Herrschaft der Clans - Die Rastlosen 3 - Dem Mikhailov - E-Book

Herrschaft der Clans - Die Rastlosen 3 E-Book

Dem Mikhailov

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Beschreibung

Doch kein Grund zu verzweifeln! Zeige Entschlossenheit, anstatt nur zu existieren. Du musst handeln. Du musst dein eigenes Spiel spielen. Das ist der einzige Weg, um zu einer wahren Legende von Waldyra zu werden. Du kannst nicht ewig vor deinen Problemen davonlaufen. Irgendwann wirst du dich ihnen stellen müssen. Also tue es nach deinen eigenen Bedingungen. Das Gespräch mit jemandem zu suchen, der dich in der Vergangenheit (vermeintlich) betrogen hat, wäre wahrscheinlich ein guter Anfang. Oder dich vielleicht der Bedrohung stellen und den Spieß umdrehen. Wer sagt denn, dass der Gejagte nicht zum Jäger werden kann? Oh, und da ist noch etwas. Du brauchst ein Team um dich. Einzelkämpfer gewinnen keine Schlachten, auch wenn sie allein mehr Spaß in der Welt hätten. Willkommen im neuen Band der Serie, die derzeit als der Maßstab des LitRPG-Genres schlechthin gilt. Die Ereignisse in den beiden Welten, der wirklichen und der virtuellen, gewinnen an Dynamik, und die Handlung verdichtet sich immer weiter. Freu dich auf ein neues Buch in der Serie „Herrschaft der Clans: Die Rastlosen“ von Dem Mikhailov. Jetzt auch auf Deutsch erhältlich!

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Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Über den Autor

Herrschaft der Clans - Die Rastlosen

Eine LitRPG-Serie von Dem Mikhailov

Buch #3

Herausgegeben von Magic Dome Books in Zusammenarbeit mit 1C-Publishing

Herrschaft der Clans - Die Rastlosen, Buch #3

Originaltitel: Clan Dominance: The Sleepless Ones, Book #3

Copyright © Dem Mikhailov, 2020

Covergestaltung © Ivan Khivrenko, 2020

Designer: Vladimir Manyukhin

Deutsche Übersetzung © Katharina Baxter de Aizpurua, 2021

Lektor: Lilian R. Franke

Herausgegeben von Magic Dome Books in Zusammenarbeit mit 1C-Publishing 2021

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Buch ist nur für deine persönliche Unterhaltung lizensiert. Das Buch sollte nicht weiterverkauft oder an Dritte verschenkt werden. Wenn du dieses Buch mit anderen Personen teilen möchtest, erwirb bitte für jede Person ein zusätzliches Exemplar. Vielen Dank, dass du die harte Arbeit des Autors respektierst.

Die Personen und Handlung dieses Buches sind frei erfunden. Jede Übereinstimmung mit realen Personen oder Vorkommnissen wäre zufällig.

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Erstes Kapitel

DER BERG HÜLLTE mich in Dunkelheit, Leere und Stille. Genau wie ich es mochte.

Hinter meinem Rücken schlugen Türen zu. Vor mir lag der schwarze Schlund des Abgrunds.

Unter meinen Füßen befand sich brüchiger, eisiger Schneematsch, ein Überbleibsel des Eissplitters, der mich durch die Lüfte getragen hatte.

Das Wichtigste war jedoch zu meiner Rechten – eine in Stein gehauene Treppe, die zu den Ausläufern des Berges führte. Es war das, was ich meisten brauchte - ein relativ unkomplizierter Weg zu einem Ort, an dem ich mich ausruhen konnte.

Das namenlose Wolfsjunge, das ich fest an meine Brust gepresst hielt, zuckte im Traum mit der Pfote, atmete dann wieder tief und sah zufrieden aus. Ich öffnete meine alte, zerfledderte Jacke, nickte dem Tempeltor zum Abschied zu und ging in Richtung Ausgang.

Eine lange und gewundene, in Stein gehauene Treppe noch, dann hatte ich das örtliche Hotel erreicht. Es war der letzte Abschnitt des Weges. Die letzte Anstrengung, die mir nichts ausmachte. Danach würde ich mich ausruhen können.

Ich hatte kaum ein paar Dutzend Schritte gemacht, als mir ein eisiger Wind ins Gesicht blies und mich taumeln ließ. Da war ein kaum hörbares, mattes Flüstern in meinen Ohren. Eine eisige Kälte kroch über meine Wirbelsäule und zwischen meine Rippen. Ich spürte die frostige Berührung und grinste schief. Dieses Gefühl war wie kein anderes. Ich hätte es erwarten müssen. Während ich die scheinbar endlosen Treppen hinunterstieg, hob ich mein Gesicht zum Himmel.

„Okay, okay. Ich hab’s schon kapiert“, flüsterte ich. „Melde mich ja schon ab. Warte doch eine halbe Sekunde und mach dir nicht gleich nicht ins Hemd.“

Ich warf einen Blick hinter mich und stellte fest, dass der Tempel der Trauer in den letzten Stunden seine Attraktivität verloren hatte. Aus den Augen von Myrthes steinernem Gesicht flossen keine kostbaren feurigen Tränen mehr, und alle „Pilger“ hatten sich im Nebel verloren. Nur ein paar Umrisse waren weit unten zu sehen. Spieler, die sich beeilten, die Ausläufer zu erreichen, an denen die paar Lichter eines winzigen Bergdorfes leuchteten.

Ein weiterer Luftstoß erfasste mich mit einem raschelnden Geräusch. Das Flüstern war dieses Mal gebieterischer.

Das kostete mich ein müdes Lachen. Ich beschleunigte meinen Schritt. Der Bote der Ermattung wieder einmal. Ich hatte schon lange nicht mehr das Vergnügen gehabt.

Waldyra kümmerte sich gut um seine Spieler. Immer wenn ein solcher nicht mehr willkommen war, erhielt er eine stimmlose Benachrichtigung, einen plötzlichen Hauch von Kälte, egal, wo er sich befand. Diese eisige Nachricht ereilte einen Spieler sogar in einer Sauna oder in einer Wüste. Die Botschaft war eindeutig: Mach’ eine Pause, ruhe dich eine Weile aus.

Niemand hatte das Recht, die totale Immersion zu stören. Einige Leute rannten einfach herum und spielten nach Herzenslust, andere hielten sich an ihre Rollen auf die Method-Man-Art. Mochten das nun Scharfschützen, gewiefte Händler oder Gelehrte mit weißen Rauschebärten sein, die nie die kleine Kneipe am Meer verließen.

Es brauchte schon einen triftigen Grund, um sich in den Spielablauf eines Einzelnen einzumischen.

Auch hatte niemand das Recht, Spielern zu befehlen oder auch nur zu empfehlen, sich auszuloggen, selbst wenn sie bereits viele Stunden in Immersion verbracht hatten.

Und niemand konnte einen zwingen, das Spiel zu verlassen, außer, wenn ein medizinischer Notfall vorlag oder ein Kokon nicht mehr richtig funktionierte.

Jede Minute, die man in der Fantasiewelt von Waldyra verbrachte, kostete hart verdientes, bares Geld. Kein Wunder, dass man als Spieler normalerweise jede Sekunde ausreizen und alles aus jedem einzelnen Cent herausholen wollte. Manchmal verlor man sich dann in dieser Welt und jegliches Zeitgefühl kam einem abhanden.

Aus dem Grund hatte die Verwaltung einen anderen Ansatz gewählt. Diejenigen, die zu viel Zeit im Spiel verbrachten, wurden von einer kalten, spöttischen Brise heimgesucht, die durch ihre Körper kroch, ihre eiskalten Reißzähne fletschte und etwas Unverständliches zischelte.

Waldyra machte es ungemütlich für diejenigen, die sich weigerten, gute Ratschläge zu befolgen.

Die Farben verblassten langsam. Die Helligkeit und der Farbkontrast, die viele Spieler an der Welt so schätzten, verflüchtigten sich. Das Gras verlor sein sattes Grün. Der Himmel wechselte die Farbe von tiefblau zu gräulich …

Irgendwann trafen auch Waffen nicht mehr ordentlich und die Zaubersprüche blieben harmlose Funken. Ein Handwerker war dann nicht mehr in der Lage, ordentliche Ware zu produzieren. Der Weg eines Fernreisenden zog sich doppelt so lang.

So äußerte sich die Ermattung, und sie gewann mit jeder Stunde an Eindringlichkeit.

Das Wort „Ermattung“ selbst war von den Spielern erfunden worden, da die Verwaltung die Existenz eines solchen „Benachrichtigungsmechanismus“ strikt leugnete. Alle Fragen und die gelegentlichen Beschwerden wurden immer mit einem höflichen Lächeln beantwortet und gelöst.

„So etwas gibt es im Spiel nicht. Es steht jedem Spieler frei, so lange hier zu bleiben, wie er möchte. Es gibt keinen Wind, und schon gar nicht diese üblen ‚eiskalten Reißzähne‘. Das ist alles nur eine Legende. Und wer würde dir schon glauben?“

Nicht die Spieler, definitiv nicht. Doch die Unsterblichen hatten keine Ahnung. Jeder Spieler erlebte den gleichen Effekt: eine eiskalte Welle, die durch den Körper ebbte, der flüsternde Wind und die verblassenden Farben. Halluzinieren konnte jeder, aber nicht auf exakt dieselbe Weise.

Das Seltsamste war, dass es nie ein festgelegtes Zeitlimit gegeben hatte. Früher hatte ich oft tagelang im Spiel verbracht und nur ein paar Minuten Pause gemacht, um auf die Toilette zu gehen und etwas zu trinken. Nichts. Keinerlei Warnungen. Dann war es wieder völlig anders. Ein paar Stunden Spiel, dann bereits eine unangenehme Brise, die mir das Haar zerzauste, die beißende Kälte, die sich in meine Rippen zu fressen schien. Und mein Pfeil traf nicht mehr ins Ziel.

Ich schaffte es die Hälfte des steilen Weges hinab, bevor ich eine Warnung erhielt.

Ein Feind naht! Der Name des Charakters ist Dorth Viderrr!

Ein Feind naht! Der Name des Charakters ist Ariella Farnblume!

Im selben Moment sah ich Spieler auf dem Weg, etwa 30 Schritte entfernt. Es war eine Gruppe von drei Spielern, zwei Männer und eine Frau. Alle mit rot blinkenden Player-Killer-Spitznamen.

Ich wurde langsamer, stieß einen schweren Seufzer aus und rieb mir die Schläfen. Verdammt. Ich war hundemüde.

Wie standen die Chancen, seinen Feinden in der Welt von Waldyra einfach so über den Weg zu laufen? Eins zu einer Million? Eins zu einer Milliarde?

„Hey, Rosgard!“ Einer der Charaktere wirbelte zu mir um. „Meine Güte, du bist aber groß geworden, kleiner Rosgard! Schon über 50 …“

„Hallo, Sith-Schlampe“, entgegnete ich und ging seelenruhig weiter. „Ihr seid zu spät. Die Tore des Tempels sind bereits geschlossen.“

„Wissen wir“, sagte Dorth schulterzuckend und tastete nach dem Griff des Schwertes hinter seiner Schulter. „Wir haben das schon dreimal von Zuspätkommenden gehört. Da, sieh selbst!“

Ich schaute weiter nach unten. Drei silberne Wolken schwebten über den Stufen. Eine sah aus, als würde sie jeden Moment in den Abgrund driften. Sie ragte weit über den Rand der Treppe hinaus.

„Sie wollte Selbstmord begehen“, sagte der Sith grob, kicherte und wandte sich seinen Begleitern zu. „Aber wir konnten diese Todsünde nicht zulassen.“

„Um ihre Sachen zu klauen“, sagte ich wissend.

Der Abgrund war tief. Ganz nach unten zu klettern und dort die eigene Nebelwolke wiederzufinden, wäre ein schwieriges Unterfangen. Der Besitzer, der respawnen musste, wäre auch nicht gerade begeistert davon, seinen eigenen Kadaver zu suchen. Aber seine Sachen in einen Abgrund zu werfen war immer noch besser, als sie gierigen PKs zu überlassen, die sich dann unrechtmäßig bereicherten. Der Abgrund war immer die bessere Option.

„Du hast mich umgebracht!“, zischte Ariella. „Du hast mir in den Rücken geschlagen! Du hast mir den Turnierumhang gestohlen!“

Seltsame Darstellung. Tatsächlich hatten sie mich angegriffen, und jetzt war ich schuld an ihrem Versagen?

„Es war der Hals, nicht der Rücken. Aber in Ordnung, ich habe mich von hinten genähert“, sagte ich bemüht ruhig. „Okay, Leute, ich bin wirklich müde, und ihr steht auf meiner Prioritätenliste momentan weit unten. Lasst mich durch. Dieses Schwätzchen dauert mir schon zu lange.“

„Du …“

„Ruhe, Ari“, sagte der Sith. „Rosgard, glaubst du wirklich, dass wir dich einfach so laufen lassen? Du hast mich zweimal umgebracht. Jetzt ist es persönlich. Und es gibt hier auch keine Büsche, hinter denen du dich doch so gern versteckst. Nur blanken Fels und einen schmalen Pfad. Du musst jetzt entweder vorwärts oder zurück. Oder du springst in den Abgrund. Wie würde dir das gefallen?“

„Kennst du den?“ Die dritte PK meldete sich zum ersten Mal zu Wort. Ein Magier, Level 28. Gar nicht schlecht. Der Sith-Edgelord hatte es auf 33 geschafft. Ariella Farnblume war auf Level 36 die Stärkste. Offensichtlich eine ehrgeizige Frau, aber meiner bescheidenen Meinung nach etwas neben der Spur.

„Wir warten schon seit drei Stunden auf dich“, sagte der Sith und ignorierte die Frage seines Freundes. „Alles, worüber sie im Forum reden, ist, dass ein paar Spieler ins Feuer gezogen wurden. Einer von ihnen hieß Rosgard. Es gibt sogar ein Video. Du hättest den dummen Blick auf deinem Gesicht sehen sollen! Aber du scheinst seitdem ein wenig gewachsen zu sein. Du bist jetzt auf Level 51, aber das kriegen wir schon hin.“

„Du wartest seit drei Stunden auf mich?“ Ich war erstaunt. „Soll das ein Witz sein?“

Dorth ignorierte meine Frage, während er langsam ein schmales Schwert hinter seinem Rücken hervorzog, dessen Klinge schwach rot glühte. Ein verwunschener Gegenstand. Es sah cool aus, das musste ich ihm lassen.

„Siehst du das Glühen? Wie ein echtes Lichtschwert. Hast du so etwas?“

„Ja“, bestätigte ich und hob meine Hand. „Aber meines ist etwas größer.“

Ein Wink. Ein kurzes, zornig Zischen, und ein greller Blitz traf Dorth Viderrr mitten in die Brust. Die Zickzacklinien der Restelektrizität breiteten sich über die Stufen aus. Zurück blieb eine Wolke aus silbrigem Nebel.

Ich warf den verdutzten beiden anderen Spielern einen Seitenblick zu und hob meinen unscheinbaren, aber mächtigen Zauberstab.

„Warte mal!“

„Tut mir leid. Aber ich habe es eilig“, widersprach ich und jagte dem Magier einen Blitz durch den Bauch.

Der wortkarge Magier gesellte sich in Form einer weiteren Wolke aus Silbernebel auf dem nassen Stein zum Sith.

Tja. Was ihr wirklich gebraucht hättet, liebe Freunde, wäre ein Tank mit jeder Menge Trefferpunkten und einem guten Schild mit Elementresistenz. Magier, Bogenschützen und Siths … Eine Salve aus einem ordentlich gefertigten Zauberstab genügte und sie starben wie die Fliegen.

Ich zielte auf das Mädchen, das wie der geölte Blitz Reißaus genommen hatte, taumelte ein wenig, seufzte und steckte den Zauberstab zurück in meinen Rucksack. Sie war wirklich schnell. Ich würde sie höchstwahrscheinlich verfehlen und eine Ladung verschwenden. Das wollte ich nicht riskieren, denn sie war nicht billig.

Nach ein paar rituellen Verbeugungen (und damit meinte ich, dass ich mich über die „Körper“ der PKs beugte und mir alles nahm, was sie bei sich hatten) holte ich eine Transportrolle aus meinem Rucksack und hielt sie nachdenklich in den Händen. Diese Dinge waren sogar noch teurer als die Verwendung des Zauberstabs. Aber man sollte schließlich beenden, was man angefangen hatte. Dann konnte ich auch noch etwas Restdampf ablassen.

Ich strich mit dem Fingernagel über die leere Rolle.

„Das Vorland des Kummergebirges.“

Nach einem blass zuckenden Blitz befand ich mich an demselben Ort, an dem ich Kyre und den Greif namens Tölpel getroffen hatte. Vor langer, langer Zeit. Damals, als ich noch gedacht hatte, sie und ich wären Freunde.

Über meinem Kopf befand sich ein Gipfel, der in der Dunkelheit kaum zu erkennen war. Noch vor wenigen Sekunden hatte ich oben an diesem Hang gestanden. Ich begann zu rennen, passierte ein paar unscheinbare Gebäude, überquerte eine Brücke über einen schmalen Felsspalt, tauchte in die Wolke ein und tastete mich an dem überhängenden Fels entlang. Als ich ihn hinter mir gelassen hatte, blieb ich in der Nähe der ersten Stufen stehen, die zum Kummertempel führten.

Ich brauchte nicht lange zu warten. Eilige Schritte hallten in die Dunkelheit und eine schlanke weibliche Silhouette tauchte im Licht des Mondes auf.

„Hi“, sagte ich zu Ariella Farnblume, die mich beinahe umgerannt hätte. „Unsere ständigen Begegnungen werden mir langsam zu anstrengend“, beschwerte ich mich.

Das verblüffte Elfenmädchen öffnete den Mund, hatte aber keine Zeit, etwas zu sagen. Ein Blitzschlag und unser Gespräch war beendet, ehe es begonnen hatte.

Ich bückte mich und nahm alles, was ich kriegen konnte, aus dem silbrigen Nebelfleck. Eine Systemmeldung sprang auf, und ich fluchte verhalten.

Überlastung!

Du trägst zu viele Gegenstände! Müdigkeit …

Ach, halt doch die Klappe!

Ich würde das Gasthaus sowieso erreichen, und warum sollte ich irgendetwas von dem Zeug loswerden?

„Rosgard!“ Eine Stimme, die ebenso beängstigend wie vertraut war.

Ich wirbelte herum und hätte beinahe mein Gesicht in den Bauch einer großen Gestalt gepresst. Ich machte einen großen Satz zurück.

Es war Grym. Grym! Verdammt!

„Was ist los mit dir, mein Freund?“ Der Werwolf, der sich offenbar vor Kurzem zurückverwandelt hatte, blinzelte mich überrascht an, nachdem er sich so unbemerkt genähert hatte. „Du siehst verängstigt aus, aber warum? Ich bin es, Grym, dein Freund. Hast du die wohlverdiente Belohnung vergessen, die du von mir erhalten hast?“

Grym war nackt bis auf einen schwarzen Lendenschurz. Jeder hart gesottene Bodybuilder würde bei seinem Anblick vor Neid erblassen.

„Grym …“ Ich zwang mich zu einem schwachen Lächeln, zumal ich keine Ahnung hatte, was ich sagen sollte. „Tut mir leid, dass ich zurückgewichen bin. Ich habe dich mit jemandem verwechselt. Ähm, aber was machst du hier?“

„Ja, also …“ Grym raufte sich in offensichtlicher Verlegenheit das struppige Haar. „Das weiß ich selbst nicht so genau. Ich erinnere mich noch daran, wie ich am Feuer saß und einen Hirsch häutete, den ich erlegt hatte. Dann kam ich auf dem nassen Felsen wieder zur Besinnung. Ich habe deine Stimme gehört und hatte das Bedürfnis, zu dir zu kommen …“

„Das klingt zweideutig“, bemerkte ich, nachdem ich einigermaßen die Fassung wiedererlangt hatte. „Hör mal, Grym, mein Freund, ich muss weiter. Es ist spät, und man trifft zu dieser Stunde doch immer auf diverse Geschöpfe der Nacht. Werwölfe zum Beispiel …“

„Jetzt warte doch mal! Warte!“ Eine riesige Hand packte mich an der Schulter und kostete meinen Charakter sofort 10 Trefferpunkte. Ganz schön stark.

Grym gluckste halb, halb brüllte er und ignorierte mein ängstliches, angespanntes Gesicht.

„Wenn ich es dir doch sage. Ich habe deine Stimme gehört, und in meinem Kopf hat es Klick gemacht. Ich sah Myrthe, aber so, wie ich sie im echten Leben gesehen hatte … Doch sie war blutverschmiert, hatte Narben im Gesicht und die riesigen Pranken von jemandem … Und es schien, als wärst du auch dort gewesen. Kannst du mir das erklären? War es eine Vision? War es ein Traum? Es muss einen Grund dafür gegeben haben, dass ich deine Stimme hörte, als ich aufwachte.“

„Nun …“, begann ich ausweichend und befreite meine Schulter aus seinem Griff. Heute war so was von nicht mein Glückstag.

„Wenn du etwas weißt, bitte, sag es mir!“

„Rosgard! Du Arschloch!“ Dorth Viderrr, bekleidet mit einer Windel, tauchte aus der Dunkelheit auf, in der Hand einen Stock als Waffe. „Du Scheißkerl! Ich hasse dich! Du bist ein toter Mann!“

Aus irgendeinem Grund scheine ich halb nackte Männer anzuziehen, dachte ich und beobachtete den herannahenden PK mit unverhohlener Häme.

„Geh mir aus dem Weg!“ Grym brauchte sich nicht einmal umzudrehen. Er stieß ein wütendes Brüllen aus. Er hob eine Hand, und Dorth wirbelte hoch wie eine Schneeflocke. Dann stürzte der Sith in den nebelverhangenen Abgrund.

Ein wutentbrannter Schrei gellte durch die Stille der Nacht.

„Rosgaaaaard! Du Arschloooo …“

„Warum, verdammt, bin jetzt schon wieder ich schuld?“ Verwirrt starrte ich in den Abgrund, der gerade den Sith verschlungen hatte. „Ich habe nur hier gestanden.“

Niemand antwortete. Als ich mich wieder zu Grym umdrehte, war er nicht mehr da. Er war in einem Sekundenbruchteil verschwunden, ohne auch nur ein Geräusch zu machen.

„Das gibt‘s doch nicht“, murmelte ich und wechselte in den Galopp. Oder besser gesagt, in einen eiligen, aber etwas lahmen Trab. Die Überlastung ließ mich gebückt gehen, aber ich kämpfte mich verbissen weiter, fluchte unentwegt als Motivation und sah mich immer wieder um, auch wenn es unmöglich war, in dieser völligen Dunkelheit etwas zu sehen.

Unser Gespräch blieb unbeendet. Grym war so plötzlich verschwunden, dass ich besorgt war, er könnte sich in diesem Moment in einen Werwolf verwandelt haben. Ich würde wohl nicht entkommen. Aber ich könnte zumindest versuchen, das schlafende Wolfsjunge in mein privates Zimmer zu bringen. Ich wusste, dass die Reißzähne seines Vaters schon lange nach meinem Blut dürsteten. Und dann erst diese Möchtegern-Player-Killer …

Der Dorfplatz blitzte vor meinen Augen auf, und das dunkelblaue Licht über dem Gasthaus leuchtete tröstlich in die Dunkelheit. Die Tür knarrte, und ich stolperte mit einem erleichterten Stöhnen hindurch.

Ich sah mich nicht weiter um. Das Gasthaus war unverändert. Das Erdgeschoss, die Bar und die Gaststube. Eine Treppe, die nach oben führte, mit einem Teppich darauf.

Die Gaststube war fast leer, nur zwei Tische waren besetzt und ein paar Leute saßen neben dem Kamin, tranken Glühwein und starrten in das digitale Feuer, lauschten dem Knistern der Flammen. Idyllisch.

Ich ertappte mich dabei, dass ich sie beneidete. Noch vor Kurzem war auch ich aus diesem Grund so gern in die Welt von Waldyra gekommen. Alltägliche Abenteuer an unbekannten Orten, Kämpfe mit seltsamen Monstern und spätabendliches Beisammensein in Tavernen, wo man viel Neues lernen und nebenbei Pläne für den nächsten Tag schmieden konnte.

Und jetzt?

Jetzt rannte ich mit eingezogenem Schwanz herum und fürchtete mich vor jedem Schatten. Was für ein Spiel sollte das sein, bitte?

Ich nickte dem mürrischen Wirt kurz zu und ging dann die Treppe hinauf, wobei ich mich zwang, dem Mädchen an der Rezeption ein freundliches Lächeln zu schenken.

„Oh! Guten Abend, mein Herr!“ Ein schmachtendes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Sie lehnte sich so weit über den Tresen zu mir, dass ich tief in ihr Dekolleté sehen konnte. Das war ein schöner Anblick.

„Hallo“, sagte ich und quetschte mich an ihr vorbei.

„Aber wo wollt Ihr denn hin?“, fragte sie schmollend.

„Ich muss etwas schlafen“, antwortete ich und suchte fieberhaft nach der vertrauten Tür.

„Schlafen?“ Das Mädchen blinzelte verblüfft und stemmte die Arme in die Seiten, was ihre kurvige Figur noch besser in Szene setzte. Offensichtlich verstand sie nicht, warum ich sie abwimmeln wollte. „Aber …“

„Gute Nacht“, sagte ich eilig und warf mich regelrecht in meinen privaten Bereich.

„Wartet …“, hörte ich sie sagen, doch die Tür schlug ins Schloss und die empörte Stimme des Mädchens verklang.

„Dieser verdammte Liebesbonus!“, zischte ich.

Ich riss mir den Mantel von den Schultern, warf ihn in die Ecke und legte das Wolfsjunge vorsichtig darauf. Ich kippte den Inhalt meines Rucksacks auf den Boden, ignorierte das Durcheinander und drückte den Log-out-Knopf, während ich überlegte, wie ich das kleine Fellknäuel nennen sollte. Flecki? Kumpel? Grymito? Kyrefeind? Verdammt … Irgendetwas Bedrohliches. Aber darüber würde ich mir später Gedanken machen müssen.

Ein Blitz.

Abmelden.

* * *

DIE WOHNUNG WAR still. Auch draußen und im restlichen Wohnblock regte sich nichts. Jeder normale Mensch schlief entweder oder hatte vielleicht Sex, während ich in einer anderen Realität vor geilen Weibchen und Werwölfen floh.

Im Gegensatz zur Wohnung wollte mein Körper, der nun den Tribut für zu langes Verweilen an einem Ort zahlen musste, nicht still sein und protestierte lautstark und nachdrücklich gegen die Art und Weise, wie ich ihn behandelte. Mein Nacken und jeder einzelne Muskel waren steif. Das Gefühl ließ zwar allmählich nach, aber der Nacken schmerzte stark. Alles nur, weil ich es so eilig gehabt hatte, nachdem dieser verdammte Goscha mich in den Kokon gejagt hatte. Ich hatte mich nicht bequem genug hingelegt. Die Position meiner Arme und Beine war falsch gewesen, mein Hals schräg. Das hatte ich mir selbst eingebrockt. Es gab ein Handbuch mit einem halben Dutzend Kapitel darüber, wie man seine Gliedmaßen richtig in den Kokon bettete, bevor man ins Spiel einstieg, und ich hatte sie allesamt ignoriert. Jetzt kam mich das teuer zu stehen.

Ich massierte meinen schmerzenden Nacken, während ich ins Bad ging, mich aus den schweißgetränkten Klamotten schälte und unter die heiße Dusche stieg. Ich rieb mich rücksichtslos mit einem Schwamm ab und stand so lange unter den heißen Wasserstrahlen, bis meine Haut rot wurde. Dann drehte ich den Heißwasserhahn zu. Der eiskalte Kontrast ließ mich kreischend auf und ab hüpfen. Noch eine heiße Dusche. Fünf Minuten Genuss. Dann wieder kalt … Hurra! Ich fühlte mich endlich wieder wie ein Mensch, mein Körper erwachte zum Leben. Die Kopfschmerzen in meinen Schläfen verflüchtigten sich widerwillig, und ich hatte einen Bärenhunger.

Ich pfiff eine einfache Melodie, während ich mich ans Kochen machte. Am liebsten hätte ich mich ins Bett gelegt, aber das wäre ein Verbrechen an meinem Körper gewesen. Gerade aus dem Kokon gekrochen und schon wieder ins Bett? Auf keinen Fall.

Ich ließ mir Zeit und kochte mein spätes Abendessen oder frühes Frühstück, wie auch immer man es nennen wollte. Dabei flößte ich mir so viel heißen Tee mit viel Zucker ein, wie ich konnte, nahm mir dann den Teller und setzte mich an meinen Computer. Ich musste mal ins Spieleforum schauen. So viele neue Themen. Fast hatte ich den Eindruck, dass bestimmte Leute sich einen Jux daraus machten, ständig neue Threads zu posten.

Ich strengte mich an, die penetranten neuen Themen zu überlesen, da ich genug hatte von „Holzfäller gesucht!“, „Wir brauchen Bergarbeiter!“ und „Ahoi, Schiffsbauer“. Ganz zu schweigen von „Wo sind die Schmiede?“, „Handwerkliche Arbeit: Top-Qualität!“ und so weiter. Nach der Anzahl der Themen zu urteilen, waren Handwerker aller Art sehr begehrt und die Nachfrage stieg ständig.

Der nächste Thread war interessanter. Ein kurzer Überblick über die wichtigsten Ereignisse in Waldyra.

Die Sensation des Tages! Berühmter Händler- und Handwerkerclan löst sich auf! Für die Feuerfalken springt nichts heraus.

„Der Diamantenhammer-Clan hat sich dafür entschieden, den Clan aufzulösen, anstatt das enorme Lösegeld für das gestohlene Clan-Symbol zu zahlen. Offenbar verlangten die Falken eine absurde Summe! Sie waren nicht gerade erfreut, als sie erfuhren, dass der Clan sich aufgelöst hatte. Hat der Diamantenhammer-Clan denn jedes Ehrgefühl verloren, so eine Entscheidung zu treffen und den Clan aufzulösen? Oder steckte hinter dieser Aktion der berühmtesten Händler Waldyras eiskalte Berechnung?

Die Feuerfalken legten offiziellen Protest ein und verlangten, dass die Auflösung des Diamantenhammer-Clans bis zur Zahlung des Lösegelds ausgesetzt wird. Das Oberhaupt des Clans teilte mit, dass die Höhe des Lösegelds verhandelbar sei und er gern so schnell wie möglich eine Einigung erzielen würde.

Die Verwaltung prüft nun den Antrag. In der Zwischenzeit hat sich in Waldyra ein neuer Clan gebildet, dessen Name für Stirnrunzeln sorgt: Der Kristallhammer-Clan.

Interessant, aber auch nicht weltbewegend, schlussfolgerte ich, während ich auf der Seite weiter nach unten scrollte. Ich war nicht an Clankriegen oder hochrangiger Politik interessiert.

Ein Geschenk des Clans der Rastlosen an jeden Bürger von Waldyra!

„In Anbetracht der bevorstehenden Reise in unbekannte Länder haben die Rastlosen in fünf der größten Städte Waldyras aufwendige Dekorationen installiert: Schiffe, die über Wasserstrahlen schweben. Diese sind nicht nur wunderschön, sie beherbergen auch eine Vielzahl von Handelsständen, an denen jeder Spieler alles, was er möchte, mit einem Rabatt kaufen kann!“

Ja, ja. War mir schon aufgefallen. Keine weiteren Besuche dieser lustigen Vergnügungsparks für mich, herzlichen Dank auch.

Die anderen neuen Threads befassten sich alle mit detaillierten Beschreibungen von Überfällen auf Werften, Sabotage, auf halber Strecke geraubten Rohstoffen und der Ermordung friedlicher Bergleute und Holzfäller. Ich überflog sie, ohne sie wirklich zu lesen.

Dann stieß ich endlich auf ein interessanteres Thema.

Eine Invasion im Unterwasserreich!

Die Unterwasser-Werften der Achyloten sind einem massiven Angriff zum Opfer gefallen! Das Wasser kochte förmlich, Dampfsäulen stiegen in den Himmel. Etwa zwei Dutzend Geburtskammern wurden zerstört und bringen somit auch keine mächtigen Leviathans mehr hervor.

Allerdings war diese Unterwasserwelt für Landratten völlig fremdes Terrain. Die Angreifer stießen auf heftigen Widerstand und mussten sich zurückziehen, kurz bevor sie die zentralen Bereiche der U-Boot-Werften erreicht hatten. Wenn man jenen glauben konnte, die an diesen Schlachten teilgenommen hatten … Das Forum wollte keine Verantwortung für die Worte anderer Leute übernehmen und zitierte sie einfach.

„Wir konnten das Zentrum nicht erreichen, diese Stelle, an der man Unterwassergipfel erkennen kann. Aber wir haben dort unten etwas gesehen. Etwas Lebendiges und Riesiges. Groß genug, um in einem Bissen einen Wohnblock zu fressen.“

Der Kommentar des Unterwasserclans Nautilus Lockhard Schwertfisch: „Tja, die Landratten, die uns angegriffen haben, sind vielleicht nicht mit gänzlich leeren Händen abgezogen. Doch die Dinge haben sich geändert. In Zukunft sollten sie alle besser zwei- oder dreimal überlegen, bevor sie an Bord eines Schiffes gehen, egal wie gut es geschützt ist. Und merkt euch diese drei Namen gut: Megalodon, Orthokon und Mosasaurus. Wir sind nicht diejenigen, die diesen Krieg angezettelt haben, aber wir werden diejenigen sein, die ihn beenden.

Mit den Achyloten war offensichtlich nicht gut Kirschen essen. Oder Seegras, oder weiß der Geier was.

Das dumpfe Geräusch von zerbrochenem Glas ließ mich hochschrecken und meine unterhaltsame Lektüre jäh unterbrechen.

Was in aller Welt …?

Automatisch drehte ich den Kopf. Die Fenster waren noch intakt. Mein armer Nacken, der rachsüchtige Bastard, bestrafte mich mit einem weiteren unangenehmen Stechen. Ich kroch vom Stuhl und humpelte fluchend in Richtung Küche. Es war nichts heruntergefallen oder zerbrochen, auch hier waren die Fenster noch heil (und mussten übrigens dringend geputzt werden).

Noch einmal das entfernte Klirren. Diesmal konnte ich die Richtung des Geräusches ausmachen. Es kam von meiner Haustür.

Ich verbrachte etwa eine Minute damit, zu hoffen, dass ich mich nur verhört hatte, doch da war das Geräusch schon wieder. Es war mitten in der Nacht.

Niemand klopfte an die Tür, weder an meine noch an die Tür einer meiner Nachbarn. Diese Stille verhieß nichts Gutes.

Ich überlegte kurz, dann ging ich zurück in mein Schlafzimmer, riss das rostige „Katana“ von der Wand, zog meine Trainingshose an und schlüpfte in die abgetragenen, bequemen Hausschuhe, bevor ich mich hinauswagte, um nachzusehen, was los war.

Wurde gerade ein Nachbar ausgeraubt?

Das Schloss klickte, als ich die Tür öffnete, um mit einem Auge die Umgebung zu inspizieren. Ich hatte vor, sie bei Bedarf weit zu öffnen und mit meinem Stück rostigen Eisen bewaffnet nach draußen zu preschen.

Was ich aber schließlich auf dem Treppenabsatz sah, war Kyras lebloser Körper. Der untere Teil auf der Treppe, der Rest von ihr auf dem kalten Beton, umgeben von Glasscherben. Ein nasser Fleck unter ihr breitete sich still und kontinuierlich aus.

Sie hatten sie umgebracht! Sie hatten sie aufgespürt und getötet! Clan-Konkurrenten … Oh mein Gott.

„Kyre! Kyre!” Das Metallstück in meiner Hand verursachte ein klingendes Geräusch, als es auf den Boden meiner Wohnung fiel. Ich sackte neben der bewegungslosen Frau zusammen, mein Gesicht dicht neben ihrem. „Kyre! Kyre! Kannst du mich hören? Sag etwas!“

„Nnnich' sssoo l-laut … Pssssst … Frau Bro.. Frau Bobo… Frau Boboklo könnte dich hören …“

„Kyre, verdammt noch mal! Du bist betrunken? Nur betrunken?“

„Jetz' schrei mich nich' ssso an …“

„Alter Verwalter!“ Ich schnupperte an dem Fleck, der sich weiter über den Boden ausgebreitet hatte. Er roch nach Alkohol und etwas Süßem. „Baileys Irish Cream. Willst du behaupten, Baileys hat dich so zugerichtet?“

Kyre grunzte und murmelte irgendeinen Nonsens.

„Sei lieber still!“, zischte ich. „Oder wir wecken Frau Bobrikov!“

„Gar!“ Kyres Antwort ergab zwar keinen Sinn, klang aber aufrichtig. Dabei wedelte sie mit einer Hand in die allgemeine Richtung meines Gesichts und hätte mich beinahe mit irgendeinem großen Gegenstand aus Plastik getroffen, den sie in der Hand hielt.

Ich schaffte es, ihre Hand zu packen und den seltsamen Gegenstand an mich zu nehmen, während Kyre noch etwas murmelte, dann ohnmächtig wurde und mit dem Kopf auf den Boden sank.

„Ach du Scheiße“, zischte ich, während ich mich mit dem Rücken an den Türrahmen lehnte. „Was zum Teufel soll ich jetzt tun? Dich wieder mal in meine Wohnung zerren? Dich hierlassen? Goscha anrufen? Oder hier neben dir pennen?“

Ich warf einen Blick auf das nicht identifizierbare Objekt in der Tüte und packte es aus. Noch eine Flasche Baileys? Ich hätte jetzt nichts gegen einen Drink, ehrlich gesagt!

Mein Becher. In der Plastiktüte befand sich mein Lieblingsbecher, mit etwas darin, das raschelte und klirrte.

„Beeindruckend“, murmelte ich. „Die Flasche hast du zerstört, aber der Becher ist noch ganz.“

Kyre antwortete nicht, also zuckte ich mit den Schultern und spähte in den Becher.

200 Dollar in glatten Scheinen. Sehr freundlich, auch wenn ich nicht darum gebeten hatte.

Dazu ein unversiegelter, weißer Umschlag mit der Aufschrift „Für Ros“. Ich öffnete den Umschlag, schüttelte ihn und fing ein dickes Bündel Geldscheine auf sowie ein Stück Papier, das mit seltsamen bräunlichen Flecken übersät war. Ich war nie gut im Schätzen gewesen, aber das war eine Menge Geld. Ich zählte und stieß einen nachdenklichen Pfiff aus. 5.000 Mäuse.

Ich warf einen Blick auf den Zettel, der daran befestigt war. Ein paar Worte in krakeliger Handschrift.

„Gut gemacht! Danke, Ros. Wir entschuldigen uns für eventuell entstandene Missverständnisse. Goscha.“

Auf dem Papier waren ein paar dunkle Flecken. Schon wieder Baileys? Waren sie am Feiern?

Das Letzte, was ich aus dem Becher fischte, war ein riesiger, knalloranger Button mit einem Smiley-Gesicht, großen Cartoon-Augen und der Aufschrift: „Bitte verzeih mir.“

Auch von Goscha? Hoffte ich jedenfalls nicht.

Kyre murmelte etwas, zuckte zusammen und begann, die Treppe hinunterzurutschen.

„Verdammt! Wo willst du denn hin?“, brummte ich, hechtete nach vorne und packte sie an der Schulter. „Warte mal!“

Ich konnte ihren schlaffen Körper gerade noch davon bewahren, die Treppe hinunterzurutschen. Da ertönte ein Summen. Musik drang aus Kyres Tasche und hallte in der Lautstärke eines Livekonzerts im Treppenhaus wider. Ich kannte das Lied von früher, aber das machte es nicht weniger unpassend in dieser Situation. Fluchend versuchte ich, das Telefon aus einer engen Innentasche zu fischen, während der enthusiastische Sänger immer noch seine Ode an die Heimat trällerte.

„Hello Africa! Tell me how you're doin'!

Hello Motherland! Tell me how you're doin!“

Verdammt! Das Ding steckte fest!

„Hello Africa! Tell me how you're doin'!

Hello Motherland! Tell me how you're doin!“

Komm schon raus, du Scheißding!

In der Zwischenzeit hatte der Chor in den Gesang eingestimmt.

„Hello Nigeria! That's my motherland…”

„Arrr!“ Meine Reaktion war alles andere als musikalisch. Endlich hatte ich das Telefon befreit, drückte die Antworttaste und brüllte: „Was zur Hölle willst du?“

„Und wer zur Hölle bist du, Arschloch?“

„Wie bitte?“

„Wer bist du, und warum hast du dieses Telefon?“

„Verpiss dich! Wenn einer von uns ein Arschloch ist, dann bist du es!“ Mein Geduldsfaden war endgültig gerissen. „Gib mir deine Adresse, damit ich vorbeikommen und dir den Schädel einschlagen kann!“

Stille. Es folgte eine etwas verlegene Frage. „Ros? Bist du das?“

„Ja! Äh, Moment … Vlas?“

„Ja, hi, Ros. Hör mal …“

„Schon gut. Alles in Ordnung, Vlas“, unterbrach ich ihn.

„Wow. Also gut. Besuch von Zoff bekommen?“

„Das kann man wohl sagen.“ Ich seufzte. „Sie liegt hier völlig dicht vor meiner Tür. Also wirklich …“

„Puh! Da fällt mir ein Stein vom Herzen! Ich meine, nicht, weil sie betrunken ist. Weil sie in Sicherheit ist. Sag mal, sind du und Kyre …?“

„Sind wir was?“

„Ich meine, seid ihr zusammen?“, fragte Vlas in einem neutralen Tonfall.

„Was? Nein! Wie kommst du denn auf die Idee?“

„Na ja, zum einen wäre da die Tatsache, dass sie unserem lieben Bodybuilder-Banker die Nase gebrochen hat. Hast du das gewusst?“

„Was?“

„Jap. Auf der Krankenstation! Heiliger Strohsack! Ich weiß auch nicht mehr. Goscha hat nichts verraten. Aber seine Stimme war weinerlich, und er klang ziemlich durch den Wind. Sitzt da und jammert, da kann man sich das Lachen fast nicht verkneifen. Jedenfalls, es tut mir wirklich leid, Ros. Wegen vorhin. Dass du und ich am Telefon fast aneinandergeraten sind. Ich hatte gerade mit Goscha gesprochen und wollte Kyre anrufen und nach dem Rechten sehen. Ist ja schließlich mitten in der Nacht. Und da antwortet ein wütender Kerl, also habe ich mir fast in die Hose gemacht.“

„Wie hat sie das überhaupt geschafft? Wir sind erst ein paar Stunden aus dem Spiel!“

„Zoff erwischt einen eben immer eiskalt.“ Vlas lachte. „Frag mal Goscha. Also, ich war mir so sicher, dass du und sie …“

„Da war nichts zwischen uns!“, brüllte ich, dann senkte ich die Stimme, da mir bewusst geworden war, dass ich mich im Treppenhaus befand und es mitten in der Nacht war. „Nichts!“

„Wenn du meinst“, erwiderte Vlas, klang aber nicht überzeugt. „Wenn da nichts wäre, würde sie die Pläne der Führung nicht sabotieren! Hey, ich habe in letzter Zeit ein paar neue Wörter gelernt, toll, oder? Nennt sich Weiterbildung!“

„Warte … sabotieren? Kyre?“

„Ja, Kyre. Sie hatte ein spezielles Paket für alle möglichen unerwarteten Ereignisse im Clan-Tresor vorbereitet. Sie musste es nur holen. An alles war gedacht. Handwerkliche Ausrüstung, Stäbe für Kampfmagier, ein ganzer Haufen Schriftrollen mit Top-Level-Zauber, Lichter und etwa hundert Phiolen mit Zaubertränken. Jedes einzelne Detail war berücksichtigt worden, einschließlich einer Rolle zur Beschwörung einer Schaluppe. Man liest sie und ein Boot materialisiert sich direkt vor einem, und man kann es steuern, wohin man will. Und was bringt sie mit?“

„Schwerter, Äxte, Kettenhemden“, antwortete ich und überlegte. „Wirklich coole Pfeile, aber keinen Bogen …“

Während ich mechanisch das von Kyre zu unserer Mission mitgebrachte Zeug aufzählte, streckte sich meine Hand aus, um das Haar der Frau zu streicheln, die immer noch auf dem schmutzigen Beton lag.

Liebste Kyre, ich bin dir so dankbar für deine seltsame Art und die Tatsache, dass du den Bootsbeschwörungszauber zurückgelassen hast, obwohl er uns geholfen hätte, das Meer der Tränen zu überqueren.

Ich konnte mir ihre zu misstrauischen Schlitzen verengten Augen bildhaft vorstellen, hätte ich eine Fahrt auf dem Boot abgelehnt. Oder bei meinen erbärmlichen Bemühungen, zu erklären, warum ich lieber schwimmen wollte. Denn so wäre es gewesen. Nichts hätte mich dazu bringen können, an Bord eines Schiffs zu gehen. Danke, danke, danke Kyre. Danke, kleine Freundin.

Vlas plapperte weiter, er ahnte nicht einmal, wie emotional ich am anderen Ende der Leitung gerade geworden war.

„Jedenfalls war es so, dass unser Manager einen Blick auf die Logs des Clans geworfen hat, als ihr euch auf den Weg gemacht hattet, um die Quest zu erledigen. Dabei wäre er fast in Ohnmacht gefallen. Das vorbereitete Paket war unangetastet geblieben, und was sie mitgenommen hatte, hätte nicht einmal gegen eine Dorfscheune voller Ratten geholfen. Als hätte ein totaler Noob den Tresor geplündert. Und, Bruder, ich sag es dir, Kyre ist alles andere als ein Noob. Sie war es, die mir damals beigebracht hat, was man packen muss und zu welchem Zweck.“

„Krass.“

„So was von! Aber was geschehen ist, ist geschehen, und Kyre ist in Sicherheit, also gute Nacht!“

„Gute Nacht?“ Ich saß kerzengerade am Treppenabsatz. „Und wer bringt Kyre nach Hause? Sie ist sternhagelvoll. Du musst sie holen, du hast sicher ein Auto!“

„Nein, danke. Sie ist zu dir gekommen, also kannst du dich um sie kümmern. Ich will keinen Zoff“, frohlockte Vlas. „Wiederhören!“

„Vlas!“

Stille. Vlas hatte aufgelegt.

Eine Tür knarrte leise, und Frau Bobrikov höchstpersönlich kam aus ihrer Wohnung auf den Treppenabsatz. Sie wirkte tatsächlich verschlafen. Wir hatten sie wohl doch aufgeweckt.

„Rostislaw? Bist du es? Du liebe Zeit! Kyre, Schätzchen! Was ist denn los mit dir?“ Die alte Dame verfiel in den Glucken-Modus und tat so, als hätte sie die junge Frau gerade erst auf dem Boden liegen sehen. Dabei musste sie schon vor einer Weile aufgewacht sein, um alles, was ihr vor die runde Linse ihres Türspions kam, genau zu beobachten.

Oder vielleicht auch nicht. Die Nachbarin sah aufrichtig besorgt aus.

„Es geht ihr gut, Frau Bobrikov“, sagte ich beschwichtigend, bevor sie noch die Polizei oder den Krankenwagen rief. „Sie hat einfach zu viel getrunken. Es tut mir wirklich leid, dass ich Sie geweckt habe.“

„Betrunken? Das sieht ihr gar nicht ähnlich“, sagte sie mit einem Stirnrunzeln und erschnupperte den Hauch von Alkohol auf dem Treppenabsatz.

„Woher wollen Sie wissen, was ihr ähnlich sieht und was nicht?“, wollte ich schon ätzen, aber ich hielt mich zurück. „Ja, genau“, sagte ich stattdessen. „Betrunken.“

„Wenn das so ist, muss sie einen Grund gehabt haben!“ Frau Bobrikov warf mir einen strengen Blick zu und beugte sich über Kyre. „Und schämst du dich nicht? Sie einfach so auf dem kalten Boden liegenzulassen! Warum trägst du sie nicht in die Wohnung?“

„Warum nicht?“, stammelte ich. „Also, was den Grund angeht … Na ja, wir hatten einen Streit.“

„Ihr jungen Leute.“ Die alte Frau seufzte und warf mir einen missbilligenden Blick zu. „Du wirst jetzt das Mädchen vom Boden aufheben und sie hineinbringen, sonst erkältet sie sich noch, und das ist das Letzte, was eine Frau brauchen kann! Du wirst es sonst noch selbst bereuen, wenn ihr keine Kinder bekommen könnt. Und das hast du dann niemandem zuzuschreiben außer dir selbst.“

„Frau Bobrikov! Wer hat denn von Kindern gesprochen? Haben sich denn alle gegen mich verschworen?“, heulte ich, hungrig, völlig übermüdet und beinahe schon ein wenig hysterisch.

„Es gibt keinen Grund, wegen so einer Kleinigkeit in Streit zu geraten! Das Leben ist kein Spiel. Ein Streit ist schnell angezettelt, aber es ist viel schwieriger, etwas wiedergutzumachen.“ Frau Bobrikov seufzte erneut und schaltete dann wieder in den Wut-Modus. „Und jetzt hol das Mädchen vom Boden! Hast du mich beim ersten Mal nicht richtig verstanden? Um die Glasscherben und den Fleck kümmere ich mich.“

„Ich mache es schon“, bot ich an, um Initiative zu zeigen, aber Frau Bobrikov winkte erzürnt ab, also widmete ich mich Kyre. „Das Leben ist kein Spiel“, murmelte ich kopfschüttelnd. „Was sie nicht sagt …“

Ich packte Kyre, warf sie mir kurzerhand über eine Schulter und schleppte sie in die Wohnung, wobei ich vor Schmerzen aufstöhnte. Mein Nacken war nicht begeistert von meiner Idee. Die Nachbarin war nicht sonderlich beeindruckt. Diese Aktion war nicht gerade die „romantische“ Geste vom letzten Mal, als ich Kyre auf meinen Armen in meine Wohnung gebracht hatte. Frau Bobrikov machte ein saures Gesicht. Ich konnte Kyre aber verdammt noch mal einfach nicht heben. Meine Arme fühlten sich an wie gekochte Nudeln, und ich konnte den Hals kaum drehen. Vor Schmerzen lief ich ohnehin schon seitwärts wie eine Krabbe. Ich hatte keine Lust, dabei auch noch komatöse Baileyssäuferinnen von A nach B zu tragen. Sie fühlte sich schwerer an als zuvor, oder war es der Mangel an Adrenalin?

„Die Last des Verrats wiegt schwer, nicht wahr?“, flüsterte ich heiser, als ich Kyre auf das Bett fallen ließ und neben ihr zusammensackte.

Ich atmete ein paar Mal ein und aus, massierte meinen Nacken vorsichtig mit den Fingerspitzen und griff in die Schublade, um mein Notizbuch zu holen.

Verdammt. Andere Leute hatten dicke Scheckbücher. Das einzige dicke Buch, das ich hatte und das immer weiter an Umfang zunahm, war das Notizbuch mit meiner Kontaktliste.

Ich fand auf Anhieb die Nummer, neben der die Notiz „nur nachts“ vermerkt war, und wählte sie.

„Hallo?“, antwortete eine kehlige Stimme in schleppendem Tonfall.

„Hey, Rashid. Schläfst du oder fährst du?“

„Sowohl als auch, mein Freund!“, antwortete mein alter Bekannter fröhlich. Er war Taxifahrer und arbeitete nur nachts. „Brauchst du mich?“

„So ist es. Ich bin zu Hause. Weißt du die Adresse noch?“

„Natürlich! Weiß ich noch, Bruder! Ich bin in etwa 20 oder 25 Minuten da. Ist das in Ordnung?“

„Sehr gut“, sagte ich und war froh darüber, dass er so lange brauchen würde.

„Bin auf dem Weg.“

Ich bedankte mich bei Rashid, legte auf und wählte eine andere Nummer. Es dauerte zehn Pieptöne, bis er endlich dranging.

„Vlas! Du bist immer noch ein Mistkerl!“

„Und mit deinem Geiste“, sagte Vlas keuchend. „Hör mal, Zoff passt mir heute nicht in den Kram! Hab‘ keine Zeit!“

Eine schmollende Stimme ertönte im Hintergrund.

„Vlas … Lass mich doch nicht allein, Zuckerschnute, komm her.“

„Zuckerschnute?“, krähte ich. „Du Arschloch!“

„Als dein Anwalt rate ich dir, das Gleiche zu tun“, sagte Vlas. „Und du hast ein fantastisches Mädchen neben dir!“

Ich starrte das „fantastische Mädchen“ an. Kyre schnarchte kurz auf und schlief dann mit geöffnetem Mund weiter.

„Weißt du wenigstens, wo dieses ‚fantastische Mädchen‘ wohnt?“

„Klar, Sekunde. Ich habe irgendwo ihre Festnetznummer.“

„Was mache ich mit ihrer Nummer?“

„Hey, sie wohnt in einer schicken Gegend! Eine bewachte Wohnanlage mit einem Haufen fieser Sicherheitsleute. Sie lassen einen nicht einmal in die Nähe vom Tor, es sei denn, die Bewohner genehmigen es.“

„Aber die schlafen wahrscheinlich alle …“

„Wenn ich es dir sage. Lass sie bei dir übernachten. Sie schläft doch schon. Morgen steckst du sie in ein Taxi, und das Problem ist gelöst. Warum willst du dir jetzt noch die Mühe machen, Alter?“

„Bei mir übernachten lassen …“ Ich dachte kurz nach, aber dann stellte ich mir vor, wie sie morgens aufwachte und wir dann die ganze peinliche Erklärungsnummer durchspielen mussten. Allein beim Gedanken daran wurde mir schlecht. „Gib mir die Nummer!“

* * *

„AAAALLES KLAR…“, brummten wir beide unisono, als wir das Haus sahen.

„Ich wünschte, ich würde so leben, Kumpel!“ Rashid hatte unser beider ersten Gedanken recht prägnant zusammengefasst.

„Nicht schlecht“, stimmte ich zu, während ich die Beifahrertür des Taxis öffnete und mich hinausstemmte.

Die Bude vor uns war kein Haus, es war eine dreistöckige Vorstadtvilla, wie man sie sonst vielleicht in einem noblen Londoner Vorort fand. Ein perfektes Haus, perfekter Efeu an den Mauern, ein perfekter Rasen mit geschmackvoll bepflanzten Blumenbeeten. Man brauchte seine Augen nicht anzustrengen, alles war gut beleuchtet. Den Besitzern war offensichtlich egal, wie hoch ihre Stromrechnungen waren.

Ich brauchte nicht einmal anzuklopfen. Eine massive Holztür wurde geöffnet, und ein junger Mann kam heraus. Er war wahrscheinlich an die 20.

„Hey!“

„Hallo“, erwiderte ich, wobei ich ein Gähnen unterdrücken musste. Dann öffnete ich die hintere Autotür. „Habe ich vorhin mit dir telefoniert? Bist du Kyres Bruder?“

„Genau“, sagte der Typ und schüttelte mir die Hand. „Ich bin Mischa, ihr Bruder. Gut, dass ich nicht geschlafen habe. Wäre Tante Lena ans Telefon gegangen … Die würde einen richtigen Aufstand machen. Also seid lieber leise.“

„Okay“, sagte ich nun im Flüsterton. „Sie ist da drin.“

Der Kerl beugte sich über die Rückbank des Taxis und kam ein paar Sekunden später wieder zum Vorschein, Kyre in den Armen, als wäre sie ein Sack Daunen. Da konnte man glatt neidisch werden. Vorhin hatte ich die junge Frau mit größter Mühe und unter Fluchen die Treppe hinuntergeschleppt. Ich war nicht schwach. Nur … unendlich müde.

„Bist du ein Sportler?“

„Na klar! Ein Schwimmer. Und ich spiele Wasserpolo“, sagte Mischa.

„Warum schläfst du dann nicht?“

„Ach“, murmelte er mit einer wegwerfenden Geste. „Ich war so in Gedanken und bin rumgelaufen …“

„Mischa?“ Eine besorgte Stimme drang aus dem Inneren der Villa. „Was ist passiert? Ist es Kyre?“

„Verdammt! Tante Lena!“, sagte der Kerl mit einer Stimme, als ging es zum Galgen.

„Dann viel Glück!“, sagte ich kurz angebunden und kletterte wieder ins Auto. „Rashid, Vollgas!“

Der Motor heulte auf, und wir ließen Mischa stehen.

„Jetzt hast du Zoff“, sagte ich grob und schaute in den Rückspiegel. „Gedankenverloren rumlaufen. So etwas Ähnliches habe ich kürzlich erst gehört.“

„Wieder zu dir?“, fragte Rashid und riss mich aus meinen Grübeleien.

„Ja. Heim und etwas schlafen! Obwohl … Auf Weg halten wir noch irgendwo an, um ein paar Flaschen Baileys zu besorgen. Ich habe Lust auf etwas Süßes. Oh, und eine Schachtel Pralinen für Frau Bobrikov.“

Zweites Kapitel

Namenswahl. Ein beeindruckender Name für das Haustier. Ein ruinierter Blockbuster.

HEY HO, LET'S go …

Einloggen.

Ein Blitz.

„Milch! Ich brauche drei Krüge. Und eine neue Flasche. Die ebenfalls mit Milch füllen. Etwas Beeilung, bitte!“

„Natürlich, mein Herr!“, sagte der Besitzer des einzigen Ladens im Vorland des Kummergebirges dienstbeflissen und setzte sich sogleich in Bewegung.

Drei Tonkrüge landeten mit einem lauten Ploppen auf dem Tresen. Eine große, lederne Flasche gesellte sich zu ihnen.

„Danke! Und hier, bitte schön!“ Ich schmiss eine Handvoll Kupferstücke auf den Tresen. „Ja, ja! Ich weiß! Es war nicht genug beim letzten Mal!“

„Ihr habt auch eine Flasche gekauft …“

„Ich weiß! Er hat sie zerbissen!“ Ich zuckte mit den Achseln, seufzte und schaute unter mein Hemd. „Du bist kein Wolf! Du bist ein Vielfraß!“, stöhnte ich.

Möchtest du dein Haustier Vielfraß nennen?

Ja/Nein.

Achtung: Der Name, den du deinem Haustier gibst, kann nicht mehr geändert werden …

„Nein! Aber der Name würde passen! Hier! Guten Appetit!“

Eine feuchte, schwarze Schnauze tauchte aus einem Loch in meiner Jacke auf, die generell schon bessere Zeiten gesehen hatte, und stieß nach vorne. Kleine Reißzähne schnappten nach der Flasche. Ein kehliges Knurren, das ab und zu in ein vergnügtes Quietschen überging.

Die Flüssigkeit in der Flasche begann sich mit unglaublicher Geschwindigkeit zu verringern, ebenso der Fortschrittsbalken der Haltbarkeit der Flasche.

Das Wolfsjunge hatte ein Nest in meiner Jacke gebaut und weigerte sich kategorisch, es zu verlassen. Somit war ich zu einer Art Känguru-Mutter geworden. Fehlte nur noch, dass ich zu hüpfen begann.

Das Junge ließ sich alles, was es brauchte, direkt nach Hause liefern. Immerhin war seine Wunschliste bisher kurz – Milch. Oder Essen.

„Wen haben wir denn hier?“

„Ich habe keinen blassen Schimmer“, gestand ich und beobachtete den kleinen Wolf dabei, wie er die lederne Flasche zu Konfetti verarbeitete. „Sieht aus wie ein Wolf, aber er ähnelt am meisten einem wirklich gefräßigen Schwein. Einer Wildsau!“

Möchtest du dein Haustier …

„NEIN!“

„Ein Wolfsjunges!“ Der Ladenbesitzer zog verblüfft die Augenbrauen hoch. „Da müsst Ihr ihm besser etwas kräftige Rinderbrühe füttern. Er ist schließlich kein Kalb, das mit Milch aufgezogen wird.“

Ich hörte immer auf den Rat der Einheimischen und nickte deshalb sogleich. „Klar, mache ich. Bitte etwas Rinderbrühe!“

„Aber ich habe doch gar keine!“ Der Ladenbesitzer breitete seine Arme aus. „Er könnte aber wirklich etwas Brühe gebrauchen.“ Als er meinen frustrierten Blick sah, fügte er eilig hinzu: „Aber sie haben Rinderbrühe im Gasthaus, das weiß ich bestimmt!“

„Danke, mein Herr“, antwortete ich, strich die mit Milch gefüllten Flaschen von der Theke und stopfte sie in meinen Rucksack.

Ich hatte große Zweifel, dass das Wolfsjunge sich nach einem Kessel Rinderbrühe lange beruhigen würde, aber vielleicht wenigstens lange genug, damit ich kurz verschnaufen konnte.

Nachdem ich den Laden eilig verlassen hatte, hüpfte ich über ein paar Pfützen zum Gasthaus. Ich war so kopflos unterwegs, dass ich, als mich jemand rief, abrupt stoppen musste und dabei Fontänen von Tropfen über die Straße jagte.

„Rosgard!“

„Hm?“ Ich drehte mich erstaunt um.

Ein dunkelhaariger, in strahlende Gewänder gekleideter Engel musterte mich verärgert.

„Hallo …“

„Hallo zurück.“ Der Unsterbliche seufzte und warf einen Seitenblick auf die feuchte Nase, die unter meiner Jacke hervorlugte. „Hast du denn die Absicht, deinem Haustier einen Namen zu geben?“

„Irgendwann schon. Warum?“

„Nun, es ist ein einzigartiges Haustier“, erklärte der Unsterbliche gravitätisch. „Es gibt etwa zwei Dutzend von ihnen in Waldyra. Nicht nur Wölfe natürlich, einzigartige Bestien mit einem besonderen Aussehen und besonderen Fähigkeiten.“

„Das heißt?“

„Das heißt, eines dieser Haustiere zu erhalten ist eine Errungenschaft, die dokumentiert werden sollte. Mit einem Gemälde, in dem alle Nuancen der Komposition berücksichtigt werden. Und einer der Vertreter der Verwaltung muss dir alsbald gratulieren, genau in dem Moment, in dem du einen wahren Freund findest, einen treuen Weggefährten und so weiter und so fort.“

„Danke für die Glückwünsche, aber ich würde es vorziehen, diese Errungenschaft nicht auf die Wände der örtlichen Gasthäuser zu pflastern.“

„Du hast die Errungenschaft doch noch gar nicht erhalten!“, fuhr der Engel mich an und wich dann augenblicklich zurück. „Bitte verzeih. Also, hast du vor, deinem Wölfling einen Namen zu geben?“

„Habe ich nicht!“, gab ich zu und fügte, als ich bemerkte, dass der Engel das Gesicht verzog, als hätte er in eine Zitrone gebissen, hinzu: „Noch nicht. Ich habe mich noch nicht für einen Namen entscheiden können. Ich weiß nicht, wie ich ihn nennen soll, okay? Verklag mich doch! Kannst du mir nicht einen Tipp geben?“

„Es ist uns untersagt, die Spieler in ihren Handlungen in irgendeiner Weise zu beeinflussen“, flötete der Engel, offensichtlich nicht erpicht darauf, sich einzumischen. „Du kannst dir mit der Namensgebung deines Haustieres so viel Zeit lassen, wie du willst. Aber seine Gefräßigkeit wird nachlassen, sobald du ihm einen Namen gegeben hast. Im Übrigen kaut er gerade auf deiner Jacke herum, falls dir das entgangen sein sollte.“

„Das darf doch nicht wahr sein! Aufhören, du Ferkel!“

Möchtest du dein Haustier …

„Nein, möchte ich definitiv nicht! Verdammt aber auch.“

„Du hast dir bestimmt schon überlegt, welcher ein geeigneter Name für dein Haustier wäre“, versuchte der Engel es auf die diplomatische Tour.

„Das habe ich! Und dann habe ich meine Meinung geändert. Und weiter bin ich noch nicht gekommen.“

„Dann wünsche ich dir viel Glück.“ Der Unsterbliche seufzte, während er von Sekunde zu Sekunde durchsichtiger wurde. Mir war, als hörte ich ein schwaches Echo, als er schon beinahe verschwunden war. „Und mir selbst erst recht.“

„Ich weiß wirklich nicht, wie ich ihn nennen soll“, erklärte ich dem leeren Raum vor mir, wo sich eben noch der Engel befunden hatte, und trabte dann in Richtung des Gasthauses, angetrieben von dem ungeduldigen Quieken und Jaulen des Wolfsjungen.

Der Vorraum empfing mich mit der üblichen Stille. Es gab Gäste, aber nur sehr wenige, und die meisten blieben unter sich.

Ein Elf mit rosa Haaren zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Seine Ohren waren so lang und spitz, dass sie durch sein dichtes, zotteliges Haar ragten. Nicht nur sein extravagantes Aussehen machte mich neugierig, sondern auch der unglaublich dicke Wälzer mit winzigen Buchstaben, in den er sich vertieft hatte. Mir war klar, dass der Elf nicht versuchte, seinen Intellekt zu steigern oder neue Fähigkeiten für seine Charakterklasse zu erlernen. Der Spieler saß einfach nur an dem blank gewischten Tisch, nahm ab und zu einen Schluck aus einem dampfenden, bauchigen Glas und warf verträumte Blicke auf die bauschigen Wolken draußen. Das Buch musste ein für Waldyra digitalisierter Geschichtsroman sein oder vielleicht sogar einer, der hier geschrieben worden war. Er las ihn nur zum Spaß.

Zwei Einheimische unterhielten sich mit gedämpften Stimmen an einem Tisch in der Nähe. Ein Spieler stand an der Bar und versuchte, der Frau des Gastwirts, die ihn um mehrere Köpfe überragte, etwas zu erklären. Sie war eine Walküre, die einen schneller nach Walhalla mitreißen würde, als man Robinson sagen konnte. Den Körperbau eines Postrosses, aber ohne ein Gramm Fett. Ihre vollen Lippen waren irritiert geschürzt. Offenbar beeindruckte sie das, was der Spieler ihr erzählte, nicht besonders.

Ich vergewisserte mich, dass der Wirt selbst außer Sichtweite war, näherte mich der Bar und stellte mich hinter den jammernden Spieler. Ein Level-70-Mensch mit einer Axt und einem Säbel, die über Kreuz an seinem Rücken hingen. Eine unkonventionelle Wahl, fand ich.

„Wie kommt es aber, dass er geschlossen ist? Ich bin nur einen Tag zu spät gekommen, und der Tempel ist schon geschlossen!“ Der Spieler war eindeutig verärgert. „Was kann ich dafür, ich musste eine 24-Stunden-Schicht arbeiten! Jetzt habe ich das Ganze verpasst!“

„Ich weiß nicht, wovon Ihr redet, guter Mann.“ Die Frau des Gastwirts kannte den Zeitplan der Verwaltung für solche Veranstaltungen wie die, die gestern stattgefunden hatte, tatsächlich nicht. Ich las den Namen des Spielers, während ich geduldig wartete. Flash Foot.

„Sie sollten den Tempel die ganze Zeit über geöffnet halten! Die Verwaltung kann es sich doch sicher leisten.“

„Ich sage es Euch noch einmal, ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht“, sagte die Frau und zuckte ihre atlantischen Schultern.

---ENDE DER LESEPROBE---