das Telefon an mein Ohr.

„Hallo?“

„Hallo!“, sagte eine mir unbekannte Stimme, die jung klang und in der eine verschleierte Feindseligkeit mitschwang. „Ist da Rostislaw Grokhotov?“

„Ja“, sagte ich, jetzt besorgt. „Aber wer zum Teufel sind Sie und warum benutzen Sie das Telefon meines Vaters?“

„Eine Sekunde! Bitte leg nicht auf, ich gebe ihm das Telefon.“

Nach ein paar bangen Sekunden hörte ich das Echo eiliger Schritte in einem geschlossenen Raum. Es gab ein kurzes Rascheln, etwas Gemurmel, und dann hörte ich eine vertraute Stimme. Sie klang zugleich wütend und unerwartet erleichtert. Die Stimme meines Vaters.

„Rostislaw!“

„Papa?“

„Bist du es?“

„Was genau meinst du? Wer sollte es sonst sein?“

„Hast du eine Ahnung … äh … weißt du denn nicht, was du ...“, begann mein Vater, doch dann unterbrach er sich. „Sohn? Wo bist du? Bist du am Leben? Gesund? Frei? Mobil?“

„Hä?“, fragte ich verdattert.

„‚Hä‘? Was soll das für eine Antwort sein? Auf der Brücke melden! Und zwar sofort!“

„Hey, ja, mir geht's gut, Papa! Ich sitze zu Hause und bin kerngesund. Wenn du mit ‚frei‘ meinst, ob ich gerade Freizeit habe, dann ja, habe ich. Und mobil? Was ist das für eine seltsame Frage?“, antwortete ich der „Brücke“ mit einiger Verwirrung. „Was ist denn passiert? Wie geht es Mama? Geht es ihr gut?“

„Es geht ihr gut, aber sie ist sehr besorgt, dass das klar ist! Also! Du hast mir gesagt, du wärst zu Hause, aber du bist nicht in deiner Wohnung. Wo bist du?“

„Zu Hause, sag ich doch!“

„Nein, du bist nicht zu Hause! Wo bist du?“

„Zu Hause, verflixt noch mal! Ach so. Moment, das habe ich völlig vergessen. Ich bin umgezogen. Woher weißt du außerdem, dass ich nicht zu Hause bin?“

„Weil ich gerade in deiner Küche stehe.“ In der Stimme meines Vaters lag Erleichterung, gut kaschiert zwar, aber doch hörbar. „Du bist also umgezogen. Verstehe. Wie lautet deine neue Adresse?“

Mein Vater in meiner alten Küche?

Langsam fühlte sich alles an wie ein zäher Albtraum. Ich spürte, wie meine Kehle sich zuschnürte.

„Papa, was ist dir denn passiert?“ Die spürbare Nervosität meines Vaters war auf mich übergesprungen. Ich nannte ihn „Papa“, ein Wort, das in unserer Familie schon lange nicht mehr verwendet worden war. „Und warum bist du überhaupt in meiner Stadt? Und wie hast du es geschafft, in meine Wohnung zu kommen?“

„Mir ist überhaupt nichts passiert. Aber dir? Du bist völlig vom Kurs abgekommen! Du steckst bis zum Hals in Schwierigkeiten! Du bist kurz davor, auf ein Riff aufzulaufen, und das bedeutet das Ende für jedes Schiff!“ Mein Vater ignorierte den Rest meiner Fragen.

„Ich versteh nur Bahnhof. Was soll das heißen? Und ich habe die Nase voll von deinem ewigen Seemannsgerede!“ Langsam wurde ich wütend. „Vom Kurs abkommen, auf ein Riff auflaufen, und so weiter. Hältst du mich für ein Schiff?“

„Das Schiff ist dein Leben, und du bist der Steuermann. Aber du scheinst von der Seefahrt nichts zu verstehen“, kam die wütende Reaktion meines Vaters. „Ich habe dir eine einfache Frage gestellt! Wo bist du?“

„Nicht in der Nähe der Arktis, so viel ist sicher!“, schnauzte ihn an und bereute es sofort.

Ich wollte ihm nicht dumm kommen, aber ich hatte auch keine Lust, mich ausfragen zu lassen. So hatte ich mir mein erstes Gespräch mit meinem Vater nach der langen Funkstille nicht vorgestellt.

„Ich habe ein Haus gemietet“, sagte ich hastig, um das Gespräch von der Arktis-Episode abzulenken, die für uns beide traumatisch gewesen war. „Dieselbe Stadt, am Stadtrand. Ich möchte dir die Adresse nicht geben, mein Telefon könnte abgehört werden. Vielleicht ist es Paranoia, aber Vorsicht ist besser als Nachsicht. Es ist so, dass ...“

„Vorsicht ist besser als Nachsicht? Das ist das erste Vernünftige, was du bisher gesagt hast!“, bellte mein Vater. „Hast du eine andere Telefonnummer?“

„Ja, eine neue.“

„Ruf mich sofort von deiner neuen Nummer zurück. Bis gleich.“

„Aber was ist ...?“ Doch mein Vater hatte bereits aufgelegt.

Er war ein effizienter Mann.

Ich tauschte die SIM-Karten. Seine Nummer wusste ich auswendig und tippte sie ein.

„Hallo?“

„Ich bin es wieder“, sagte ich und seufzte. „Also, was ...?“

„Wie lautet deine Adresse?“

„Aber warum willst du ...?“

„Deine Adresse, Sohn! Schluss mit lustig!“

Mir blieb nichts anderes übrig, als mich dem Unvermeidlichen zu beugen, also teilte ich ihm meine neue Adresse mit. Ich war auf der Flucht und hatte mich vor allen versteckt. Doch mich vor meiner eigenen Familie zu verstecken, wäre eine Dummheit. Was meinen Vater betraf, so wäre ich freiwillig zu Fuß ans andere Ende der Welt gelaufen, um ihm zu entkommen. Aber es gab auch noch meine Mutter, die immer an seiner Seite war. Sie war eine zarte Seele, die zu Ängsten neigte. Ich wollte sie auf keinen Fall beunruhigen.

„Bleib, wo du bist“, sagte Vater mit einer Stimme, die keine Widerrede zuließ. „Warte dort. Wir sind gleich da.“

„Wer ist wir?“

Doch ich hörte wieder nur mehr Tuten in der Leitung.

Was zum Teufel war nun wieder los? Hatte ich irgendetwas verpasst, während ich in meinem Kokon gewesen war?

War ein Krieg ausgebrochen? Das schien unwahrscheinlich. In diesem Fall würde mein Vater einen Militärkreuzer steuern, anstatt in meiner Stadt nach mir zu suchen.

Nachdem ich kurz nachgedacht hatte, wählte ich hastig die nächste Nummer.

„Hallo!“ Die Stimme im Hörer klang müde, aber glücklich.

„Hallo, Kyre.“

„Perfektes Timing! Ich hatte gerade daran gedacht, wie nett es wäre, mich an dich zu kuscheln, aber das geht ja nicht, wenn du nicht da bist. Wo ist meine warme, menschliche Kuscheldecke, hm?“

„Deine warme, menschliche Kuscheldecke könnte bald an einen sehr abgelegenen und sehr kalten Ort strafversetzt werden“, sagte ich mit einem Seufzen. „Da braut sich etwas zusammen! Zoff vom Feinsten.“

„Was soll ich brauen?“, fragte Kyre verwirrt. „Ach so, du meinst tatsächlichen Zoff? Ärger? Was Ernstes?“

„Todernst, Kyre! Mein Vater ist in der Stadt und wird in Kürze bei mir sein. Am Telefon klang er stinksauer. Er hat versucht, sich nichts anmerken zu lassen, aber ich weiß genau, dass er wütend ist. Also, das ist die Lage bei mir. Falls etwas passiert ...“

„Falls etwas passiert? Ros! Was meinst du damit?“

„Ich habe keine Ahnung! Aber, nur für den Fall, würdest du mich begleiten, wenn wir an einen Ort weit weg von hier durchbrennen müssten? Nur du und ich und zwei Spielkokons?“

„Na und ob! Aber Tante Lena wäre uns sofort auf der Spur. Hey! Tante Lena! Nein, nicht! Lass das! Das ist mein Telefon! Mein Arm! Autsch! Tante Le...“ Ich hörte einen Schrei, den Klang einer Ohrfeige und dann eine ohrenbetäubende Stille. Mir lief der kalte Schweiß den Rücken hinunter.

Tante Lena ante portas. Hilfe ...

„Hallo.“ Die Stimme klang so kalt, dass mir augenblicklich die Haare zu Berge standen. Es fühlte sich an wie Waldyras Ermattung, nur im echten Leben.

„Hallo“, sagte ich und hustete ein wenig.

„Sie wollen also abhauen?“, fragte Tante Lena, die Kyre offensichtlich das Telefon abgeknöpft hatte, mit verdächtig sachlicher Stimme.

„Natürlich nicht! Das war nur so eine Redewendung ...“

„Das will ich auch hoffen, junger Mann. Wenn Sie beschließen, mein kleines Mädchen zu entführen, wenn Sie etwas so Dummes auch nur in Erwägung ziehen ...“

„Aber nein! Ich habe es nicht ernst gemeint! Das war nur eine Redewendung, wie gesagt. Das sagen sie normalerweise in all diesen Abenteuerfilmen. Schauen ... schauen Sie nicht auch manchmal solche Filme?“

„Ich bevorzuge Horrorfilme“, informierte Kyres Haushälterin mich mit eisiger Stimme. „In denen Menschen auf alle möglichen grausamen Arten und Weisen zu Tode kommen. Habe ich mich klar ausgedrückt, junger Mann?“

„Klar und deutlich!“

„Klar und deutlich?“

„Absolut!“

„Wunderbar.“

„Tante Lena, bitte gib mir mein Handy zurück!“, hörte ich Kyre im Hintergrund flehen. „Es ist nicht höflich, Leute zu belauschen!“

„Ich lausche nicht, ich kümmere mich um dich. Abhauen, dass ich nicht lache! Glaubst du, du bist hier in einer Telenovela? Señor Paniko del Durchbrennero und Señora Feuerundflamma?“

„Ich bin nicht in Panik! Und wir haben nicht vor, durchzubrennen!“

„In Ordnung“, sagte Tante Lena nach einer kurzen Pause. „Hier, nimm dein Handy zurück. Aber denk nicht mal dran!“

„Ros!“ Es war wieder Kyre. „Bist du noch da?“

„Nein, ich bin schon in Südamerika! Kyre! Könntest du vielleicht vorbeikommen? Ich würde mich viel besser fühlen, wenn du da wärst.“

„Absolut! Gib mir deine Adresse!“

Ich diktierte bereitwillig zum zweiten Mal meine neue Adresse. Mein Geheimversteck war ohnehin nicht mehr geheim.

„Ich bin in fünf Minuten da!“, sagte meine Freundin optimistisch.

„Das schaffst du nicht in fünf Minuten!“, japste ich. „Dafür ist es zu weit!“

„Ich fahre einen SUV! Alle anderen können meinen Staub fressen!“

„Fahr vorsichtig, okay? Ich möchte nicht, dass du einen Unfall baust oder jemanden überfährst!“ Beinahe hätte ich gesagt: „Wieder einen Unfall baust“, aber ich konnte mich beherrschen. Womöglich lauschte Tante Lena noch. „Womöglich“ war gut. Sie war definitiv noch in der Nähe und lauschte mit größter Aufmerksamkeit.

„Wie auch immer, ich warte hier auf dich, aber fahr nicht zu schnell, ja?“

„Ich bin sofort da!“

Tuten in der Leitung.

Tja. Da ich mich schon mal in Fahrt geredet hatte, dachte ich mir, könnte ich genauso gut noch jemanden anrufen. Wen gab es noch?

Dumme Frage. Meine Mutter natürlich. Ich kannte auch ihre Nummer auswendig.

„Hallo?“

„Hallo, Mama!“

„Rosti! Mein Liebling! Du lebst also noch, mein Sohn?“

„Natürlich lebe ich noch! Warum fragt mich das jeder? Ist etwas passiert, Mama?“

„Geht es dir denn gut? Gesund? In Sicherheit?“

„Fit wie ein Turnschuh, Mama! Was soll das alles? Ich bin ein großer Junge, was kann mir schon passieren? Es ist alles in Ordnung!“

„Gott sei Dank! Warum hast du so lange nicht angerufen? Wie konntest du mir das nur antun? Schämst du dich denn nicht?“ Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass ich noch lebte, ging meine Mutter in den Angriffsmodus über. Heute war echt nicht mein Tag. „Ich kann nachts nicht schlafen! Kann nichts essen! Gott sei Dank habe ich meine Pillen. Tagein tagaus warte ich auf einen Anruf von dir! Und du?“

„Mama, es tut mir leid. Es ist viel passiert. Es tut mir wirklich leid. Ich habe gar nicht bemerkt, wie die Tage vergehen.“

„Das ist doch wieder typisch! Da opfert man seine besten Jahre für sein Kind, und wie wird es einem gelohnt? Kummer und Sorgen, nichts als Kummer und Sorgen!“

„Es tut mir wirklich leid“, sagte ich erneut. Ich schämte mich wirklich. Ich war wohl kaum der Inbegriff eines guten Sohnes. Auch jetzt noch war meine Hauptmotivation für meinen Anruf eher, eine andere Perspektive der Geschichte zu hören, als mich nach dem Befinden meiner Mutter zu erkundigen. Ich hatte mich daran gewöhnt, dass mein Vater sich immer um sie kümmerte und sie beschützte. Ich seufzte. Was für ein beschissener Sohn ich war!

„Warum machst du dir überhaupt Sorgen? Warum die ganze Aufregung? Ich lebe schon seit Langem allein.“

„Er sagt, er lebt allein“, sagte Mama und schnaubte. „Warum kommst du denn nie vorbei? Du hast lange genug allein gelebt. Und ich habe sogar eine junge Dame gefunden, die dir gefallen würde. Sie ist wirklich großartig!“

„Kommt nicht infrage! Ich habe bereits eine Freundin, und es ist ernst!“

„Ach, wirklich? Wen denn? Wie alt? Ist sie hübsch?“

Eine Lawine von Fragen.

„Ich kann dir gern später alles erzählen. Jetzt würde ich aber gern mal wissen, warum Vater in meiner Wohnung ist?“

„Er ist im Urlaub! Er hat eine Woche zu Hause verbracht und dann beschlossen, eine ‚Überraschungsinspektion‘ durchzuführen, um herauszufinden, warum du nie abhebst und uns wenigstens sagst, wie es dir geht. Du kennst ihn ja.“

„Okay. Und was ist dann passiert?“

„Nichts! Als er in deine Stadt kam, rief er mich einmal an und sagte, alles in Ordnung, er sei auf dem Weg zu dir. Und dann ist er verschwunden! Ich rief ihn an, um ihn zu fragen, wie es dir geht, und er sagte nur wieder, alles in Ordnung. Aber ich kenne seine Stimme! Ich konnte sofort spüren, dass etwas nicht stimmt. Gott sei Dank hast du mich angerufen. Ich bin außer mir! Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?“

„Na klar! Hörst du doch, oder?“

„Ja, sicher.“ Meine Mutter seufzte. „Du liebe Zeit. Du bist genauso widerborstig wie früher. So habe ich dich schon lange nicht mehr sprechen hören.“

„Ich werde dich bald besuchen“, sagte ich schroff. „Zuerst muss ich mich nur um ein paar Dinge kümmern.“

„Unbedingt kommst du mich besuchen! Und bring deine Freundin mit, damit ich sie wenigstens kennenlernen kann, bevor ich auf einmal Oma werde! Und was ist mit Helen?“

„Meiner Ex? Was soll mit ihr sein? Was hat sie damit zu tun?“

„Nun, sie hat angerufen! Sie hat mich dreimal angerufen und nach dir gefragt. Wie es dir geht, wo du wohnst, warum dein Telefon abgestellt ist und wie sie dich finden kann!“

„Interessaaant“, murmelte ich in der Art des kahlen Elfen. „Ich habe sie erst neulich gesehen. Sie war mit ihrem neuen Verehrer im Park spazieren, und ich war mit meiner Freundin unterwegs.

„Ach so, sie ist also eifersüchtig!“

„Nach der Scheidung? Warum sollte sie das sein?“

„So sind die Frauen eben! Eifersüchtig! Sie behandeln dich wie ihr Eigentum!“

„Mama, du bist selbst eine Frau.“

„Ich bin in erster Linie deine Mutter, also mache ich mir Sorgen! Also, bleib in Kontakt. Und ich möchte, dass du von nun an mindestens dreimal pro Woche anrufst. Habe ich mich klar ausgedrückt?“

„Hast du. Werde ich. Bis dann, Mama! Ich muss jetzt los. Ich rufe heute Abend wieder an.“

„Ich warte auf deinen Anruf. Küsschen!“

„Ja, Küsschen, Mama. Wir hören uns später.“

Nachdem ich eine Weile dagesessen und vor mich hingestarrt hatte, kehrte ich zu der unterbrochenen Kaffeezubereitung zurück, das Telefon immer noch in meiner verschwitzten Hand.

Dann seufzte ich und tauschte schnell die SIM-Karten, um herauszufinden, wer außer meinem Vater und meiner Ex noch nach mir gesucht haben könnte. Gleich, nachdem ich die Karte eingelegt hatte, und noch bevor ich die ellenlange Liste der verpassten Anrufe durchgehen konnte, klingelte das verdammte Ding schon wieder. Offensichtlich war jemand sehr daran interessiert, mit mir in Kontakt zu treten.

Wer es wohl war?

Vlas höchstpersönlich.

Abheben oder nicht? Warum nicht? Schlimmer konnte es nicht mehr werden. Meine Anonymität war ohnehin bereits dahin wie ein Wassertropfen in der Wüste.

„Was ist los, Vlas? Was geht?“

„Du Mistkerl!“

„Ja, toll, ich freue mich auch, von dir zu hören.“

„Du Pimmel!“

„Sehr kreativ, das muss ich in mein Schimpfvokabular aufnehmen.“

„Du Arschloch!“

„Ein Klassiker.“

„Ich werde dir den Arsch aufreißen!“

„Okay, bis dann, Vlas.“

„Nicht so schnell, Ros!“

„Was denn noch?“

„Weißt du eigentlich, dass dein Alter hier in unserer schönen Stadt aufgekreuzt ist?“

„Ja, ja“, sagte ich und zuckte wie vor einem plötzlichen Schmerz zusammen. „Warum?“

„Warum? Er hat mir gerade zwei Rippen gebrochen! Darum!“

„Wie bitte?“

„Hast du mich nicht richtig verstanden? Ich wiederhole: zwei Rippen gebrochen! Ich sehe aus wie eine verdammte antike Vase nach ’nem Erdbeben! Kaputt! So was erhöht nicht gerade den Marktwert!“

„Kannst du mir das näher erklären? Nicht das mit deinen Rippen und der Vase. Ich meine das mit meinem Alten.“

„Kann ich dir erklären. Bleibt mir ja ohnehin sonst nichts viel übrig, als hier zu sitzen und zu heulen. Du bist ein echtes Arschloch und ein Mistkerl!“

„Wie wäre es, wenn ich rüberkomme und dir den Rest deiner Rippen breche?“

„Gern! Ich bin gerade so wütend, dass ich dir selbst in meinem jetzigen Zustand mit links den Kragen umdrehen könnte, ohne Rücksicht auf Verluste!“

„Ich kann nicht“, erwiderte ich. „Viel los hier gerade.“

„Womit genau bist du beschäftigt?“

„Vorfreude auf die Apokalypse. Mein Alter kommt gleich hier vorbei.“

„Lauf. Lauf so schnell du kannst, Kumpel! Dein alter Herr ist ein Nazi! Genauso kalt, genauso grausam und mit dem arischen Funkeln in den Augen! Verdammt, aua, meine Rippen! Ich kann kaum noch atmen!“

„Kannst du nicht mal aufhören zu jammern und mir sagen, was passiert ist und wie? Warum hat er dir die Rippen gebrochen? Verdammt, ich komme mir vor wie im falschen Film. Wie kommt er dazu, dir die Rippen zu brechen?“

„Einfach so! Dein Alter ist ein Wahnsinniger, und solche Leute brauchen keinen Grund! Gib ihnen ein Beil ...“

„Ja, das hast du bereits erwähnt. Aber Details, ich brauche Details!“

„Nun, es war so ...“

Vlas war nicht gerade sehr kohärent, aber das Bild, das ich mir schließlich machen konnte, war folgendes:

Vlas war gestern Abend bei meiner Wohnung gewesen und hatte, ohne sich große Hoffnungen zu machen, mich dort anzutreffen, an meine Tür geklopft. Die Tür war aber schneller geöffnet worden, als er erwartet hatte. Und es war nicht ich, der dann vor ihn trat, sondern mein Vater, der grimmiger aussah als der Sensenmann. Vlas erinnerte sich gut an ihn, immerhin hatte er uns in der Vergangenheit schon öfter einen Kopf kürzer gemacht. Der einzige Satz, den Vlas zu sagen vermochte, war: „Ist Ros zu Hause?“ Danach tauchten zwei schrankgroße Schlägertypen hinter dem Rücken meines Vaters auf, packten den verblüfften Vlas an den Ellbogen, zogen ihn in die Wohnung und knallten die Tür zu.

Vlas brauchte eine ganze Stunde, um meinen Vater davon zu überzeugen, dass er nichts mit meinem Verschwinden zu tun hatte. Hätte er es dabei belassen, wäre ja alles in Ordnung gewesen. Verständlich, dass Eltern sich Sorgen um ihre Kinder machen. Aber seine große Klappe brachte Vlas wieder einmal in Schwierigkeiten. Am Ende sagte er meinem Vater, er solle sich verpissen, und zwar in aller Deutlichkeit und ohne an Fäkalvokabular zu sparen, was dazu führte, dass er von den beiden großen Kerlen mit Schlägen und Tritten vermöbelt worden war. Kurze Zeit später war mein armer Freund kaum noch in der Lage gewesen, zu seinem Auto zu kriechen. Sobald es ihm etwas besser gegangen war, hatte er mit dem Telefonterror bei mir begonnen.

„Er hätte mich fast umgebracht, und du bist der Nächste. Lauf weg, Ros! Du kannst direkt zu mir fahren. Ich kenne ein Haus auf dem Land, wo er dich bestimmt nicht findet. Kommst du?“

„Nein“, antwortete ich mit heiserer Stimme. „Jetzt ist es viel zu spät. Danke, Vlas. Also, zwei Schlägertypen, sagst du ...“

„Ja. Und während ich da bei dir auf dem Boden lag, mit zerquetschter Nase, dir auf den Teppichboden geblutet habe, und mich fühlte, als wäre ich von der Gestapo verhört worden, fiel mir auf, dass alles total unordentlich aussah. Als hätte jemand deine Sachen durchwühlt!“

„Shit.“ Diese Information schockierte mich noch mehr.

Mein Vater musste sehr wütend gewesen sein. Oder aber jemand anderes hatte meine Wohnung bereits vor seinem Eintreffen durchsucht.

„Danke, Vlas“, sagte ich wieder.

„Ros! Moment, Moment, Moment. Wenn er mit dir fertig ist, ruf mich sofort zurück! Es gibt einige sehr wichtige Dinge, die wir besprechen müssen!“

„Ich rufe dich zurück, versprochen“, sagte ich ihm. „Alles klar.“

„Ich warte, Ros! Lass mich nicht im Stich! Nicht vergessen, mich hat nur der Versuch, mit dir zu reden, zwei Rippen gekostet. Diese Brutalos, die dein Vater dabei hatte, haben mir mit ihren Stiefeln quasi die Quittung auf der Brust hinterlassen! Arschlöcher!“

„Du kannst sie mir gern per Post schicken“, sagte ich. Zugegeben, ein schlechter Witz. Vlas explodierte entsprechend wie eine mit Schimpfwörtern gefüllte Bombe.

Ich schaltete das Handy schnell aus, kochte mir endlich den Kaffee und nahm einen kräftigen Schluck. Dann schleppte ich mich nach draußen und stand auf der Veranda wie Napoleon vor seiner Abreise nach St. Helena, stolz und doch in unheilvoller Erwartung.

Mein Kopf wollte nicht mehr richtig funktionieren. Schon vorher hatte ich kaum einen klaren Gedanken fassen können, und jetzt ...

Jeder Versuch, eine logische Schlussfolgerung aus dem, was Vlas mir erzählt hatte, zu ziehen, scheiterte. Wenigstens ein paar wichtige Fakten konnte ich aber aufzählen.

Erstens also hatte mein Vater beschlossen, seinem Sohn einen Überraschungsbesuch abzustatten. In meiner Wohnung war er nicht fündig geworden, aber etwas hat ihn so wütend gemacht, dass er ohne Hemmungen rohe Gewalt gegen Vlas angewendet hatte. Aber was könnte das gewesen sein?

Zweitens: diese beiden „Schlägertypen“. Mein Vater hatte im Urlaub noch nie einen Sicherheitsdienst in Anspruch genommen. Er war selbst kein Schwächling. Die beiden großen Kerle mussten also erst später aufgetaucht sein, nachdem mein Vater sich umgesehen hatte. Offenbar war er dabei zu einer nur für ihn verständlichen Schlussfolgerung gekommen und hatte sich Hilfe geholt.

Drittens war meine Wohnung laut Vlas völlig verwüstet gewesen. Konnte mein Vater selbst das Chaos auf der Suche nach mir angerichtet haben? Doch würde er nach seinem Sohn unter der Küchenspüle und in Schubladen suchen? Wohl eher nicht.

In Summe hieß das also, dass ein ausführliches Gespräch mit Vater unvermeidlich war, egal, was Vlas mir geraten hatte.

Etwa zehn oder fünfzehn Minuten später hörte ich das Dröhnen von zwei starken Motoren und sprang panisch auf. Ich recke meinen Hals wie ein Strauß, um einen Blick über den Zaun zu werfen. Auf der Straße erblickte ich zwei schwarze Autos, die mit halsbrecherischer Geschwindigkeit in meine Richtung gerast kamen.

Ein großer schwarzer Geländewagen, der mir bereist bekannt war, hinten und vorne ein weiterer, wahrscheinlich ein Chevy, in einem ebenso festlichen Farbton. Meine Hände begannen zu zittern und mir lief ein Schauer über den Rücken.

Gleich würde mein Vater vor mir stehen.

Mit quietschenden Bremsen hielten beide Autos vor meinem Tor an. Türen wurden aufgerissen.

Und dann sprang Kyre aus einem der Autos.

„Ihr glaubt wohl, ich überlasse ihn euch einfach so? Leckt mich!“

„Na wunderbar“, seufzte ich. „Kyre!“

Als Nächstes kletterten die beiden von Vlas erwähnten Schläger aus ihrem Vehikel. Alle Achtung! Die beiden mussten einer ganz eigenen Rasse angehören. Da war definitiv Gorilla-DNA im Spiel. Ich konnte mir nicht erklären, wie sie sich in den Geländewagen geschoben hatten. Die beiden waren absolute Hünen. Sie warfen grimmige Blicke um sich. Mit Entsetzen bemerkte ich ihre Pranken. Damit konnten sie wahrscheinlich problemlos Stahlträger verknoten. Ein Schlag ins Gesicht würde einen unkenntlich machen. Statt seiner gewohnten Gesichtszüge könnte man danach einen Krater spazieren tragen.

Als Nächstes kam mein Vater. Er sah genauso aus wie immer. Stramm, todernst. Einen Soldaten erkannte man tatsächlich schon von Weitem. Das Stirnrunzeln war vielleicht etwas tiefer, als ich es in Erinnerung hatte.

Tante Lena war die letzte Person, die den anderen Geländewagen verließ.

Meine Güte. Ich konnte den Ärger schon meilenweit gegen den Wind riechen.

„Sohn“, sagte mein Vater und warf mir einen abschätzenden Blick zu.

„Vater“, antwortete ich.

„Anabolika sind schlecht für die Gesundheit, wisst ihr“, sagte Kyre und blinzelte die beiden Gorillas an.

Ich seufzte. Der Rest der Gruppe schwieg.

In der Ferne grollte ein Donner. Der Wind fuhr in die Baumkronen und füllte meine Nasenlöcher mit dem Duft von Regen.

Ich hatte keine Lust, einfach nur dazustehen, also hustete ich und lud alle „Gäste“ ins Haus ein.

„Kommt rein. Es regnet gleich. Aber könntet ihr vielleicht vernünftig parken? Ich möchte nicht, dass sich die Nachbarn über meine Gäste beschweren. Tee oder Kaffee?“

Ich drehte mich um, ließ die Eingangstür hinter mir offen, und ging ins Haus. Meine Knie fühlten sich wie Wackelpudding an. In der Küche füllte ich den Wasserkocher mit Wasser und setzte ihn wieder auf. Während das Wasser langsam zu kochen begann, versuchte ich, mich zu sammeln.

Warum machte ich mir überhaupt Sorgen?

Ich hatte nichts Verbotenes getan. Mein Gewissen war so rein wie frisch gewaschene Weißwäsche. Um es mit den unsterblichen Worten von Alfred E. Neuman zu sagen: „Na und?“

Sie hatten also meine Wohnung auf den Kopf gestellt. Sollte mir recht sein. Mein Vater war stinksauer. Auch okay. Erst wollte ich alle Details herausfinden. Niemand konnte mich gegen meinen Willen aus diesem Haus zerren.

Ich hörte die Motoren wieder aufheulen, gedämpft durch das Fenster. Sie hatten also beschlossen, meinem Rat zu folgen und ihre SUVs am Straßenrand abzustellen.

Dann hörte ich schwere Schritte hinter meinem Rücken. Mein Vater. Wenn ich es mir recht überlegte, war ich froh, dass er sich entschlossen hatte, vorbeizukommen.

„Hallo, Papa“, sagte ich noch einmal und nahm eine Dose mit losem Tee aus dem Küchenschrank. „Es freut mich, dich zu sehen.“

„Es freut dich, mich zu ...?“, begann Vater mit donnernder Stimme, doch dann presste er wohlweislich die Lippen aufeinander, um nicht gleich zu Beginn des Gesprächs wie ein Vulkan zu explodieren. Oder in seinem Fall wie der Yellowstone-Supervulkan.

„Du trinkst deinen Tee so wie immer, oder?“, fragte ich ihn versöhnlich. Ich hatte jetzt schon genug von diesem Tag. Schlaf, wenn auch nur ein paar Stunden, wären mir jetzt lieber. „Wie bei der Marine?“

Tee „wie bei der Marine“ war Vaters Bezeichnung für ein Teegebräu, das der Konsistenz von heißem Schlamm ähnelte und wie eine Mischung aus Sirup und diesem Getränk schmeckte, das man in russischen Gefängnissen braute, um sich und die Welt zu vergessen. Etwa ein halbes Kilo Tee auf einen Liter Wasser. Extrem süß und stark. Genau das Richtige für meinen Vater, den alten Seebären, der schon viele eisige Stürme auf dem Meer erlebt hatte.

Mein Vater machte eine lange Kunstpause und murmelte dann, als ob ihm alles widerstrebte: „Ja.“

„Kommt sofort“, sagte ich und warf einen Blick auf den Wasserkocher, in dem es bereits blubberte.

„Was ist passiert?“ Die Stimme neben meinem Rücken war düster wie die eines Bestatters.

Ich zuckte nur mit den Schultern. „Ich habe keine Ahnung, Papa. Ich habe nichts getan, ich habe niemanden verletzt und ich habe nichts gestohlen. Falls du dir darüber Sorgen machst, liegst du völlig falsch. Aber ich muss mich vor ein paar Leuten verstecken. Nicht, weil ich etwas Falsches getan habe, sondern weil ich etwas bekommen habe, was sie brauchen. Auf völlig legale Weise, wohlgemerkt!“ Den letzten Teil hatte ich lauter gesagt, weil ich hörte, wie sich jemand hinter meinem Rücken bewegte.

„Und was genau soll das sein?“ Mein Vater klang wütend. Kein Wunder. Alle Argumente, die er für diese Gelegenheit vorbereitet hatte, waren jetzt nutzlos.

Er hatte eindeutig vor, die gleiche Karte wie zuvor auszuspielen, nämlich: „Du steckst wieder in der Scheiße, und es ist deine eigene Schuld, und siehe da, wer hier ist, um dich zu retten? Ich.“ Auch bekannt als: „Du bist ein schlechter Sohn und ich bin ein guter Vater.“ Doch nun stellte sich heraus, dass er sich verkalkuliert hatte.

„Bevor wir weitermachen“, erwiderte ich, „muss ich eines klarstellen: Das hier ist nicht wie damals, als es wirklich meine Schuld war.

---ENDE DER LESEPROBE---