Die Ödipusfalle - Andreas Mäckler - E-Book

Die Ödipusfalle E-Book

Andreas Mäckler

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Beschreibung

Alexander, Journalist, Mitte dreißig, ist ein Getriebener. Er verliebt sich vorzugsweise in ältere Frauen, Frauen, die sogar seine Mütter sein könnten. Seit seiner Kindheit ist das so. Er weiß es und steht dazu. Das macht ihn zu einem tragikomischen Helden.Der Roman stellt spielerisch zwei Welten gegenüber, die eigentlich problemlos zusammenpassen könnten, es aber nicht tun. Alexander besitzt zwei bemerkenswerte Charakterzüge: Er ist ein Mann mit der seltenen Eigenschaft, sich seiner Gefühle nicht erwehren zu können. Und: Er versteht die Seele der Frauen nicht wirklich. Sein stürmisches Begehren macht ihn blind. Die Liebe zu den Frauen und die Liebe zur Kunst sind für ihn eng miteinander verbunden. Das gibt dem Roman einen besonderen, leichten Ton, ironisch, verführerisch, einschmeichelnd. Das Thema, warum Männer und Frauen nicht immer zueinander passen, wird in Die Ödipusfalle auf eine überraschende Weise durchgespielt. Endlich ist einmal der Mann der Gefühlsmensch, und die Frau die Nüchterne, Rationale.

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Die Ödipusfalle

Roman

 

Andreas Mäckler

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Alexander, Journalist, Mitte dreißig, ist ein Getriebener. Er verliebt sich vorzugsweise in ältere Frauen, Frauen, die sogar seine Mütter sein könnten. Seit seiner Kindheit ist das so. Er weiß es und steht dazu. Das macht ihn zu einem tragikomischen Helden.

 

Der Roman stellt spielerisch zwei Welten gegenüber, die eigentlich problemlos zusammenpassen könnten, es aber nicht tun. Alexander besitzt zwei bemerkenswerte Charakterzüge: Er ist ein Mann mit der seltenen Eigenschaft, sich seiner Gefühle nicht erwehren zu können. Und: Er versteht die Seele der Frauen nicht wirklich. Sein stürmisches Begehren macht ihn blind. Die Liebe zu den Frauen und die Liebe zur Kunst sind für ihn eng miteinander verbunden. Das gibt dem Roman einen besonderen, leichten Ton, ironisch, verführerisch, einschmeichelnd. Das Thema, warum Männer und Frauen nicht immer zueinander passen, wird in Die Ödipusfalle auf eine überraschende Weise durchgespielt. Endlich ist einmal der Mann der Gefühlsmensch, und die Frau die Nüchterne, Rationale.

 

Andreas Mäckler, geb. 1958, schreibt Biografen, über Kunst sowie Kriminalromane. 1999 erschien der Designerkrimi Tödlich kreativ, 2015 Die Domina – Thriller (mit Marleen Winterfeld), 2019 Der Sturz nach oben – Ladykrimis.

 

Impressum      

Texte:             © 2019 by Dr. Andreas Mäckler

Umschlag      Peter Höllerer, MünchenVerlag:            xlibri Buchproduktion GbR

www.ödipusfalle.de

info@ödipusfalle.de

 

Hardcover:       ISBN 978-3-946307-16-7E-Book:       ISBN 978-3-9654-4895-7

 

Inhaltsverzeichnis
Die Vorfalle
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
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30

So fürchte

auch du dich nicht vor deiner Mutter Bette,

denn viele schon sahen in Träumensich der Mutter zugestellt.

Sophokles, König Ödipus

 

 

Die Vorfalle

 

Alexander fühlte eine hitzige Unruhe in sich. Wenn er nach der Schule zu seinen Freunden ging, klopfte ihm das Herz bis zum Hals – doch nicht ihretwegen, es waren deren Mütter, die er begehrte. Wenn er mit seinem Ranzen auf dem Rücken vor ihrer Haustür stand, wünschte er sich, die Mütter würden ihn in den Arm nehmen, an ihre Brüste drücken und in ihren großen Leib hineinsaugen. Immer hatte er Sehnsucht nach ihrem Lachen, ihrer Wärme und den Leckereien in der Küche. Natürlich gab es auch Frauen, die nur meckerten und keiften, doch deren Söhne hatten keine Chance, Alexanders Freunde zu werden.

Seine eigene Mutter lebte in so hoffnungsvoll komplizierten Verhältnissen, dass Alexander nie mit Sicherheit zu sagen wusste, welcher Mann gerade ihre Gunst genoss. Er erinnerte sich nur daran, dass an seinem vierten Geburtstag das Kinderbett aus dem Haus getragen wurde. Zwischen den Gittern klemmte noch der Teddybär. Alexander hatte den ganzen Abend geweint und durfte zum Trost in der freien Hälfte des Betts seiner Mutter schlafen. Sie streckte ihm im Dunkeln die Hand entgegen und er drückte und liebkoste sie so heftig, dass sie sich darauf einigten, diese Hand sei ein Hund, den sie Wuffi nannten.

Von da an spielte Alexander jeden Abend vor dem Einschlafen mit Wuffi, streichelte ihn, ließ sich von ihm beißen und kroch hinter ihm her. Wenn er manchmal in etwas Wolliges fasste, zog Alexander seine Hand blitzschnell zurück, ließ sie aber bald wieder zu diesem geheimnisvollen Etwas wandern. Eines Tages verkündete er: Mama, wenn ich groß bin, will ich dich heiraten!

Edith zog ihn an sich und lachte.

So vergingen die Jahre, und mit ihnen wuchs auch an Alexanders Körper Wolliges und noch einiges mehr. Er schlief weiterhin im Zimmer seiner Mutter, aber beim An- und Ausziehen bemühte er sich, im Schatten des Kleiderschranks mit allerlei Verrenkungen so in den Schlafanzug oder in die frische Tageswäsche zu steigen, dass seine Mutter möglichst wenig von seinem Körper zu sehen bekam. Es gab nur diesen Raum in der Einzimmerwohnung.

Die beengten Verhältnisse änderten sich jäh, als ein neuer Mann die Szene betrat und Edith wieder heiratete. Alexander bekam ein eigenes Zimmer in dem fremden Haus und war fortan ausgestoßen aus der warmen mütterlichen Höhle. Der Ersatzvater ließ ihn abblitzen, wenn er sich erdreistete, um etwas Zuwendung zu betteln. Alexander begann, sich aufs Träumen zu verlegen.

Vor dem Einschlafen besuchten ihn seine hübschesten Lehrerinnen. In immer neuen Variationen rettete er heldenhaft ihr Leben. Oder er zeigte sich als unverzichtbarer Helfer. Zum Dank durfte er an ihren Brüsten saugen, lag zwischen ihren Schenkeln, streichelte ihr Fellchen und malte sich aus, wie er ihre Ehemänner aus dem Verkehr ziehen konnte. Es gab so viele Arten, die Nebenbuhler auszuschalten. Er könnte ihnen eine Schlinge um den Hals ziehen oder die Radschrauben am Auto lockern, oder, das war Alexanders liebste Tötungsart, er würde sie vergiften. Der neue Stiefvater war Apotheker und verwahrte in einer dunklen Ecke in einer Art Waffenschrank seine giftigsten Substanzen. Oft stand Alexander mit dem Schlüssel in der Hand vor dem Schrank, der ihn magisch anzog, und überlegte, ob er das Fläschchen Arsen oder lieber das mit dem Strychnin verabreichen sollte. Hätten die netten Apothekenhelferinnen geahnt, was in Alexanders zwölfjährigem Kopf herumging, während sie Salben rührten oder Mineralien pulverisierten, wäre ihnen vermutlich der Stößel aus der Hand gefallen.

Schöne Düfte konnten ihm schon mal die Sinne rauben.

 

 

 

1

 

Ankunft München Hauptbahnhof,ein Freitag im Herbst 1992, 18.36 Uhr. Mit zweiundvierzig Minuten Verspätung fuhr der ICE Albrecht Dürer langsam in die Halle ein, öffnete schnaubend die Türen und spuckte seine Passagiere auf den Bahnsteig aus. Mittendrin ein junger Mann um die dreißig mit Brille und schütterem Haar. Er wuchtete seinen Koffer zwischen den Reisenden hindurch, die aus den Waggons quollen und ungläubig fluchend ihrem Anschlusszug am Gleis gegenüber hinterherstarrten, der immer kleiner wurde und schließlich verschwand.

Alexander sah auf dem vor Menschen wimmelnden Bahnsteig einen Kofferkuli stehen, setzte zum Spurt an und kam zu spät. Eine Frau ergriff das Vehikel und stellte mit grimmigem Blick ihren nörgelnden Jungen darauf. Das Gesicht des Kleinen fing zu strahlen an, als seine Mutter mit ihm Slalom zu fahren begann. Alexander biss die Zähne zusammen und schleppte seinen Koffer ächzend zum Ausgang.

Auf dem Bahnhofsvorplatz winkte Alexander ein Taxi heran. Er kam wieder zu spät. Ein krummbeinig aussehender Bergbewohner in Lederhose und Filzhut mit buschigem Gamsbart schob ihn schimpfend zur Seite, stieg ein und nickte ihm dann freundlich zu. Beim nächsten Wagen hatte Alexander mehr Glück. Der Fahrer öffnete den Kofferraum und sah zu, wie Alexander den schweren Koffer selbst hineinhievte. Wo soll’s denn hingehen, junger Mann? Schwitzend ließ Alexander sich auf den Rücksitz fallen.

Stadtmuseum bitte, sagte er, und schloss die Augen. Auf keinen Fall wollte er die Reden zur Eröffnung der Himmelstoss-Ausstellung Broken Limbs verpassen. Den Koffer würde er an der Garderobe abgeben. Als Alexander am Münchner Stadtmuseum ausstieg, einem Bau undefinierbaren Alters und Stils mit Zinnentürmchen und Spitzendächern, glaubte er zuerst, sie seien im Kreis gefahren und wieder am Hauptbahnhof angekommen. Die Räume waren überfüllt mit Menschen, Stimmen und Düften. Seit Jahren galt Xaver Himmelstoss als Star der zeitgenössischen Malerei aus Österreich. Viele wollten ihn einmal von Nahem sehen und sich vergewissern, ob der Künstler auch so verstörend aussah wie seine Bilder.

Alexander zahlte fünf Mark für die Kofferaufbewahrung und drückte sich zwischen den herausgeputzten Vernissage-Leibern zur Sektbar durch. Jetzt konnte er einen guten Schluck vertragen, oder besser gleich zwei. Nach drei Gläschen Prosecco, für die er fünfzehn Mark hinlegte, ertrank sein Blick im Dekolleté der Bedienung, bis ihn ein Schlag auf die Schulter aus seinen Fantasien riss. Hallo, Alex!

Erschrocken drehte Alexander sich um und starrte auf die Glatze von Bruno. Ach, du bist’s!, murmelte er und streckte ihm die Hand entgegen. Wie geht’s?

Geht so. Muss ja!

Bruno war ein Kopf kleiner als Alexander, ein Mann um die Fünfzig, der sich physiognomisch seinem Bernhardiner angepasst hatte. Die Krawatte hing schief – Linkshänder, konstatierte Alexander, der sich mit Kriminalromanen auskannte. Ganz schön was los hier!, schrie Bruno ihm ins Ohr.

Ja!, rief Alexander zurück. Ist Ulrike auch hier? (Brunos Frau und empfindlichste Stelle!) Alexander hatte sich die Frage nicht verkneifen können.

Oje, meine Frau! Bruno bellte fast. Habe ich glatt vergessen! Die muss irgendwo herumstehen. Er reckte das Kinn in den Raum hinein, der vor Kunstfreunden nicht mehr zu überblicken war, und trank sein Bierglas leer. Dann zog er Alexander am Ärmel. Komm, gehen wir zu Himmelstoss nach vorn, die Reden haben begonnen.

Immer mehr Leute drängelten zum Podium.

Alexander musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um seinen Lieblingskünstler besser sehen zu können, der nach einigen freundlichen Worten eines graumelierten Laudators erhobenen Haupts ans Rednerpult trat und an das Mikrofon klopfte. Die ersten Sätze waren nicht zu verstehen, aber dann verschaffte sich der Mann mit dem wienerischen Akzent Gehör. Rockmusik, Film und Comicstrips seien die Kunst des 20. Jahrhunderts – mitreißende Ausdrucksformen von einer elementaren Kraft und Intensität. Und diese Qualitäten vermisse er bei den meisten abgesegneten Werken der Hochkunst. Sie seien blutleer und langweilig und hätten mit dem Leben und den Menschen heute zu wenig zu tun.

Applaus für Himmelstoss, einmal mehr war das Publikum von seinen Worten begeistert, wie es von seinen Bildern schockiert war. Früher hatte der Wiener Künstler alltägliche Schrecken und Albträume mit klinischer Präzision auf Papier gebannt; zarte, wie von innen herausleuchtende Kinder mit Narben und bandagierten Köpfen. Heute zeigte er Fotoporträts von Sting, Keith Haring, Michael Jackson, Arno Breker, William Burroughs und anderen Ikonen, die genauso verstört aussahen. Alexander fand, dass dieses Gruselkabinett den Münchner Kunstfreunden optisch kaum nachstand. Wofür Bilder betrachten, dachte er, wenn die Originale überall um mich herumstehen?

Plötzlich sah er sie.

Ihre Figur fiel ihm ins Auge, ihr Gang, die langen Beine, das kurze schwarze Kleid, genau die richtige Länge, genau die richtige Enge, um alle ihre Vorteile zur Geltung zu bringen. Eine Vollblutfrau, Sophia Loren und Tina Turner in Personalunion, brünett, klassisch, um die Fünfzig. Sie trug gleich zwei Exemplare des Katalogs unter dem Arm, das Abgründige schien ihr zu gefallen.

Alexander ließ Bruno einfach stehen und pirschte sich näher an die Unbekannte heran. Die fremde Schönheit war offenbar ohne männliche Begleitung in die Ausstellung gekommen. Sie betrachtete ein Fotoporträt von Charles Bukowski, das Himmelstoss kurz vor dessen Säufertod aufgenommen hatte.

Als sich der Andrang Häppchen kauender Kunstgenießer gelichtet hatte, sah Alexander die schöne Unbekannte auf Himmelstoss zusteuern. Er schlenderte in dieselbe Richtung und stellte sich lässig neben sie, ihr Parfum tief einziehend. Plötzlich drängelte sich eine gestikulierende Frau nach vorn und fiel ihrem Künstlerstar pathetisch um den Hals, als wolle sie ihn erwürgen. Himmelstoss, der Guerillakämpfer mit farbbefleckter Jeans, Cowboystiefeln, Bomberjacke und einem Stirnband, das sein schmales bleiches Gesicht und die schulterlangen Haare umrahmte, wurde rot.

Das war für Alexander das Signal, die unbekannte Frau neben sich anzusprechen. Der arme Xaverl!, sagte er und lächelte sie an. So viel Enthusiasmus fühlt er sich gar nicht gewachsen.

Sie schaute ihn mit großen Augen an. Hm?, sagte sie.       

Alexanders Blick senkte sich auf ihren Mund. Ich bin ein großer Bewunderer seiner Kunst, stellte er sich vor.

Die Unbekannte lächelte. Ja?

Alexander wurde mutiger. In gewählten Worten erläuterte er das Konzept der Ausstellung, ihr Schweigen lockte ihn zu immer mehr Worten. Wie viele Kunstschwärmer redete er über ihren Kopf hinweg. Von Anfang an hat der Künstler seine Arbeit mit der Fotografie begleitet, erklärte Alexander und machte eine ausholende Geste in den Raum hinein, als hielte er den Vortrag vor den tausend Vernissage-Gästen, die gerade begannen, die Ausstellungsräume zu verlassen.

Interessant, meinte sie.

Als Alexander sich als freier Kulturjournalist zu erkennen gab, der gekommen sei, um mit dem Künstler ein Interview zu führen, taute sie auf. Sie fragte nach dem Dichter H. P. Brendel, den sie kannte, und warum er nicht, wie angekündigt, die Eröffnungsrede gehalten hätte? Das wusste Alexander auch nicht, der dafür allmählich zu Hochform auflief. Ob sie nicht anschließend zum Essen mitkommen wolle, fragte er, mit Xaver Himmelstoss und anderen geladenen Gästen?

      Warum nicht?, fragte sie zurück.

Das klang vielversprechend. Jetzt musste Alexander nur noch das Kunststück fertigbringen, sich schnell mit dem Künstler und dessen Gefolgschaft bekannt zu machen, ohne dass jemand fragte, was er hier zu suchen habe. Nicht einmal ein Aufnahmegerät hatte Alexander dabei. Von professionell betriebenem Kulturjournalismus konnte bei ihm, der sich als freier Redakteur eines Boulevardblatts durchschlug, keine Rede sein.

Plötzlich drang eine weitere Unbekannte in ihre Zweisamkeit. Die Freundin, ganz in Pink, wurde als Flori vorgestellt. Sie war von dem Vernissage-Trubel so angeschlagen, dass sie sofort nach Hause fahren wollte. Alexanders einzige Hoffnung war, die Freundin gleich mit einzuladen.

Kaum hatte Flori sich dazu überreden lassen, pirschte wieder Bruno heran, der Bernhardiner, jetzt in Begleitung seines Frauchens. Alexander blieb nichts anderes übrig, als auch sie vorzustellen. Brunos Frau legte ihrem Mann vorsorglich die Arme um den Hals, damit keine auf Gedanken käme. Was machen wir jetzt?

Das war eine gute Frage. Ich gehe schnell rüber zum Xaver, sagte Alexander, und frage, ob ich nach dem Essen noch ein Interview mit ihm machen kann – oder morgen, ist vielleicht sogar besser. Flori und die Unbekannte, deren Name Alexander bei der Vorstellungsrunde nicht verstanden hatte, strahlten ihn erwartungsvoll an. Jetzt schwitzte er noch mehr. An Himmelstoss heranzukommen war nicht schwer, der stand nur wenige Schritte entfernt und signierte Kataloge und Poster, die ihm seine Fans entgegenstreckten.

Beeil dich mit dem Interview!, sagte Bruno und stieß ihn in die Seite. Kunst macht ganz schön hungrig!

Alexander warf einen Blick auf die drei Frauen und schlenderte zu dem Künstler hinüber. Gerade wollte er Himmelstoss zum Erfolg der Ausstellung gratulieren und sein Anliegen vortragen, als ein buntes Völkchen gut gelaunter Jungmenschen sich um den Künstler posierte und Fotos schoss. Alexander blieb nichts anderes übrig, als sich einfach mit dazu zu stellen und genauso wie die Anderen zu grimassieren. Sofort war er einer von ihnen und legte den Arm um die Schulter seines Nebenmanns, der den Daumen in die Höhe reckte und wie aufgezogen es lebe die Kunst! rief.

Cheeeese!

Ja, lang lebe Himmelstoss!, pflichtete Alexander bei, doch der bärtige Bursche in Jeans und Holzfällerhemd neben ihm schien Alexander überhaupt nicht wahrzunehmen. Wir gehen schon mal rüber zum Essen, rief der Himmelstoss-Herold seinem Meister zu, der wieder mit Signieren begonnen hatte und nur kurz nickte. So unkompliziert hatte Alexander sich seine Aufnahme in den Künstlerhofstaat nicht vorgestellt. Er gab Bruno ein Zeichen, sie sollten sich einfach der Truppe anschließen. Alles klar mit dem Essen!, sagte er, Xaver kommt gleich. Gefällt es Ihnen?, fragte er seine Eroberung. Schöne Düfte konnten ihm schon mal die Sinne rauben.

Die Kunstfreunde kehrten neben dem Stadtmuseum im König Ludwig ein, einem gemütlich bayerischen Lokal mit üppiger Lüftlmalerei an der Fassade und Kuhglocken, die innen an den Balken hingen. Drei große Tische waren für den Himmelstoss-Clan reserviert worden – drei Tische zu viel für Alexander. Die selbstbewusste Unbekannte schien sich im Trubel der Himmelstoss-Truppe wohler zu fühlen als mit ihm, von dem sie kaum noch Notiz nahm. Alexander hatte extra dafür gesorgt, dass neben ihm ein Platz frei blieb, doch sie setzte sich weit weg, ausgerechnet zu Bruno und dessen Frau mit der fest betonierten Frisur. Hatte ihr sein Kunstvortrag nicht gefallen?

Mechanisch schlang Alexander das Essen hinunter, ohne überhaupt wahrzunehmen, was auf dem Teller lag. Seine Gesprächsbeiträge mit dem Nachbarn nahmen sich bescheiden aus, es schien hier sowieso keine Rolle zu spielen, was er sagte und ob man überhaupt etwas zu sagen hatte. Er schaute immer nur zu ihr, die unendlich weit entfernt saß. Sie schien sich prächtig mit Bruno zu amüsieren, nur manchmal gab es kurze Blickkontakte.

Es war schon weit nach Mitternacht, als die Tafelrunde sich aufzulösen begann. Die Begehrte nickte freundlich in die Runde und erhob sich. Alexander stand ebenfalls auf und beeilte sich, damit Bruno ihm nicht zuvorkam, ihr in den Mantel zu helfen. Ich hätte mich gern länger mit Ihnen unterhalten, sagte er und gab ihr seine Visitenkarte.

Sie zog einen Timer aus der Handtasche und überreichte ihm ihre Karte.

Edith Birgitta Fahrenkroog

Pharmareferentin

Edith! Wie seine Mutter! Alexander war entzückt, als hätte sie ihm eine Glückspille eingeworfen, dann sah er die Schöne im weißen Golf davonbrausen. Er ging zurück ins Restaurant und zog seinen Koffer unter dem Tisch hervor. Er hatte ihn vom Stadtmuseum herüberschleppen müssen, was auf die Frauen wohl so attraktiv wie ein Kofferträger im Hauptbahnhof gewirkt hatte.

Bruno und Ulrike fuhren ihn im BMW nach Hause. Alexander saß auf der Rückbank, schloss die Augen und malte sich aus, wie er Edith entkleidete. Stück für Stück fielen die lästigen Textilien zu Boden, bis sie in ihrer vollen Blöße dastand – das Urweib!

Klasse Frau!, tönte Brunos Bass vom Fahrersitz.

Ach was!, protestierte Ulrike schnippisch. Alte Pute! Wie von Hera Lind gezimmert. Falsche Haare, angeklebte Wimpern, wahrscheinlich sind auch die Brüste silikongefüllt.

Bruno tätschelte ihre Knie. Alexander hörte seine Finger auf Ulrikes Kleid kratzen. Ja, ja, Schätzchen.

Die lebt doch zwischen Altenheim und Friedhof! Findest du nicht auch, Alexander? Ulrike drehte sich zu ihm um.

Alexander riss die Augen auf. Ja, ja, kann schon sein.

Eins war klar: Bruno musste unbedingt aus dieser Geschichte herausgehalten werden – wenn es denn überhaupt eine werden würde! Sich selbst sah Alexander die Reihe der großen Mütterfreunde fortsetzen: Carl Gustav von Schweden, John Lennon, Salvador Dalí, Schelling, Chopin ... und Alexander Winterfeld. Gemeinsames Kennzeichen: Sie alle liebten ältere Frauen.

An Schlaf war nicht mehr zu denken. Für Alexander war es unmöglich, seine Hoffnungen zu ordnen. Nur Frauen fielen ihm ein, die jüngere Männer hatten – ob tot oder lebendig, spielte keine Rolle mehr: Silvia von Schweden, Yoko Ono, Gala Dalí, Caroline Schlegel, George Sand, Shere Hite, Agatha Christie, Ursula Andress, die Knef mit einem 15 Jahre jüngeren Mann, die Ofarim bot 19 Jahre Gefälle – und jetzt Edith Birgitta Fahrenkroog! Wer, wenn nicht sie, sollte ihm die ödipale Krone aufsetzen?

Alexanders Begeisterung wuchs. Mit großer Geste streckte er im Dunkel seines Junggesellenbetts die Hände nach der Sehnsuchtsgeliebten aus und griff ins Leere. Er wusste zu wenig über sie. Gab es andere Männer im Hintergrund? Häusliche Höllen, aus denen er sie erretten könnte? Als er die dürren Fakten zusammenzählte, wurde ihm bewusst, dass er nichts wusste.

Alexander schamponierte seine letzten Haare und dachte, wenn drei übrig bleiben, kann ich noch einen Zopf flechten.

 

 

 

2

 

Auch am nächsten Morgen wusste Alexander nicht mehr. Als er in den Badezimmerspiegel starrte und nur sich selbst sah, wurde ihm mulmig. Sein rosiges Gesicht hatte einen grünlichen Schimmer bekommen, die durchsichtigen, wasserblauen Augen schielten bei der angestrengten Selbstbespiegelung. Eine Ähnlichkeit mit Woody Allens Stadtneurotiker drängte sich ihm auf. Widerwillig griff Alexander zum Rasierapparat, der so laut summte, dass er ihn erschreckt wieder ausstellte. Dann ließ er warmes Wasser in die Wanne laufen und legte vorsichtig seinen leichnamähnlichen Körper hinein.

Langsam kam Alexander wieder zu Kräften, auch sein Glied erwachte und reckte sich forsch nach oben und ragte wie das Periskop eines U-Boots aus dem Schaumbad. Weil es nichts Weibliches zu sehen gab, fiel es wieder in sich zusammen.

Nebenan hörte er Geschirrgeräusche. Das war Lizzy – Elisabeth –, seine Mitbewohnerin, die Künstlerin. Alexander lauschte, das Klappern in der Küche gab ihm Auskunft über ihre Gemütslage. Heute war Lizzy offenbar gut gelaunt. Alexander sah Teller, Tassen, Marmeladentöpfe und die dickbauchige Kaffeekanne wie UFOs auf den Esstisch schweben. Ihre Wohngemeinschaft konnte nicht harmonischer sein. Zwei Jahre wohnten sie hier schon im platonischen Miteinander, die Mieten in München waren hoch und ihr Einkommen eher gering. Deshalb hatten Alexander und Elisabeth aus der Not eine Tugend gemacht und waren zusammengezogen, ohne sich vorher zu kennen.

Alexander schamponierte seine letzten Haare und dachte, wenn drei übrig bleiben, kann ich immer noch einen Zopf flechten.

Lizzy begrüßte ihn fröhlich am Frühstückstisch. Na, Alexandrowitsch! Wie war deine Horror-Picture-Night?

Er nahm die Kaffeekanne und schenkte sich randvoll ein. Geht so.

Sie ließ das Honigbrötchen sinken und schaute ihn fragend an. Geht’s dir gut?

Alexander führte die Tasse mit beiden Händen an die Lippen, nippte und setzte wieder ab.

Zu viel Alkohol?, bohrte Lizzy weiter.

Kein Besäufnis, sagte er, nur eine Frau. Die Frau.

Olala! Liz zog die Stirn in Falten. Dann müsstest du vor Kraft geradezu strotzen! Oder hat sie dich völlig leergepumpt?

Im Gegenteil, murmelte Alexander und strich sich fingerdick Nutella aufs Weißbrot. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen.

Was? Lizzys grüne Augen funkelten ihn an. Ich konkurriere mit dir doch nicht um den Posten des Gesichtsältesten! Niemals! Seit vier Jahren war (je nach Laune) Liz – Elisabeth – Lizzy neunundzwanzig und sah blendend aus, mindestens so frisch wie … Michelle Pfeiffer, fand Alexander. Einfach zum Knuspern. Schon gut. Er kratzte die verkohlten Teile vom Toast.

Sie zuckte die Achseln: Wir sollten einen neuen Toaster kaufen, der hier ist völlig crazy.

Ja. Alexander sackte in den Stuhl zurück.

Sie lächelte ihn aufmunternd an. Die Frau hat offenbar eine durchschlagende Wirkung gehabt. Erzähl mal.

Ja, mh.

Ja, mh?

Alexander fixierte einen Fleck an der Küchenwand, als stünde dort die Antwort geschrieben. Sie ist ... einfach ..., sagte er und versank wieder in sich selbst.

Einfach wunderbar! Das sagen doch die Männer in so einem Fall, echote Lizzy und zog Alexander in die Gegenwart zurück. Kannst du das Wunder näher erläutern? Name, Alter, Beruf? Wie sieht sie aus, wie klingt ihre Stimme?

Unbeschreiblich gut, murmelte er, wie Sophia Loren in den besten Jahren, mindestens.

Also um die Sechzig? Liz zog die Stirn in Falten, ihr Blick verdüsterte sich.

Nicht ganz, sagte Alexander und spürte plötzlich Unmut in sich aufsteigen. Lizzy, wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen! Schau nur auf deine Geschichte mit Hans-Rüdiger aus Hamburg – war das denn etwas anderes als ein klassischer Elektrakomplex?

Hä? Elisabeth verstand überhaupt nicht, warum Alexander plötzlich so allergisch reagierte.

Er beruhigte sich noch immer nicht. Kalifornien, Fünfsternehotels, die süße kleine Elisabeth im Kreis reicher Manager, die deine Großväter sein könnten. Das ist doch eiskaltes Wohlstandskalkül, ereiferte Alexander sich weiter, was junge Frauen zu älteren Männern zieht! Jawohl: Wohlstandskalkül! Jugend gegen Geld, Geld finanziert Jugend.

Elisabeth hob abwehrend die Hände. Lass gut sein, Alexowitsch! Ich wollte nur sagen, sie könnte deine Großmutter – ähm – deine Mutter sein. Ist doch okay.

Alexander legte das Messer mit einem Schlag auf den Teller. Und Hans-Rüdiger dein Vater!

Elisabeth trank ungerührt ihren Kaffee aus. Hans-Rüdiger war nur eine Episode. Die ist schon zwei Jahre vorbei.

Alexander stand auf, ging zum Fenster und starrte über die Dächer Schwabings, ohne das grandiose Panorama zu sehen. In der Ferne erhob sich der Olympiaturm schlank und fest in den Himmel, auch er richtete Alexanders Stimmung nicht wieder auf. Na und?, sagte er und drehte sich um. Edith ist noch nicht einmal das!

Edith, aha ... Elisabeth räumte den Tisch ab. Du musst nicht gleich so pampig werden! Sie stellte die Spülmaschine an.

Und du nicht so moralinschwanger am frühen Morgen, brummte er. Sag mir einen Grund, wieso ein Mann sich nicht in eine ältere Frau verlieben sollte? Warum sollen nur junge Frauen ältere Männer erobern und ihre Vatersehnsucht mit Luxus stillen? Ich fordere die Gleichberechtigung für Männer! Die Zeit und das Altern sind doch für alle Menschen gleich.

Hat sie denn Geld?, fragte Lizzy. Damit sich der Aufwand lohnt? Liebe ist schließlich Arbeit.

Beklommen käute Alexander den Rest Trockentoast wieder, bis der Mampf die Speiseröhre hinunterglitt. Im Flur hörte er seine WG-Gefährtin die Tür aufschließen, tschüss rufen, ich geh in die Galerie, Bilder verkaufen!, und ihre Absätze im Treppenhaus widerhallen. Wie ferngesteuert lief Alexander zum Telefon. Als er Ediths Nummer wählte, war ihm flau im Magen.

Eine Minute lang hörte er das Freizeichen an und wartete, dass Edith sich melden würde, dann legte er auf. Erst jetzt bemerkte er Lizzys neues Bild auf der Staffelei: Ein Männchen stürzte sich aus dem Fenster und lacht. Komisch, dachte Alexander, das sieht ja aus, wie ich mich fühle. Er setzte sich aufs Sofa, schlug die Beine übereinander und lauschte in die Stille. Wir brauchen unbedingt ein neues Regal, sonst können wir uns keine Kunstbücher mehr kaufen. Die Bücherwand war voll von oben bis unten. Oder wir verkaufen welche, aber weder er noch Elisabeth konnten sich von Büchern trennen. Platz für neue Bilder ist auch keiner mehr da. Alexander fixierte den Parkettboden, in dem sich Lizzys farbenfrohe Bilder im Stil der Comic-Art spiegelten, Figuren am Abgrund, die vor Lebensglück zu platzen schienen. Wir sollten unsere Wohnung zum Museum machen, dachte er, stand auf und streifte sein Sakko über. Im Stadtcafé würden sich um zwölf die Himmelstoss-Fans treffen, um mit dem Meister zu einer Talkshow zu fahren, wo er als Stargast auftreten würde. Ob Edith auch käme? Insgeheim hoffte Alexander das, selbst wenn die Hoffnung unbegründet war. Edith hatte gestern Abend über zu viel Arbeit geklagt.

Unterwegs in der U-Bahn bekam Alexander Magenschmerzen.

 

 

Stand nicht auch Draculas Schloss inmitten einer Neubausiedlung in den Karpaten?

 

 

 

3

 

Der Starkünstler saß inmitten seiner Jünger und hatte ein Frühstückstablett vor sich stehen. Himmelstoss las die Süddeutsche Zeitung – natürlich nur den Artikel über sich, der mehr als eine halbe Seite füllte. Wie geht’s? Er reichte Alexander die Hand über den Tisch. Offenbar erkannte er ihn gleich wieder, obwohl sie gestern Abend nur wenig miteinander gesprochen hatten.

Alexander setzte sich. Ist Ihre Frau auch schon hier? Das war eine seltsame Frage in diesem Moment, doch jetzt hatte er sie gestellt.

Himmelstoss nickte nur. Sie ist unterwegs im Museum. Er fixierte ihn hinter seinen dunklen Brillengläsern und wienerte. Blass siehst du aus, Herr Doktor Winterfeld. Nicht gut geschlafen die Nacht? Himmelstoss schob sich ein Croissant zwischen die Zähne.

Alexander nickte. Wenig Schlaf gehabt, stimmt. Mit dem Horrormaler über Liebesdinge zu reden, schien ihm aber jetzt nicht angebracht zu sein. Himmelstoss konnte er sich überhaupt nicht als Romantiker vorstellen.

Wie findest du den Artikel? Himmelstoss duzte ihn kumpelhaft, als wären sie Freunde, und schob ihm die Zeitung rüber. Groß aufgemacht ein Bild, das den Künstler vor seinen Fotoporträts zeigte: Warhol, Burroughs, Keith Richards, Arno Breker, schräge Typen. Headline der Story: Ein Mann, der Gesichter durchschaut.

Alexander kratzte sich am Kinn. Soll ich das jetzt alles lesen? Seine Gedanken kreisten nur um Edith.

Ich bitte darum, hörte er Xavers sanfte Stimme aus weiten Fernen sagen. Mich interessiert, was du davon hältst.

Alexander strich die Seite glatt. Okay, der Artikel ist lang, das entspricht deiner Bedeutung in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts, duzte er den Künstler zurück Für mich bist du der größte Maler seit Albrecht Dürer, das erkennt jetzt auch die Süddeutsche Zeitung.

Stimmt, fast eine ganze Seite nur über mich, das ist gut. Himmelstoss stand auf, Alexander registrierte die Blicke, die dem berühmten Künstler folgten.

Der Maler als Rockstar, Alexander fing zu lesen an, was ein Münchner Journalist geschrieben hatte: Sein Gesicht ist blass und schmal, und am Tag, nachdem wir Xaver Himmelstoss getroffen hatten, dachten wir: Für das Foto hätte man ihn bitten müssen, dieses schwarze, um die Stirn gebundene Tuch abzulegen. Man wüsste gern, wie sein oberes Gesichtsdrittel aussieht, und zweitens wäre interessant gewesen, ob er es getan und wie er es abgelegt hätte. Es war zu spät. Wir haben zwei Stunden lang mit Himmelstoss geredet. Hinters Stirnband haben wir nicht geguckt.

Alexander ließ die Zeitung sinken. Schade, dachte er.

Als wir im Stadtmuseum die Treppe hinaufgingen zu den Gesichtern, die Himmelstoss fotografiert hat, haben wir bloß wie gehts? gefragt, und er hat von Stress geredet: Arbeit an mehreren Büchern, die Ausstellung hier und der Skandal in der Schweiz. Er hat das Plakat zu einem Theaterstück über General Jeanmaire gemalt, der 1977 wegen Spionage für die Sowjetunion verurteilt wurde und bis zu seinem Tod um Wiederaufnahme des Prozesses kämpfte. Man sieht Jeanmaire nackt; bloß das Generalskäppi hat er auf dem Kopf, und um die Füße ringelt sich die heruntergelassene Hose. Dieses Bild empört viele Schweizer. Unter den Briefen, die er erhalte, sagt Himmelstoss, finde sich die Aufforderung, er, der Österreicher, solle den Pinsel von der Schweiz lassen und lieber den Waldheim nackt malen.

Edith! Alexander schloss die Augen und sah sie vor sich in diesem engen schwarzen Kleid, fast gesprengt von ihren Brüsten, und seine Hände unter dem Saum ihre Beine entlang streichen.

Möchten Sie etwas bestellen? Die Kellnerin beugte ihm ihren Ausschnitt entgegen. Alexander riss die Augen wieder auf – eine Schokolade bitte, sagte er, mit Sahne, viel Sahne – und suchte wieder die Zeilen.

Über sein Plakat zu Wedekinds Lulu (ein Mann starrt auf den Schoß einer Riesenfrau) habe sich seinerzeit auch die Hamburger Frauenbewegung aufgeregt, obwohl der Lächerliche der Mann sei.

Wie wahr! Alexander legte die Zeitung zur Seite, löffelte die Sahne von der Schokolade und meinte, darin Xaver Himmelstoss’ Burg aus dem 11. Jahrhundert zu erkennen, die er in einer Illustrierten gesehen hatte, hoch auf einem Felsen stehend, umringt von weißen Einfamilienhäusern der 60er- und 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Der Fürst des Horrors, inmitten der Spießeridylle. Stand nicht auch Draculas Schloss inmitten einer Neubausiedlung in den Karpaten? Alexander schüttelte den Kopf. Und wieder Edith.

Entschlossen stand er auf, ging zum Telefon an der Bar, wählte ihre Nummer und hörte nur Freizeichen. Verdrossen verkroch er sich wieder hinter die Zeitung, schloss die Augen und fühlte sich meilenweit entfernt von dem Ort, an dem er gerade saß. Edith schwebte heran, nahm ihn in die Arme, er schmiegte sich an sie; Küsse, Streicheln, leises Stöhnen ... Plötzlich kam Alexander wieder dieser scheußliche Gedanke zum Bewusstsein, dass sie verheiratet sein könnte, oder gebunden – womöglich ist sie glücklich! Abrupt stürzte Alexanders Traumgebilde zusammen. Er öffnete die Augen.

Himmelstoss lächelte ihn an wie Boris Karloff in seinen besten Zeiten als Dracula-Darsteller. Was stöhnst du? Ist der Artikel so schlimm?

Ich bin verliebt! Alexander richtete sich auf. Und du bist schuld daran.

Ah? Damit schien Himmelstoss zufrieden zu sein. Mir wird ja viel vorgeworfen, der letzte Scheiß bis hin zur Mitgliedschaft bei den Zeugen Jehovas, doch dieser Vorwurf ist endlich neu. Bravo! Wie komme ich dazu, auch noch Heiratsvermittler zu sein?

Das ist gestern bei der Vernissage passiert. Als du über deine Kunst gesprochen hast, habe ich meine Künstlerin gefunden. Edith heißt sie, deine Bilder haben sie angelockt.

Himmelstoss, der Horrormaler mit der sensiblen Seele, kicherte.

Anschließend war sie beim Essen mit dabei, fuhr Alexander fort, die Frau, die neben dem Toni saß. Erinnerst du dich an sie, die Brünette im schwarzen Rock? Alexander formte mit den Händen zwei Ballons.

Tut mir Leid, ist mir nicht aufgefallen, sagte Himmelstoss und starrte in den Raum. Ich habe nur Blicke für die Kunst und bin absolut monogam, während die Männer in meiner Umgebung wie Wilddiebe durch das Dickicht der Damenwelt pirschen. Wo soll das nur hinführen?