Die Schatten der Vergangenheit - Marie Louise Fischer - E-Book

Die Schatten der Vergangenheit E-Book

Marie Louise Fischer

3,8

Beschreibung

Die junge Julia ist Empfangssekretärin eines Weltklassehotels in Locarno. Sie liebt ihren Job und genießt ein zartes Liebesglück mit ihrem Kollegen Marcel. Julia kann von sich sagen, eine gute Menschenkenntnis erworben zu haben, doch eines Tages versagt sie. Sie wird unverschuldet in einen Skandal hineingezogen, der sie ihre Stellung kostet. Mit einem Schlag ist ihre heile Welt zerstört. Enttäuscht und verbittert flieht sie in eine fremde Stadt. Hier geht sie Beziehungen ein, die auf den ersten Blick Glück verheißen, die sie aber letztlich nur Gefahr und Leid aussetzen. Sie muss nicht nur um ihre berufliche Zukunft fürchten, sondern auch um ihren guten Ruf. Aber Julia ist auch eine tapfere Frau, die bald erkennt, wo das wahre Glück auf sie wartet.-

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Marie Louise Fischer

Die Schatten der Vergangenheit

SAGA Egmont

Die Schatten der Vergangenheit

Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof A/S

Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)

Originally published 1967 by F. Schneider, Germany

All rights reserved

isbn: 9788711718612

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

In der Halle des Hotels „La Rosa“ in Locarno summte das elegante Treiben der internationalen Welt.

Unentwegt war der Lift in Betrieb. Gäste strömten zur Rezeption, fragten nach Post, gaben ihre Zimmerschlüssel ab, baten um Auskünfte. Die blitzsauberen, grünlivrierten Pagen flitzten hin und her, die Telefone auf dem Empfangstisch schrillten. Monsieur Dupont, der Empfangsdirektor, plauderte Englisch mit einer Amerikanerin, grüßte ein junges Ehepaar in seiner Muttersprache, gab auf Italienisch Anweisungen an die Pagen, sprach Deutsch mit Gustav, einem der Hausdiener.

Teures Gepäck, Lederkoffer, Krokodilledertaschen, Hutschachteln, schottische karierte Plaids wurden herein- und hinausgetragen, die Luft war erfüllt von dem kostbaren Parfüm eleganter Damen.

Julia Forster, die Empfangssekretärin, sah und hörte nichts von alldem.

Nicht, daß sie gegen all diesen Glanz und das pulsierende Leben der großen Welt abgestumpft gewesen wäre – im Gegenteil, sie war noch neu in ihrem Beruf, und alles, was um sie herum vorging, interessierte sie brennend. Sie hatte vorher als Auslandskorrespondentin in einem Büro gearbeitet, und nur um der beengten häuslichen Atmosphäre und der allzu liebevollen Tyrannei ihrer Mutter, einer geschiedenen Frau, zu entgehen, war sie ins Hotelfach übergewechselt. Aber in den drei Monaten, seit denen sie im „La Rosa“ arbeitete, hatte sie gelernt, daß Konzentration eine der wichtigsten Voraussetzungen ihres Berufes war.

So verschloß sie denn Augen und Ohren gegen alle Reize des großen Lebens und konzentrierte sich fast verbissen auf ihre Aufgabe.

Sie verbat es sich sogar, einen Blick zu Marcel Steiger, dem Empfangsvolontär, zu werfen, obwohl sie sich der Nähe des gutaussehenden jungen Mannes jede Sekunde bewußt war.

Es war früher Vormittag, die Zeit, in der die meisten Abreisen durchgeführt und die Rechnungen verlangt wurden. Julias Finger flogen über die Tasten der Rechenmaschine. Keines der vielen „Extras“ durfte vergessen werden, weder der Orangensaft zum Frühstück, das Telefongespräch nach New York, noch die Flasche Sekt, die auf dem Zimmer getrunken worden war.

„Wenn der Gast erst abgereist ist“, pflegte Signor Sebaldi, der Hotelier, zu sagen, „sind unsere Forderungen praktisch erloschen. Jedes Vergessen bedeutet für das Hotel Verlust.“

Julia Forster hatte gerade die Rechnung für ein englisches Ehepaar fertiggestellt, als eine harte männliche, fast metallische Stimme den Schutzwall durchbrach, den sie so mühsam gegen alle Störungen von außen in sich aufgebaut hatte. Es waren nur wenige Worte, die der Fremde gesagt hatte, und sie waren nicht einmal an sie gerichtet gewesen. Trotzdem bewirkten sie, daß sie aufsah.

Ein eleganter Mann stand vor dem Empfangstisch, schlank, breitschultrig, mit sehr hellen Augen in einem braungebrannten Gesicht.

„Ich bin Sylvester Jackson!“ sagte er in einem Ton, als erwarte er, daß dieser Name eine kleine Sensation auslösen müßte.

Aber Georg Rosenau, dem Empfangschef, bedeutete der Name offensichtlich nichts. Er machte die übliche kleine Verbeugung und fragte mit höflicher Zurückhaltung: „Sie wünschen?“

„Ein Appartement mit Bad. Südseite.“

Georg Rosenau begann im Vormerkbuch zu blättern. „Entschuldigen Sie, Mister Jackson, aber ich weiß nicht… Sie haben nichts bei uns bestellt!“

Eine kleine steile Unmutsfalte bildete sich auf der Stirn des Fremden. „Für mich ist immer ein Appartement reserviert“, sagte er herrisch.

Georg Rosenau wurde unsicher. „Aber ich weiß wirklich nicht … “

Jetzt wurde Monsieur Dupont, sein Vorgesetzter, aufmerksam. Er wandte sich von dem englischen Colonel ab, der ihn nach einem lohnenden Tagesausflug gefragt hatte, schob Georg Rosenau beiseite und sagte beflissen: „Aber selbstverständlich, Mister Jackson … entschuldigen Sie vielmals, Mister Jackson … “ Er drehte sich zum Schlüsselbrett um. „Zimmer 333, wie immer … schön, Sie wieder einmal bei uns zu haben, Mister Jackson.“

„Danke“, sagte der Fremde kurz angebunden und nahm den Schlüssel, den Monsieur Dupont ihm reichte.

Monsieur Dupont schnalzte mit den Fingern, und Hausdiener und Pagen stoben zur Drehtür. Er trat hinter der Rezeption hervor und sagte mit einer devoten Verbeugung: „Darf ich Sie nach oben begleiten, Mister Jackson?“

„Nicht nötig. Ich kenne mich aus.“ Sylvester Jackson zog seine Autoschlüssel aus der Hosentasche und warf sie Monsieur Dupont zu, der sie geschickt auffing. „Kümmern Sie sich um mein Gepäck und den Wagen.“

„Selbstverständlich, Mister Jackson!“ Der Empfangsdirektor verbeugte sich noch, als der Gast ihm längst den Rücken zugewandt hatte und mit lässigem und doch energischem Schritt auf den Lift zuschritt.

Julia Forster beobachtete ihn fasziniert.

Sie fand erst in die Wirklichkeit zurück, als Marcel Steiger ihr zuflüsterte: „Lassen Sie sich von diesem Mann nicht bluffen, Julia … das ist eine ganz üble Existenz!“

„Aber warum … “, begann Julia.

Da traf sie ein Blick des Empfangsdirektors, der mit einer vielsagenden Kopfbewegung die Autoschlüssel Sylvester Jacksons an Marcel weitergab, und sie nahm schleunigst wieder hinter ihrer Rechenmaschine Platz.

Noch einen Augenblick grübelte sie über den Mann mit dem herausfordernden Auftreten nach, dann hatte die Routine sie wieder ganz gefangengenommen.

Kurz nach elf leuchtete die Nummer 333 auf Julia Forsters Schalttafel auf. Sie stöpselte um, meldete sich und ärgerte sich über sich selbst, weil ihre Stimme atemlos und aufgeregt klang.

„Hallo, Yvonne“, sagte Sylvester Jackson, „wie geht es Ihnen?“

Julia mußte tief Luft holen. „Ich bin nicht Yvonne“, sagte sie.

„Pardon! Dann geben Sie mir doch bitte Mademoiselle Yvonne, damit ich … “

„Bedaure sehr, Mister Jackson, Yvonne ist nicht mehr im ,La Rosa’ beschäftigt…“

„Nicht? Wie schade!“ Aus Sylvester Jacksons Stimme klang so viel Wärme und echte Enttäuschung, daß Julia sich seltsam berührt fühlte.

„Yvonne ist, soviel ich weiß, nach Nizza ins ,Negresco‘ gegangen“, erklärte sie rasch, obwohl ihr durchaus bewußt war, daß Monsieur Dupont keine Privatunterhaltungen zwischen Angestellten und Gästen schätzte. Sie warf einen raschen Blick zu ihm hinüber und stellte mit Erleichterung fest, daß er damit beschäftigt war, die Gräfin Hermesberg, eine sehr schwierige alte Dame, die jeden Tag mit neuen Klagen kam, zu beruhigen.

„Danke! Ich danke Ihnen, Fräulein“, sagte Sylvester Jackson am anderen Ende der Leitung.

Sie hielt es für richtig, sich vorzustellen. „Ich bin Julia Forster, die neue Empfangssekretärin.“ Wieder warf sie einen raschen Blick zur Seite. „Vielleicht kann ich Ihnen helfen?“

„Ich hoffe, das können Sie. Würden Sie ein paar Telegramme für mich durchgeben …“

„Selbstverständlich, Mister Jackson … “ Wieder leuchtete ein Licht auf der Schalttafel auf. „Einen Augenblick, bitte … “

Eine junge Engländerin erkundigte sich nach den günstigsten Flugverbindungen nach London; Julia gab das Gespräch an Marcel Steiger weiter.

Dann meldete sie sich wieder. „Sie wollten ein Telegramm aufgeben, Mister Jackson?“

„Mehrere … das erste geht an die Begum nach Paris … “

Julias Hand flog über das Papier, während Sylvester Jackson ihr diktierte – das Telegramm an die Begum enthielt eine bedauernde Absage, nicht an einer Party teilnehmen zu können, ein zweites ging an Lord Aston nach England, und es handelte sich um eine Verabredung zum Lachsfischen in Schottland, das dritte war an seinen Londoner Schneider gerichtet.

„Sie sind ein tüchtiges Mädchen“, sagte Sylvester Jackson anerkennend, als Julia ihm anschließend die Texte, die sie aufgenömmen hatte, vorlas.

Sie war froh, daß er ihr Erröten nicht sehen konnte. „Ich gebe mir Mühe“, sagte sie.

„Hoffentlich habe ich Sie vorhin nicht … gekränkt?“ Seine Stimme hatte nichts mehr von dem herrischen Ton an sich, der sie bei seinem Eintritt in das Hotel so aufgestört hatte.

„Nein, aber … wieso denn?“ fragte sie verwirrt.

„Dadurch, daß ich darauf bestand, von Yvonne betreut zu werden.“

„Aber … “

Er ließ sie nicht zu Wort kommen. „Sie müssen das verstehen, Julia … ich bin ein Globetrotter. Ich weiß, viele Menschen beneiden mich um meine Unabhängigkeit. Aber frei sein, heißt einsam sein … sehr einsam. Man erfüllt mir jeden Wunsch, weil ich bezahlen kann. Aber das bedeutet nichts, gar nichts. Begreifen Sie, daß ich mich an die wenigen Menschen klammere, die mir Sympathie entgegenbringen?“

„Ich verstehe … “, sagte Julia leise.

„Sagen Sie ganz ehrlich, Julia … was halten Sie von mir?“

„Ich … ich kenne Sie gar nicht“, stotterte Julia, durch diese direkte Frage völlig überrumpelt.

„Also … Sie mögen mich auch nicht?“

„Nein … nein! Wie kommen Sie darauf?“ rief Julia.

„Beurteilen Sie mich nicht zu hart“, sagte er, und ehe sie noch etwas darauf erwidern konnte, hatte er aufgelegt.

Sie war betroffen. Aber es blieb ihr keine Zeit zum Nachdenken. Während ihres Gespräches mit Sylvester Jackson war neue Arbeit angefallen. Außerdem mußten die Telegramme sofort durchgegeben werden.

Sie stürzte sich ohne Besinnen in ihre Aufgaben, und es gelang ihr, darüber Sylvester Jackson und die Rätsel, die er ihr aufgegeben hatte, zu vergessen.

Später, als sie im Speiseraum für das Personal hastig ihre Mittagsmahlzeit einnahm – die Angestellten des Hotels „La Rosa“ aßen in zwei Schichten, die erste um halb zwölf, bevor der Speisesaal für die Gäste geöffnet wurde, die andere um zwei, nachdem der größte Trubel vorbei war –, wurde ihr Eindruck vom Morgen wiederaufgefrischt.

„Sylvester Jackson ist da“, berichtete Gustav, der älteste der Hausdiener, „du kannst dich freuen, Giacomo!“

„Weiß schon Bescheid“, erwiderte Giacomo Porti, der Etagenkellner des dritten Stocks, „er hat schon seine erste Pulle Champagner konsumiert!“

„Wahrhaftig?“ sagte Hanna Kern, die junge Wäschebeschließerin vom dritten Stock. „Ich muß schon sagen, das fängt gut an!“

„Ob er’s diesmal wohl wieder so toll treibt?“ fragte Gustav.

„Gar keine Frage! Wo Jackson ist, ist immer was los“, erwiderte Giacomo Porti. „Wißt ihr noch, im vorigen Jahr, wie er mit Mutter und Tochter gleichzeitig angebändelt hat?“

„Die beiden Engländerinnen? Ja, die hatten’s auch nötig“, erklärte ein junger Kellner vorlaut.

Alle lachten, nur Julia senkte ihren Kopf so tief wie möglich über den Teller, damit die anderen nicht sehen sollten, daß sie rot geworden war.

„Das war eine Ausnahme“, sagte Giacomo Porti ernsthaft, „meist sind es ja verheiratete Frauen, an die er sich heranmacht.“

„Stimmt’s, daß er sich von denen aushalten läßt?“ fragte die Gouvernante.

„Glaube ich nicht. Der hat ja selbst Geld wie Heu. Er soll drüben in Amerika eine Konservenfabrik geerbt haben, die sein Bruder leitet. Jackson verdient sein Geld im Schlaf.“

„So gut möchte ich es auch haben“, sagte der junge Kellner und rieb sich seine schmerzenden Knöchel.

„Ich war in der vorigen Saison in St. Moritz“, mischte sich Betty, eines der Zimmermädchen, ins Gespräch, „da soll er sich auch eine tolle Geschichte geleistet haben … “

„Also, los, mach’s nicht so spannend!“ drängte der junge Kellner.

„Na, jedenfalls hatte er auch eine Frau mit auf dem Zimmer, verheiratet natürlich … und dann hat es zwischen den beiden einen Streit gegeben, das heißt, was wirklich passiert ist, weiß man natürlich nicht … aber jedenfalls hat er alle ihre Kleider zum Fenster hinausgeworfen …” Betty sah sich triumphierend im Kreise um, „und sie mußte nachspringen, splitternackt, wie sie war.“

„So was geschieht diesen Weibern ganz recht“, sagte die junge Gouvernante Hanna aus tiefster Seele.

„Wieso?“ fragte der Etagenkellner. „Warum sind Sie so boshaft, Fräulein? Nur, weil Sie noch nicht das Glück hatten, von seiner Gunst beehrt zu werden?“

„Werden Sie nicht unverschämt“, sagte Hanna böse, „jeder hier im Haus weiß, daß ich mir nichts aus Männern mache, aber auch schon gar nichts … und so ein Playboy könnte bestimmt nichts bei mir erreichen!“

„Na, das käme auf den Versuch an“, sagte der junge Kellner und schob seinen Teller zurück.

„Wieso ist die Dame hinausgesprungen?“ fragte Gustav. „Sicher wohnte sie auch im Hotel. Da wäre es doch praktischer gewesen, über den Gang zu laufen?“

„Das weiß ich auch nicht“, sagte Betty, „ich bin ja nicht dabei gewesen …“

Plötzlich konnte Julia es nicht mehr aushalten.

„Warum erzählen Sie dann solche Sachen“, sagte sie scharf, „wenn Sie in Wirklichkeit gar nichts wissen?“

„Aber … wieso?“ sagte Betty ganz verblüfft. „Ich wollte doch bloß etwas zur Unterhaltung beitragen!“

„Böswilliger Tratsch ist wohl die denkbar schlechteste Form, die man für eine Unterhaltung wählen kann“, erklärte Julia gereizt.

Ein peinliches Schweigen entstand.

„Ist schon wahr“, sagte der Etagenkellner beschwichtigend, „uns geht’s nichts an, was Jackson treibt, Hauptsache, er machte große Zechen, und das tut er …“

„Und seine Trinkgelder sind auch nicht knapp“, stimmte Gustav zu.

„Was haben Sie eigentlich für ein Interesse, diesen Menschen zu verteidigen, Fräulein Forster?“ fragte Hanna Kern spritz. „Bilden Sie sich etwa ein, mit Ihren schönen blauen Augen etwas bei ihm ausrichten zu können?“

„Ich habe ihn gar nicht verteidigt“, sagte Julia hitzig, „und es geht mir auch nicht um diesen Jackson. Er ist bloß ein Beispiel. Ich finde es einfach grauenhaft, wie hier jeder Gast … ohne Ausnahme … von den Angestellten durchgehechelt wird. Ich kann das einfach nicht ertragen!“ Sie stand auf und stieß ihren Stuhl zurück.

„Das kommt bloß davon“, sagte der alte Gustav bedächtig, „daß Sie nicht vom Fach sind … ich weiß, ich weiß, Sie haben einen Lehrgang gemacht, und Sie können Sprachen und Buchhaltung und alles, was nötig ist … aber in den wirklichen Hotelbetrieb haben Sie doch erst hereingerochen! Entschuldigen Sie, wenn ich so offen spreche … “ „Oh, ich bin nicht empfindlich …“, behauptete Julia, „aber ich verstehe wirklich nicht, was Sie damit sagen wollen?“

„Daß Sie noch nicht begreifen, was es heißt, von früh bis spät nur katzbuckeln zu müssen. Jawohl, gnädige Frau, sofort, mein Herr, so geht es in einer Tour, auch wenn die Gäste die merkwürdigsten Wünsche haben, die seltsamsten Befehle erteilen. Wir dürfen nie nein sagen, nie lächeln, nicht einmal eine Miene verziehen. Wenn wir uns da nicht selbst ein Ventil schaffen würden, durch das wir Luft ablassen können, müßten wir uns ja Vorkommen wie dressierte Affen!“ Gustav hatte mit großem Ernst gesprochen, und Julia fiel ein, was Marcel Steiger einmal über ihn gesagt hatte – daß er lange Zeit selbst ein Hotel geführt, bis er bankrott gemacht hatte und schließlich als Hausdiener im „La Rosa“ gelandet war. Sie spürte die Überlegenheit dieses tapferen alten Mannes und fühlte sich, gemessen an seinen Erfahrungen, plötzlich sehr jung und unbedeutend.

„Sie haben sicher recht, Gustav“, sagte sie leise und fügte an alle anderen gewandt, mit gesenkten Augen hinzu: „Bitte, entschuldigen Sie!“

Dann drehte sie sich um und verließ den unfreundlichen Raum.

Als sie in die elegante Halle hinaustrat, atmete sie auf. Hier herrschte eine andere Atmosphäre. Wieder nahm das quirlende Leben des Luxushotels sie gefangen. Die Gäste standen und saßen jetzt in Gruppen umher, schlürften Aperitifs, plauderten, lachten. Obwohl es ein warmer Septembertag war, hatten einige der Damen kostbare Pelzstolen um die Schultern gelegt. Teurer Schmuck funkelte und klingelte.

Unwillkürlich warf Julia im Vorbeigehen einen prüfenden Blick in einen der hohen Wandspiegel. Er zeigte ihr ein schlankes Mädchen in engem, grauem Rock und hochgeschlossener Hemdbluse. Ihr nachtschwarzes, fast bläuliches Haar bauschte sich um das schmale, helle Gesicht mit der leicht gebogenen Nase, den dunkel leuchtenden blauen Augen. In jeder anderen Situation hätte Julia mit sich und ihrem Aussehen zufrieden sein können. Hier, am Rande der internationalen Gesellschaft, kam sie sich wie ein unscheinbares Aschenputtel vor.

Rasch wandte sie den Kopf ab, eilte weiter und trat hinter die Rezeption.

„Ärger gehabt?“ fragte Marcel Steiger, der sie vertreten hatte, leise.

Es irritierte sie, daß er jede Regung ihres Gesichtes zu deuten verstand. „Ein bißchen“, sagte sie und tastete verlegen über das gutsitzende Haar.

„Mit dem Personal?“

„Sie haben wieder so … entsetzlich häßlich geredet!“

„Machen Sie sich nichts draus, Julia. Da gibt’s nur ein Rezept: zuhören und schweigen!“ Sie lächelte ihm dankbar zu.

Später, als es in der Halle stiller geworden war – die Gäste hatten sich in den Speisesaal oder auf ihre Zimmer zurückgezogen –, fragte Marcel: „Sie haben doch morgen Ihren freien Tag?“ – „Ja …“

„Können wir zusammen etwas unternehmen? Buckow …“ – das war der andere Empfangsvolontär –, „ … vertritt mich.“

„Ich muß morgen meine Sachen in Ordnung bringen, zum Friseur …“

„Gut. Dann erwarte ich sie nach dem Essen beim Personalausgang.“

Der Empfangschef sah zu ihnen herüber, und sie wagte nur noch rasch, fast unhörbar: „Ich freue mich, Marcel!“ zu flüstern, bevor sie sich wieder an ihre Arbeit machte.

Julia war schon einige Male zuvor mit Marcel Steiger ausgegangen. Der junge Schweizer, der „in Karriere“ stand – was bedeutete, daß er sich als Ziel gesetzt hatte, später einmal selbständig ein Hotel zu leiten –, war der einzige, der ihr unter all den vielen Menschen, die sie umgaben, nähergekommen war.

Tatsächlich mochte sie ihn so gern, daß sie sich Mühe geben mußte, es ihn nicht merken zu lassen. Eine angeborene Scheu hielt sie davon ab? ihre Gefühle zu zeigen, andererseits fürchtete sie auch, enttäuscht zu werden. Sie wußte, daß Marcel ihre Gegenwart schätzte, aber obwohl sie häufig genug darüber nachgedacht hatte, hatte sie nicht ausmachen können, wie ernst es um seine Gefühle ihr gegenüber bestellt war. Für ein flüchtiges Abenteuer war sie sich entschieden zu schade.

Als sie am nächsten Nachmittag das Hotel durch den Personalausgang verließ – in weißem Leinenkleid mit breitem, marineblauem Kragen und Manschetten –, war sie wieder einmal überrascht, wie anders Marcel als Privatmann wirkte.

Er stand mitten in dem düsteren Hinterhof, in dem es nach Küche, Wäscherei und Abfällen roch, die Hände in den Taschen seiner gutgeschnittenen, leicht zerbeulten Hose, und lächelte ihr jungenhaft vergnügt entgegen. Sein braunes Haar war nicht wie sonst gestriegelt und pomadisiert, sondern fiel ihm locker in die Stirn, sein blaues Buschhemd stand am Hals offen. Er wirkte in dieser Aufmachung Jahre jünger oder – besser gesagt – so jung, wie er wirklich war: vierundzwanzig.

Sie reichte ihm kameradschaftlich die Hand, nebeneinander betraten sie die Straße, gingen ein paar Schritte weiter, bogen um die Ecke und erreichten die Strandpromenade mit ihren hohen Palmen, den herrlichen Beeten mit tropischer Blumenpracht, dem weiten Ausblick auf den tiefblauen Lago Maggiore.

Julia atmete tief. „Merkwürdig“, sagte sie, „wenn man den ganzen Tag im Hotel steckt, vergißt man ganz, wie schön die Welt draußen ist!“

Er war einen halben Kopf größer als sie, lächelte auf sie herunter. „Ja“, sagte er, „heute sind wir frei, Julia! Wollen wir Feriengäste spielen?“

„Wie macht man das?“

„Ganz einfach, wir tun alles, was sonst nur die anderen dürfen … wollen wir zur Madonna del Sasso hinauf? Oder mit dem Motorboot nach Ascona? Dort können wir einen Espresso trinken und … “

„Ja, tun wir das“, sagte Julia rasch und ging voraus zur Bootsvermietung. „Lachen Sie mich nicht aus, Marcel, aber es wäre mir komisch, wenn wir hier einem Hotelgast begegneten. Irgendwie käme ich mir wie eine … eine …“

„Hochstaplerin vor!“ ergänzte er. „Machen Sie sich nichts draus, Julia, so ist es uns allen anfangs gegangen. Aber es ist Unsinn. Nur einer von hundert würde uns überhaupt erkennen …“

„Glauben Sie wirklich?“

„Erfahrungstatsache. Für die Gäste sind wir nur das lebende Inventar des Hotels. Sie betrachten uns gar nicht als Menschen.“

Er hatte es ohne Bitterkeit gesagt, dennoch warf Julia ihm einen raschen Seitenblick zu. Aber sein Gesicht zeigte keinen anderen Ausdruck als unberührte Heiterkeit.

Sie hatten Glück. Eines der neuen, schnittigen Motorboote war frei. Sie mieteten es für drei Stunden. Marcel Steiger half Julia hinein, setzte sich ans Steuer, ließ den Motor an und lenkte das Boot in weitem, elegantem Bogen auf den blauen See hinaus. Julia schloß die Augen und genoß den Rausch von Geschwindigkeit, Sonne und Wind.

Sie schrak zusammen, als das Geräusch des Motors plötzlich verstummte, das Boot an Geschwindigkeit verlor. „Was ist?“ fragte sie erschrocken.

„Nichts, was Sie beunruhigen sollte“, erklärte er lächelnd, „ich habe den Motor abgestellt, das ist alles.“

„Warum?“

„Ist diese Ruhe nicht wunderbar?“ fragte er, anstatt ihre Frage zu beantworten, lehnte sich zurück und legte den Arm um ihre Schultern.

Sie fühlte sich ein wenig beklommen. „Ja, schon“, gab sie zögernd zu.

Er wurde mit einemmal sehr ernst. „Julia, Sie wissen, ich bin Schweizer … “

„Warum sagen Sie mir das gerade jetzt?“

„Um Ihnen zu erklären, daß … ich bin kein Romantiker, Julia, aber … ach, was. Sie müssen es doch längst bemerkt haben! Ich liebe Sie!“

Sie sagte nichts, aber er las in ihrem Blick die Antwort.

„Julia!“ sagte er. Dann zog er sie in die Arme und küßte sie.

Julia glaubte, noch nie im Leben so glücklich gewesen zu sein. Alles, was sie bedrückt hatte, alle Hast, alle Verkrampfung fiel von ihr ab. Das Glück, das sie so lange gesucht hatte, war plötzlich nahe, greifbar nahe. Es hieß Marcel Steiger und hielt sie in den Armen. Sie erwiderte seine Küsse mit einer gelösten Zärtlichkeit, die sie sich selbst nicht zugetraut hätte.

Endlich ließ er sie los, betrachtete sie voll staunenden Glücks. „Ach, Julia, ich hatte nicht zu hoffen gewagt, daß du … “

Sie griff ihm in die braunen, vom Wind zerzausten Locken. „Wirklich nicht, du berühmter Menschenkenner? Dabei hatte ich schon so lange drauf gewartet!“

„Julia!“ sagte er, und dann küßten sie sich wieder.

Erst eine Viertelstunde später ließ er den Motor wieder an, und sie fuhren, wie sie es sich vorgenommen hatten, nach Ascona hinüber.

Sie verlebten einen wunderbaren Tag. Am Abend kehrten sie in einer kleinen Locanda ein, saßen in einer mit Bougainvillea bewachsenen Pergola, tranken roten Wein und hielten einander bei den Händen.

Marcel redete viel. Er sprach von seinen Zukunftsplänen – seine Eltern besaßen ein kleines Hotel in der Schweiz, das er aber erst übernehmen wollte, wenn er es durch eigene Kraft mindestens zum Hoteldirektor gebracht hatte. Er erklärte ihr die Organisation eines großen Hotelbetriebes, ließ sich über den Einfluß des Massentourismus auf das moderne Hotelwesen aus, gab ihr eine Menge sehr nützlicher beruflicher Ratschläge – kurz, er war ganz wie sonst und spürte nicht, wie sehr er sie enttäuschte.

Plötzlich war ihr, als ob ein kühler Wind aufgekommen wäre. Sie zog fröstelnd die Schultern zusammen, löste ihre Hand aus seinem Griff.

„Was hast du?“ fragte er besorgt.

„Nichts … gar nichts“, antwortete sie. „Ich fühle mich ein bißchen abgespannt. Ich glaube, es wird Zeit, daß wir nach Hause gehen.“

„Natürlich … ganz wie du wünschst.”

Sie zwang sich, sein zärtliches Lächeln zu erwidern. Um nichts aut der Welt hätte sie zugegeben, wie schmerzlich sie auf ein entscheidendes Wort von ihm gewartet hatte.

Am nächsten Abend – Julia war gerade dabei, das Hoteljournal fertigzustellen – trat Sylvester Jackson auf sie zu. Sie sah erst auf, als er sie ansprach.

„Hallo, Julia … “

„Guten Abend, Mister Jackson“, sagte sie und war froh, daß sie ihre Stimme in der Gewalt hatte.

„Ich habe gestern ein paar Sachen im Tresor deponiert … würden Sie mir wohl aufschließen?“

Julia erhob sich. „Gern, Mister Jackson … “

Er folgte ihr in den großen dämmrigen Raum hinter der Rezeption, wo sich die Tresorfächer für die Gäste befanden. Das Schloß seines Faches war nur mit seinem und ihrem Schlüssel gleichzeitig zu öffnen. Sie tat es und reichte ihm, wie er wünschte, eine dicke Ledertasche heraus.

„Gestern waren Sie nicht da … “, sagte er und sah sie aus seinen hellen Augen prüfend an, während er ein paar Geldscheine aus der Ledertasche nahm und achtlos in seine Hosentasche steckte. Er sah sehr gut aus in seinem blendend sitzenden weißen Dinnerjacket. „Nein“, sagte sie lächelnd, „ich hatte meinen freien Tag.“

„War es schön?“

„Danke, ja.“

„Sagen Sie, Julia … “ Er schien zu zögern, und das wirkte besonders auffallend im Gegensatz zu seiner sehr selbstsicheren Haltung. „Könnten Sie mir einen Gefallen tun?“

„Selbstverständlich, Mister Jackson.“

„Ich brauche eine Sekretärin.“

„Ich werde mich sofort darum kümmern, Mister Jackson!“ Sie nahm die Ledertasche aus seiner Hand entgegen, schloß sie wieder ein und reichte ihm seinen Schlüssel.

„Nein, nein“, wehrte er ab, „bitte, keine Dame aus einem Schreibbüro. Ich lege Wert auf äußerste Diskretion.“

Sie verstand nicht sogleich und sah ihn fragend an.

„Könnten Sie mir nicht aushelfen?“ fragte er sehr direkt.

Sie kannte das oberste Gebot für alle Hotelangestellten – der Hotelier, Signor Sebaldi, hatte es ihr wieder und wieder eingeprägt –, nie nein sagen, wenn ein Gast etwas fordert. „Selbstverständlich würde ich Ihnen gerne helfen …”

Er ließ sie nicht aussprechen. „Also gut. Abgemacht.“

Sie versuchte ihre Absage durch ein Lächeln zu mildern. „Aber Sie wissen selbst, wie wenig Zeit ich habe!“

„Sie sind ein vielbeschäftigtes Mädchen, ich weiß. Aber einmal werden Sie doch auch Feierabend haben.“

„Ja“, sagte sie, und ihr Lächeln vertiefte sich, „um Mitternacht.“ Mister Jackson ließ sich nicht ifremachen. „Und wenn Sie Frühschicht haben?“

„Nachmittags um vier“, gab sie zögernd zu.

„Also … wann ist das?“

„Mister Jackson … “, begann sie, dann besann sie sich und sagte entschlossen: „Also gut … ich werde morgen nachmittag gegen fünf im Schreibzimmer auf Sie warten.“

Er sah ihr mit lächelndem Spott in die Augen. „Damit das ganze Hotel erfährt, was ich zu diktieren habe? Nein, Julia, ich sagte Ihnen doch schon, daß es sich um einige sehr wichtige und sehr private Briefe handelt.“

„Aber dann … “

Er ließ sie nicht zu Wort kommen. „Julia“, sagte er, plötzlich sehr ernst geworden, „Sie wollen mich doch nicht im Stich lassen?“

Sie schwieg, biß sich auf die Unterlippe.

„Also … morgen nachmittag in meinem Appartement!“

Er ging, ehe sie noch etwas erwidern konnte.

Sobald sie allein war, vermochte sie wieder klar zu denken. Natürlich würde sie seinem Wunsch nicht nachkommen. Zwar war es den Hotelangestellten nicht verboten, die Zimmer der Gäste zu betreten – wie hätten Zimmer- und Etagenmädchen sonst auch ihren Dienst ausüben können –, dennoch fühlte sie deutlich, daß Sylvester Jacksons Aufforderung eine Zumutung war.

Sie überlegte noch, wie sie sich aus dieser unangenehmen Situation herauswinden sollte, als Marcel Steiger ihr den Weg vertrat.

„Marcel … “, begann sie arglos und war drauf und dran, ihn um einen Rat zu bitten.

Aber statt sie anzuhören, fuhr er sie in einem ganz ungewohnt scharfen Ton an: „Was hat der Kerl von dir gewollt?“

Alles in ihr verhärtete sich bei dieser Frage. „Ich ahne nicht einmal, von wem du sprichst“, erwiderte sie kühl.

„Von Sylvester Jackson natürlich.“

„Er brauchte Geld aus seinem Tresorfach.“

„Und du willst mir weismachen, du hast volle zehn Minuten benötigt, um es ihm zu geben?

„Wenn du früher gekommen wärest“, sagte sie mit erzwungenem Gleichmut, „hättest du dich davon überzeugen können.“

Er änderte den Ton. „Entschuldige, Julia“, sagte er zerknirscht, „ich weiß, ich bin aus der Rolle gefallen … aber ich kann diesen Kerl nun einmal nicht ausstehen … “

„Hat er dir etwas getan?“

„Nein. Aber du weißt so gut wie ich, in welchem Ruf er steht.“ „Das Gerede der Leute genügt dir also, um einen Menschen zu verurteilen?“

„Es handelt sich um kein Gerede, sondern um … “

„Bösartigen Klatsch, das wolltest du doch wohl sagen!“

„Julia!“

„Es tut mir leid, Marcel, aber ich begreife nicht, woher du das Recht nehmen willst, mir vorzuschreiben, was ich zu denken habe!“ „Was soll das heißen?“

„Du wirst es schon merken!“ Den Kopf in den Nacken geworfen trat sie an ihm vorbei und in die Rezeption hinaus.

Ohne es sich selbst einzugestehen, wartete sie darauf, daß er – jetzt endlich – das Wort sagen würde, das ihrer Liebe Dauer und Halt geben sollte. Sie wartete vergeblich.

Am nächsten Nachmittag klopfte sie, ihre Reiseschreibmaschine in der Hand, an die Tür des Appartements 333.

Auf Julias Klopfen meldete sich niemand.

Sie wartete einen Augenblick und versuchte es noch einmal. Nichts rührte sich.

Sie war schon drauf und dran – halb enttäuscht, halb erleichtert –, sich abzuwenden und fortzugehen, als die Tür geöffnet wurde.

Sylvester Jackson stand vor ihr, schlank, groß, breitschultrig und geradezu erschreckend attraktiv.

Er lächelte auf sie herab. „Hallo, Julia… come in!“

„Guten Tag, Mister Jackson“, sagte sie mit bewußter Förmlichkeit und trat an ihm vorbei durch das etwas düstere Vorzimmer in den ungemein eleganten Wohnraum, dessen breite Fenster einen weiten Blick über den azurblauen Lago Maggiore und die grüngoldene Isola de Brissago freigaben.

„Ich war gerade dabei, uns einen kleinen Drink zu mixen“, erklärte Mister Jackson.

Tatsächlich hielt er ein silbern schimmerndes Mixgefäß in der Hand, das er jetzt mit rhythmischer Grandezza zu schütteln begann.

„Danke. Nicht für mich“, sagte Julia, stellte ihre Reiseschreibmaschine auf dem Teakholzschreibtisch auf und nahm dann den Deckel ab.

„Aber warum nicht? Eine Spezialmischung von mir … wird Ihnen bestimmt guttun.“

„Danke nein. Ich bin sehr müde.“

„Gerade deshalb. Ein kleiner Drink wird Ihnen wieder auf die Beine helfen.“ Die Eiswürfel klirrten, die Verlockung war groß.

„Nein … danke!“ sagte Julia schärfer, als es nötig gewesen wäre.

Er stellte den Mixbecher hart auf die Tischplatte. „Wollen Sie mich kränken?“

Julia schoß das Blut in den Kopf. Sie spürte, daß sie sich albern benommen hatte. „Natürlich nicht…“, sagte sie unsicher.

„Oder haben Sie etwa Angst, daß ich Sie betäuben will?“

Sie wagte nicht, zu ihm aufzusehen, trotzdem glaubte sie sein ironisches Lächeln fast körperlich zu spüren.

Er schraubte den Becher auf, ließ die goldgelbe, ganz klare Flüssigkeit behutsam in zwei Sektschalen fließen, reichte ihr die eine. „Auf unsere Freundschaft, Julia … “

Es gab keine Möglichkeit, sich dieser Aufforderung zu entziehen, ohne ihn zu kränken. Julia nahm das Glas entgegen und nippte daran.

Das Getränk war nicht scharf, wie sie erwartet hatte, sondern schmeckte mild und erfrischend. „Das tut gut“, sagte sie aufatmend und wagte endlich, ihn wieder anzusehen.

„Na, sehen Sie! Meine Sondermischung für kleine Mädchen.“

Er zog ein schweres, ganz schlichtes Zigarettenetui aus Platin aus der Hosentasche und ließ es aufspringen. „Mögen Sie?“

„Nein, danke. Jetzt nicht.“

„Vielleicht haben Sie recht“, erklärte er überraschend nachgiebig, nahm sich eine Zigarette, ließ das Etui wieder zuschnappen und steckte sie sich zwischen die Lippen. „Fangen wir also an … nehmen Sie ruhig das Hotelpapier dort aus der Briefmappe. Aber trinken Sie Ihr Glas vorher leer, Sie stoßen es sonst nur um.“

Julia tat, was er anordnete… Das beim ersten Schluck so milde alkoholische Getränk begann jetzt, da sie das Glas geleert hatte, eine überraschende Wirkung zu entwickeln. Es war ihr, als ob das Blut in ihren Adern plötzlich zu prickeln begänne kein unangenehmes Gefühl, wie sie sich selbst zugab. Aber es war mit einemmal gar nicht mehr so einfach, den Briefbogen gerade über die Walze zu spannen.

Sie warf einen verstohlenen Seitenblick zu Sylvester Jackson hinüber, aber er war ganz damit beschäftigt, seine Zigarette anzuzünden und schien ihre Unsicherheit nicht bemerkt zu haben.

Sie tippte seinen Namen unter den Hotelbriefkopf, das Datum auf die rechte Seite, sagte: „Wir können … “

„Sehr schön … “ Sylvester Jackson schwang sich auf die Tischkante, schlug die langen Beine übereinander, sah dem Rauch seiner Zigarette nach und begann zu diktieren, ziemlich langsam und immer wieder nach einem bestimmten Ausdruck, einer Formulierung suchend.

Es wäre leicht gewesen, seinem Diktat zu folgen, wenn es nicht Englisch gewesen wäre. So mußte Julia sich sehr zusammennehmen, um keinen Fehler zu machen. Sie konzentrierte sich ganz auf die technische Seite ihrer Arbeit, so fiel ihr gar nicht auf, daß der Inhalt des Briefes, den Sylvester Jackson an einen Freund, einen amerikanischen Diplomaten in Rom, richtete, doch eigentlich ziemlich belanglos war und durchaus nicht so geheim und wichtig, wie er, als er sie für diese Arbeit engagierte, behauptet hatte.

Eine Weile ging alles gut. Dann aber merkte sie, daß Sylvester Jackson aufstand. Er drückte seine Zigarette aus und trat dicht hinter sie.

Ihre Nerven begannen zu vibrieren. Sie grub ihre Zähne in die Oberlippe und sah starr auf ihre Arbeit, aber sie konnte es nicht verhindern, daß ihr seine körperliche Nähe in jeder Sekunde bewußt war.

Dann spürte sie, wie sich seine warme, sehr trockene Hand um ihren Nacken legte. Sie zuckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb. Seine Hand glitt zu ihrem Haaransatz hinauf.

Sie verlor die Kontrolle über ihre Finger, tippte eine sinnlose Buchstabenkette und befreite sich mit einem Ruck aus seinem Griff.

„So kann ich nicht arbeiten, Mister Jackson“, sagte sie mit einer Stimme, die vor Schreck und Empörung zitterte.

Er beugte sich nur noch tiefer zu ihr herab. „Ist das denn so wichtig, Julia?“

„Ja! Ich meine … dazu haben Sie mich doch kommen lassen!“ Sie sprang auf, stand eingeklemmt zwischen dem Schreibtisch und dem Sessel, der sie von Sylvester Jackson trennte, und sah ihn mit funkelnden Augen an.

„Aber, Julia“, sagte er mit einem zynischen Lächeln, „wollen Sie mir etwa weismachen, daß sie das wirklich geglaubt haben? Selbst eine aufgeweckte Fünfzehnjährige hätte doch gemerkt, daß das nur ein Vorwand war.“

„Was wollen Sie von mir?“ rief sie, flammend vor Zorn.

Er wechselte überraschend seine Taktik. „Hören Sie, Julia, Sie haben gar keinen Grund, wütend zu sein … “

„Lassen Sie mich gehen!“

„Aber nicht doch! Wo wir jetzt gerade Gelegenheit haben, uns in aller Ruhe und Freundschaft zu unterhalten … “

Sie spürte, daß es ihm Freude machte, mit ihr zu spielen, wie ein blutdürstiger Kater mit einem gefangenen Vogel. Sie zwang sich zur Ruhe, sagte nach einem tiefen Atemzug. „Also schön. Was wollen Sie von mir?“

„Das kann ich Ihnen nicht mit drei Worten sagen.“

„Ach, wirklich nicht?“ entgegnete sie mit erzwungenem Spott.

Er ließ plötzlich den Sessel los. Sie wollte entfliehen, aber er war schneller als sie an der Tür. Er drehte den Schlüssel um, zog ihn ab und ließ ihn in seine Hosentasche gleiten. Sie war gefangen.

„Also kommen Sie, setzen wir uns“, sagte er scheinbar freundlich. „Darf ich Ihnen noch einen Drink anbieten?“

„Nein“, sagte sie schneidend und wich zurück.

Sie zermarterte sich den Kopf nach einem Fluchtweg. Zwischen dem Bad und dem anschließenden Appartement gab es eine Zwischentür, aber sie war zweifellos ebenfalls verschlossen. Aus den Fenstern im dritten Stock zu springen wäre Selbstmord gewesen.

Es fiel ihm leicht, ihre Gedanken zu erraten. „Sie kommen hier nicht weg“, sagte er, sehr mit sich zufrieden, „nicht, bevor Sie mich angehört haben.“

Sie schwieg und belauerte argwöhnisch jede seiner Bewegungen.

Aber er machte keine Anstalten, näher zu kommen. „Sie sind sehr schön, Julia … “ Das Lächeln war plötzlich aus seinem Gesicht wie weggewischt. „Sie sind schön, jung, intelligent … Sie sind viel zu schade, um Tag für Tag hinter der Rechenmaschine zu sitzen, Buchhaltungsarbeiten zu machen, sich die lächerlichen Beschwerden unerzogener Menschen anzuhören … warum wollen Sie nicht meine Privatsekretärin werden?“

Die Wirkung des Alkohols war verflogen, sie war jetzt ganz kalt. „So nennt man das also seit neuestem?“ sagte sie böse.

„Sie haben Humor“, sagte er ungerührt, „das gefällt mir an Ihnen. Also, wie ist es … wollen Sie?“

„Nein!“

„Überlegen Sie es sich gut, ich kann Ihnen allerhand bieten … ich werde Ihnen die ganze Welt zu Füßen legen, wir werden Reisen machen, wie Sie sie sich bisher nicht einmal erträumt haben, ich werde Ihnen Kleider kaufen, Schmuck, Pelze … “

„Nein!“ – „Sie stehen Ihrem eigenen Glück im Wege!“

Er näherte sich ihr mit pantherhafter Geschmeidigkeit, und diesmal wich sie nicht zurück. Sie hatte begriffen, daß eine Flucht aus dem verschlossenen Raum nicht möglich war. Sie mußte sich ihm stellen.

„Julia“, sagte er, „Julia, ich weiß, ich habe es ganz falsch angefangen, aber glaub mir doch … ich will ja nur … “

Plötzlich war er dicht bei ihr, wollte sie in die Arme reißen.

Auf diesen Moment hatte sie gewartet. Sie holte aus und schlug ihm blitzschnell mit der geballten Faust unter das Kinn.

Es gab ein unangenehm knirschendes Geräusch. Der große Mann schwankte, fiel zurück und landete in einem der Sessel.

Mit einem Satz war Julia beim Telefon, nahm den Hörer ab.

Er schüttelte sich, sein Gesicht zeigte weder Schmerz noch Wut, sondern nur maßloses Erstaunen.

„Schließen Sie die Tür auf“, sagte sie, „sonst … “ Sie hatte den Finger schon auf der Drucktaste, die die Verbindung mit der Rezeption herstellte. Er stand auf, noch immer leicht betäubt, ging zur Tür und tat, was sie gefordert hatte.

„Danke“, sagte Julia. „Und jetzt ziehen Sie den Schlüssel bitte ab und stecken ihn wieder ein … ja, so ist es gut!“

Sylvester Jackson wich mit ostentativer Großzügigkeit zurück. Dennoch behielt sie ihn mißtrauisch im Auge, während sie zur Tür schritt.

„Nur keine Sorge“, sagte er mit einem verzerrten Grinsen, „ich habe meine Lektion begriffen … ich versuche es nicht noch einmal!”

Sie ging langsam an ihm vorbei – erst als sie die Tür erreicht hatte, begann sie plötzlich zu laufen. Jetzt spürte sie erst, wie groß die Anspannung der vergangenen Minuten gewesen war.

Blind und atemlos hastete sie über den Gang und stolperte fast über den Wäschewagen, den Hanna, die Gouvernante, aus der entgegengesetzten Richtung heranschob.

„Oh, entschuldigen Sie!“ stammelte sie verwirrt. „Ich … “

Ein Blick der jungen Gouvernante brachte sie zum Schweigen. In ihm lag so viel Verachtung, ja Haß, daß Julia zutiefst erschrak.

In ihrem Kämmerchen hoch unter dem Dach angekommen, warf Julia sich quer über das Bett und verbarg ihr Gesicht in den Kissen. Sie fühlte sich erschöpft, geradezu erschlagen, war nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen.

Sie wußte nicht, wie lange sie so gelegen hatte, als es an ihre Tür klopfte. Sie fuhr hoch, richtete ihren Rock, ihre Frisur zurecht.

„Ja?“ sagte sie.

Dann erst fiel ihr wieder ein, daß sie abgeschlossen hatte. Sie sprang auf, öffnete die Tür einen Spalt breit.

Lisette, eines der Zimmermädchen, stand vor ihr. „Sie möchten zum Chef kommen, Mademoiselle“, sagte sie.

„Zu wem?“

„Zu Signor Sebaldi“, erklärte das Mädchen, und in dem Blick ihrer funkelnden schwarzen Augen lagen Mitleid und Schadenfreude.

Julia erschrak zutiefst, aber sie verzog keine Miene. „Ich komme sofort“, sagte sie. – „Der Chef erwartet Sie in seinem Büro!“

„Danke!“ Julia zog die Tür wieder zu und trat zu dem kleinen Waschtisch.

Signor Sebaldi pflegte nur sehr selten persönlich in das gut funktionierende Getriebe des Hotels einzugreifen, das er, unsichtbar und doch alles überschauend, von seinem Büro aus dirigierte. Wenn er jemanden zu sich zitierte, dann hatte das nur selten etwas Gutes zu bedeuten.

Julia zweifelte keinen Augenblick daran, daß Hanna sie angezeigt hatte. Dennoch war sie nicht übermäßig besorgt. Nicht sie war es ja, die sich etwas hatte zuschulden kommen lassen, sondern Sylvester Jackson.

Sie bürstete ihr schwarzes, üppiges Haar, erfrischte sich das Gesicht mit einer Lotion, zog behutsam die Konturen ihres schönen, sensiblen Mundes nach.

Dann verließ sie ihr Zimmer und eilte die Hintertreppe hinunter.

Die Direktionssekretärin hob den Kopf, als sie eintrat. „Dicke Luft“, sagte sie kameradschaftlich, „halten Sie die Ohren steif, Julia! Gehen Sie gleich hinein, der Chef erwartet Sie!“

Während Julia die gepolsterte Doppeltür zum Allerheiligsten öffnete, hörte sie, wie die Finger der Direktionssekretärin schon wieder über die Tasten tanzten.

Signor Sebaldi war ein fetter, leicht asthmatischer Mann Ende der Fünfzig. Er thronte auf einem kostbaren Gobelinsessel hinter seinem mächtigen Schreibtisch wie ein regierender Fürst und ließ seinen goldenen Drehbleistift über endlose Zahlenkolonnen gleiten.

Unwillkürlich blieb Julia nahe der Tür stehen.

Es dauerte eine ganze Weile, bis Signor Sebaldi die schweren Lider hob und geruhte, sie zu beachten.

„Julia Forster“, sagte er dann in einem Ton, in dem ein Wissenschaftler ein nicht eben interessantes Insekt klassifizieren mochte.

„Sie haben mich rufen lassen, Signor Sebaldi.“

„Kommen Sie näher. Setzen Sie sich.“ Der Hotelier wies mit einer müden kleinen Bewegung seiner fetten weißen Hand auf den hochlehnigen Stuhl gegenüber dem Schreibtisch.

Julia nahm Platz, die schlanken Beine sorgfältig nebeneinander gestellt, wobei sie darauf achtete, daß ihr Rock nicht über die Knie hinaufrutschte. Sie legte die Hände in den Schoß und sah Signor Sebaldi abwartend und aufmerksam an.

„Nun“, sagte der Hotelier, nach einer langen quälenden Pause, „ich denke, Sie haben mir etwas zu erzählen.“

Julia biß sich auf die Unterlippe. „Mister Jackson von Nr. 333”, berichtete sie, sehr bemüht, sachlich und ohne Erregung zu sprechen, „hatte mich gebeten, einige Briefe für ihn zu schreiben. Da er den Inhalt dieser Briefe als sehr vertraulich angab, erklärte ich mich bereit, ihn heute nachmittag in seinem Appartement aufzusuchen …“

„Sehr gut“, sagte Signor Sebaldi, „ich nehme an, Sie haben Monsieur Rosenau oder Monsieur Dupont in Ihr Vorhaben eingeweiht?“ „Nein“, sagte Julia bestürzt und begriff plötzlich, wo ihr Fehler gelegen hatte.

„Mit wem, bitte, haben Sie dann über die Aufforderung Mister Jacksons gesprochen?“

„Mit niemandem“, mußte Julia zugeben.

„Und Sie sind sich nicht bewußt gewesen, daß Sie sich auf diese Weise in eine … zumindest zweifelhafte Situation begaben?“

Julia versuchte sich zu verteidigen. „Aber … ich meine, die Zimmermädchen müssen doch …“

„Sie haben Pflichten in den Gästezimmern zu erledigen.“

„Aber … hätte ich mich denn einfach weigern sollen?“

„Fräulein Forster“, sagte der Hotelier unbewegt, „es liegt nicht in meiner Absicht, mich mit Ihnen zu streiten. Ich habe Sie nicht engagiert, den Gästen … vor allem den männlichen Gästen … Gefälligkeiten zu erweisen, sondern im Empfang zu arbeiten. Dieses Hotel ist ein anständiges Haus … “

Julia verlor die Fassung. „Signor Sebaldi!“ rief sie empört und sprang auf. „Setzen Sie sich“, sagte er kalt.

Er wartete, bis sie auf ihren Stuhl zurückgesunken war, dann erst fuhr er fort: „Lassen Sie mich wiederholen: Mein Hotel ist ein anständiges Haus, aber das will natürlich nicht heißen, daß ich mich zum Sittenrichter aufspielen möchte.“ Seine Stimme bekam überraschend Wärme. „Ich arbeite seit nahezu fünfzig Jahren im Hotelwesen, Fräulein Forster, und ich kenne das Leben. Ich weiß, Sie sind jung, unerfahren und leicht beeindruckbar. Sie haben einen Fehler gemacht. Schwamm drüber.“

Julia versuchte zu protestieren. „Signor Sebaldi…”

„Ich erwarte zuversichtlich, daß sich ein solcher Zwischenfall nicht wiederholt.“ Er griff wieder nach seinem goldenen Drehbleistift. „Danke. Das war alles, was ich Ihnen sagen wollte.“

„Signor Sebaldi…“ Flammende Röte war in Julias Wangen gestiegen. „Ich … Sie sehen die Situation ganz falsch!“